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Ein Road-Trip wie das Leben – durchgeknallt
und wunderschön
Nicks Vater hat sich aus dem Staub gemacht, seine Familie droht zu zerbrechen und sein bester Freund Scoot, der Freak, liegt im Sterben. Da taucht Jaycee Amato in Nicks Leben auf, das durchgeknallte Mädchen mit den Husky-Augen. Sie verspricht Scoot, ihm einen letzten Wunsch zu erfüllen, und nötigt Nick, dabei zu helfen. Und so machen sich die beiden ausgerüstet mit der Weisheit Yodas und den Geschichten von John Steinbeck auf einen Road-Trip, um Scoots unbekannten Vater zu finden. Eine schwierige und gleichzeitig wunderschöne Reise beginnt, auf der Nick reifer, reicher und weiser wird. Am Ende hat er zwar nicht Scoots Vater gefunden, dafür aber eine über den Tod hinausgehende Freundschaft und ... die große Liebe.
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Seitenzahl: 244
Aus dem Amerikanischen vonCatrin Frischer
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Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform1. Auflage 2014
© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© 2011 by Gae Polisner
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
»The Pull of Gravity« bei Farrar Straus Giroux, New York.
Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL
INC., Armonk, New York, U. S. A.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Catrin Frischer
Lektorat: Christina Neiske
Umschlaggestaltung: init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen, unter Verwendung eines Fotos von ©Plainpicture (Jasmin Sander, Greta Marie)
he ∙ Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-08817-0V002www.cbj-verlag.de
Für meine Jungs
Hier fiel Lennie ein. »Nich so mit uns! Un warum? Weil … weil du für mich sorgst, und du hast mich, um für dich zu sorgen, und darum …« Er lachte vor Seligkeit.
Von Mäusen und Menschen, John Steinbeck
Begib dich zum Zentrum der Gravitationskraft und finden deinen Planeten du wirst.
Star Wars: Episode II, Angriff der Klonkrieger
Mit Fieber hat alles angefangen. Damit – und mit dem Wasserturm und der Cherry Cola. Na ja, Dad und sein Zustand haben auch mit reingespielt, und die Tatsache, dass Mom in Philadelphia war und so.
Ich will mal so sagen, am Fieber allein hat es nicht gelegen, nicht mal an den Halluzinationen, die damit einhergingen. Die bekam ich immer, wenn ich krank war. »Fieberkrämpfe« sagt Mom dazu. Aber normalerweise blieben die auf mein Zimmer beschränkt. Okay, einmal war auch was im Bad gewesen, sofern da nicht tatsächlich Riesenspinnen die Toilette bewacht hatten – und einmal im Garten hinter dem Haus. Da draußen hatten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit riesige Nudeln getanzt, und ich musste einfach mitmachen. Was laut Jeremy, meinem Bruder, zum Totlachen gewesen war.
Für Jeremy bin ich nichts weiter als die Granate in Sachen fiebriger Unterhaltung.
Sogar Mom sagt, sie habe noch nie jemanden gesehen, der so losfiebern kann wie ich. Irgendwie geht es mir gerade noch total gut und im nächsten Augenblick ist das Thermometer schon locker auf 40 Grad hochgeschossen.
Bei Jeremy ist das anders. Er ist Mr Kerngesund, und wenn er trotzdem mal niest oder Kopfschmerzen kriegt, ist das gleich eine internationale Krisensituation. Echt, der Typ ist nie krank. Er verpasst nie einen Tag in der Schule, nicht ein einziges Spiel oder – schlimmer noch – seine eigene Geburtstagsparty. Als hätten meine Leute, nachdem sie ihn gekriegt hatten, erst mal die nächsten drei Jahre Krankheitsgene zusammengespart und dann mich rausgedrückt, damit ich mich mit ihnen herumschlagen kann.
Aber wo war ich gerade?
Ach ja, wie alles angefangen hatte.
Es ist also der letzte Freitag im August … In wenigen Tagen fange ich auf der Highschool an, was hier in Glenbrook keine große Sache ist, da es nur eine Grundschule gibt, von der man auf die Mittelschule kommt, von der man dann auf die Marshall J. Freeman High rübergeht. Wenn man da angekommen ist, kennt man also fast alle schon in- und auswendig. Abgesehen davon werde ich bald fünfzehn, ich bin also echt reif für die Highschool.
