Der Selbstmordverein (Historischer Roman) - Franziska Gräfin zu Reventlow - E-Book

Der Selbstmordverein (Historischer Roman) E-Book

Franziska Gräfin zu Reventlow

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Beschreibung

Der historische Roman 'Der Selbstmordverein' von Franziska Gräfin zu Reventlow entführt den Leser ins München der späten 1800er Jahre. Mit ihrem einzigartigen literarischen Stil, der von Ironie und subtiler Gesellschaftskritik geprägt ist, erzählt zu Reventlow die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die sich einem geheimen Selbstmordverein anschließen. Durch die Darstellung der unterschiedlichen Beweggründe und Schicksale der Vereinsmitglieder erforscht der Roman die dunklen Seiten des menschlichen Seins und wirft gleichzeitig Fragen nach moralischer Verantwortung auf. Zu Reventlow schafft es, historische Fakten mit fiktiven Elementen zu verweben und so ein fesselndes und tiefgründiges Leseerlebnis zu schaffen. Franziska Gräfin zu Reventlow, bekannt für ihre rebellische Persönlichkeit und feministische Ansichten, bringt in 'Der Selbstmordverein' ihre kritische Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit zum Ausdruck. Als eine der führenden Stimmen der literarischen Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert liefert zu Reventlow mit diesem Roman nicht nur eine spannende Geschichte, sondern regt auch dazu an, über die Existenzialismus, individuelle Freiheit und die Suche nach Sinn im Leben nachzudenken. 'Der Selbstmordverein' ist ein Buch, das den Leser dazu herausfordert, über moralische Dilemmata und die Komplexität des menschlichen Geistes nachzudenken und dabei eine unvergessliche Leseerfahrung bietet.

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Franziska Gräfin zu Reventlow

Der Selbstmordverein

(Historischer Roman)
Die Zeit der Belle Époque
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Inhaltsverzeichnis

Cover
Title Page
Text

Der Selbstmordverein (Vollständige Ausgabe)

Inhaltsverzeichnis

Die Geschichte fing damit an, daß der junge Baron Henning bei einem Künstlerball eine Dame kennenlernte, die sich Lucy nannte und durchaus rätselhaft blieb. Sie war mit einem schwedischen Herrn gekommen und später wieder mit ihm verschwunden – man wußte von beiden nichts Näheres.

Lucy war nicht eigentlich schön, aber, wie von allen Sachverständigen festgestellt wurde, ungemein reizvoll, mit einem weißen, sanften Gesicht und einem Mund, der eher zu frechen und pikanten Zügen gepaßt hätte. Er war auffallend rot und die Oberlippe kurz, so daß die Zähne stets ein wenig herausfordernd zum Vorschein kamen. Eben in diesen Gegensatz verliebte sich Henning, aber nachdem er einmal mit ihr getanzt hatte, gelang es ihm nicht, ihr mehr nahezukommen und die Bekanntschaft, wie er es gewünscht hätte, festzulegen, so daß eine Fortsetzung folgen konnte. Er wurde sich nicht einmal klar, in welche Sphäre sie einzureihen sei – vielleicht in die zweifelhafte, es konnte aber auch ein junges Mädchen oder eine verheiratete Frau sein, die im Rahmen des zwanglosen Festes über die Stränge schlug.

Der Schwede behandelte sie korrekt und anscheinend mit Hochachtung, sie zeigte auch einwandfreie Manieren, tanzte aber wie toll, völlig hingerissen, man hätte beinah sagen können, disparat, und gegen Schluß des Balles, als die Stimmung den üblichen Höhepunkt vor Schluß und Aufbruch erreichte, schwang Lucy, die Fremde und Undefinierbare, sich mit Hilfe ihres Kavaliers auf den Tisch, an dessen Ende Henning mit seiner Gesellschaft saß, und tanzte einen raschen wirbelnden Tanz, sprang leichtfüßig wieder herunter und war dann endgültig verschwunden.

