Der Seelentourist - Robert Sheckley - E-Book

Der Seelentourist E-Book

Robert Sheckley

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Beschreibung

Mittvierziger vom Mars wünscht Körpertausch mit interessiertem Herrn von der Erde

Im 21. Jahrhundert ist es durchaus üblich, auf Seelentourismus zu gehen: Man lässt seinen Geist einfach in den eines anderen Wesens auf einem fremden Planeten transferieren und erlebt so all die Wunder hautnah mit. Marvin träumte schon immer davon, so auf eine große Reise zu gehen. Doch der Seelentourismus ist nicht ganz ungefährlich, vor allem dann, wenn man die ausgetretenen Touristenpfade verlässt und sich bei allzu abgelegenen Kulturen einnistet. So wird auch Marvins große Reise schnell zu einem Horrortrip durch die seelischen Abgründe der Galaxis ...

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ROBERT SHECKLEY

DER SEELENTOURIST

Roman

Das Buch

Im 21. Jahrhundert ist es durchaus üblich, auf Seelentourismus zu gehen: Man lässt seinen Geist einfach in den eines anderen Wesens auf einem fremden Planeten transferieren und erlebt so all die Wunder hautnah mit. Marvin träumte schon immer davon, so auf eine große Reise zu gehen. Doch der Seelentourismus ist nicht ganz ungefährlich, vor allem dann, wenn man die ausgetretenen Touristenpfade verlässt und sich bei allzu abgelegenen Kulturen einnistet. So wird auch Marvins große Reise schnell zu einem Horrortrip durch die seelischen Abgründe der Galaxis …

Der Autor

Titel der Originalausgabe

MINDSWAP

Aus dem Amerikanischen von Thomas Görden

Überarbeitete Neuausgabe

© Copyright 1966 by Robert Sheckley

Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat, München

1

Marvin Flynn las folgende Anzeige in der betreffenden Rubrik der Stanhope Gazette:

Mittvierziger vom Mars, still, fleißig, kultiviert, wünscht Körperaustausch mit einem interessierten Herrn von der Erde. Zeit: 1. August bis 1. September.

Diese an sich nicht ungewöhnliche Anzeige ließ Flynns Puls rasen. Mit einem Marsianer den Körper zu tauschen … Das war ein aufregender Gedanke, zugleich aber auch ein abstoßender. Schließlich, wer wollte schon einen alten marsianischen Sandbuddler in seinem Kopf haben? Aber wenn Marvin diese Unannehmlichkeit in Kauf nahm, würde er im Gegenzug dafür den Mars kennenlernen. Und er würde ihn so kennenlernen, wie man ihn kennenlernen sollte: mit den Sinnen eines Marsbewohners.

So wie manche Menschen Bilder, andere Leute Bücher oder anderer Leute Ehefrauen sammelten, gehörte Marvin Flynns Herz dem Reisen. Aber diese ihn beherrschende Passion blieb auf traurige Weise unerfüllt. Er war in Stanhope im Staat New York zur Welt gekommen und aufgewachsen. Rein physikalisch war seine Stadt etwa dreihundert Meilen von New York City entfernt. Aber geistig und emotional trennten mindestens hundert Jahre die beiden Städte.

Stanhope war eine nette, ländliche Gemeinde am Fuße der Adirondacks, umgeben von Obstgärten und saftigen Viehweiden. Unerschütterlich hielt Stanhope an alten Traditionen fest. Liebenswert, aber mit einem gewissen Starrsinn bewahrte das Städtchen Distanz zu dem gefühlskalten Ballungszentrum im Süden. Die IRT-7th Avenue U-Bahn hatte sich bis nach Kingston durch den Staat gegraben, aber nicht weiter. Gigantische Autobahnen schlängelten ihre Beton-Tentakeln durch die Landschaft, doch Stanhopes ulmengesäumter Main Street konnten sie nichts anhaben. Andere Orte bauten Raketenrampen; Stanhope blieb bei seinem antiquierten Jetflugzeugplatz und gab sich mit drei Flügen pro Woche zufrieden. (Marvin hatte oft nachts wachgelegen und dem einsamen Heulen eines Düsenjets gelauscht, jenem typischen Geräusch des dahinschwindenden ländlichen Amerika.)

Stanhope war mit sich selbst zufrieden, und der Rest der Welt war offensichtlich ganz zufrieden mit Stanhope und gewillt, es ungestört vor sich hinschlummern zu lassen. Der einzige Mensch, dem dieser Zustand nicht behagte, war Marvin Flynn.