Mom ist bei Rand Industries, da arbeitet sie. Allerdings ist sie gerade nicht wie sonst in der Fabrik vor Ort, in Glenbrook, sondern am Hauptsitz der Firma in Philly, wie jeden zweiten Monat vom letzten Donnerstag bis zum darauffolgenden Sonntag, weil sie nämlich die Firmenbuchhalterin ist und weil die Bilanzprüfungen alle zwei Monate dort stattfinden. Na ja, eigentlich ist sie da, weil ihr nichts anderes übrig bleibt, da Dad nicht mehr viel arbeitet. Weil er so fett ist.
Rand Industries ist eine Firma, die chemische Abfälle lagert und entsorgt, aber abgesehen davon kann ich nicht viel darüber erzählen. Mom hat es mir tausendmal erklärt, aber, ganz ehrlich, ich weiß immer noch nicht, was die eigentlich machen. Nur dass ein paarmal im Monat eine dicke Wolke schwarzer Rauch aus dem Gebäude pufft, woraufhin ein Haufen Leute mit Protestschildern hinrennt, auf denen steht, dass so was schlecht für die Umwelt ist. Nicht, dass ich da anderer Meinung wäre, aber mir tut Mom leid. Sie macht das Zeug ja nicht. Sie führt denen nur die Bücher.
Irgendwie hat das Ganze was Ironisches, denn saubere Luft und ein sauberer Lebensstil waren der Hauptgrund dafür, dass sie uns überhaupt hier nach Glenbrook verfrachtet hat, gleich nachdem Jeremy auf die Welt gekommen war.
Aber egal, Mom ist also im Hauptquartier von Rand und Dad liegt mit dem Bauch nach oben auf dem Sofa im Wohnzimmer, wie immer. Im Tiefschlaf, wie ein gestrandeter Wal.
Ich geh zu ihm und tippe ihm auf den Bauch mit meinem Lacrosseschläger, den ich in meinen Boxershorts herumtrage, weil ich dieses Fieber habe, mich so zwischen Schlafen und Wachen befinde – und auf dem besten Weg zum Halluzinieren bin.
»Dad, ich treff mich mit Ryan«, sage ich. »Wir gehen chillen.«
Keine Antwort.
Wieder pikse ich ihn mit dem Schläger. Er grummelt und atmet schwer.
»Dad, ich geh jetzt raus. Aber vielleicht bin ich krank. Kannst du mal meine Stirn fühlen?«
Er wälzt sich auf die Seite, sein gigantischer Bauch hängt über die Sofakante, und zum millionsten Mal in den letzten paar Jahren frage ich mich, ob er vielleicht dem Tod nahe ist. Aber als ich auf die Haustür zusteuere, bringt er ein »Falsche Richtung, mein Junge, geh lieber wieder zurück ins Bett« zustande.
Nun könnte man vielleicht denken, ich hätte übertrieben von wegen Fettsein – hab ich aber nicht. Mein Dad ist ernsthaft fett. Letztens waren es 395 Pfund schwabbelndes, elendes Fett. Und das reine Elend obendrein.
Natürlich ist das nicht immer so gewesen. Klar, er war schon immer recht stämmig, da fragt man sich, warum ich so unheimlich mager bleibe. Selbst an guten Tagen bringe ich es nicht mal in klitschnassem Zustand auf 110 Pfund. Ehrlich, man kann meine Rippen zählen. Ziemlich uncool für einen Jungen, der auf die Highschool rüberwechselt. Dad hingegen ist immer ein fröhlicher Dicker von handfesten 250 Pfund gewesen, so in etwa. Aber dann, nach seinem Herzinfarkt vor ein paar Jahren, musste er sich freinehmen von der Arbeit – wegen Stress und Depressionen und so, und mit jeder Minute wurde er fetter. Und das war wie in einem Teufelskreis, denn er verlor seinen Job als Redakteur für die Times Union in Albany, und dann hat er die ganze Zeit bloß zu Hause rumgesessen und miese kleine Artikel für die Weekly Sun in Glenbrook geschrieben. Was die Sache nur noch schlimmer gemacht hat, die Zeitung in Albany war nämlich bereits ein riesiger Abstieg von der Daily News in New York gewesen, bei der er gearbeitet hatte, ehe Mom ihn hier rauf in »die Pampa« verschleppt hat. So nennt mein Dad jeden Ort, der weiter als fünf Minuten von Manhattan entfernt liegt. Dort hat er nämlich gelebt, ehe Jeremy und ich alles versaut haben.
