Der siebente Mann - Max Brand - E-Book

Der siebente Mann E-Book

Max Brand

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Beschreibung

Auf einer Verfolgungsjagd wird ein Pferd so angeschossen, dass der Reiter es von seinen Leiden erlösen muss. Dadurch wird er wütend und erschiesst einen der sieben Verfolger. - Nach einer weiteren Auseinandersetzung ist ihm klar, dass alle aus der Verfolgergruppe sterben müssen.

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Max Brand

 

Der siebente Mann

Roman

 

 

Aus dem Amerikanischen übertragen vonHellmuth Wetzel

 

 

 

Basel, 2018

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

Title Page

1. Frühling

2. Grey Molly

3. Streit

4. König Alkohol

5. Die Flucht

6. Gewehrschüsse

7. Joan ist ungehorsam

8. Disziplin

9. Der lange Arm des Gesetzes

10. Eine Fährte endet

11. Eine neue Fährte beginnt

12. Die Krisis

13. Gleich um gleich

14. Bange Erwartung

15. Sieben für einen

16. Menschenjagd

17. Der zweite Mann

18. Ob Frauen stark sind?

19. Joans Abenteuer

20. Tischsitten

21. Eine Scheidewasserprobe

22. Der fünfte Mann

23. Schlimme Nachrichten

24. Das Lied der Wildnis

25. Der Kampf

26. Die Probe

27. Der sechste Mann

28. Des Vaters Blut

29. Billy, der Schreiber

30. In den Morgan-Bergen

31. Die Falle

32. Ablösung

33. Der Sprung

34. Die Warnung

35. Der Asper

36. Die leere Höhle

37. Ben Swann

38. Das neue Bündnis

39. Sieg!

40. Ein Schuß der nicht fällt

41. Die Wildgänse

[email protected]

1. Frühling

Ein Mann unter Dreißig braucht Verkehr. Es tut nicht gut, wenn das lebendige Strömen seines Lebens von einem langen Stillschweigen aufgestaut wird wie von einem Damm – es kommt der Tag, wo der Strom entweder den Damm durchbricht oder ihn überflutet, und je stärker das Hindernis war, desto verhängnisvoller und zerstörender ist schließlich der Augenblick, in dem die gestauten Wasser sich ihre Freiheit erkämpfen. Vic Gregg war noch auf der gefährlichen Seite der Dreißig und diesen ganzen Winter über hatte er allein oben in den Bergen leben müssen. Er wollte Betty Neal heiraten, aber zum Heiraten braucht man Geld und deshalb hatte Vic sich den Duncans als Goldgräber verdingt. Sie zahlten ihm fünfzehnhundert Dollar dafür. Aber anstatt sich einen Partner zu nehmen, wollte er das ganze Geld allein verdienen. Es muß schon ein Kerl von besonderem Schrot und Korn sein, der in ein paar Monaten für fünfzehnhundert Dollar Minenarbeit tut, ohne eine Hilfe zu haben, aber Gregg bildete tatsächlich eine von jenen Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Er erledigte die Probebohrungen an vierzehn Plätzen, wo die Duncans Schürfrechte erworben hatten, und war jetzt mit dem fünfzehnten »Claim« auch beinahe zu Ende. Aber er zahlte auch dafür. Die Einsamkeit fraß sich in ihn wie eine Säure. Gewiß war ihm von klein auf das tiefe Schweigen der Einöde, die Stille inmitten der ragenden Gipfel vertraut, die nur manchmal von einem feierlich dahinrollenden Echo unterbrochen wird, aber trotzdem lastete gegen Ende dieser langen Einsiedlerzeit jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkehrte, das Gefühl der Beklemmung schwerer und schwerer auf ihm. Noch ein paar Tage und er war so weit, daß er anfing, mit sich selbst zu sprechen. Es ging ein Wandel mit ihm vor, aber so langsam und unmerklich, daß er sich selbst der Gefahr nicht bewußt wurde. Hätte er einen Spiegel besessen, so hätte er es an diesem Morgen sehen können. Er stand an der Tür seines selbst gezimmerten Unterschlupfs. Es war noch beinah Nacht, der Wind zerrte an dem Hemd, das faltig um seinen von der Arbeit ausgedörrten Körper hing. Seine Stirn war gerunzelt. Auch dieses angestrengte Zusammenziehen der Augenbrauen war ihm allmählich zur Gewohnheit geworden. Ein hageres Gesicht, Augen, die dicht beieinander saßen und eine zurückweichende Stirn, die davon sprach, daß man es mit einer einschichtigen Natur zu tun hatte, einem Mann, der immer nur einen einzigen Zweck im Leben kennt und der über hundertundachtzig Pfund eiserner Muskeln und stählerner Sehnen verfügt, die seinen Wünschen Nachdruck verleihen. So sah Vic Gregg aus, als er vor der Tür stand und wartete, bis der starke Kaffee, den er eben getrunken hatte, die letzten Spinnweben des Schlafs aus seinem Gehirn verjagt hatte.

In diesem Augenblick hörte er einen Adler schreien.

Der Ton schnitt wie ein Messer durch die Nacht der Schlucht. Vic fuhr zusammen und warf einen Blick hinter sich. Infolge der vielfältigen Echos hatte es geklungen, als schreie es dicht an seiner Seite. Dann aber blickte er auf und sah, wie dort oben, im ersten Morgenlicht, zwei Adler miteinander im Kampfe lagen. Er wußte, was es bedeutete. Die Paarungszeit begann und die Schlacht der beiden dort oben galt einer besonderen Beute. Sie schossen davon, sie stürmten gegeneinander mit gezückten Krallen und grimmig geöffneten Schnäbeln, sie stürzten in einem wilden Getümmel schlagender Flügel erdwärts, schwangen sich wieder zur Höhe und stießen oben erneut zusammen, bis einer plötzlich die Schwingen einzog und, wie ein Stein fallend, aus dem Morgenlicht dort oben in die Nacht hinunterschoß.

Der Sieger krächzte eine lange Beschimpfung ins Dunkel der Schlucht hinunter. Eine Weile noch kreiste er hoch oben, den kahlen Kopf auf die Seite gelegt, als erwarte er Beifall von dem einsamen Zuschauer dort unten, dann segelte er, ohne einen Flügelschlag, über die Gipfel davon. Eine Feder tanzte langsam durch die Luft und sank dicht vor Vic zu Boden.

