6,99 €
Der Archäologe Mike Berger und die Forensikerin Dana Hall haben Schreckliches erlebt. Mike erhielt einen interessanten Grabungsauftrag von ihrem Vater Barnabas. Die gemeinsame Arbeit brachte sie zwar als Liebespaar wieder zusammen. Aber sie führte auch in die düstere Vergangenheit der Familien Hall und Berger. Ihr psychopathischer Onkel Gideon versuchte sie mit physischer und psychischer Gewalt daran zu hindern, die Wahrheit aufzudecken. Ihr boshafter Bruder David stand ihm zur Seite. Die Drangsalierungen endeten schließlich für alle Beteiligten verheerend. Ihr Vater starb durch die Grausamkeiten ihres Onkels. Der wurde auf der Flucht von der Polizei erschossen. Ihr Bruder wurde angeschossen und verschwand. Die körperlichen Beeinträchtigungen, die das Paar durch die Gewalt des Onkels erfuhr, heilen langsam. Aber die seelischen Versehrungen bleiben. Der Alltag wird für Dana unerträglich, denn sie durchlebt jede Nacht im Traum die Misshandlungen durch ihren Onkel. Darum sucht sie psychologischen Rat. Auch Mike findet keine Ruhe mehr, denn er wurde durch das, was sie herausfanden, seelisch entwurzelt. Und zu allem Unheil taucht plötzlich David wieder auf. Er will Rache für den gewaltsamen Tod seines Onkels und begibt sich auf eine martialische Mission.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Prolog >> 29. November <<
Kapitel 1 >> 3. November <<
Kapitel 2 >> 3. November <<
Kapitel 3 >> 4. November <<
Kapitel 4 >> 5. November <<
Kapitel 5 >> 6. November <<
Kapitel 6 >> 8. November <<
Kapitel 7 >> 9. November <<
Kapitel 8 >> 10. November <<
Kapitel 9 >> 11. November <<
Kapitel 10 >> 12. November <<
Kapitel 11 >> 12. November <<
Kapitel 12 >> 14. November <<
Kapitel 13 >> 14. November <<
Kapitel 14 >> 18. November <<
Kapitel 15 >> 20. November <<
Kapitel 16 >> 27. November <<
Kapitel 17 >> 30. November <<
Kapitel 18 >> 30. November <<
Kapitel 19 >> 01. Dezember <<
Kapitel 20 >> 04. Dezember <<
Kapitel 21 >> 06. Dezember <<
Kapitel 22 >> 06. Dezember <<
Kapitel 23 >> 10. Dezember <<
Kapitel 24 >> 11. Dezember <<
Kapitel 25 >> 14. Dezember <<
Kapitel 26 >> 18. Dezember <<
Kapitel 27 >> 21. Dezember <<
Kapitel 28 >> 22. Dezember <<
Kapitel 29 >> 23. Dezember <<
Epilog >> 2. April <<
Micha sitzt auf einem großen Strandlaken. Neben ihm liegt seine Mama und lässt sich die Sommersonne auf den Rücken scheinen. Sie lächelt ihn an. Immer wieder kommen Menschen vorbei, die am Ufer spazieren gehen und sich das Nordseewasser um die Füße spülen lassen. Micha blickt sich um. Er sieht fröhlich lachende Kinder, die Sandburgen bauen, die mit Wasserbällen spielen oder die sich gegenseitig im seichten Uferwasser nass spritzen.
Die Eltern oder Großeltern, Tanten oder Onkel sitzen unter Sonnenschirmen oder in Strandkörben und lassen sich ein Eis schmecken. Manche haben sich in einer der Milchbuden eine Tasse Krabbensuppe oder einen Becher Dicke Milch mitgenommen und löffeln diese nun genussvoll.
Micha blickt auf. In der Ferne jaulen Seerobben auf der Sandbank. Ein Fischkutter fährt tutend vorbei.
Seine Mama ist mittlerweile eingeschlafen, aber er ist hellwach. Er beobachtet, wie der Wind die Wellen ans Ufer bläst. Aus der Ferne sehen sie groß und bedrohlich aus, aber je näher sie dem Strand kommen und je mehr Sand sie schlucken, umso kleiner werden sie, bis sie sich schließlich verlieren.