Aber egal.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass es nicht allein das Fieber und die Cherry Cola und der Wasserturm gewesen sind, die alles in Gang gebracht haben, sondern auch Dads Situation. Oder vielleicht war der eigentliche Grund dafür, dass die Dinge so richtig in Bewegung kamen, auch, dass es mit dem Scoot bergab ging.
Damit will ich sagen, sosehr ich auch versuche, das Ganze einzugrenzen, war es vielleicht doch nicht nur eine Sache, die mich zu Jaycee Amato und dem verrücktesten Wochenende meines Lebens geführt hat.
Ich weiß nur, es hat angefangen und dann war es einfach so.
Es war unaufhaltsam in Bewegung geraten, will ich damit sagen.
Und danach war nichts mehr, wie es einmal war.
Wir befinden uns also in der letzten Augustwoche: Mom in Philly, Dad auf dem Sofa und ich wieder im Bett. Das Fieber steigt, ich warte nur darauf, von Nudeln zu fantasieren. Und Jeremy ist sonst wo. Mit anderen Worten: Alles ist wie immer.
Auch der Scoot ist an einem der Orte, an denen er oft ist, er liest im Park an der Watson Street, was letztendlich meine Rettung ist. Denn ich habe Wahnvorstellungen, nur fantasiere ich dieses Mal nicht von Nudeln, sondern von einer Riesendose Cherry Cola. Dr. Brown’s Black Cherry Soda, wenn man ganz präzise sein will.
Also, vielleicht hat sich das ja in meinem Gedächtnis festgesetzt, weil ich das Zeug geliebt hab, als ich klein war. Dad hat jeden Freitagabend Sixpacks davon mitgebracht und dann haben wir Pizza gegessen und Cherry Cola getrunken, bis unsere Bäuche zum Platzen voll waren. Bis Mom das schließlich verboten hat, weil Dad aufging wie ein Hefekloß.
Aber diese Cherry Cola sah böse aus mit ihren langen schlenkernden Armen und den weiß behandschuhten Mickymaus-Händen. Ich weiß, das hört sich echt süß an, ist es aber nicht. Diese Cola hat nämlich Knopfaugen und einen schwarzen gezwirbelten Schnurrbart und sie schwingt eine Machete.
Und an dieser Stelle kommt der Wasserturm ins Spiel. Der riesige blaue trapezförmige Wasserturm, westlich von der Watson Street, der aussieht wie ein AT-AT Walker aus Star Wars. Als der Colatyp anfängt mich zu jagen, springe ich nämlich aus dem Bett, flüchte nach unten und raus aus dem Haus, die Carver Street runter, biege auf der Main Street links ab und laufe auf der Camelia Street zwei Straßen weiter in westliche Richtung und dann nach rechts in die Watson Street, wo ich rumsbums auf diesen Wasserturm stoße und anfange, zur Spitze hochzuklettern.
In meinen Boxershorts, wohlgemerkt.
Das allein ist schon schlimm genug, aber es sind auch noch meine Weihnachtsboxershorts, die roten mit den weißen Punkten, auf denen Ho! Ho! Ho! steht – überall. Und es ist August. In dem Aufzug klettere ich also auf einen Wasserturm in einem öffentlichen Park und brülle eine riesige unsichtbare Coladose an.
Und das ist kein schöner Anblick.
Aber ich fantasiere natürlich. Ich weiß nicht, was ich tue.
Ich komme so etwa sechs Meter weit, da brüllt auch schon jemand: »He, Nick, komm da runter!« Das ist Scooters hohe, heisere Stimme, und irgendwie dringt sie zu mir durch und ich komme zu mir. Allerdings nicht in dem Umfang, der nötig gewesen wäre, um meinen Absturz zu verhindern.
Mein Bein knackt beim Aufprall. Was wehtut wie Arsch.
Aber trotzdem, ich hab ziemliches Glück. Denn, so wie Scooter die Geschichte erzählt, bin ich so schnell geklettert, dass ich in null Komma nichts die Spitze erreicht hätte, und die ist 25 Meter hoch über dem Boden. Und wenn ich von da runtergefallen wäre, hätte ich mir bestimmt den Hals gebrochen, nicht nur das Bein.