Er starrte hin und rieb sich den steifen, schmerzenden Nacken. Er dehnte die Arme. Die von harter Arbeit verkrampften Muskeln lockerten sich. Das Blut floß wieder rasch und warm durch die Adern. Genießerisch schloß er die Augen und tat einen langen wollüstigen Atemzug. Er trat ins Freie hinaus. Jetzt trug er den Kopf höher, sein Herz schien leichter, und als sein schwer genagelter Schuh klirrend auf den Hammer traf, der dort im Grase lag, gab er dem altvertrauten Werkzeug einen Tritt, daß es trotz seines Gewichts sich überschlagend davonflog. Darüber lächelte er still vor sich hin. Er schlenderte an den Rand des kleinen Plateaus und blickte in die tiefeingerissene Schlucht hinab, in der der Asper floß.

In der gähnenden Tiefe fluteten noch blauschwarze Schatten wie ein Meer, obwohl um Vic herum bereits alles im Morgenlicht erglänzte. Zweitausend Fuß tief blickte man hinab, wo in dem Blockhaus eines Trappers ein einsames Licht durch die Nacht blinkte. Aber rasch hielt jetzt die Morgendämmerung auch dort unten ihren Einzug. Noch während Gregg hinunter starrte, verfärbte sich das Blauschwarz, wurde dünner, violett und purpurn. Gregg sah scharfe, schwarze Spitzen daraus auftauchen und er wußte, daß es die Wipfel der Fichten waren. Schließlich sah er auch noch einen Streifen Grasland im Morgenlicht erglänzen.

Auf ihm lag die Stille wie ein dickes Tuch; das Schweigen der Nacht reichte noch weit hinein in den jungen Tag. Trotzdem warf er plötzlich einen Blick über die Schulter, als höre er einen Schritt, auf den er schon lang gewartet hatte. Doch die Resignation kam fast zugleich mit der Erwartung. Es war nichts als sein Heimweh, oder er wußte nicht Bescheid mit sich.

»Ach, der Teufel«, sagte Vic Gregg. »Es ist Frühling!«

Das Echo gab ihm die Worte in dröhnendem Baß zurück und rollte dann dreimal widerhallend die Wände der Schlucht entlang.

»Frühling!« wiederholte Gregg, diesmal leiser, als fürchte er das Echo noch einmal zu wecken. »Verdammt will ich sein, wenn's nicht Frühling ist!«

Seine Gedanken und Wünsche waren in diesem Augenblick anderswo. Sie galoppierten auf Grey Mollys Rücken an den grasigen Ufern des Asper hinunter. Es kostete ihn bitteren Zwang, sich wieder in die Stimmung des geduldigen Goldschürfers zurückzufinden. Er blickte in die Hütte. Da lagen noch seine Decken, zerwühlt, braun von Schmutz. Ihn schauderte, als sein Blick darauf fiel; die Nacht war bitter kalt gewesen. Ehe er einschlief, hatte er das Magazin, in dem er las, in eine Ecke geschleudert. Jetzt spielte der Wind mit den zerfetzten, vergilbten Blättern, und ihr Flüstern sprach zu Gregg von den zehnmal gelesenen Abenteurergeschichten, die sie enthielten. Er sah die Spielhöllen vor sich, in denen der Rauch in dicken Schwaden hing, er hörte den Singsang des Croupiers hinter der Roulette, tiefe Männerstimmen, das Lachen hübscher Mädchen, den Trommelwirbel galoppierender Hufe, Gebrüll, wie es nur der brennende Whisky des Westens auslösen kann. Er schnüffelte, die Luft in seinem Verschlag war nur vom Geruch verbrannten Specks und eben gebrauten Kaffees erfüllt. Er blickte rechts hinüber und sah seine außer Dienst gestellten ausgefransten Arbeitshosen mit den Löchern an den Knien. Er blickte nach links und starrte seinem verrosteten alten Wecker ins Gesicht. Das rasche, leise Ticken verursachte ihm ein plötzliches Gefühl des Überdrusses und der Müdigkeit, das ihm wie ein Schmerz durch die Glieder schoß.

»Was ist bloß mit mir los?« murmelte er. Selbst diese leisen Worte dröhnten gespenstisch laut durch die Hütte und ein neuer Schauer überlief ihn. »Ich glaube, bei mir geht bald 'ne Schraube los.«

Als müsse er seinen eigenen Gedanken entrinnen, trat er wieder in die Sonne hinaus. Das warme Licht war nach der eisigen Dunkelheit der Baracke so wohltuend, daß er lächelnd zum Himmel hinaufblickte. Ein Westwind wehte und trieb geschäftig eine zersprengte Herde dicker weißer Wolken über die Gipfel herein, geballte Kissen, deren Ränder wie durchsichtiges Silber leuchteten und hinter denen lange, weiße Dunstschleier den Weg bezeichneten, den sie gekommen waren. So tauchten sie weißschimmernd tief unten am blauen Himmel auf und zogen in lockerer Formation ins Tal des Asper hinunter, wo ein Teil von ihnen liegenblieb, wie mächtige Eisgipfel emporragend, während andere Wolken sich wie Vorberge um ihren Fuß gruppierten. Die Hauptmasse des Wolkengebirges aber wich dem Tale aus und entschwand langsam seinem Blick, ostwärts, wo – wie er wußte – das Städtchen Alder lag.

Für Vic Gregg war Alder Athen und Rom zugleich, das Schulhaus war seine Akropolis und Captain Lorrimers Kneipe sein Forum. Mochten andere Leute von größeren Städten zu erzählen haben, Alder genügte, um Vics Phantasie zu beflügeln; außerdem war Grey Molly jetzt dort unten beim Grobschmied auf der Weide, und Betty Neal gab Unterricht in der Schule. Sein Blick folgte den Gebirgszügen, die dort hinüberliefen, folgte den Wolken, die nach Alder hintrieben. Und die lang angestaute Flut in ihm rüttelte am Damm, sprengte ihn in Stücke und brauste in die Freiheit hinaus. Er mußte ganz einfach nach Alder hinunter, endlich einmal einen Schluck trinken, einem Freund die Hand schütteln, Betty Neal küssen! Dann konnte er wieder zurückkommen! Zwei Tage hinunter, zwei Tage herauf und drei Tage, um sich auszutoben – es kostete ihn schließlich nur eine einzige Woche.

Nicht zwei Stunden vergingen, da hatte Vic Gregg seine gewichtigeren Ausrüstungsgegenstände sorgfältig versteckt, das Allernotwendigste auf einen Esel geladen und war unterwegs.

Um Mittag war er bereits unterhalb der Schneelinie und in den Randbergen. Hinter ihm stiegen die Gipfel fast bis zum Firmament, in kaltes, winterliches Weiß gekleidet, aber hier unten war es nicht mehr zu bezweifeln, daß der Frühling gekommen war. Hier und da mußte er über geschwätzige kleine Wasserläufe, die den größten Teil des Jahres über trocken lagen, jetzt aber von der Schneeschmelze gespeist wurden. Wo das Wasser kleine ruhige Kessel bildete oder wo eine flachere Stelle war, streckte frischgrüne Wasserkresse lange Zungen bis in die Strömung vor, und manchmal entdeckte Vic auf dem feuchten Grund, unter einer schützenden Erdwelle, Rasenflecke, die dick mit Veilchen übersät waren.