Er hatte die üblichen Reisen unternommen und die üblichen Dinge gesehen. Wie jedermann hatte er viele Wochenenden in den Hauptstädten Europas zugebracht. Er hatte die versunkene Stadt von Miami gesehen, die hängenden Gärten von London und den Bahai-Tempel von Haifa. Während seiner längeren Urlaubsreisen hatte er eine Wandertour durchs Mary-Byrd-Land unternommen, den unteren Ituri-Regenwald erkundet, Sinkiang auf dem Kamel durchquert und sogar mehrere Wochen in Lhasa, der Kunstmetropole der Erde, gelebt. Alle diese Reisen waren typisch für sein Alter und seine Stellung.

Aber diese Reisen bedeuteten ihm nichts; sie waren das übliche Touristen-Programm. Jeder Urlauber fuhr einmal dorthin. Anstatt zu genießen, was ihm geboten wurde, beklagte Flynn, was ihm verwehrt blieb. Er wollte wirkliche Reisen unternehmen, und das hieß, die Erde zu verlassen.

Das schien ihm nicht zu viel verlangt; und doch war er bisher noch nicht einmal auf dem Mond gewesen.

Letzten Endes war es eine Geldfrage. Interstellare Reisen waren teuer. Sie blieben größtenteils den Reichen vorbehalten oder Kolonisten und Administratoren. Für einen Durchschnittsmenschen waren sie schlicht und einfach jenseits des Realisierbaren. Es sei denn, er machte von der Möglichkeit des Körperaustauschs Gebrauch.

Flynn hatte, mit angeborenem Kleinstadt-Konservatismus, diesen logischen, aber ungewöhnlichen Schritt vermieden. Bis jetzt.

Marvin hatte versucht, sich mit seinem Platz im Leben zufriedenzugeben, und mit den akzeptablen Möglichkeiten, die dieser Platz ihm bot. Schließlich war er frei, gutaussehend und einunddreißig (ein bisschen über einunddreißig, um genau zu sein). Er war ein großer, breitschultriger Junge mit einem schwarzen Schnurrbart und sanften braunen Augen. Er war gesund, intelligent, nicht unakzeptabel fürs andere Geschlecht und mixte gute Drinks. Er hatte die übliche Erziehung durchlaufen: Highschool, zwölf Jahre auf dem College, danach vier Jahre Arbeit als Doktorand. Er war bestens für seinen Job bei der Reyck-Peters-Corporation vorbereitet. Dort durchleuchtete er Plastikspielzeug, untersuchte es auf Mikroschrumpfung, Porosität, Materialermüdung und dergleichen. Vielleicht war das nicht gerade der wichtigste Job auf der Welt, aber schließlich können wir nicht alle König oder Raumschiffpilot werden. Mit Sicherheit war es ein verantwortungsvoller Posten, besonders wenn man die Wichtigkeit von Spielzeug in dieser Welt bedenkt, und die lebenswichtige Aufgabe, Kindern Frustrationen zu ersparen.

Marvin wusste das alles; und doch war er nicht zufrieden. Vergeblich hatte er Rat bei seinem Nachbarn, einem Anwalt, gesucht. Dieser freundliche Mann half Marvin bei der Situationsfaktorenanalyse, aber Marvin zeigte keine Einsicht. Er wollte reisen. Er weigerte sich, offen den Beweggründen dieses Wunsches ins Auge zu sehen, und er würde keinerlei Ersatzbefriedigung akzeptieren.

Und nun, als er diese Anzeige las, die sich kaum von tausend anderen unterschied und doch einzigartig war (weil er sie gerade las), verspürte er ein seltsames Gefühl in der Kehle. Mit einem Marsianer den Körper zu tauschen … den Mars zu sehen, die Höhle des Sandkönigs zu besuchen, durch die Schönheit von The Wound zu reisen, dem singenden Sand des Großen Trockenmeeres zu lauschen …

Er hatte schon öfters von solchen Dingen geträumt. Doch dieses Mal war es anders. Dieses seltsame Gefühl in der Kehle kündete von einer bevorstehenden Entscheidung. Klugerweise versuchte Marvin nicht, sie herbeizuzwingen. Stattdessen zog er die Jacke an und ging in die Stadt zur Apotheke von Stanhope.

2

Wie er erwartet hatte, saß Billy Hake, sein bester Freund, beim Sodabrunnen auf einem Stuhl und trank ein mildes Halluzinogen, das als LSD-Shake bekannt war.