Und da kommt Dad wieder ins Spiel.
Denn der verpennt all das. Das Fieber und das Fantasieren, und das Rennen und Klettern und Fallen und sämtliche panischen Anrufe vom Scoot. Sogar das Heulen der Sirene vom Krankenwagen, der vorbeirast, um mich ein paar Straßen weiter abzuholen. Und meine Fahrt zum Mercy Hospital, wo die Ärzte mich eingipsen, sowie den ersten von Moms stinkwütenden Anrufen.
Egal, was, mein Dad verpennt es.
Und das führt dazu, dass meine Mom früher aus Philly nach Haus kommt und dass tagelang rumgebrüllt wird. Und dass Dad seine Sachen packt und sich zu Fuß auf den Weg nach New York City macht. Und dass das Team von der Nachrichtensendung zu uns nach Hause kommt und ich auf Kollisionskurs mit Jaycee Amato gerate.
Aber erst mal rettet Scooter mich, was die totale Ironie ist, denn der Junge ist selber eher tot als lebendig. Und das macht ihn wiederum vorübergehend vom Außenseiter zum Helden, was mal was anderes ist.
Also ist wenigstens etwas Gutes dabei rausgekommen.
Und das ist schön, danach geht nämlich alles den Bach runter.
4. September
Lieber Nick,
in den letzten Monaten habe ich lange und intensiv über das nachgedacht, was ich jetzt tun werde. Ich weiß, ich muss etwas tun, etwas anderes, als auf dem Sofa herumzusitzen und auf die richtige Lösung zu warten. So etwas wie einen idealen Zeitpunkt gibt es nicht, also kann ich ebenso gut jetzt und hier den Anfang machen.
Ich komme bald wieder – ich hoffe, du verstehst das.
Dad
Doch zuerst sollte ich erklären, was es mit dem Scoot auf sich hat, damit man auch alles versteht.
Scooter Reyland wohnt gleich nebenan und ist ein Jahr älter als ich. Das ist ihm aber nicht anzusehen, denn einen kleineren, seltsamer aussehenden Typen hat man garantiert noch nicht zu Gesicht gekriegt. Das klingt jetzt herzlos, aber es ist kein Geheimnis. Der Scoot wäre der Erste, der mir recht geben würde.
Der Scoot war nicht von Geburt an seltsam, aber solange ich denken kann, ist er so verkorkst gewesen wie jetzt. Jeremy hat ihn anders in Erinnerung, als süßes, normales Baby. Aber normal hat nicht besonders lange gehalten, dann setzte nämlich die totale Abartigkeit ein.
Als ich zwei war und der Scoot drei, hatte er ganz aufgehört zu wachsen. Sein Kopf wirkte zu groß für seinen Körper und seine Haare fielen aus – vielleicht sind sie auch von Anfang an nie richtig gesprossen. Dazu kam noch, dass seine Haut anfing, runzelig zu werden und so dünn, dass alle Adern darunter zu sehen waren. Im Vorschulalter sah er dann schon aus wie ein geschrumpfter alter Mann.
Und sie hatten alle dabei zugeschaut, wie es passierte, Mom, Dad, Jeremy und – was das Schlimmste war – seine Mutter, MaeLynn. Nur ich nicht. Ich kenne ihn bloß so, wie er ist, für mich ist er also in erster Linie der Scoot, und nicht irgendein seltsamer Typ.
Wenn man sich MaeLynn anschaut, dann glaubt man nie im Leben, dass Scooter ihr Kind sein könnte. Sie ist Krankenschwester, kommt ursprünglich aus dem Süden und sieht aus wie so ein Model aus ’ner Zeitschrift. Dünn, langes blondes Haar, kennt man ja. Aber sie war seine Mutter – und der Scoot war für sie ihre ganze Welt.
Wie auch immer, damals, als die Sache mit dem Scoot schiefgelaufen war, hatte sich sein Dad, ein Arsch namens Guy, einfach vom Acker gemacht und war verschwunden. Für immer, nicht mal verabschiedet hatte er sich. So wie MaeLynn das schildert, war er den einen Tag noch da und dann am nächsten … da war er weg. Punkt. Ende der Geschichte. Er ruft nicht mal an oder schickt Geld.
