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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 19
Siegfried Lenz
Der Sohn des Diktators
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
Da mein Vater Gongo Gora – sein offizieller Beiname war ›Vater des Volkes und der Berge‹ – schon sehr früh seine Fähigkeiten auch in mir entdeckte, wurde ich mit fünfzehn Jahren stellvertretender Luftwaffenchef, bald darauf erhielt ich Sitz und Stimme in unserer Akademie der Künste, und zu meinem sechzehnten Geburtstag ernannte er mich zum Chefredakteur des Regierungsblattes ›Przcd Domdom‹, was sich zweckmäßig übersetzen läßt mit ›Frohes Erwachen‹. Obwohl diese Stellungen mir einiges zu tun brachten, bestand mein Vater darauf, daß ich nebenher noch die Schule beenden, einen Abschluß erlangen müßte, und um mir den Schulgang zu erleichtern, versprach er, mich nach bestandenem Examen angemessen zu entschädigen; als angemessen empfand er den Posten eines Ministers für Kraft und Energie.
Doch diese versprochene Entschädigung werde ich nun nie mehr erhalten, nie mehr genießen. All die Fähigkeiten, die mein Vater mir vererbte und die er so früh in mir entdeckte, werden keinem höheren Amt unseres Staates mehr zugute kommen; nicht einmal zum Ersten Sekretär der Gewerkschaften wird man mich berufen, denn laut unseren wissenschaftlichen Enzyklopädien und Nachschlagewerken gehöre ich bereits zu den Toten, zu den teuren Toten unserer Nation. Mit siebzehn Jahren – so steht es in den Nachschlagewerken – verlor ich mein Leben in einem Einsatz gegen die aufrührerischen Banden der Ostralniki, und in einer Neuauflage wurde hinzugefügt, daß dies kurz vor meinem Examen geschah und mit der Erschießung eines Schocks gefangener Ostralniki – »räudiger Ostralniki« schrieb die große Staatsenzyklopädie – gesühnt wurde. Bei meinem Staatsbegräbnis konnte ich nicht dabeisein, doch durch die Mauern der Privatzelle, in die mein Vater Gongo Gora mich eigenhändig sperrte, konnte ich die Trauerreden hören, das gepeinigte Schluchzen meiner Mutter Sinaida und die drohenden Rufe des Volkes, das meinen Tod beklagte und das rasche Ende aller Ostralniki forderte.