»Alles klar, Herr Kommissar?«, fragte Hake im zu jener Zeit gerade üblichen Slang.

»Reine Sahne, Kumpane«, gab Marvin die obligatorische Antwort.

»Du koomen ta de la klipje?«, fragte Billy. (Spanisches Pidgin-Afrikaans war in jenem Jahr der neueste Gag.)

»Ja, Mijnheer«, antwortete Marvin ein bisschen schwermütig. Er war einfach nicht in der Stimmung für solche Sprüche.

Billy spürte, dass Marvin Kummer hatte. Er steckte eine Nebelpille in den Mund, biss darauf und spürte, wie der grüne Rauch sich in seinem Mund ausbreitete. »Nun denn, wo liegt der Hund begraben?«, erkundigte er sich. Die Frage war etwas verschwommen formuliert, aber zweifelsohne sehr teilnahmsvoll.

Marvin setzte sich neben Billy. Da er seinen Freund nicht mit seinen Sorgen belasten wollte, hob er beide Hände und redete in der Zeichensprache der Prärieindianer. (Viele intellektuelle junge Männer waren noch immer stark durch die Projectoscope-Produktion des Dakota-Dialogs beeinflusst. Bjorn Rakradish hatte Crazy Horse gespielt und Milovar Slavivowitz Sitting Bull, und sie hatten sich ausschließlich in Zeichensprache unterhalten.)

Marvin ahmte die Gesten nach und beklagte sich doch ernsthaft, indem er Das-Herz-das-bricht, Das-Pferd-das-wandert, Die-Sonne-die-nicht-scheinen-will und Den-Mond-der-nicht-aufgehen-kann darstellte.

Er wurde von Mr. Bigelow unterbrochen, dem Besitzer der Stanhope-Apotheke. Mr. Bigelow war siebenundvierzig, hatte eine beginnende Glatze und einen kleinen, aber unübersehbaren Bauch. Trotzdem gab er sich in seinem Auftreten sehr jugendlich. Er sagte zu Marvin: »Eh, Mijnheer, querenzie tomar la klopje immensa de la cabeza vefrouvens in forma de ein Skoboldash-Eisbecher?«

Es war typisch für Mr. Bigelow und andere Vertreter seiner Generation, den Jugendslang zu übertreiben, so dass er überhaupt nicht mehr komisch wirkte, mit Ausnahme des unbeabsichtigten Pathos.

»Subito«, sagte Marvin und ließ Bigelow mit jugendlich unbedachter Grausamkeit abblitzen.

»Nun, nicht dass ich stören wollte«, sagte Mr. Bigelow, und gekränkt entfernte er sich mit jenem trippelnden Gang, den er in der Show Abbild des Lebens gesehen hatte.

Billy hatte Verständnis für das Leid seines Freundes, und zugleich verwirrte es ihn. Er war vierunddreißig, ein gutes Jahr älter als Marvin, fast schon ein Mann. Er hatte einen guten Job als Vorarbeiter am Montageband 23 in Petersons Waggonfabrik. Natürlich neigte er noch sehr stark zu jungenhaftem Benehmen, aber er war sich doch bewusst, dass sein Alter ihm gewisse Verpflichtungen auferlegte. Deshalb überwand er die Angst vor verwirrenden Problemen und sprach offen und klar mit seinem ältesten Freund.

»Marvin – was bedrückt dich?«

Marvin zuckte die Achseln, verzog den Mund und wippte nervös mit dem Fuß. Er sagte: »Also hör mal, Hombre, meine momentane gefühlsmäßige Großwetterlage ist ein absoluter Doublefuck in the Morningtime. Dingensnochmal, totales Tief …«

»Du kannst normal sprechen«, sagte Billy mit der Würde eines beinahe Erwachsenen.

»Tut mir leid«, sagte Marvin in Normalsprache. »Es ist nur – oh, Billy, ich möchte so gerne reisen!«

Billy nickte. Er kannte die Reisebesessenheit seines Freundes. »Klar«, sagte er. »Mir geht es genauso.«

»Aber bei dir ist es nicht so schlimm. Billy – ich sterbe vor Fernweh.«

Sein Skoboldash-Eisbecher wurde serviert. Marvin nahm keine Notiz davon und schüttete seinem Freund sein Herz aus. »Ehrlich, Billy, ich bin wirklich total von den Socken. Ich denke nur noch an Mars und Venus und wirklich weit entfernte Welten wie Aldebaran und Antares. Ich meine, verflucht noch mal, ich kann einfach an gar nichts anderes mehr denken. Der sprechende Ozean von Procyon IV, und die dreigliedrigen Hominiden von Allua II; ich werde eingehen, wenn ich diese Dinge nicht zu sehen bekomme.«