»Voran, Mame,« rief er, »'s ist höchste Zeit, daß wir nach Alder kommen.« Er packte seinen Knüttel und versetzte dem Esel in überströmender guter Laune ein paar Klapse. Mame, der Esel, bewegte unwillig den Schwanz und legte eins seiner langen Ohren zurück, um zu hören, was sein Herr ihm zu sagen hatte, aber er beschleunigte sein Tempo nicht. Er hatte von je nur eine einzige Gangart gekannt, und wenn Vic ihm Püffe versetzte, so war es mehr, um eine Art gemeinsamer Unterhaltung zustande zu bringen, als in der Erwartung, die Reise zu beschleunigen.

2. Grey Molly

Wenn Mame, der Esel, irgendwie für Enthusiasmus empfänglich gewesen wäre, hätte er die Reise pünktlich und fahrplanmäßig zurücklegen können, aber Mame war eben nur ein Esel und höchstens dazu fähig, einen Packen zu schleppen, der gut halb so schwer war wie er selbst, von einer Handvoll Futter zu leben, bei dem selbst eine Geiß verhungert wäre, und in Zeiten der Dürre auf fünfzehn Meilen Entfernung Wasser zu wittern. Eile dagegen war ein Wort, das er nicht kannte, und infolgedessen war es nicht Morgen, sondern bereits Spätnachmittag, als Gregg mit ihm Murphys Pass passierte und hoch über Alder aus den Gebirgen herauskam. Wie auf Verabredung machten sie beide halt, und Mame klappte eins seiner langen Ohren vorwärts, als lausche er dem Rauschen des Doaneflusses. Zu ihren Füßen beschrieb das schäumende braune Wasser einen weiten Bogen, und an dieser Stelle, planlos hingestreut, hier ein riesiger Felsblock, dort zur Abwechslung ein Haus, lag das Städtchen Alder. Es bestand aus erstaunlich gebrechlichen Gebäuden. Man wunderte sich, daß sie nicht unter den Schneelasten des Winters zusammengebrochen waren, daß der Doanefluß nicht eine lange gierige Zunge ausgestreckt und das ganze Nest krachend in die Strömung hinabgefegt hatte. Ein Haus glich dem andern wie ein Ei, aber Vics Blick drang durch die altvertrauten Dächer. Er sah in Witwe Sullivans wacklige Hütte, in Hezekiah Whittlebys in feierliches Schweigen gehüllte »Gute Stube« hinein, er sah sogar den ewig feuchten, schmutzigen Fußboden in Captain Lorrimers Kneipe, aber sein erster und letzter Blick galt der kleinen Flagge, die in leuchtenden Farben über dem Dach des Schulhauses knatterte; die bedeutete etwas für Vic. Sie sprach: »Dies ist deine Heimat!«

Mame ließ sich zu einem ganz ordentlichen Zuckeltrab herbei, als es den letzten Abhang hinunterging. Im Zuckeltrab und mit einem protestierenden Schnaufen bei jedem Schritt ging es durch die einzige lange, gewundene Straße des Orts. Pfeifend kam Vic hinterher. Wenn er in der Stadt war, wohnte er bei seinem Freund Dug Pym, der eine Bodenkammer für ihn reserviert hielt. Und so ging's jetzt geradeswegs nach Dug Pyms Haus.

Der alte Garrigan war in seinem Gemüsegarten und gackerte hinter ihm her, doch Vic begnügte sich damit, ihm zuzuwinken und eilte weiter. Vorbei auch an Gertie Vincent, die ihm sehnsüchtig nachrief (Gertie Vincent war »sein Mädel« gewesen, ehe Betty Neal nach Alder gekommen war); vorbei auch mit heldischer Entschlossenheit an der Veranda von Captain Lorrimers Kneipe, obwohl Lorrimer selbst einen Gruß herunterbrüllte und »Chick« Stewart vielsagend über die Schulter hinweg mit dem Daumen nach der offenen Kneipentür deutete. Er machte erst halt, als er die Schmiede erreicht hatte und sah zu Dug hinein, der sich gerade abmühte, Simpsons unruhigem Rotschimmel ein rotglühendes Eisen anzupassen.

»He, Dug!«

Pym hob die berußte, schweißbedeckte Stirn.

»Du bist's? Still, verdammtes Biest! Hallo, Vic!« Er stemmte den Hinterhuf des unruhigen Tieres gegen seinen Schenkel und streckte Vic die Hand entgegen.

»Laß dich nicht stören, Dug, ich kann jetzt doch nicht bleiben; 's einzige, was ich will, ist ein Lasso. Ich will Grey Molly einfangen.«

»Verdammter roter Teufel!« – dies galt dem Pferd – »Da drüben hängt ein Lasso, Vic. Du wirst nicht viel Arbeit haben, um Molly einzufangen. Die ist jetzt zahm wie ein Lamm. Steh' doch still, verdammtes Vieh! Der ist von 'ner Rasse, die keine Spur von Verstand im Kopf hat! – Wohin so eilig, Vic? Zur Schule hinauf?«

Mit einem Grinsen auf dem schweißbedeckten Gesicht blickte er Vic nach, der mit dem Lasso auf der Schulter die Schmiede verließ. Als Vic nach dem Wohnhaus hinüberkam, drückte ihn Nelly Pym liebevoll an ihren umfangreichen Busen; bei ihrem Fett und ihren vierzig Jahren durfte sie sich dergleichen schon herausnehmen. Sie blieb auch unten an der Treppe stehen und unterrichtete ihn, nach der Dachkammer hinaufbrüllend, wo er sich in fieberhafter Hast rasierte und in seine besten Kleider zwängte, über alles, was man sich im Städtchen erzählte. Er antwortete höchst einsilbig und beinahe ohne hinzuhören.

»Bist du mit deiner Arbeit fertig, Vic?«

»Keine Spur.«

»Richtig dünn geworden bist du von der vielen Arbeit. Ich hoff nur, dein Leichnam ist damit einverstanden.« Sie kicherte. »Krank bist du nicht gewesen, was?«

»Keine Spur.«

»Weißt du schon, wen wir jetzt hier haben? Sheriff Glass!«

Er zerrte gerade wütend an einem Stiefel, der ihm gut anderthalb Nummern zu klein war, aber trotzdem war das eine Nachricht, die auch sein inneres Ohr erreichte.

»Pete Glass!« wiederholte er. Dann: »Hinter wem ist er her?«

»Keine Ahnung. Vic, er sieht gar nicht so bösartig aus, wie man sich vorstellt.«

»Er ist bösartig genug«, versicherte Gregg von oben. »Ah–h–h!«

Er hatte den Fuß glücklich in den Stiefel hineingezwängt, aber seine Zehen standen Folterqualen aus.