Er fühlt sich ebenso verloren. Wo ist sein Papa? Mama hat gesagt 'Der ist unterwegs'. Aber was soll dieses 'unterwegs' bedeuten? Papa ist verschwunden. Micha ist sehr traurig.
Doch ganz plötzlich spürt er ihn. Er wirbelt herum. Da steht sein Papa. Er ist braungebrannt, hat einen wilden, zotteligen Bart und funkelt ihn mit seinen stahlblauen Augen an. Micha springt auf und fliegt ihm in die Arme.
„Papa“, strahlt er „du bist endlich wieder da.“ Er weint vor lauter Freude. Seine Mama erwacht.
„Michel?“ spricht sie ihn fragend an. „Aber das kann doch gar nicht sein. Ich meine, du bist doch…“. Sie blickt verunsichert auf ihren Sohn, der sich sehnsüchtig an seinen Vater schmiegt. Dann rinnen Tränen der Erleichterung über ihre Wangen.
„Du bist nicht… ich meine, du bist…“. Sie zögert. Micha versteht nicht, warum seine Mama so seltsam reagiert. Was hat sie nur? Sein Papa küsst ihn, dann beugt er sich vor und setzt ihn in den warmen Sand. Nun wendet er sich seiner Frau zu und umarmt sie. Das Leben ist schön.
Aber ganz plötzlich wird es bitterkalt und furchtbar dunkel um sie herum. Micha kann nichts mehr sehen. Er hat große Angst und ruft nach seinem Papa und seiner Mama.
„Wo seid ihr? Ich fürchte mich so!“ Die Düsternis droht ihn zu verschlingen.
„Michael?“ Eine kühle Hand umfasst seinen Arm. Es ist hell und die Sonne blendet ihn.
„Komm, mein Junge. Du holst dir einen Sonnenbrand“, sagt Arthur. Er trägt ein hellblaues Sommerhemd und dazu eine dunkle Leinenhose. Er lächelt seinen Sohn milde an.
„Aber ich will zu meinem Papa“, schluchzt Micha.
„Wo ist er? Wo ist meine Mama?“ Arthurs Blick wird hart. Mit versteinerter Miene sieht er seinen Sohn an. Dann entgegnet er schroff:
„Da ist niemand. Wir sind ganz alleine auf der Welt, mein Sohn. Ich bin dein Vater. Der Andere ist ein Nichts, ein Schatten aus der düsteren Vergangenheit, ermordet und verscharrt.“ Er starrt Micha aus hohlen Augen an. Dann beginnt er laut zu lachen. „Ein Niemand, tot und begraben. Nur noch Knochen und Staub sind von ihm übrig.“ Er lacht lauter und schriller. Dann packt er Micha, hebt ihn und schüttelt ihn. Der Junge schreit entsetzt auf.
„Verstehst du das, du kleiner Bastard? Tot, mausetot. Er ist ein Niemand.“ Sein Lachen wird hysterisch. Sein Sprechen gleicht nun einem Singsang. „Tot, tot, tot“ wiederholt er ohne Pause.
Mike schreckte hoch. Er lag in seinem Bett. Seine Liebste sah ihn fragend an. Er war verwirrt.
„Du hast geträumt, mein Schatz, und dabei nach Papa und Mama gerufen. Und jetzt gerade, kurz bevor du wach geworden bist, hast du erst langsam, dann immer schneller 'tot, tot, tot' gesagt. Was ist in dem Traum passiert?“
Mike erzählte von dem gespenstischen Alptraum. Dana nahm ihn in die Arme und küsste ihn zärtlich.
„Ich weiß“, flüsterte sie „was das ist. Das ist dein innerer Kampf mit deinem Vater, den du morgen triffst und mit deinem Papa, den du nie kennenlernen durftest.“ Sie schmiegte sich an und streichelte ihn. „Schlaf jetzt. Du brauchst einen klaren Kopf und einen wachen Verstand, wenn du dich mit deinem Vater aussprechen willst.“ Sie lächelte milde und zog ihn zu sich. Mike legte seinen Kopf auf ihre Brust. Sekunden später schlief er erschöpft ein.
„Ich kann es nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.“ Dana sah Mike in die Augen. Gestern um zwölf Uhr mittags war ihr geliebter Vater Barnabas gestorben. Er wurde getötet! Oder wie die Ärzte es formulierten: 'er ist seinen schweren Verletzungen, die er durch die Misshandlungen seines Halbbruders Gideon davon getragen hat, erlegen'.