Henning war schon müde und saß da in einer Art von Betäubung, er sah nur die leichten, wirbelnden Füße in den zierlichsten Schuhen und durchsichtigsten Strümpfen, die man sich denken konnte, die schwarze, funkelnde Seide ihres Kleides, das sich raschelnd drehte, und sah von unten herauf in das schon erwähnte sanfte Gesicht mit den dunklen Augen und dem impertinenten Mund.

Dann stand er noch eine Weile vor dem Hotel, während die Gäste sich allmählich verliefen und die Autos nach allen Seiten davonstoben, und ging schließlich nach Hause, um bis zum nächsten Nachmittag zu schlafen.

Er wohnte damals mit seinem Freunde, dem Doktor Burmann, zusammen, der das Fest nicht mitgemacht hatte, denn er war ein vielbeschäftigter Arzt und noch spät abends zu einem Kranken gerufen worden. Mit einigen Stoßseufzern über den ewigen Zwang seiner Berufspflichten warf er sich in den Sessel, als man sich gegen fünf Uhr zum Tee zusammenfand, und hörte dann nachdenklich Hennings Bericht an. Der lag lang hingestreckt in seinem Schaukelstuhl, den er jedem anderen Möbel vorzog, ein wenig übernächtigt und so nervös, daß er jedesmal zusammenfuhr, wenn es draußen klingelte. Das aber geschah des öfteren, denn die beiden Junggesellen machten sozusagen ein Haus. Außer den Konsultationsräumen im Parterre hatten sie eine umfangreiche Etage inne und sahen gerne ihre Bekannten bei sich. Die damit verbundenen Äußerlichkeiten wickelten sich in guter Ordnung und ziemlich unmerkbar ab, eine tüchtige Wirtschafterin, die fast nie zum Vorschein kam, sorgte für den Haushalt, und die sichtbare Bedienung lag dem alten Diener Josias ob, den Henning sich von daheim mitgebracht hatte und der mit seinem weißen Haar und Bart aussah wie ein greiser König, der seine Krone verloren hat. Und schließlich gab es noch Frau Käthe, Burmanns platonische Freundin, wie sie selbst sich gerne nennen hörte, da sie gleichen Wert auf ihre Bewegungsfreiheit wie auf ihren guten Ruf legte. Sie hatten sich schon als Kinder gekannt und pflegten seitdem eine Art geschwisterlicher Beziehung. So ging sie unbekümmert aus und ein, sah ein wenig nach dem Rechten und spielte gelegentlich, wenn man Gäste einlud, die Hausfrau oder, wenn der Doktor schwierige Patienten hatte, auch die Empfangsdame. Im übrigen war sie früh Witwe geworden und hatte keine Lust, sich wieder zu verheiraten.

Sie kam denn auch heute, fiel mitten in das Gespräch der beiden Freunde hinein und erklärte in ihrer heiteren, energischen Art, sie merke wohl, daß sie störe, aber es fiele ihr nicht ein, wieder fortzugehn, im Gegenteil, man müsse ihr helfen, diesen trostlosen Regensonntag totzuschlagen. Damit hatte sie auch schon ihren Pelz mitten ins Zimmer über einen Stuhl geworfen, sich einen bequemen Sessel dicht an den Ofen geschoben und verlangte Tee, einen guten, heißen Tee mit Arrak. Der alte Josias, der sie tief und stumm verehrte, beschleunigte seine feierlichen Bewegungen, bis alles Nötige am Platze war, rollte den Teetisch herbei, schenkte ein und verschwand.

«So, jetzt geht es mir schon besser», sagte Frau Käthe,«und jetzt soll es meinetwegen weiterregnen, aber zu Hause – mir war heute zumut wie einer richtigen einsamen Witwe, die eigentlich in die Kirche gehen sollte und nachher Wohltätigkeitsbesuche machen.»

«Äh, und statt dessen kamen Sie zu uns – zu den Armen im Geist, mit der gütigen Absicht, uns etwas aufzuhellen.»

«Er tut uns unrecht», sagte Burmann,«denn grade heute können wir dir etwas Besonderes bieten, Käthe. Wir haben ein neues Thema.»

Henning machte eine ablehnende Handbewegung, aber der andere fuhr unerbittlich fort.

«Ein ganz neues Thema, wenn es auch das ewig alte Lied ist...»