Dad sagt, er sei einfach durchgedreht. Was mit seinem Sohn geschah, hat er nicht aushalten können, zu viel Druck. Aber MaeLynn sagt, er sei von Anfang an ziemlich lahm gewesen und hätte in einer Fantasiewelt gelebt, schon bevor Scooter geboren wurde. Sie sagt, es sei sowieso egal, denn sein Abgang sei für sie das Beste gewesen, er sei ein mieser Angsthase gewesen, der sofort zu viel kriegte, wenn es ernst wurde – war also besser, dass er von ihrem Acker gehoppelt war.
Wie auch immer, MaeLynn stand also mit der ganzen schweren Arbeit allein da. Jede Woche schleifte sie Scooters armen kleinen Arsch zum Arzt, bis ihr schließlich einer erzählte, was mit ihm nicht stimmte. Der Scoot hatte das Hutchinson-Gilford-Progeria-Syndrom, das den Alterungsprozess beschleunigt und absolut selten und unheilbar ist. So ungefähr eines von acht Millionen Kindern kann das kriegen, und der Scoot hat es. Wie hoch ist da die Wahrscheinlichkeit?
So was ist so selten, sagt MaeLynn, dass Scooter in der Geschichte sämtlicher registrierter Fälle der 103. ist. Mal ehrlich, von all den Milliarden Menschen auf der Welt haben nur 103 das je gehabt.
Scooter versucht ständig, mir zu erklären, wie die Krankheit von diesem mutierten Gen verursacht wird, das sich zwei Mal kopiert, und ein Mal ist alles gut, aber beim nächsten Mal ganz irre falsch. Ich kapier es immer noch nicht. Das will mir einfach nicht in den Kopf.
Und dann hat Scooter mir noch erzählt, dass er sterben wird.
Das ist schon Jahre her. Wir waren so neun oder zehn und wir spielten bei mir im Garten mit Nerf-Guns. Wir waren rumgerannt und hatten aufeinander geschossen, aber Scooter muss immer langsamer machen. Denn die Symptome sind schon so schlimm, dass sein Herz schwach ist, er ist also immerzu außer Atem. Plötzlich bleibt er stehen, beugt sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, und keucht und röchelt mit total rotem Gesicht. Ich hör also auch auf, und er guckt zu mir hoch und sagt: »Weißt du, Nick, dieses mutierte Gen-Dings, das wird mich jetzt bald umbringen.«
Kein Scherz. Einfach so, das hat Scooter gesagt.
Na, ich hab natürlich keine Ahnung, ich weiß so was ja nicht, weil ich ja bloß ein kleiner Junge bin. Trotzdem schüttele ich den Kopf und sag was Blödes wie: »Stell dich nicht so an, Scooter«, und dann gebe ich ihm einen Schubs, damit er weiterspielt.
Aber ich hab das nie vergessen. Diese Worte hab ich nie vergessen.
Na, egal, so war das also. Bis vor ein paar Jahren war Scoot mein bester Freund. Vor allem an Tagen, an denen MaeLynn gearbeitet hat, war er immer bei uns zu Haus und hat mit mir oder Dad gechillt. Dann, so gegen Ende der Mittelstufe, veränderten sich die Dinge. Wir sind von Anfang an ziemlich verschieden gewesen, und es war so schon schwer genug, Teenager zu sein. Oder vielleicht war ich es auch ein wenig leid geworden, dass er immer bei uns herumhing, dass Dad für ihn so viel Energie aufbrachte und andauernd um MaeLynn besorgt war. Vielleicht ging es mir gegen den Strich, das Gefühl zu haben, er wäre irgendwie unsere Verpflichtung. Jedenfalls verbrachte ich dann weniger Zeit mit ihm und hing mehr und mehr mit meinen anderen Freunden herum.