Was bedeutet das? Der Jäger erlegt einen Hirsch. Aber ein Mensch erliegt doch nicht seinen Verletzungen? Eine unglaublich bescheuerte Formulierung! Ein Mensch stirbt, weil er entweder schwer krank ist oder durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird oder weil er von einem sadistischen oder brutalen Psychopathen so lange gequält wird, bis sein geschundener Körper jeglichen Widerstand aufgibt und das Leben endet. Wie kann ein Mensch einem anderen so etwas Grausames antun. Wie gestört und verroht muss die Seele eines Mörders sein, das er sein Gewissen und seine Menschlichkeit so sehr abschalten kann und sich wie eine Bestie, ein gefährlichen Raubtier verhält? Nein, dachte Dana. Da tue ich Löwen, Tigern und allen anderen Raubtieren Unrecht. Die Tiere töten, um zu überleben, um sich und ihre Artgenossen mit Nahrung zu versorgen. Aber die Bestie Mensch tötet aus Habgier, Neid, Wut, Boshaftigkeit oder Bösartigkeit und manchmal aus reinem Vergnügen und für den Rausch an der Macht über Leben und Tod.
„Dana?“ Er sah sie mit sorgenvoller Miene an. Sie stand völlig neben sich. Kein Wunder! Er erinnerte die vergangenen Stunden, den starren Blick von Barnabas in der Sekunde seines Todes, den schrillen Pfeifton als der Puls ausblieb. Das alles hallte in ihm nach. Er gewahrte die Szenerie, als Dana ihrem toten Vater um den Hals fiel und haltlos weinte und als im nächsten Augenblick die Ärzte und Krankenschwestern den Raum betraten. Er beobachtete das Prozedere zur fachmännischen Feststellung und die Dokumentation des Todes. Er und die Ärzte mussten sie schließlich mit sanfter Gewalt von Barnabas lösen. Nur widerwillig ließ sie von ihm ab und sank schluchzend in seine Arme.
„Er ist tot, er ist tot“ sagte sie immer wieder mit tränenerstickter Stimme. Es war, als ob sie sich selbst diese grausame Wahrheit erst einmal erklären musste, um sie zu verstehen. Das war gestern. Heute war sie noch immer fassungslos und konnte den Tod ihres Vaters und alle anderen, schrecklichen Geschehnisse der vergangenen Tage und Wochen nicht begreifen. Das alles würde dauern. Jetzt war es wichtig, dass er uneingeschränkt für sie da war.
Sie schmiegte sich an ihren Geliebten. Er führte sie gestern weg aus dem Krankenzimmer und durch die langen, kalten Flure hinaus aus dem Krankenhaus. Vorher regelte er mit den Ärzten den ganzen Verwaltungskram und gab ihr dann den Trost und den Zuspruch, den sie so sehr brauchte. Nun saßen sie schweigend im Wohnzimmer in ihrem Haus im Dürener Stadtteil Gürzenich. Er brühte einen starken, schwarzen Tee auf und stellte eine Flasche irischen Whiskey dazu. Aber sie rührte weder das eine noch das andere an, saß da und starrte vor sich hin.
„Wir müssen deine Familie auf der Insel verständigen“, schlug er vor.
„Ja“, seufzte Dana „sie werden sicherlich in den Nachrichten gesehen haben, was in der Eifel an Halloween geschah. Es wurde ja ausführlich berichtet von dem Scheunenbrand nahe der stillgelegten Ferienanlage, von schwerverletzten und getöteten Menschen. Aber ob Onkel Joseph, Tante Anne oder Großvater Robert diese Berichte mit Vater, Onkel Gideon oder David in Verbindung bringen, wage ich zu bezweifeln. Diese Idee ist zu abwegig.“
„Umso schwerer wird das Gespräch werden. Schreib deinem Onkel eine SMS. Er soll seinen Computer anmachen und die Kamera ausrichten. Dann können wir ihnen via Skype persönlich und mit Sichtkontakt von allem berichten. Sie müssen rasch Bescheid bekommen, die Beerdigung ist doch schon in drei Tagen. Da müssen sie sich sputen, wenn sie noch einen Flieger bekommen und rechtzeitig hier sein wollen.“
Mike erfuhr von den Ärzten, dass der Leichnam von Barnabas aufgrund der schrecklichen Verbrennungen und in diesem Zusammenhang mit der raschen Zersetzung desselben nicht allzu lange aufgebahrt, sondern bald bestattet werden sollte. Es war offenes Wetter und der Boden nicht gefroren. Das Grab konnte ausgehoben werden und die zuständige Behörde teilte den Vorschlag einer raschen Beerdigung.