«O wie langweilig», meinte Frau Käthe, «also Liebe. Hat sich wieder einmal einer von euch verliebt? Das ist doch nichts Neues.»

«Freilich etwas Neues und ganz Ungewöhnliches, denn Henning ist seit gestern nacht in ein Phantom verliebt und wird, wie ich ihn kenne, nun diesem Phantom nachjagen, wie er bisher wirklichen und realen Frauen nachlief.»

«Wetten, daß sie es auf mich abgesehen hat?» sagte Henning. «Als sie anfing zu tanzen, hat sie mir einen Blick zugeworfen, und als sie aufhörte, eine Bewegung mit der Hand – – –»

«Aber dann verschwand sie.»

«Ich werd sie schon wiederfinden... Wenn ich nur wüßte, was sie mit dem verdammten Schweden zu tun hat.»

«Nun, vermutlich hat sie eine Liaison mit ihm.»

Henning stöhnte, und Frau Käthe begann nun viele Fragen zu tun. Sie wollte alles ganz genau wissen und wurde geradezu ärgerlich über die Unterbrechung, als es draußen klingelte, zwei-, dreimal rasch hintereinander.

Dann steckte der alte Diener den Kopf in die Tür:

«Fräulein Nini», meldete er vorsichtig und sah seinen Herrn fragend an.

«Wegschicken, Josias, ich bin heute durchaus nicht zu sprechen.» Und während das geräuschlos und taktvoll ausgeführt wurde, stöhnte er wiederum ein wenig: «O Gott... wie bin ich all diese Ninis und Lulus müde – – Sonntag nachmittag – Dämmerung – Langeweile – Pardon, ich nehme an, daß ihr beiden nicht hier wäret – und dann so ein herziges Gesichterl mit einem großen Hut oder einem winzigen Hut. Und das setzt sich dann ans Klavier und will mich aufheitern und singt seine Couplets, ein rührsames Volkslied oder je nach dem Niveau auch etwas anderes und will soupieren...»

«Du bist heute absolut wie der Lebemann in einem mittelmäßigen Salonstück», sagte Burmann. «Schau ihn nur an, Käthe, wie er dasitzt, den Kopf etwas hintenüber, die Haltung müde, die Augen vor lauter Blasiertheit nur noch zwei schwarze Ritzen und: Fort mit den Ninis und Lulus – zum Teufel!»

«So hör doch endlich einmal auf, von mir zu reden.»

«Ja, laß ihn in Ruhe, mir gefällt er heute viel besser als sonst», und Frau Käthe rückte ihren Sessel ganz dicht zu Henning heran. «Ja, sehen Sie, Baron, unser lieber Hans Burmann ist ein langweiliger Mensch mit seiner Praxis und seinen Zielen, aber wir haben noch Sinn für Romantik und verstehen uns viel besser. Schade, schade, daß Sie sich nie in mich verliebt haben und ich hier im Hause nur respektiert und gern gesehen werde. – – – Aber wie es nun einmal ist, kann ich mich gut hineindenken in diese Geschichte. Es gefällt mir, daß Sie sich in diese unwahrscheinliche Lucy verliebt haben, daß grade Sie endlich einmal hinter einem Phantom herlaufen wollen – ein Phantom mit einem verdammten Schweden – das ist sehr hübsch... Ach Gott, schon wieder ein Besuch...»

«Diesmal wird's wohl die Lulu sein», meinte Henning resigniert, «und es war grade so nett, Ihnen zuzuhören...»Er küßte ihr die Hand.

Es hatte wieder geschellt, aber diesmal viel zuversichtlicher als vorhin. Ninis Position war schon seit einiger Zeit ins Schwanken geraten, und das gab sich auch in ihrem leicht vibrierenden Anläuten kund.