Dem Scoot schien diese Veränderung in unserer Freundschaft nicht allzu viel auszumachen. Er hing noch immer bei Dad herum und Dad fand das gut. Hinzu kam, dass er im letzten Jahr auf die Highschool übergewechselt war und mittlerweile kaum noch zum Unterricht ging. Denn mit fünfzehn war sein Körper wie der eines Achtzigjährigen, und er war bereits älter als die meisten Kinder mit Progerie je werden. Im Ernst, sein Herz gibt allmählich den Geist auf und seine Leber ist im Eimer, und das sind nicht die üblichen Probleme, mit denen Teenager sich rumschlagen. Sobald er Husten kriegt oder eine Erkältung oder sobald auch nur irgendwas im Umlauf ist, nimmt MaeLynn ihn aus der Schule und passt zu Hause gut auf ihn auf. Und wenn sie zur Arbeit geht, dann drückt er sich immer noch bei meinem Dad herum. Oder vielleicht geht er auch rüber in den Park an der Watson Street zum Lesen, oder er kritzelt in seinem komischen marmorierten Buch herum.
Genau das tut er nämlich an dem Tag, an dem ich mir das Bein breche. Was dann natürlich zu dem Kuddelmuddel mit Mom und Dad führt und dazu, dass Jeremy zum Vollidioten wird und Dad weggeht und Jaycee kommt und die Sechsuhrnachrichten.
Und dazu, dass ich beschließe, etwas Verrücktes zu tun, was ich normalerweise nie machen würde.
Oder vielleicht sieht die Wahrheit anders aus.
Vielleicht juckt es mich geradezu, was Verrücktes zu tun, und ich brauch bloß jemanden, der mich anstachelt.
Von: FatMan2
An: Nick Gardner
Betrifft: Wandern
Datum: 5. September
Nick,
man sagt, aller Anfang ist schwer. Nun ja, wer auch immer das gesagt hat, er hatte recht. Das hier ist viel schwieriger, als ich dachte – einfach nur gehen.
Und darüber hinaus ist es schwer, euch zurückzulassen, es ist schwer, weg zu sein.
Ich hoffe, das weißt du, Junge.
Aber ich muss es tun. Ich kann gar nicht glauben, dass ich es mache.
Dad
Es passiert also Folgendes: Dad verwandelt sich in FatMan2 und verschwindet. Und nur damit ihr es wisst, diese ganze »FatMan«-Sache ist nicht annähernd so originell, wie es sich anhört.
Fat Man Walking war ursprünglich der Benutzername von diesem 400-Pfund-Typen aus Kalifornien, der beschlossen hatte abzunehmen, indem er das ganze Land bis rüber nach New York durchwanderte. Über ein Jahr ist der gewandert und hat dabei mehr als hundert Pfund abgenommen. Damals war Dad von diesem Typen besessen und hat jede seiner Bewegungen verfolgt. Monatelang hat er nur von ihm geredet, und irgendwie hat er vielleicht gedacht, er könnte das auch machen.
Hat er dann natürlich nicht, von uns hatte ihm das eh keiner zugetraut. Und am Ende hat er ganz aufgehört, darüber zu reden.
Dann, kurz nach dem Vorfall mit dem Wasserturm und einer weiteren Brüllorgie mit Mom, gräbt er sein Fat-Man-Walking-T-Shirt aus und packt seine Taschen.
»Wo hast du das her?«, frage ich. Ich stehe vor seiner Schlafzimmertür, mit pochenden Zehen, die dick und lila aus dem Gips quellen, und der in die Achselhöhle geklemmten Krücke, und guck zu, wie er Sweatshirts in eine Art Hightech-Rucksack stopft, den ich noch nie zuvor gesehen habe.
Er schaut auf und runzelt die Stirn. »He, Junge, hast du mich erschreckt.«
»Sorry. Also … was machst du da? Wo kommt all das Globetrotter-Zeug her?« Mit einer Kopfbewegung deute ich auf all die neuen Wandersachen, die sich auf dem Bett stapeln.
»Ich tu es, Nicky. Oder zumindest versuche ich es. Ich muss es versuchen.« Er hört auf mit dem Packen und seufzt. »Jetzt ist die Zeit gekommen«, sagt er.
»Zeit für was? Wann?« Mein Knöchel bringt mich um. Ich blinzele ungläubig.
»Ich hab dieses Wochenende ins Auge gefasst.«
Er hält inne, dann macht er weiter mit dem Packen, als ob ich keine weiteren Erklärungen brauchen würde.
Ein paar Tage später steht er an unserer Haustür, sein Laptop steckt in einer neuen wasserdichten Hülle, sein Rucksack ist voll und ein kleines, ultraleichtes Zelt ist an seinem Rahmen festgeschnallt. Ich bin schon den ganzen Morgen auf, total nervös, aber Jeremy ist nicht mal zu Hause. Der Arsch ist zu einem Freund gegangen, ohne überhaupt Tschüss zu sagen.