„Du hast Recht. Ich fahre den Laptop hoch. Bringen wir es hinter uns.“ Dana straffte sich und wirkte nun wild entschlossen und zu allem bereit. Sie schickte ihrem Onkel eine kurze Nachricht.
Zehn Minuten später erschien das freundliche Gesicht ihres Onkels auf dem Monitor. Nach einer freundlichen Begrüßung bat sie ihn, ihre Tante und den Großvater dazu zu holen. Er stutzte. Dann verschwand er aus dem Sichtfeld. Nun schauten sie in ein rustikal eingerichtetes Wohnzimmer. Der Raum wirkte wie die gute Stube eines stattlichen Bauernhofes. Mike sah Dana fragend an.
„Hattest du nicht gesagt, dein Großvater würde zu deinem Onkel Joseph nach Galway ziehen. Das ist doch an der Atlantikküste. Ich war während meiner Irlandtour ein paar Mal dort. Aber einen Gutshof, wo so ein rustikales Wohnzimmer reinpasst, kann ich mir da beim besten Willen nicht vorstellen.“
„Onkel Joseph und Tante Anne haben in Galway direkt am Atlantik ein Landhaus. Da sind sie aber nur in den Sommermonaten. Vom frühen Herbst bis zum späten Frühjahr leben sie auf Ihrer Farm nahe Tully im County Kildare. Und da es bekanntlich November ist, zeigt dieser Blick uns das Wohnzimmer, dass sich in dem Haupthaus befindet.“
Nun ruckelte das Bild, denn der Onkel war zurückgekehrt und richtete das Gerät so aus, dass seine Frau Anne, die links neben ihm Platz nahm, und sein Vater Robert, der sich mühsam etwas abseits in einem großen Ohrensessel setzte und das rechte Bein hochlegte, alles gut sehen konnten. Ein freudiges Hallo ertönte und man begrüßte sich herzlich.
„Oh, Großvater, was ist passiert?“, fragte Dana, als sie dessen Mühen beobachtete.
„Nothing! Das ist nichts, mein Kind. Ich bin am Tag vor All Hallows Eve gestürzt und habe mir einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Aber der Arzt meinte, bis zum Fest sei ich wieder auf den Beinen. Und das werde ich auch, denn ich will mit meiner großen Familie Weihnachten feiern. Doch genug davon. Wie geht es dir, mein Kind? Wir haben über Sky News von den schrecklichen Ereignissen in der Eifel erfahren. Die Scheune, die da brannte, war die auf dem Gelände von Bobbies Holidayparc. Ich habe sie gleich wieder erkannt. Was war denn da los?“ Ihr Großvater sah sehr besorgt aus. Wie sollte Dana das, was zu sagen war, nur in Worte fassen? Noch bevor sie antworten konnte, platzte Mike.
„Sie haben das korrekt erkannt, Mr. Hall. Die Scheune war die, die in der Nähe Ihrer ehemaligen Ferienanlage in der wunderschönen Nordeifel stand. Sie ist abgebrannt, weil ein gewisser Gideon Hall sie in seiner hasserfüllten Mordlust anzündete.“ Mikes sprang auf und sein Gesicht lief purpurrot an. Dana nahm seine Hand und zog ihn zurück in den Sessel. Ihr Großvater, ihr Onkel und ihre Tante starrten ungläubig in die Kamera.
„Setz dich, Schatz“, zischte sie „und lass mich reden.“ Sie streichelte sanft seine Wange.
„Ja, Ihr Lieben, es stimmt, was Mike gesagt hat. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die ganze Geschichte ist noch viel, viel schlimmer.“
Dann schilderte sie in groben Zügen, was geschehen war. Sie vermied es aber von den Misshandlungen, die sie und Mike durch Onkel Gideon erdulden mussten, zu erzählen. Um den plötzlichen Schmerz ihrer Familie zu lindern, erzählte sie von der schweren Erkrankung ihres Vaters und dass die Ärzte sagten, er würde das Weihnachtsfest nicht erleben.