«Der Herr Vetter und Fräulein Hedy», meldete Josias mit wohlwollendem Lächeln, und schon brachen die beiden Angekündigten mit geräuschvollem Vergnügen ins Zimmer ein, ohne erst abzuwarten, ob sie willkommen waren oder nicht. Es waren Burmanns Vetter Georg, ein achtzehnjähriger Gymnasiast, und seine Freundin Hedy, die kaum siebzehn zählte. Die zwei liebten sich, machten hier im Hause kein Geheimnis daraus und wurden wohlwollend protegiert und geduldet. Es war nichts dabei zu machen, auch wenn die Älteren ihre Bedenken hatten, sie waren viel zu überzeugt von ihrer guten Sache und ihren Rechten an das Leben. Man versuchte wohl hier und da, pädagogisch auf sie einzuwirken, aber es nützte gar nichts. Sie liebten sich und basta. Sie fanden es herrlich und wollten keinen Moment verlieren und basta. Georg war seinem Äußeren nach ein hübscher Durchschnittsjunge aus guter Familie, Hedy brünett und lebhaft, aus wohlhabendem Parvenümilieu und nach dem, was sie erzählte, jedenfalls darauf berechnet, nach einer sorgfältigen Erziehung eine gute Partie zu machen.

Sie wollte gleich anfangen, von ihren neuesten Eskapaden und Gaunerstreichen zu erzählen, aber es war heute keine Stimmung dafür. Man ließ sie nicht recht aufkommen, versorgte sie nur mit Tee und Süßigkeiten und fuhr fort, von Lucy und dem gestrigen Fest zu sprechen.

«Recht so, Henning», sagte der kleine Georg, als er erfaßt hatte, worum es sich handelte. «Machen Sie nur einmal Ernst und stecken Sie Ihr Rouéleben auf – das ist ja langweilig – das ist ja unschön. Grad vorhin sind wir Ihrer Nini begegnet – Sie haben sie wohl weggeschickt, und dann läuft sie zu einem anderen, um den Abend totzuschlagen. Das ist vielleicht nicht schön von ihr, aber Sie machen sie eben auch nicht glücklich.»

«Was wissen denn Sie davon, Sie dummer Bub?»

Georg und Hedy sahen sich nur an und platzten vor Lachen. Sie saßen da und tranken alle süßen Schnäpse aus, die sie nur erreichen konnten. Oh, sie kannten das Leben und waren überzeugt, alle anderen seien nur elende Stümper.

Später bestürmten sie Burmann um Geld. Sie brauchten immer Geld, sie mußten Auto fahren, um nicht gesehen zu werden, und heute wollten sie gemeinsam zu Abend essen, denn Hedys Eltern gingen aus.

«Kinder, Kinder», sagte Burmann und warf ihnen ein Goldstück zu, das die Kleine geschickt auffing. Aber sie wurde dunkelrot dabei.

«Wär's hingefallen, so müßten wir darauf verzichten, Herr Doktor, ich kann mir doch nicht so Geld hinwerfen lassen wie eine... und Georg erst recht nicht, wenn ich dabeibin.»

«Eine feine Lektion, Hedy, ich will's mir merken. Bleiben Sie nur bei diesen Empfindungen, damit es nicht einmal schiefgeht mit Ihnen.»

«Das wird es nie, dazu bin ich viel zu gut erzogen.» Sie lächelte vergnügt und ein wenig zweideutig zu Georg hinüber.

Der wurde verlegen: «Du könntest es mir tatsächlich ebensogut in die Hand geben, Hans, oder auf den Tisch legen – – und außerdem reicht es nicht. Wir müssen Chambre séparée nehmen, man kann überall Leute treffen.»

«Nein, hört einmal, das ist doch etwas reichlich», protestierte Käthe, die sonst diesem Fall ein wenig ratlos gegenüberstand, «du, Georg, mußt doch an Hedys Ruf denken.»

«Ich heirate sie ja.»

Sie bekamen nun noch ein zweites Goldstück, welches diesmal in aller Form überreicht wurde, und zogen beglückt von dannen.

Es ging jetzt schon gegen Abend, der Regen rann immer weiter gleichmäßig und ermüdend an den Fenstern nieder.

Man hörte die beiden jungen Leute auf der Treppe noch lachen, bis die Haustür drunten ins Schloß fiel, und lauschte ihnen unwillkürlich nach.