»Well«, rumpelte es von unten, – Mrs. Pym schien in philosophische Überlegungen vertieft –: »Denke, just die Burschen, die so ruhig aussehen, sind von der gefährlichen Sorte. Aber wenn du dir Glass ansiehst, würdest du dir's nie träumen lassen, daß er so vielen das Lebenslicht ausgeblasen haben soll. Weißt du schon von dem Ball?«

»Keine Spur.«

»Drunten bei Singer wird heute getanzt. Geht Betty mit dir?«

Er riß die Tür ganz auf und bellte zu ihr hinunter: »Mit wem soll sie sonst gehen?«

»Immer sachte mit die jungen Pferde«, sagte Mrs. Pym. »Ich weiß wirklich nicht, mit wem sie sonst gehen sollte. Tiptop siehst du aus mit dem roten Hemd, Vic!«

Er grinste halb besänftigt und halb beschämt und verschwand wieder in seiner Kammer. Gleich darauf humpelte er unbeholfen die Treppe hinunter. Seine Stirn war gerunzelt, er fragte sich, ob es ihm gelingen werde, in solchen Stiefeln zu tanzen.

»Ich fühl' mich so komisch in den ungewohnten Kleidern. Wie seh' ich aus, Nelly?« Er stand jetzt unten im Flur und drehte sich langsam um seine Achse, um sich bewundern zu lassen.

»Wie ein junger Prinz. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Und als er durch die Haustür hinausschoß, brüllte sie ihm noch nach: »Gib ihr noch einen Kuß auf meine Rechnung, Vic.«

Vic stand schon im Mittelpunkt der kleinen Pferdekoppel und legte die Schlinge seines Lassos zurecht. Die drei Pferde, die hier gegrast hatten, fegten in federndem Galopp rundum, den Zaun entlang, als suchten sie nach einem Weg zur Flucht. Das ganze Doanetal hinauf und das Aspertal hinunter gab's kein Tier, das Grey Molly einholen konnte, wenn sie loslief wie jetzt. Vics Augen strahlten vor Stolz, als er ihr zusah. Er ließ den Lasso über dem Kopf kreisen, und während die anderen beiden Pferde weiter galoppierten und stumpfsinnig in die Gefahrzone hineinliefen, wirbelte Grey Molly herum, wie ein Fuchs, der einen Haken schlägt, und war mit einem Sprung außer Reichweite.

»Braves Tier!« rief Vic unwillkürlich. Er rannte ein paar Schritte. Wieder schoß der Lasso in die Luft, die Schlinge öffnete sich zu einem unregelmäßigen Kreis und schwirrte herab. Der Graue sah die Gefahr, aber es war schon zu spät. Noch ehe er kehrtmachte, glitt die Schlinge ihm über den Kopf. Das Pferd spreizte schleunigst alle Viere, stemmte die Hufe ins Gras und kam nach kurzem Gleiten schnaubend zum Halten. Das erste, was ein Pferd auf der Ranch draußen lernt, ist, daß man besser tut, einen Lasso nicht stramm zu ziehen, wenn die Schlinge um den Hals liegt.

Wenige Minuten später war Grey Molly dabei, sich nach Herzenslust auszubocken. Das muß jedes Cowboypferd, das etwas auf sich hält, wenn es lange Zeit auf der Weide war, ohne arbeiten zu müssen. Es gibt eine hohe Schule des Bockens, und Grey Molly wußte darin Bescheid. Mrs. Pym stand, mit einem breiten Schmunzeln der Bewunderung auf ihrem roten Gesicht, unter der Tür und sah zu. Sie wußte, was ein guter Reiter war, wenn sie ihn sah. Mit einemmal hörte das Toben auf und das Tier stand wie ein Standbild mit stolz erhobenem Kopf, bebend vor Energie, mit gespitzten Ohren. Gregg warf seinem Liebling mit halblauter Stimme ein paar zärtliche Flüche an den Kopf. Er verstand das Tier, er kannte es von den Fesseln bis zu den Zähnen.

Draußen kamen schrille Kinderstimmen die Straße herunter. Die Schule war aus. Vic mußte sich beeilen, wenn er mit Betty nach Hause reiten wollte. Er winkte Mrs. Pym einen letzten Gruß zu und trabte davon. Seit zwei Tagen hatte er sich fieberhaft auf das Zusammentreffen mit Betty gefreut, den ganzen Winter über hatte er sich nach ihr gesehnt. Jetzt, wo der Augenblick näher und näher kam, wurde er schwach. Das war immer so, wenn er dem Mädchen in die Nähe kam. Nicht etwa, daß ihre Schönheit ihn überwältigt hätte, wenn sie auch mit ihrer strotzenden Gesundheit und ihrem netten, sommersprossigen Gesicht hübsch genug war. Aber er hatte Betty gewählt, wie ein Indianer sich einen Feuerstein zu seinem Stahl sucht. Aus Betty Neal ließen sich Funken schlagen. Wenn er weit von ihr entfernt war, liebte er sie, ohne zu zweifeln und ohne an ihr irre zu werden. Sein Vertrauen strömte zu ihr hin wie ein Fluß, der seinen Weg zum Weltmeer sucht. Er wußte, ihr Herz schlug so stark und treu für ihn wie das Herz keines anderen Wesens auf der Welt, Grey Molly ausgenommen. Aber in ihrem Benehmen war sie wetterwendisch, und wenn er ihr nahe kam, wurden Unbehagen und Mißtrauen immer wieder in ihm wach.

3. Streit

Auf dem Weg zur Schule begegnete er Miss Brewster – denn die Schule in Alder konnte sich zweier Lehrkräfte rühmen –, und ihr freundliches, ein wenig altjüngferliches Lächeln löste in ihm ein beinah überwältigendes Bedürfnis aus, abzusteigen und sie ins Vertrauen zu ziehen, sie zu fragen, was Betty Neal die langen Wintermonate über getrieben habe. Statt es zu tun, gab er jedoch Grey Molly die Sporen. Das Tier schoß dahin wie ein Pfeil, der von der Sehne geschnellt wird. Als Vic so dahingaloppierte und den Wind um seine Schläfen sausen spürte, besserte sich seine Laune wieder, ja sogar so weit, daß er ein Liedchen vor sich hinträllerte, und als er vor der Schule aus dem Sattel schnellte, rief er ein fröhliches »Holla, Betty!« zu den Fenstern hinauf.