„Dann hat mein missratener meinem geliebten Sohn ein rasches Ende bereitet. Aber weniger qualvoll war es nicht“, bemerkte Robert erstaunlich nüchtern.
Danas Onkel schüttelte den Kopf. Er meinte, das Verhältnis seiner Brüder sei seit Jahren sehr schlecht gewesen. Er hätte aber niemals damit gerechnet, dass der Ältere dem Jüngeren eines Tages das Leben nehmen würde. Ihre Tante schlug sich immer wieder die Hand vor den Mund und blickte mit Tränen in den Augen fassungslos umher. Sie brachte vor trauriger Erregtheit kein Wort heraus. Nachdem nun diese schrecklichen Neuigkeiten bekannt waren, nannte Dana das Datum der bevorstehenden Beerdigung.
„I’m so sorry, my dear! Wir können meinen Bruder nicht das letzte Geleit geben“, entgegnete der Onkel
„Dad ist nicht transportfähig mit seinem gebrochenen Bein.“ Nach kurzer Überlegung schlug Mike vor, man könne die Zeremonie doch in Bildern festhalten und bei einem baldigen Besuch das Material mitbringen. Dieser Vorschlag fand allseits Zustimmung. Man versprach und verabredete einen Besuch in Irland ein paar Tage nach der Beerdigung. Danach verabschiedeten sie sich und Dana kappte die Verbindung. Sie fiel ihrem Freund in die Arme.
„Gott sei Dank! Wir haben es geschafft. Ich danke dir. Dein Einstieg war miserabel, aber mit der letzten Pirouette hast du dir eine glatte 10,0 verdient.“ Sie grinste gequält. Mikes Hand glitt durch ihr Haar.
„Alles wird gut. Die Zeit wird die Wunden verschließen und helfende Hände, Worte und Gedanken werden uns da durchbringen.“ Er nahm sie in seine Arme und hielt sie ganz fest.
Nach einer Weile schreckte sie hoch.
„Die Beerdigung“ rief sie „wir müssen alles organisieren: die Überführung von Aachen nach Düren, den Friedhof, die Trauerkarten, die Todesanzeigen in den Zeitungen, die Einladungen, der ganze Papierkram. Wir haben keine Zeit zu verlieren!“
Sie war völlig außer Atem. Er sah ihr in die Augen und wusste, dass sie diese Bürde nicht tragen könnte.
„Ich rufe meinen alten Kumpel Peter an. Die Familie seiner Frau hat einen sehr geschätzten Totengräber, der schon mehrere Familienmitglieder stilvoll ins Grab gebracht hat“. Er stockte und rümpfte wegen dieser Formulierung die Nase.
„Schon gut. Du musst dich nicht entschuldigen für das Gesagte. Ich kenne dich und weiß mittlerweile, wie du denkst und redest und dass manchmal deine Zunge schneller ist als dein Hirn. Bei mir brauchst du kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die Idee, Peter zu fragen, finde ich gut. Aber wer soll das Ganze in die Hand nehmen? Ich kann das nicht!“
Er lächelte verständnisvoll und nahm sie in den Arm, um sie zu beruhigen.
„Ich rufe gleich Peter an und besorge mir die Kontaktdaten von dem Typen. Danach rufe ich Ellen Hunt an. Was meinst du? Die ist doch ein Organisationstalent. Die kriegt das hin, oder?“
„Ja! Das ist eine super Idee. Kein Mensch auf der ganzen Welt kannte Daddy besser als Ellen. Das wird sie bestimmt gerne machen und ihm damit einen letzten Freundschaftsdienst erweisen. Ruf du Peter und ich rufe Ellen an.“ Sie lief aus dem Wohnzimmer, holte das Funktelefon und wählte Ellens Nummer. Damit sie in Ruhe telefonieren konnten, nahm er sein Handy und ging auf die Terrasse.
Fünfzehn Minuten später trafen sie wieder zusammen. „Alles klar“, sagten sie gleichzeitig. Obwohl die Stimmung getrübt war, lachten sie spontan.