Burmann war aufgestanden und wanderte im Zimmer auf und ab. Dann machte er vor einer Etagere halt, auf der einige indische Nippes standen und betrachtete sie anscheinend mit gespannter Aufmerksamkeit.

«Hast du etwa wieder Verantwortungsgedanken?»fragte Henning.

«Nein – Verantwortung stimmt nicht ganz. Es ist nur so ein dummes Gefühl... Ich hätte mich lieber nicht darauf einlassen sollen, in diesem Babyroman den Mitwisser zu machen. Ich spiel da wirklich eine ungeschickte Rolle. Für die beiden bin ich der ältere Vetter, dem man blind vertraut und Geld abknöpft, dafür darf ich dann, wenn's einmal hapert, mit ihnen durch dick und dünn gehen. Und den etwaigen Eltern gegenüber – stellt euch nur den Fall vor, daß etwas aufkommt oder es irgendein Malheur gibt...»

Er machte eine ironische Grimasse. «Ich bin es so gewöhnt, tadellos dazustehen, und ihr habt alle nichts Besseres zu tun, als mich jeden Augenblick in eure – Verzeihung – zweifelhaften Abenteuer hineinzuziehen.»

«Ich doch nicht», rief Käthe empört.

«Nein, du machst eine rühmenswerte Ausnahme. Wenn du welche hast, weiß man wenigstens nichts davon.» Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick, und Burmann fühlte eine plötzliche Neugier in sich aufsteigen, ob diese immerhin hübsche und unabhängige Frau, die er wie eine Art Schwester betrachtete, wohl wirklich so ungestört und ohne Erlebnisse ihren Weg ging. Aber dann bemerkte er, daß Henning ihn fragend ansah, und kam wieder auf seinen Gedankengang zurück.

«Nein, mir ist nicht ganz wohl dabei, denn nach meinen bisherigen Erfahrungen gehen die meisten Abenteuer schlecht aus, wenigstens die der anderen... Mit meinen eigenen Angelegenheiten – es bleiben eben immer Angelegenheiten – habe ich im ganzen weder Glück noch Pech. Das verläuft alles so schön friedlich und mittelmäßig, wie es sich für einen normalen Bürger gehört.»

«Meinst du denn, Hans, daß diese beiden Kinder...?» fragte Käthe.

«Kinder? Gott, das ist immerhin seine siebzehn oder achtzehn Jahre alt und geht, wie du siehst, ohne Gardedame im Chambre séparée soupieren. Was soll es da nützen, sie zu warnen?»

«Nein», sagte Henning, während er von seinem Schaukelstuhl aus etwas schläfrig jeder Bewegung seines Freundes folgte, «andere zu warnen, ist die überflüssigste und sinnloseste Beschäftigung, die je erfunden wurde. Vor was, um Gottes willen, willst du denn mich oder die beiden glücklichen Krabben warnen? Vor dem Unheil, das aus jeder Freude entstehen kann, einerlei, auf welchem Gebiet man sie sucht. Sobald man daran denkt, ist ja auch die Freude hin, wenigstens die richtige, unbefangene.» Er hob die Arme und dehnte sich weit hintenüber mit einem fast verächtlichen Ausdruck um die Lippen. «Dann warne lieber gleich vor dem Leben in Bausch und Bogen, das Leben ist ja so bedenklich und riskant auf Schritt und Tritt...»

«Sie reden ja ganz weltschmerzlich, Henning, das ist wieder eine neue Nuance bei Ihnen.»

«Nein, nur angeödet, teure Frau Käthe. Vor allem liegt mir der Brief von meinem alten Herrn im Magen – Sie wissen ja, er hat sich wieder verheiratet und fängt an, mich mit kleinen Stiefbrüdern zu beglücken. Ich gönne es ihm von Herzen, aber meine Situation wird sich sehr verändern, und darüber hält er mir jetzt ausführliche Vorträge. Vorläufig sind es nur Briefe, aber die unangenehmen Tatsachen werden schon folgen... Sehen Sie, Hans Burmann hat vorhin gesagt, er sei gewöhnt, tadellos dazustehen – und ich bin gewöhnt, so zu leben» – er machte eine Geste über das behaglich und elegant eingerichtete Zimmer.