Mit einem Satz hatte er die Stufen der Treppe genommen, die in einem scharfen Knick nach oben führte, und war an der Tür: »Holla, Betty!«

Seine Stimme dröhnte durch das Zimmer und löste ein dumpfes, verdrossenes Echo aus. Da saß Betty an ihrem Katheder und starrte ihn entgeistert an. Neben ihr stand Blondy Hansen, großmächtig und schmuck wie immer und beinahe ebenso fassungslos wie Betty. Vic Gregg blickte schnell von den beiden weg. Er fürchtete den nächsten Augenblick. Er sah lieber nach dem kleinen Tommy Aiken hin, der vor der Schultafel stand und eine Rechenaufgabe hinkritzelte – anscheinend mußte er nachsitzen, weil er während des Unterrichts mit seinem Nachbarn geflüstert oder sonst ein tödliches Verbrechen begangen hatte. Tommys Mundwinkel waren bedenklich nach unten gezogen, denn er hörte von draußen die fröhlichen Stimmen der Klassenkameraden, die auf dem Heimweg waren.

Vic machte halt, um seine Fassung halbwegs wiederzugewinnen. Er faßte an seinen Gürtel und schob den Pistolenhalfter an eine Stelle, wo er bequemer zu erreichen war, dann riß er den Sombrero vom Kopf und stolzierte den Gang hinauf, der zwischen den Bänken zum Katheder führte. Jedes Gefühl in ihm, jede Fiber war zu Eis erstarrt. Die Luft selbst schien voll von irgendeinem Geheimnis, das Betty und diesen jungen Hansen miteinander verband. Betty war aufgesprungen. Sie lief ihm jetzt entgegen. Sie nahm seine Hand. Ihre plötzliche Nähe verschlug ihm den Atem. Etwas schmolz in ihm.

»Na, Vic, bist du jetzt mit allem fertig?«

Vic wurde steif und zurückhaltend. Er mußte doch Hansen und Tommy Aiken imponieren.

»So ziemlich bin ich fertig«, sagte er beiläufig. »Dachte mir, ich komme auf ein, zwei Tage nach Alder hinunter und verpuste mich ein bißchen. Holla, Blondy! Tag, Tommy!«

Der kleine Tommy Aiken antwortete mit einem Grinsen, das aber blitzschnell wieder erlosch. Er war nicht ganz sicher, ob die Schulgesetze ihm das Sprechen erlaubten, selbst wenn es sich um eine so außerordentliche Gelegenheit handelte wie die Rückkehr Vic Greggs. Blondy dagegen erwiderte Vics Gruß nur, um sogleich selbst nach seinem Hut zu greifen.

»Denke, ich muß jetzt weg«, sagte er und hüstelte, wie um zu zeigen, daß er sich keineswegs befangen fühle, aber Vic fand, daß es Blondy schwer fiel, ihm gerade ins Auge zu sehen, als sie sich nun beide die Hände schüttelten.

»Betty, wir sehn uns ja noch«, sagte Hansen.

»Allright.« Ihr Lächeln blitzte zu Vic hinüber. Gleich darauf war sie in Haltung und Stimme ganz und gar Respektsperson: »Du kannst dich jetzt trollen, Tommy.«

Aber die Würde fiel rasch genug von ihr ab, als Tommy mit einem hastigen Griff sein Buch und seine Kappe nahm und wie ein Pfeil auf die Tür losschoß, durch die eben Hansen verschwunden war. An der Schwelle machte er noch einmal halt, wippte sich auf den Zehenspitzen und piepste, die beiden verständnisvoll anblinzelnd: »Gute Nacht, Miss Neal. Viel Vergnügen, Vic.«

Sie hörten ihn in zwei Sätzen draußen die Stufen hinuntersausen und das Trippeln seiner eiligen Füße den Weg hinunter.

»Der kleine Kobold!« sagte Betty, die dunkelrot geworden war. »Es ist wirklich nicht mehr zu sagen, Vic. Ganz Alder tut, als ob über die Sache kein Wort mehr zu verlieren wäre.«

Jetzt, wo sie den Kleinen weggeschickt hatte, hätte er sie in die Arme nehmen und küssen sollen. Aber bei Vic stand das Nächstliegende immer zu allerletzt auf dem Programm.

»Warum soll auch noch viel darüber zu reden sein?« antwortete er. »Es ist gar nicht mehr so lang, bis es so weit ist.«

Ihre Augen funkelten kriegerisch. Aber die Freude darüber, ihn zu sehen, brachte den Zornesfunken rasch genug wieder zum Erlöschen.

»Oh, Vic, bist du wirklich bald fertig mit deiner Arbeit? Du bist so lang weggewesen und ich ...« Sie unterbrach sich. Betty war kein Mensch, der sich überschwengliche Gefühlsausbrüche leistete.

»Kann sein, es war ein richtiger Narrenstreich von mir, auf einmal so die Arbeit einfach hinzuschmeißen,« meinte Vic, »aber ich kann dir sagen, es war mir so verdammt einsam dort oben, daß ich's nicht mehr aushielt.«

Sie musterte ihn mit einem zufriedenen Blick, von den harten, sonngebräunten Händen bis zu der Falte, die angestrengte Arbeit mitten in seine Stirn gegraben hatte. In Bettys Augen war er ein ganzer Kerl.

»Komm mit«, sagte er. Er plante, sie auf dem Weg zur Tür mit einem Kuß zu überrumpeln. »Komm mit, draußen ist schon richtige Frühlingsluft. Ich hab' mich schon ordentlich vollgepumpt damit. Was wir miteinander zu reden haben, können wir auch heute abend beim Tanz besprechen. Jetzt wollen wir reiten.«

»Beim Tanz?«

»Na gewiß, heut abend bei Singer unten.«

»Ich weiß nicht recht, wie ich's machen soll. Ich habe Blondy zugesagt, daß ich mit ihm ginge. Er hat mich darum gebeten.«

»Und du hast zugesagt?«

»Warum braust du gleich so auf?«

»Hör' mal, wie lang hast du dich schon mit Blondy Hansen herumgedrückt?«

Er sah, wie ihre herabhängende Hand sich zornig zur Faust zusammenpreßte, aber er mißachtete die Warnung, die darin lag. Es machte ihm eher Spaß, genau so, wie es ihn kitzelte, wenn Grey Molly bockend die Ohren zurücklegte.

»Was hast du an Blondy Hansen auszusetzen?«

»Was findest du denn Besonderes an ihm?« parierte er.

Das war nicht sehr klug.

Ihre Stimme bekam einen Anflug von Gereiztheit. »Blondy ist ein Gentleman, das merk' dir nur!«

»Ach nein, wirklich?«

»Mache dich nicht über mich lustig, Victor Gregg. Ich lasse es mir nicht gefallen.«

»Du läßt dir's nicht gefallen, was?«

Er spürte genau, daß er die Situation auf eine gefährliche Spitze trieb, aber gerade im Zorn war sie so prachtvoll und vollkommen schön; es bereitete ihm ein prickelndes Vergnügen, sie noch ein wenig zu reizen.