„Ich habe Ellen gesagt, du würdest ihr die Kontaktdaten gleich per SMS schicken. Sie setzt sich dann mit dem Mann in Verbindung und wird alles in meinem Sinne regeln. Ellen war weit mehr als nur Daddys Sekretärin, sie war seine beste Freundin. Wenn die Traueranzeigen und die Karten stehen, treffen wir uns. Ich muss es mir nur ansehen, mein ok geben und dann geht alles noch heute raus.“
Am frühen Nachmittag klingelte es. Dana öffnete und Ellen trat ein. Die Frauen umarmten sich herzlich und weinten gemeinsam in diesem besonderen Augenblick. Ellen schien in den wenigen Tagen um Jahre gealtert zu sein. Ihre Haare standen widerspenstig in alle Richtungen und sie hatte schwarze Ringe unter den Augen. Sie zog aus ihrer Handtasche den Probedruck einer Trauerkarte sowie der Todesanzeige, die gleich morgen in der Dürener und Aachener Zeitung, in der Super Mittwoch und im Kölner Stadtanzeiger erscheinen würde. Der Text aus der Todesanzeige wurde gleichlautend auf die Trauerkarte übertragen. Dana betrachtete beides sehr lange. Immer wieder kamen Tränen und sie weinte still. Ellen setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. Sie sah sie an und lächelte dankbar. Dann straffte sie sich und nickte.
„Ja“, sagte sie entschlossen „das wird Daddy gerecht. Genauso soll beides in den Druck. Aber geht das denn? Morgen soll die Anzeige in den vier großen Zeitungen erscheinen und schon am Freitag ist die Beerdigung?“
„Glaube mir, mein Kind“, entgegnete Ellen „die Beerdigungsinstitute, die Presse und die Kirchen sind erstaunlich gut vernetzt. Das klappt und die Trauergäste werden, weil sie deinen Vater sehr mochten, alles stehen und liegen lassen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.“
„Ich rufe gleich Martin an“, sagte Dana und erklärte, dass ihr Bekannter Diakon sei und Beerdigungen durchführen dürfe. So würde das Ganze den kirchlichen Segen bekommen. Ellen verabschiedete sich und versicherte, alles zu erledigen. Dana sank in Mikes Arme und seufzte.
„Ich werde heilfroh sein, wenn wir den Freitag überstanden haben. Jetzt ist es schon ziemlich spät. Aber könntest du dich bitte gleich morgen früh um einen Fotografen kümmern?“ Sie sah ihn an.
„Geht klar“, kommentierte er ihren flehenden Blick. „Ich weiß auch schon ganz genau, wen ich frage. Mein alter Kumpel Ingo hat ein paar Mal bei den Ausgrabungen in Köln gefilmt und hat daraus ein Video für mich für die Uni gemacht. Der Junge hat ein Auge sag ich dir. Wenn einer den Job bestens erledigt, dann er“ ergänzte er.
Nach diesem beschwerlichen Tag ließ er ihr ein Bad ein. Baden durfte sie, nur die linke Hand mit dem Gipsverband musste aus dem Wasser bleiben. Das war zwar anstrengend, aber die Aussicht auf die wohlige Wärme lohnte die Mühe. Er wäre gerne zu ihr in die Wanne gestiegen, doch mit den vielen Verbänden am ganzen Körper war das nicht möglich. Er fasste sich an seine ramponierte und von Meisterhand gerichtete Nase. Vor drei Tagen reparierte man und legte sie in Gips. Die Tamponade sollte morgen entfernt und der Gips erneuert werden, denn die Schwellungen waren abgeklungen und er hatte sich gelockert. Den neuen Anstrich müsste er noch eine Woche tragen. 'Das werden tolle Bilder von mir auf der Beerdigung', dachte er. Aber das war vollkommen unwichtig. Nicht er sondern Barnabas und Dana standen am Freitag im Fokus des Geschehens. Seine Aufgabe war es, Dana zu halten und zu tragen.