«Das soll ich mir nun abgewöhnen oder einen Beruf ergreifen – Sakrament... Und gerade in diesem Moment läuft mir ein Weib über den Weg...»

Burmann hatte mit mehr Teilnahme zugehört, als er sich anmerken lassen wollte, aber nun lächelte er:

«Für das du viel Geld ausgeben möchtest, nicht wahr? Lieber Junge, einstweilen ist sie dir doch nur über den Weg gelaufen. Wer weiß, ob du sie überhaupt wiedersiehst. Mir scheint, du brauchst dir einstweilen noch keine Sorgen über eure gemeinsame Zukunft zu machen.»

«Und Phantome sind vielleicht nicht so anspruchsvoll», sagte Frau Käthe tröstend.

«Ich bitte euch, laßt eure Witze.» Henning zog nervös die Brauen zusammen, warf einen Blick auf die Uhr und stand auf: «Ich finde sie schon noch. Ach, schell doch dem Josias, da du gerade bei der Tür stehst, Hans. Ich denke, wir ziehen uns jetzt um und gehen essen. Frau Käthe wird inzwischen das Handschreiben meines Vaters lesen... Ich lade Sie zu einem guten Abendessen ein, Frau Käthe – nicht zum Soupieren, um Sie nicht mit Nini auf eine Stufe zu stellen –, Sie sollen selbst Restaurant, Menü und alles, was Sie wollen, bestimmen, und nachher beim Kaffee reden wir ein ernstes Wort über die Zukunft. Ihr müßt mir ein wenig raten.»

«Das nützt ja doch nichts, Henning, Ihre Zukunft... die wird doch immer nur von Ihren Renten abhängen. Außerdem wird es mir nachgerade langweilig, daß ihr mich immer nur in euren ernsten Angelegenheiten zu Rate zieht, jetzt möchte ich auch einmal die frivolen mitmachen. Lieber helfe ich Ihnen Lucy suchen...»

Die Ninis und Lulus, die bisher eine ziemliche Rolle in Hennings Leben spielten, hatten jetzt schlechte Zeiten, und über ihn selbst gingen bald trübe Gerüchte um. Es hieß, er sei finanziell ruiniert und habe sich an die vermögliche Frau Käthe Tergens gehängt, die ihn zu heiraten und zu rangieren gedenke. Überall begegnete man den beiden zusammen, sie machten alle Vergnügungen der Saison mit, wurden außerdem viel in Restaurants, Tea-rooms, Kaffeehäusern und nächtlicherweile in den Bars gesehen – derselbe Baron Erasmus von Henning, der wohl für einen Lebemann, gleichzeitig aber als einwandfreier Gesellschaftsmensch galt, und dieselbe Frau Käthe Tergens, gegen deren unbescholtenes Dasein sich bisher keine Beweise hatten aufbringen lassen.

Tatsächlich hatten die beiden eine Art Bund miteinander geschlossen und, wie sie an jenem Sonntagabend halb scherzend vereinbarten, gemeinsam die Jagd nach dem Phantom Lucy und dem Schweden aufgenommen, dem verdammten Schweden, wie man ihn in einer Mischung von Ressentiment und Wohlwollen auch fernerhin bezeichnete... Die große Chance war, Lucy selbst wieder zu begegnen, aber auch wenn es nur gelang, den Schweden aufzufinden, so ließen sich ja jedenfalls Anhaltspunkte über ihre Personalien und ihren Verbleib gewinnen. In Henning nun hatte sich die Idee festgesetzt, daß er sie schwerlich auf der Straße oder in irgendeinem normalen Tagesmilieu treffen würde, sondern eher, wie jenes erste Mal, in einer Umgebung von Lärm, Menschenfülle und festlicher Bewegtheit. Als Jagdgründe galten daher vor allem die Stätten des Vergnügens, und zwar durchmaß man die vornehmeren wie die minderwertigen und zweifelhaften, da man ja über Lucys soziale Sphäre, über ihre Neigungen, wie über alles andere, vollkommen im unklaren tappte.