»Nein, ich lasse mir's nicht gefallen«, wiederholte sie. Sie wollte noch etwas hinzufügen, unterdrückte es aber noch rechtzeitig. Er konnte sehen, wie gewaltsam es in ihr arbeitete. Jetzt wurde ihm angst.

»Du mußt nicht gleich wegen einer Kleinigkeit in Zorn geraten«, mahnte er. »Aber ich kann dir sagen, mir ist die Galle gestiegen, wie ich Blondy mit seinem Kalbsgesicht bei dir stehen sah.«

»Wer hat ein Kalbsgesicht? Er ist ein tausendmal angenehmerer Anblick, als du jemals sein wirst!«

Vic sah rote Funken vor den Augen tanzen. »Ich habe nicht die Absicht, in einer Schönheitskonkurrenz aufzutreten«, erklärte er. »Bind' doch deinem Blondy 'ne rosa Schleife ins Haar und produzier' dich mit ihm auf 'ner Schönheitskonkurrenz für Wickelkinder. Sie werden ihn schon zulassen, jung genug ist er dazu.«

Wenn es ihr gelungen wäre, eine treffsichere Entgegnung zu geben, so hätte sich ihr Zorn in Worten Luft gemacht, aber sie konnte kein Wort finden und wurde bleich. Und jetzt beging Vic das allerverhängnisvollste Versehen. Er bildete sich ein, ihre Blässe rühre von Furcht her und diese Furcht sei auf seine gespielte Eifersucht zurückzuführen. Besser wäre es für ihn gewesen, diskret zu schweigen. Statt dessen spielte er den Herablassenden. Das hieß Gift in eine frische Wunde träufeln.

»Blondy ist soweit ein ganz ordentlicher Junge,« erklärte er gnädig, »aber für heute schlag' ihn dir mal aus dem Kopf. Heut abend gehst du zum Tanz, und zwar mit mir! Wenn du meinst, du bist Blondy eine Erklärung dafür schuldig, so kannst du das ruhig mir überlassen. Ich werd' mit ihm schon fertig werden.«

»Du willst mit Blondy fertig werden?« flüsterte sie. Und dann gewann sie den Gebrauch ihrer Stimme zurück. »Das könntest du nicht,« schmetterte sie, »selbst wenn Blondy sich eine Hand auf den Rücken binden läßt.« Sie musterte ihn, als überlege sie, wo sie ihm einen zweiten Stich beibringen könne. »Ich gehe zum Tanz und ich gehe mit Herrn Hansen.«

Sie wußte, daß Vic für sie gestorben wäre, wenn es not tat. Und er wußte, daß sie für ihn gestorben wäre; infolgedessen ließen sie beide ihrer verstockten Wut die Zügel schießen.

»Du bist nicht mehr auf der Höhe, Vic«, fuhr sie fort. »Heutzutage können die Männer nicht mehr mit den Frauen umspringen, wie's ihnen beliebt, und du kannst mich nicht herumzerren, wie dir's beliebt. Nicht einen Schritt geh' ich dir zu Gefallen. Nicht – einen – Schritt!«

»Um sieben Uhr hol' ich dich ab.«

»Mach' dir nicht die Mühe, ich bin nicht zu Hause.«

»Dann werd' ich mich eben mal nach Blondy umschaun.«

»Das traust du dich ja gar nicht! Versuch' du nicht, mir was weiszumachen. Ich bin keine, der man was weismacht.«

»Betty, meinst du das im Ernst? Denkst du wirklich, ich wäre feig?«

»Mir ist es ganz gleichgültig, was du bist.«

»Ich frage dich in aller Ruhe: überleg' dir's, eh du mir Antwort gibst.«

»Ich habe mir schon alles überlegt.«

»Dann, so wahr ein Gott im Himmel lebt,« sagte Gregg, bebend vor Zorn, »schwör' ich dir, daß ich keinen Fuß mehr rühren werde, um dich je wiederzusehen!«

Er machte kehrt, und die Wut blendete ihn derart, daß er im Hinausgehen mit der Schulter gegen den Türpfosten rannte. Wütend warf er sich in den Sattel. Grey Molly stand wie ein Felsen, als ahne sie, in welcher Stimmung sich ihr Herr befinde. Mit einem wütenden Zügelruck riß er das Tier auf den Hinterbeinen herum und gab ihm die Sporen.

Betty stand an der Tür und sah ihm nach. Halb ohnmächtig lehnte sie am Pfosten, und noch in ihrem Schmerz war sie stolz auf Vics Reitkunst. Beiden brach das Herz, mit dem einen Unterschied (der eigentlich typisch ist), daß Vic überzeugt war, Betty sei allein an allem schuld, und daß Betty im innersten Herzen sich zu jeder Schuld bekannte, die man ihr zuschob. Ermüdet und nervös war er von der Arbeit zurückgekommen, einer Arbeit, die er um ihretwillen unternommen hatte – und sie hatte ihn – – Wenn er nur einmal sich umsehen wollte! – Er mußte doch wissen, wie sie insgeheim darum betete! Sie war bereit, mit einem lauten Freudenschrei ihm nachzustürzen, zu – Aber er sah sich nicht um, sondern ritt durch das Tor hinaus und davon.

Da loderte der alte Trotz in ihr auf: »Und ich werde mit Blondy gehen – und wenn's mein Tod wäre.«

Sie stürzte hinein, warf sich auf den nächsten Stuhl und brach in Tränen aus.

Als Vic die Straße erreicht hatte, blickte er zurück. Aber jetzt gähnte die Türöffnung schwarz und leer. Mit einem Stöhnen preßte er die Zähne zusammen und fegte die Straße nach Alder hinunter. Vor Captain Lorrimers Kneipe zog er die Zügel an und ging hinein. Auf alle Begrüßungen antwortete er nur mit einem kurzen Nicken.

»Whisky!« kommandierte er. Captain Lorrimer ließ Flasche und Glas über den Schanktisch tanzen, und Vic griff gierig danach. Als er sich eingeschenkt hatte, packte Lorrimer die Flasche und betrachtete sie mit einem schmerzlichen Blick.