»Ich denk mal, so einen Monat, anderthalb, wenn’s hoch kommt«, sagt er zu Mom.
Sie nickt, hält den Kopf gesenkt, die Arme fest vor der Brust verschränkt.
»Schlimmstenfalls Ende Oktober. Danach wird es zu kalt sein.« Er lacht. »Wenn ich so lange aushalte.«
»Das wirst du«, sagt Mom leise. Sie schaut jetzt zu ihm hoch, zurrt einen Gurt am Rucksack fest.
Dad nickt, guckt mich an. Ich trete voll Unbehagen auf der Stelle. Er legt mir die Hand auf die Schulter, was die Sache nur noch schwerer macht. »Pass gut auf das Bein auf, Junge, und mach deiner Mutter keine Sorgen.« Ich nicke. Danach geht er zur Tür hinaus.
Mom scheint das nicht besonders mitzunehmen. Sie macht ihre Sachen wie sonst auch.
»Leute müssen tun, was sie tun müssen, Nicholas«, sagt sie, während wir am Fenster stehen und beobachten, wie er unsere Straße runtergeht. Dann zaust sie mir das Haar, als ob ich ein kleines Kind wäre, und macht uns weiter Frühstück.
Oben in meinem Zimmer liegt ein Zettel von ihm, auf den ich einen flüchtigen Blick werfe, bevor ich ihn in meine Schreibtischschublade stopfe. Und als seine E-Mails kommen, öffne ich sie überhaupt nicht, sondern verschiebe sie ungelesen in einen Ordner mit dem Namen »FatMan2« und tu so, als ob ich sie nie erhalten hätte. Ich weiß auch nicht so ganz genau, warum.
Vielleicht liegt es daran, dass ich in den ersten paar Tagen so wahnsinnige Schmerzen in meinem Bein habe, oder dass Jeremy ständig so ein Arsch ist, ich kann mich jedenfalls nicht dazu überwinden, sie zu lesen. Die Wahrheit ist, ich bin stinksauer auf Dad, nicht nur, weil er mich und Jeremy und Mom verlassen hat, sondern auch, weil er den Scoot im Stich lässt, wo der ihn am dringendsten braucht. Es mag sich vielleicht so anhören, als ob mir der Scoot ziemlich egal wäre, ist er aber nicht. Nicht zusammen abhängen und egal sein sind zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.
Tatsächlich versuche ich beim Scoot ein bisschen wieder gutzumachen, dass Dad weg ist – na, wen hat er denn noch? Abgesehen davon kann ich in diesen letzten Sommertagen zu Hause in Glenbrook ja nicht viel tun, weil ich mit einem kaputten Bein festsitze.
Scooter und ich verbringen also wieder mehr Zeit zusammen, mit Reden hauptsächlich und Filme gucken in seinem Wohnzimmer – wie früher, als wir klein waren. Besonders Star Wars, diese Filme können wir uns immer wieder anschauen. Natürlich ist er in so schlechter Verfassung, dass er bei den kleinsten Sachen schon aus der Puste ist. Wenn er sich bewegt und redet, kann man seine Eingeweide klappern und keuchen hören. Keiner von uns sagt was, aber mich macht das eindeutig traurig.
Zum Glück hab ich nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn die Schule fängt wieder an.
Der Morgen des ersten Schultages bringt schon ein schlechtes Omen. Ich wache früh auf, so um sechs Uhr. Ich brauche noch nicht aufzustehen, aber schlafen kann ich auch nicht, deshalb steige ich aus dem Bett und wackele runter in die Küche und schau mal, ob Jeremy wach ist. Was er ist, er trinkt Kaffee und frühstückt am Tisch.
Ich hoppele zum Küchenschrank, hole mir eine Schale und einen Löffel, dann hoppele ich zum Tisch, lege meine Krücken auf den Boden und hoffe, dass sich mein Zustand in seiner Gesellschaft verbessert.
»Hey«, sage ich und gieße Milch in meine Schale.
»Hey, Alter«, antwortet er.