«Ich taxiere sie auf Typus ‹Schlange›», hatte Käthe gemeint, «ein bißl dämonisch, wie es dazugehört. Dämonische Schlangen haben selbstredend extravagante Gelüste und wollen sich überall herumtreiben, um so mehr, wenn sie den verantwortlichen Begleiter damit ärgern können – in diesem Fall den verdammten Schweden.»

«Hoffen wir, daß sie ihn bis aufs Blut ärgert», antwortete Henning voller Eifersucht, «aber auf dämonische Weiber bin ich sonst noch nie hereingefallen, das kann also nicht ganz stimmen, Schlange – vielleicht ein wenig, wenn auch in anderem Sinn... Wo übrigens haben Sie diese Weisheit her, Frau Käthe?»

«Ich weiß nicht... ich habe die Schlangen immer so beneidet, sie verstehen es so gut, anderen die Männer wegzunehmen. Aber es läßt sich nicht lernen, wenn man kein angeborenes Talent dazu hat.»

Sie sah dabei ganz sehnsüchtig drein, und Henning betrachtete sie mit Interesse. Sie war ruhig, elegant, selbstsicher, und alle Einzelheiten stimmten, im Äußeren wie im Wesen. Das sagte er ihr auch und setzte hinzu, sie brauche keine Schlangen zu beneiden, durchaus nicht, und solle nur ja so bleiben, wie sie sei.

«Aber wer soll ihr dann den Schweden abspenstig machen?»

«Sie selbst wird abspenstig gemacht, den Schweden brauchen wir dann überhaupt nicht mehr.»

Doktor Burmann war unzufrieden mit den beiden, besonders wenn er sie über solchen und ähnlichen Gesprächen betraf, die jetzt an der Tagesordnung waren. Schier endlos konnten sie darüber fortreden, wer Lucy wohl sei und wie sie sei, was sie täte, wie sie lebte, oder sich ausmalen, was für Situationen zustande kommen würden. Sie machten einen ganzen Roman oder eine Legende daraus, in der sie lebten und in die sie immer neue Züge hineinphantasierten. Und er, Burmann, fand dieses Treiben mehr als absurd. Wenn es schließlich nur das gewesen wäre, aber bei Henning fing es nachgerade an ins Pathologische abzuirren.

Er hatte niemals ausgesprochene Interessen gehabt und sich nie in besonders nützlicher Weise betätigt, aber jetzt setzte er sich dieses Weib in den Kopf, das er nicht einmal kannte, und beschäftigte sich damit wie ein Gelehrter mit einem wichtigen Problem oder auch wie ein Monomane mit seiner fixen Idee. Und Käthe, die sonst so Vernünftige, machte das alles enthusiastisch mit und ohne darauf zu achten, daß sie sich auf eine unsinnige Weise kompromittierte.

«Höre einmal, mein Lieber, wie lange soll das eigentlich noch so fortgehen?» fragte Burmann eines Morgens beim ersten Frühstück, das sie gemeinsam im Eßzimmer einnahmen. Henning war eben erst aus seinem heißen Bade gestiegen, saß da im Frottiermantel und betrachtete vertieft seine gepflegte Hand. Er war sichtlich in jener weichen, verträumten Morgenstimmung, die man gerne noch eine Weile festhalten möchte. Aber jetzt hob er den Kopf, und Burmann betrachtete ihn kritisch, ein wenig ärgerlich. Zweifellos war er ein schöner Mensch, nur wenn man ihn näher kannte, begriff man nicht recht, weshalb die Natur ihn mit so energischen, beinah harten Zügen ausgestattet hatte, die durch das dunkle Haar und die dunklen Augen unter einer breiten gewölbten Stirn noch mehr betont wurden. Er sah in dieser seiner Morgentoilette aus wie ein Stierkämpfer, der Pause macht und mit seinem heroischen Metier innerlich gar nichts zu tun hat.

«Bis wir sie finden», sagte er abwesend.

«Wer sagt dir denn, daß sie überhaupt noch hier ist?»