»Junge,« murmelte er, »du hast ja einen höllischen Durst am Leib.«

4. König Alkohol

Es ist eine ziemlich weit verbreitete, aber irrige Ansicht, daß der Alkohol eine gewisse Gemütsverfassung sozusagen selbsttätig hervorbringt. In Wirklichkeit ist es so, daß der Einfluß des Alkohols die Stimmung, in der sich der Trinkende befindet, höchstens festhält und vertieft. Wer beim ersten Glas lächelt, bei dem endet es gewöhnlich in dröhnendem Gelächter. Bei dem, der beim ersten Schluck die Stirne runzelt, endet es gewöhnlich mit Zank und Streit. Vic Gregg runzelte nicht die Stirne, als er das Glas an die Lippen brachte, aber seine Lippen kräuselten sich verächtlich in ätzender Ironie. Sein Blick glitt musternd über die Gesichter im Schankraum und machte bei jedem Augenpaar, das ihm begegnete, etwas zu lange halt. Er haßte die Menschheit im allgemeinen und sich an erster Stelle. Der billige Whisky, der in seiner Kehle brannte, gab diesem bitteren Haß nur etwas mehr Farbe. Wenn sich ihm irgendein geringfügiger Anlaß für eine Boxerei, ja bloß für einen ordentlichen Fluch geboten hätte, wäre alles gut gewesen. Das hätte sein Inneres so rein zurückgelassen wie eine neue Schiefertafel, und fünf Minuten später wäre er in überströmender Glückseligkeit bei Betty Neal gewesen. Statt dessen flossen alle Leute um ihn herum förmlich über von Freundlichkeit, gutgemeintem Geschwätz und interessierten Fragen nach seiner Arbeit. So konnte seine gefährliche Gemütsstimmung sich erst recht kristallisieren. Alles und alle waren ihm zum Ekel, und sein Hirn war damit beschäftigt, objektive Gründe dafür heranzuschaffen.

Um bei ihm selbst zu beginnen: war er nicht der dickköpfigste aller Esel gewesen? Wie konnte er so mit dem Mädel reden? Er verabscheute sich selbst dafür. Es war genau so gut, wie wenn man seinem Gaul eine Klette unter den Sattel legte und sich dann wundern wollte, wenn er durchging. Von sich selbst ging er mit nicht geringerer Gründlichkeit auf die anderen über. Dieser Captain Lorrimer war dreckig wie ein mexikanischer Schmierfink; und genau wie so ein mexikanischer Schmierfink war er unrasiert und hatte wulstige Lippen. »Chick« Stewart war ein geborener Idiot und hatte selbst noch einiges dazugefügt, wie sein ewiges Grinsen zur Genüge bewies. Lew Perkins saß in seiner Ecke auf einem wackligen alten Obstfaß, strich seinen langen Schnurrbart zurück, um besser nach dem Spucknapf zielen zu können – und natürlich spie er daneben. Wenn dies seine – Vic Greggs – Kneipe wäre, hätte er dem alten Landstreicher längst etwas mehr Treffsicherheit beigebracht oder ihm den Hals umgedreht.

»Wie geht's, Gregg?« knurrte jemand hinter ihm.

Er drehte sich um und sah Sheriff Pete Glass neben sich stehen. Pete streckte bereits die Hand über den Bartisch und verlangte zu trinken für zwei. Das war eine Eigentümlichkeit des Sheriffs; wenn es irgend zu vermeiden ging, gab er keinem Menschen die Hand. Gregg empfand in diesem Augenblick einen wahnwitzigen und sinnlosen Haß auf ihn. Natürlich hatte jedermann in der Kneipe gesehen, daß der Sheriff es vermieden hatte, Vic Gregg die Hand zu schütteln. Ein billiges Mittel, sich wichtig zu machen, dachte Gregg. Glass schob ihm die Flasche zu.

»Schenkt Euch doch ein«, sagte Gregg.

»Die Runde zahle ich, Vic.«

»Ich hab's im allgemeinen lieber, wenn ich das erste Glas zahl'.«

Pete Glass wandte langsam den Kopf nach ihm. Er nahm sich bei allen Bewegungen viel Zeit, und wenn man ihn sah, wunderte man sich unwillkürlich über die Geschichten, die über die blitzgleiche Schnelligkeit im Umlauf waren, mit der er zu handeln wußte, wenn es galt. Ein unbehagliches Gefühl kroch über Vic Gregg hin. Vielleicht war die Erinnerung an die beinah legendären Taten daran schuld, die man seinem Nachbar zuschrieb. Vielleicht waren die sonderbaren haselnußbraunen Augen des Mannes, die mit kleinen roten Flecken gesprenkelt waren, die Ursache. Sie blickten im allgemeinen sehr sanft, diese Augen, aber man konnte ihnen allerlei zutrauen. Sonst wies Glass äußerlich keinerlei Besonderheiten auf, ja er war kaum so groß wie der Durchschnitt. Ein sehniger Hals, der gekrümmt war, als hätte ihn der Zwang, zu hochgewachseneren Leuten hinaufzusehen, verbogen, trug ein ausgemergeltes Gesicht. Und trotzdem war es vorgekommen, daß Leute, die verfolgt wurden, aus freien Stücken in die nächste Ortschaft geritten kamen und sich selbst freiwillig dem Gesetz stellten, weil sie erfahren hatten, daß Sheriff Pete Glass auf ihrer Fährte sei.

»Wie's Euch beliebt, Partner«, meinte der Sheriff auf Vics Bemerkung. Seine Stimme war leise und ein bißchen heiser.

Er schenkte sich Whisky ein, und zwar kaum so viel, daß es den Boden des Glases bedeckte. Das war auch eine von Petes Eigentümlichkeiten. Er konnte es sich nicht leisten, die Sicherheit seiner Hand und seines Auges durch Alkoholgenuß zu schwächen. Auch jetzt hatte er sich seitlich an den Schanktisch gestellt, so daß er Gregg und alle anderen im Raum unter den Augen hatte. Vic fühlte sich von all diesen Vorsichtsmaßregeln herausgefordert. Er goß sein eigenes Glas bis zum Rande voll, hob es, sich in seiner ganzen Größe aufrichtend, dem anderen entgegen: »Hier, auf Euer Wohl!« und herunter war das Zeug.

Gewöhnlich erhitzte der Whisky ihm das Blut und brachte sein Gehirn zum Drehen, gewöhnlich löste er ihm die Zunge und lähmte ihm zugleich die Lippen; heute aber spürte er nichts als kühle Gelassenheit, Selbstvertrauen, ja, der Whisky schärfte seinen inneren Blick, bis er das Gefühl hatte, er könne jedem in der Kneipe bis ins Innerste sehen. Er durchschaute jetzt auch Betty Neal. Sie hatte mit voller Absicht Blondy gegen ihn ausgespielt, um sie beide eifersüchtig zu machen.

»Nehmt Ihr nicht auch 'nen Schluck, Alter?« sagte der Sheriff zu Lew Perkins. Vic lächelte. Er verstand, worauf das hinauswollte. Der Sheriff brauchte einen Vorwand, um noch eine Runde zu schmeißen, weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte, Vic betrunken zu machen. Vielleicht führte Glass etwas gegen ihn im Schilde, vielleicht bildete der alte Bluthund sich ein, daß Vic bei der Geschichte in Wilsonville vor zwei Jahren die Hand im Spiele gehabt habe. Natürlich, das war die Sache! Der Kerl wollte ihn, wenn er betrunken war, zum Reden bringen.