»Klar«, sagte sein Freund. »Ich möchte sie auch gerne sehen.«

»Nein, du begreifst nicht«, sagte Marvin. »Es geht nicht bloß ums Sehen – es ist – es ist wie – es ist schlimmer als – ich meine, ich kann nicht den Rest meines Lebens in Stanhope verbringen, wenn es hier auch schön ist und ich einen guten Job habe und eine Menge scharfe Pflaumen hier rumlaufen. Ich will nicht bloß heiraten und Kinder großziehen und – und – es muss doch noch mehr im Leben geben!«

Dann verfiel Marvin in jungenhaftes, inkohärentes Gestammel. Doch etwas von seinen Gefühlen war durch den wilden Strom seiner Worte gedrungen, und sein Freund nickte verständnisvoll.

»Marvin«, sagte er leise. »Deine Problematik kommt bei mir echt voll rüber. Aber selbst für eine interplanetarische Reise brauchst du doch einen Haufen Kohle. Und ein interstellarer Trip ist ganz einfach nicht drin.«

»Doch, es ist beides drin«, sagte Marvin, »wenn man vom Körperaustausch Gebrauch macht.«

»Marvin! Das ist doch wohl nicht dein Ernst!« Sein Freund war ernstlich schockiert.

»Doch, das ist es!«, sagte Marvin. »Und bei des Teufels Avocado, ich werde es tun!«

Nun waren sie beide schockiert. Marvin gebrauchte fast nie Schimpfwörter. Daran, dass er es nun tat, konnte Billy sehen, unter welchem psychischen Druck sein Freund stand. Und Marvin wurde sich schlagartig der Tragweite seiner Entscheidung bewusst. Jetzt, wo er es einmal ausgesprochen hatte, war der Gedanke, es auch in die Tat umzusetzen, weniger furchterregend.

»Aber das kannst du nicht«, sagte Billy. »Körperaustausch ist – nun, es ist etwas Schmutziges!«

»›Schmutzig ist, wer schmutzig denkt, Cabrón.‹«

»Nein, im Ernst. Du willst doch wohl nicht einen alten marsianischen Sandbuddler in deinem Kopf haben? Der deine Arme und Beine bewegt, aus deinen Augen guckt, dich berührt, und vielleicht sogar …«

Marvin schnitt ihm das Wort ab, ehe er etwas wirklich Schlimmes sagen konnte. »Immerhin bin ich ja zur gleichen Zeit in seinem Körper, auf dem Mars, also ist es für ihn genauso unangenehm.«

»Ach was, von solchen Dingen haben Marsianer doch keinen Schimmer«, sagte Billy.

»Das ist nicht wahr«, sagte Marvin. Obgleich jünger, war er doch in vielen Dingen reifer als sein Freund. Er hatte mit viel Fleiß Vergleichende Interstellare Ethik studiert. Durch seinen Wunsch zu reisen war er in seinen Einstellungen weit weniger provinziell als sein Freund und eher bereit, die Meinung anderer Wesen zu respektieren. Seit er mit zwölf Jahren lesen gelernt hatte, beschäftigte Marvin sich mit den Sitten und Gebräuchen vieler verschiedener Rassen der Galaxis. Immer hatte er danach gestrebt, diese Geschöpfe durch ihre eigenen Augen zu sehen und ihre andersartige Psyche zu begreifen. Zudem hatte er in Projizierender Empathie eine Erfolgsquote von 95 Prozent erreicht und somit seine Befähigung zu erfolgreicher Kontaktaufnahme mit Außerirdischen unter Beweis gestellt. Kurz gesagt, für einen jungen Mann, der sein ganzes Leben im Hintergrund der Erde zugebracht hatte, war er bestens fürs Reisen präpariert.

An diesem Nachmittag öffnete Marvin, allein in seinem Dachzimmer, sein Lexikon. Es war sein Freund und Begleiter, seit seine Eltern es ihm zum neunten Geburtstag geschenkt hatten. Nun stellte er den Verständnisgrad auf »einfach«, tippte seine Fragen ein und lehnte sich zurück, während die roten und grünen Lämpchen zu blinken begannen.