«Sicher ist sie hier. Man hat uns neulich in der Bar Rouge ein Paar beschrieben – es schien alles zu stimmen, auch wie sie getanzt hat und wie der Schwede aussah. So gehen wir jetzt vorläufig gegen zwölf oder eins in diese Bar, die zwar an sich ziemlich mesquin ist. Aber es ist momentan chic, dahin zu gehen, und man findet sogar ganz mögliche Leute.»

«Kannst du denn nicht allein hingehen? Ich finde ja nur, du solltest Käthe aus dem Spiel lassen.»

«Ah, die Käthe!» sagte Henning voll Bewunderung. «Nein, laß sie nur, sie ist alt genug, um für sich selbst einzustehen.» Er hatte dabei aufgesehen und begegnete einem beobachtenden Blick.

«Nein, nein, es besteht durchaus keine unerlaubte Beziehung zwischen uns... wir haben nur einen Spleen miteinander. Das ist eine ganz zarte Sache. Wenn ich mich geschraubt ausdrücken darf, etwas beinah Mystisches. Ja, lache nur.»

Burmann sah ihn jetzt wirklich maßlos erstaunt an.

«Gott sei mit dir, du fängst wahrhaftig an zu reden wie ein Kaffeehausliterat.»

Henning schenkte sich zum drittenmal Kaffee ein, trank ihn langsam aus und schob dann die Tasse weg.

«Was willst du, man ist nicht gewöhnt, von subtileren Gefühlen zu reden, und deshalb klingt es uns nach Literatur. Aber ich genieße alles das wirklich wie etwas ganz Neues.»

«Die subtilen Gefühle?»

«Ja... ich träume von diesem Mädchen – du mußt auch diesen lyrischen Ausdruck verwinden – und davon, daß ich sie kriegen könnte. Sie hat eben einen ganz seltenen Eindruck auf mich gemacht. Ich bin fest überzeugt, ich weiß es beinah, daß ich sie wiedertreffe und daß sie mich auch will. Ich habe also jetzt eine Art Vorfreude mit einiger Unruhe und Sehnsucht. Mach doch nicht so ein Gesicht... du hast wirklich keine Fühlfäden für solche Dinge...»

«Wer weiß...»

«Aber Käthe hat sie», fuhr Henning unbeirrt fort, «sie geht in jeder Beziehung mit. Du glaubst gar nicht, wieviel Romantik in ihr steckt, ich hatte sie immer für ein wenig nüchtern gehalten. Aber wie sie all die Stimmungen genießt und, last not least, wie sie flirten kann. Da ist ein Barkavalier, der ihr auf Tod und Leben die Cour macht und nicht begreift, was sie an mir findet, wo wir doch immer so stumpfsinnig miteinander herumsäßen... ich schwärme einfach für Käthe. Überhaupt, früher habe ich mich entweder gelangweilt oder amüsiert, jetzt bin ich nahezu so etwas wie glücklich – eine Frau, die mich wirklich reizt, der ich nachlaufe, gewissermaßen wie im Nebel, aber sie wird, so Gott will, einmal sichtbar werden, und eine, die mir derweil Gesellschaft leistet und dabei immer sympathischere Seiten entwickelt.»

«Es wird damit enden, daß ihr zwei euch ineinander verliebt.»

«Gott bewahre, ich sage dir ja, wir haben nur einen Spleen miteinander.»

«Ach, Henning, alter Junge, was soll aus dir werden», sagte Burmann mit einiger Herzlichkeit. Er wußte selber nicht warum, aber seine Verstimmung begann zu weichen. «Was man so im allgemeinen einen Charakter nennt, bist du ja nie gewesen... bitte, nimm mir das nicht übel.»

«Weit entfernt, ich weiß es selbst.»

«Schön – es fällt mir auch nicht ein, dir einen Vorwurf daraus zu machen. Nur beunruhigt es mich neuerdings, daß du gar so wenig Rückgrat hast. So, wie dein Leben bisher war, bist du ja ganz gut ohne das ausgekommen. Es waren keine Widerstände da, und die begehrten Dinge fielen dir schmerzlos in den Schoß. Aber jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, dich ein wenig zusammenzuraffen und deine Lage, die sich über kurz oder lang bedeutend verändern wird, ins Auge zu fassen...»