Macht mir nichts, wenn wir nicht viel reden, echt. Seit Dad weg ist, schlafe ich nicht so gut, und ich bin ziemlich fertig und still. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich für die Sache verantwortlich fühle. So in der Art: Wenn ich mir nicht das Bein gebrochen hätte, dann hätten Mom und Dad sich nicht gestritten, und Dad wäre jetzt nicht weg. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt.
Aber, egal, die Ruhe und der Frieden halten nur etwa eine Minute, ehe mein saublöder Bruder anfängt rumzulabern. Er sagt, ich solle aufhören, so naiv zu sein, und mich nicht wundern, dass Dad gegangen ist, denn jeder, der Augen im Kopf hat, würde wissen, dass er schon seit Jahren wegwill. Dass er nicht glücklich gewesen ist, seit Mom ihn gezwungen hat, Manhattan zu verlassen, und dass Mom ihn sowieso hassen würde … Keine große Überraschung also.
»Mach dir vor, so viel du willst«, sagt er abschließend und löffelt sich Cheerios rein, »aber nie im Leben kommt der zurück.«
Ich gucke ihn giftig an und frage mich, warum er nicht einfach die Klappe hält. »Doch, tut er«, sage ich schließlich, obwohl ich eigentlich gar nicht auf seinen nervtötenden Scheißdreck reagieren, sondern lieber gar nichts sagen sollte. Aber er geht mir echt auf den Senkel.
»Nee, nee, Nick, du irrst dich. Er ist weg, kannst du mir glauben. Fängt ein ganz neues Leben an in New York City. Wenn er nicht vorher tot umfällt.« Er schaufelt sich noch einen großen, matschigen Mundvoll rein.
Und ich raste aus. Ich kann nichts dagegen tun. Als er das sagt, drehe ich innerlich einfach durch. Ich nehme meinen Löffel, und ohne nachzudenken, bewerfe ich ihn damit. Normalerweise würde ich aufstehen und stattdessen mit Fäusten auf ihn losgehen, aber das würde jetzt zu lange dauern, wegen meinem kaputten Bein und den Krücken. Also mach ich das so. Ich schmeiß den Löffel nach ihm.
Er trifft ihn hart, mitten auf der Stirn. Da bleibt er dann knapp eine Sekunde lang kleben, dann fällt er runter und scheppert auf den Tisch. Ein bisschen Milch tropft Jeremy an der Nase runter.
Er springt auf, und ich weiß sofort, er wird mich gleich verprügeln – ist eine Art Reflex, man merkt das – aber dann geht ihm auf, dass ich ja behindert bin, dass ich ein gebrochenes Bein hab. Außerdem stehen mir Tränen in den Augen, also denkt er wohl, er müsse mich schonen. Jedenfalls lehnt er sich wieder zurück und guckt mich finster an. Wo der Löffel ihn getroffen hat, bildet sich eine rote ovale Beule. Ich lache, weil das ehrlich gesagt ziemlich witzig ist, und er guckt nur noch finsterer, so als ob er darauf warten würde, dass ich mich entschuldige.
»Du bist ein Idiot«, sage ich stattdessen, was wahrscheinlich nicht die Entschuldigung ist, auf die er gehofft hatte.
Danach sagt keiner von uns mehr so viel. Ich kann nichts mehr essen, weil ich keinen Löffel hab, außerdem bin ich nicht richtig hungrig. Trotzdem ziehe ich die Schachtel über den Tisch und guck nach, ob auf der Rückseite nicht irgendwelche blöden Kleinkinderspiele sind, wie Labyrinthe oder Buchstabenrätsel oder so. Ich weiß, für so was bin ich viel zu alt, aber ich suche immer noch gern nach den versteckten Sachen. Außerdem könnte ich auf die Art Jeremy ignorieren, und das würde alles wesentlich besser machen. Aber das ist eine Schachtel mit Cheerios, deshalb sind da natürlich nur langweilige Ernährungstipps auf der Rückseite.
Schließlich sage ich: »Er ist nicht für immer gegangen, Jeremy. Er hat gesagt, er kommt zurück«, denn entweder sag ich das oder ich sitz bloß da und höre ihn kauen.
»Schauen wir mal«, sagt er, aber ich merke, dass er nur keinen Streit will.
»Da gibt’s nichts zu schauen«, sage ich, denn noch bin ich nicht fertig, auch wenn er das ist, und es ärgert mich, wenn er so überlegen tut.