»Hallo, Leute«, sagte der Kasettenrecorder mit seiner Plauderstimme. »Heute – möchte ich euch etwas über Körperaustausch erzählen!«

Es folgten ein paar historische Anmerkungen, die Marvin ignorierte. Er wurde wieder aufmerksam, als er den Kassettenrecorder sagen hörte:

»Also stellen wir uns den Geist als so 'ne Art elektroformes oder sogar subelektroformes Wesen vor. Wie vorhin schon gesagt, war der Geist ja ursprünglich vermutlich eine Projektion unserer Körperfunktionen und hat sich dann zu einem quasi unabhängigen Wesen entwickelt. Sicher ist euch schon längst klar, was das bedeutet, Jungs. Es ist, als hättet ihr einen kleinen Mann im Ohr – oder jedenfalls so ähnlich. Ist das nicht ein dolles Ding?«

Der Kassettenrecorder lachte kurz über seinen kleinen Scherz, dann fuhr er fort.

»Und was ist also die Folge dieses Mischmaschs? Nun, Kinder, wir sind in einer Art symbiotischem Zustand, von dem Geist und Körper profitieren, wenngleich sich auch unser Mr. Geist ein bisschen parasitär benimmt. Aber trotzdem kann – theoretisch – jeder der beiden ohne den anderen existieren. Na, jedenfalls sagen die Großen Denker das.«

Marvin spulte vor.

»Was nun das Projizieren des Geistes angeht – nun, Leute, stellt euch einfach vor, ihr werft einen Ball …«

»Geist in Körper, und umgekehrt. Letzten Endes sind sie lediglich unterschiedliche Formen derselben Sache, so wie Materie und Energie. Natürlich müssen wir uns nun noch ansehen, wie …«

»Natürlich ist unser Wissen darüber rein pragmatischer Natur. Wir könnten uns dazu kurz Van Voorhes' Agglutinierende Reform und die Theorie der relativen Absoluta ansehen. Allerdings werfen diese beiden Theorien mehr Fragen auf, als sie beantworten …«

»… und die ganze Geschichte ist nur möglich durch das etwas überraschende Fehlen einer Immuniform-Reaktion.«

»Für den Körperaustausch werden mechanische Hypnosetechniken benutzt, wie zum Beispiel hypnotischer Tiefschlaf oder die Nadelspitzen-Fixierung. Außerdem verwendet man eine Geist-positive Substanz, Williamit etwa, als Strahlbündler und Verstärker. Das Feedback-Programm …«

»Hat man es erst einmal erlernt, kann man natürlich ohne mechanische Hilfsmittel körpertauschen, wobei man sein Ziel durch Sichtkontakt anvisiert …«

Marvin schaltete das Lexikon ab und dachte an den Weltraum, an die vielen Planeten und an die exotischen Bewohner dieser Planeten. Er dachte an den Körperaustausch. Er dachte: Morgen könnte ich auf dem Mars sein. Morgen könnte ich ein Marsianer sein …

Er sprang auf. »Beim Teutates!«, rief er und schlug mit der geballten Rechten in die Handfläche seiner linken Hand. »Ich werde es tun!«

In einem Anfall plötzlicher Entschlossenheit packte er seinen Koffer, hinterließ seinen Eltern einen Zettel und flog mit dem nächsten Jet nach New York.

3

In New York ging Marvin schnurstracks zum Körpervermittlungsinstitut Otis, Blanders und Kent. Er wurde in das Büro von Mr. Blanders geschickt, einem großen, athletischen Mann im besten Mannesalter von dreiundsechzig Jahren. Diesem erklärte er den Grund seines Besuchs.

»Natürlich«, sagte Mr. Blanders. »Sie kommen wegen unserer Anzeige letzten Freitag. Der Name des Gentleman vom Mars ist Ze Kraggash, und er hat beste Referenzen von den Rektoren der East Skern Universität.«

»Wie sieht er aus?«

»Schauen Sie selbst«, sagte Blanders. Er zeigte Marvin das Foto eines Wesens mit einem mächtigen Brustkasten, dünnen Beinen, etwas dickeren Armen und einem kleinen Kopf mit einer extrem langen Nase. Das Bild zeigte Kraggash, wie er knietief im Morast stand und jemandem zuwinkte. Unter dem Foto stand: »Souvenir aus Schlammparadies, Ganzjahres-Urlaubsland des Mars, höchster Feuchtigkeitsgehalt auf dem Planeten!«

»Sympathisch aussehender Bursche«, bemerkte Mr. Blanders. Marvin nickte, obwohl Kraggash für ihn aussah wie jeder andere Marsianer auch.