»Soll mir nicht drauf ankommen«, erwiderte Lew auf die Einladung und stemmte seine beiden Pfoten auf den Schanktisch, als wäre das sein Privatbesitz. Und während er wartete, bis ihm eingeschenkt wurde, fragte er: »Was werden sie mit Swain anstellen?«

Der stammelnde Idiot! Swain war der letzte Mann, den Glass gefangengenommen hatte. Lew Perkins konnte doch wirklich wissen, daß der Sheriff niemals über die Dinge, die er verrichtete, zu reden pflegte. Lew, dieser alte Esel, war wirklich drauf und dran, in seinen alten Tagen wieder kindisch zu werden.

»Swain hat sich als Kronzeuge hergegeben«, erwiderte Pete, kurz angebunden. »Zur Belohnung werden sie ihn wohl laufen lassen. Gießt Euch ein, Partner.« – Dann sagte er zu Vic: »Ich seh's Euch an, daß Ihr noch Durst habt.«

Gregg hatte sich absichtlich genau so wenig Whisky ins Glas gegossen, wie der Sheriff zu nehmen pflegte. Er wollte feststellen, ob es Glass auffiel. Die Bemerkung des Sheriffs bestärkte ihn in seinem Verdacht. Für ihn war es jetzt klar, daß der alte Bluthund hinter ihm her war, aber aus Trotz nahm er die Herausforderung an und goß sich noch nachträglich einen ordentlichen Schluck ein.

»So ist's richtig«, nickte der Sheriff. »Ihr habt kein Bündel zu schleppen, Ihr könnt Euch gehen lassen, Vic. Manchmal wünschte ich –« er seufzte –, »manchmal wünschte ich, ich könnt' es ebenso machen.«

Du schleichender Fuchs, dachte Gregg, du willst mich nur ködern.

»Kronzeuge ist er geworden!« quäkte der alte Perkins. »Well, 's gibt viele von der Sorte, denen das Herz in die Hosen fällt, wenn sie mal erwischt werden. Wenn ich dran zurückdenke, damals, wie Bannack noch mit Volldampf wirtschaftete ...«

Warum brachte nicht einer den alten Idioten dazu, den Mund zu halten, ehe er richtig loslegte? War der einmal im Gang, dann klapperte er endlos weiter wie eine Windmühle bei stetiger Brise. Denn Lew war alt – fünfundsiebzig, achtzig, fünfundachtzig Jahre, genau wußte er es selbst nicht –, er hatte mindestens zwei Generationen der alten Westmänner miterlebt und kannte ungezählte Tausende von Anekdoten über sie. Endlos reihten sich in seinem Gedächtnis all die blutigen Geschichten aus früheren Zeiten, und mit besonderer Vorliebe erzählte er von der Schreckensnacht von Newton; er hatte noch die Vigilanz-Komitees in San Franzisco erlebt und die ersten Ansiedlungen hier in der Alderschlucht.

»Von Plummer hätte auch keiner gedacht, daß er ein feiger Hund ist, aber zuletzt hat es sich herausgestellt«, schwatzte er in seinem eintönigen Singsang weiter. »Man hätte meinen können, ein kaltherziger Teufel wie der würde wenigstens sterben wie ein Mann, aber das war weit gefehlt. Auf die Knie ist er geplumpst und hat geheult und hat zu Gott gefleht um Hilfe. Dann hat er gebettelt, wir soll'n ihm Zeit lassen zu beten, aber einer von den Jungs war nicht faul und sagte ihm, er könnt' beten, wenn er oben hängt. Und das war Henry Plummer, der hundert Menschen auf dem Gewissen hatte, er und seine Bande!«

»H–m–m«, murmelte der Sheriff und blickte unbehaglich umher. Vic benutzte die Gelegenheit, als er die Augen abgewandt hatte, um ihn in Ruhe zu betrachten, und war erstaunt, daß dieser berühmte Menschenjäger so klein war. Angenommen, man könnte ihn einmal zwischen die Finger bekommen, so mußte es ein leichtes sein, ihn zu ...

»Wir sehn uns noch, Boys«, warf Glass hin und schlenderte aus der Kneipe.

Lew Perkins stieß einen tiefen Seufzer aus, als auf diese Art der hervorragendste seiner Zuhörer verschwand, aber er war nun einmal in Schwung. Seine umflorten Augen hefteten sich jetzt auf Vic Gregg, und er setzte seinen Singsang fort.

»Aber sie haben nicht alle so ein Ende genommen wie Plummer, die Teufelskerle. Nein, Meister! Keine Spur! Da war Boone Helm zum Beispiel.«

»Von dem hab' ich schon gehört«, knurrte Vic, aber der Alte hörte ihn nicht. Sein Blick war weit in die Vergangenheit zurückgewandert. Ein Lächeln der Erinnerung schwebte um seinen Mund, und seine Stimme wurde leiser, als käme sie aus der Entfernung all der vielen Jahre.

»Weiß Gott, Junge, Helm war ein böses Luder. Die Sorte wächst heutzutage nicht mehr. Der tolle Bill war ein Säugling im Vergleich zu Helm, und Slade war überhaupt kein Kerl, selbst wenn man all die Lügen für bare Münze nimmt, die über ihn im Umlauf sind. Du lieber Himmel, Junge, Helm, der war ein richtiggehender Tiger in Menschengestalt ...«

»Wie Barry?« warf Lorrimer ein, der sich näher heranschob.

»Wer ist Barry?«

»Hast du nie was vom Pfeifenden Dan gehört? Von dem Kerl, der Jim Silent umgebracht und seine Bande in alle Winde gejagt hat? Man erzählt sich von ihm, daß er 'nen Wolf bei sich hat, mit dem er redet wie mit 'nem Menschen.«

Der Alte stieß ein leises, glucksendes Lachen aus.

»Die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist«, nickte er. »Aber ich sag' dir, ein Wolf ist ein Wolf, und es gibt nichts, was ihn zahm macht. Laß dir nicht solche faustdicken Lügen aufbinden, Lorrimer. Aber Helm, sag' ich dir, Helm war eine böse Nummer. Der brachte die Leute um aus reiner Freude am Blutvergießen. Aber wenigstens ist er gestorben wie ein Kerl. Wie die Boys ihn erwischt hatten, schwört er auf die Bibel, er hätte nie einen Menschen umgebracht, und die Jungens ließen ihn den Schwur wiederholen, bloß um zu sehen, ob er die Frechheit so weit treiben würde. Und weiß Gott, er tat's und zuckte nicht mit der Wimper.«

Vic dachte, was das für wilde Zeiten [...]