David erwachte. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Er hob den Kopf und versuchte, sich aufzurichten. Ein bestialischer Schmerz zwang ihn wieder in die Horizontale. Er dachte nach. Da waren Schüsse. Der Moment, als die erste Kugel seine Wade durchschlug und die zweite in seinen rechten Oberarm drang, war wieder gegenwärtig. Der vertraute, fast vergessene Schmerz einer Schussverletzung. Der Sturz in den Fluss. Er wurde sofort von den tosenden Wassermassen mitgerissen. Das Wasser war eisig kalt und nahm ihm den Atem. Sein linker Unterarm brach mit einem fiesen Knirschen als er gegen den Brückenpfeiler schlug. Nur mühsam konnte er sich über Wasser halten. Immer wieder schlug er mit Armen und Beinen und dem Rumpf gegen scharfkantige Steine im Wasser oder Felsvorsprünge am Ufer. Dann bekam er diesen überhängenden Ast zu packen und zog sich mit letzter Kraft ans Ufer. Er war unter heftigen Schmerzen und gegen die drohende Ohnmacht kämpfend ins Unterholz gekrochen. Das letzte, was er erinnerte, war seine Aktion mit dem Hosengürtel, den er von der Jeans zerrte, um die stark blutende Wunde an der Wade abzubinden. Danach gingen die Lichter aus.
Nun verharrte er. Wie lange war er ohne Bewusstsein? Ein paar Stunden? Einen ganzen Tag oder vielleicht noch länger? Seine Kehle brannte, sein Magen knurrte, er fror. Er drehte sich. Da war wieder dieser stechende Schmerz. Er lugte nach links, dann nach rechts, so gut es ging nach vorne. Er starrte auf weiße Wände. Dann versank er in Erinnerungsfetzen.
Als er erwachte, rauschte hinter ihm der Fluss. Er lag in der Uferböschung im nassen Sand. Vor ihm erstreckte sich dichter Wald. Er musste weg, war sein erster Gedanke. Wo er lag, war er ungeschützt. Mit größter Mühe kämpfte er sich in Richtung Wald. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen und er verharrte, bis es nachließ. Nur wenige Meter kam er vorwärts, ehe die Schmerzen übermächtig wurden. Er rang mit der drohenden Ohnmacht, aber er verlor. Und dann wurde es schwärzeste Nacht.
Wieder verharrte er und schaute sich vorsichtig um. Er lag in einem Bett in einem Zimmer mit weiß gestrichenen Wänden. Durch ein Fenster zur Linken sah er dichten Wald. Ein Metallständer mit einem Tropf stand neben dem Bett. Ein Schlauch steckte in seinem linken Unterarm, der in Gips, vollständig fixiert und nutzlos da lag. Mit der rechten Hand tastete er unter die Bettdecke. Er war nackt. Ein weiterer Schlauch steckte in seinem Schwanz. Der rechte Oberarm war bandagiert. David versuchte, sich aufzurichten. Ein heftiger Schmerz durchstieß seinen gesamten Körper. Ihm schwindelte und er sank zurück aufs Bett. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor erneut das Bewusstsein.
„Hey Ingo, alter Kumpel, Mike hier! Hast du übermorgen schon etwas vor oder spontan Zeit für einen Videodreh und Fotoshooting?“ Mike begrüßte ihn und kam ohne Umschweife gleich zur Sache.
„Mike, altes Haus, wie geht es dir.“
Die Männer sprachen so locker miteinander, als ob sie sich erst gestern Abend voneinander verabschiedet hätten. Dabei war ihre letzte Begegnung ein Jahr her. Gleich früh morgens, wie er es Dana versprach, konnte er seinen alten Freund nicht anrufen. Nur zu gut kannte er dessen Schlafgewohnheiten. Darum klingelte das Telefon am Vormittag. Der Kerpener war sofort hellwach als er Mikes Stimme hörte.
Im Nebenerwerb machte er Fotos und Videos zu Werbezwecken. Verschiedene Male begleitete er den Dürener mit der Kamera bei Ausgrabungen rund um den Kölner Dom. Er hatte, wie es in Fachkreisen heißt, ein gutes Auge und machte brillante Videoaufnahmen und großartige Fotos. Für Mike war er die Idealbesetzung für Barnabas‘ Beerdigung.