»Er wohnt«, fuhr Mr. Blanders fort, »in Wagomstamk. Das liegt am Rand der Schwindenden Wüste in Neu-Süd-Mars. Es ist ein bekannter Touristenort, wie Sie sicher wissen. Wie Sie, liebt auch Mr. Kraggash das Reisen und wünscht, einen geeigneten Gastkörper zu finden. Er hat es völlig uns überlassen, eine Wahl zu treffen. Seine einzige Bedingung sind körperliche und geistige Gesundheit seines Tauschpartners.«

»Nun«, sagte Marvin, »ich möchte nicht damit angeben, aber bislang hatte ich noch nie gesundheitliche Probleme.«

»Das sehe ich auf den ersten Blick«, sagte Mr. Blanders. »Natürlich ist es nur ein Gefühl, oder vielleicht Intuition. Aber nach dreißig Jahren Erfahrung in diesem Beruf vertraue ich meinen Gefühlen. Nur auf Grund meiner Intuition habe ich die ersten drei Interessenten für diesen Körpertausch abgelehnt.«

Mr. Blanders schien darauf so stolz zu sein, dass Marvin sich zu sagen verpflichtet fühlte: »Das haben Sie tatsächlich?«

»Allerdings. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft ich in diesem Beruf Leute als ungeeignet zurückweisen muss. Neurotiker, die ihre krankhaften Neigungen befriedigen wollen; Kriminelle, die vor dem Gesetz fliehen wollen; geistig Labile, die ihrem inneren psychischen Druck entkommen wollen. Und viele andere. Die werden von mir alle aussortiert.«

»Ich hoffe, dass ich nicht zu einer dieser Kategorien gehöre«, sagte Marvin mit einem unsicheren Lachen.

»Ich sehe Ihnen an, dass das nicht der Fall ist«, sagte Mr. Blanders. »Ich schätze Sie als einen äußerst normalen jungen Mann ein, schon beinahe exzessiv normal, wenn es das gibt. Das Reisefieber hat Sie gepackt, was in Ihrem Alter völlig normal ist. Genauso wie sich zu verlieben oder einen idealistischen Krieg zu führen oder seine Illusion über die Welt zu verlieren oder andere Gefühle, die junge Leute durchmachen. Es war sehr klug von Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind, dem ältesten und vertrauenswürdigsten Vermittlungsinstitut im Körpertausch-Geschäft, und es nicht bei einem unserer weniger gewissenhaften Konkurrenten oder gar auf dem Freien Markt versucht haben.«

Marvin wusste so gut wie nichts über den Freien Markt; aber um seine Unkenntnis nicht zu zeigen, fragte er nicht.

»Also dann«, sagte Mr. Blanders. »Zunächst müssen wir noch einige Formalitäten erledigen.«

»Formalitäten?«, fragte Marvin.

»Allerdings. Zunächst müssen Sie eine gründliche Untersuchung Ihrer körperlichen, geistigen und moralischen Verfassung über sich ergehen lassen. Das ist notwendig, denn der Körpertausch soll für beide Beteiligten unter gleichen Bedingungen ablaufen. Sie wären sicher gar nicht erfreut darüber, im Körper eines Marsianers zu landen, der unter Sandpest oder unter dem Tunnel-Syndrom leidet. Und umgekehrt würde es Ihren Tauschpartner sicher sehr stören, wenn Sie Rachitis oder Paranoia hätten. Laut unseren Geschäftsbedingungen müssen wir uns einen möglichst vollständigen Eindruck von der körperlichen und geistigen Gesundheit der Körpertauscher verschaffen und sie über alle Diskrepanzen zwischen dem vorgeblichen und dem tatsächlichen Gesundheitszustand in Kenntnis setzen.«

»Ich verstehe«, sagte Marvin. »Und was geschieht danach?«

»Dann werden Sie und der marsianische Gentleman beide eine Schadensausgleichsklausel unterzeichnen. Sie besagt erstens, dass für jeden Schaden, der durch Vorsatz, Unfall oder höhere Gewalt an Ihrem Gastkörper entsteht, Schadenersatz im Rahmen der derzeit gültigen interstellaren Konventionen zu leisten ist, und zweitens, dass im Falle eines solchen Schadens eben dieser Schaden im Rahmen des Schadensausgleichs getreu der lex talionis auch an Ihrem eigenen Körper manifestiert wird.«