„Jung, was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“
„Ich war letzte Woche unfreiwillig in den Medien“, antwortete Mike „du hast bestimmt von dem Scheunenbrand südlich von Rurberg gehört?“
„Ja. Lief ja auf allen Sendern. Wieso?“
„Dana und ich waren in der Scheune. Ihr psychopathischer Onkel lockte uns dort in eine Falle, hielt uns gefangen und zündete schließlich das Teil an. Dank Stefan Sturm kam die Feuerwehr gerade noch rechtzeitig, um uns aus den Flammen zu holen, bevor die Hütte einstürzte. Aber Danas Vater wurde dort auch gefangen gehalten. Er konnte geborgen werden, wurde aber so schwer verletzt, dass er vorgestern gestorben ist. Und übermorgen wird er in Arnoldsweiler beerdigt.“
„Oh Scheiße. Dana? Du meinst deine Ex Dana Hall? Seid ihr wieder zusammen? Krass! Und ihr ward in der – was hat RTL berichtet – Flammenhölle? Das ist ja der Hammer. Und Barnabas ist tot? Das ist ja voll ätzend. Klar mache ich den Job. Barnie war ein feiner Kerl. Und Dana ist ein Schuss. Sorry Kumpel, ist mir so raus gerutscht.“
„Geht klar“, erwiderte Mike „du hast ja Recht. Zur Sache: die Beerdigung ist am Freitag um 14 Uhr auf dem Friedhof in Arnoldsweiler. Dana hat einen Bekannten gefragt, ob der ein paar tröstende Worte sagen und die Beerdigung begleiten kann. Der Typ ist Diakon, hat also den Freifahrtschein vom Papst höchstpersönlich und darf Beerdigungen und den ganzen Hokuspokus machen. Soweit, so gut! Aber Danas Onkel, Tante und Großvater können nicht aus Irland anreisen, weil Opa sich tags vor Halloween den Haxen gebrochen hat. Darum habe ich der Familie vorgeschlagen, alles in Bild und Ton festzuhalten. Paar Tage nach der Beerdigung düsen wir rüber und zeigen alles der lieben irischen Familie.“
„Ich soll die Beerdigung und alles filmen und am besten so viele Fotos machen wie geht, oder was?“
„Ja, komm bitte eine Stunde früher zum Friedhof. Ich schicke dir die Koordinaten vom Grab per SMS. Kannst es nicht verfehlen. Bitte bleib während dem ganzen Spuk möglichst unsichtbar. Filme alles und mache je ein Foto von jedem Teilnehmer. Wenn du alles im Kasten hast, bekommst du fünf Tage Zeit, denn dann fahren wir rüber. Schaffst du das?“
„Hey Alter. Das ist zwar voll der Stress, denn ich muss ja nebenbei Vollzeit arbeiten. Aber für dich hau ich einen raus. Du kriegst 1A-Material just in time!“
„Perfekt! Ich danke dir! Hast einen gut bei mir!“
Mike beendete das Gespräch. Dann wählte er die Nummer der Universitätsverwaltung Archäologie in Köln. Er schilderte die Ereignisse der vergangenen Wochen und nach etlichen Ohs und seiner Versicherung, dass er wieder gesund werden würde, trat er bis zum Semesterende von seiner Professur zurück und bat um Freistellung von allen Vorlesungen.
„Michael Berger“, hallte es aus dem Lautsprecher in der HNO-Praxis seines Vertrauens. Mike erhob sich und schlich ins Sprechzimmer, als ob er zur Schlachtbank geführt würde. Von Arztbesuchen hatte er wahrhaft die Nase voll. Er setzte sich auf die Behandlungsliege. Der Arzt warf einen prüfenden Blick auf die gerichtete Nase und entfernte die Tamponade. Seine Assistentin, eine bildhübsche Inderin, brachte frische Gipsverbände. Mit geübten Griffen hatte der Arzt in wenigen Minuten die Nase wieder verpackt. Dabei kommentierte er seine Arbeit und erklärte ihm den weiteren Heilungsprozess.
„Das sieht ganz gut aus, bald sehen Sie wieder aus wie neu. Wir sehen uns in sechs Tagen wieder. Dann entferne ich den Gips und Ihre Nase hat ihre Freiheiten wieder“, zwinkerte der Arzt. Mike bedankte sich und verließ die Praxis. Mittlerweile war es Mittag geworden. Er war erschöpft. Die Telefonate mit seinem alten Kumpel und der Sekretärin der Universitätsverwaltung und der Arztbesuch kosteten Kraft.
Zuhause angekommen, ging er direkt in die Küche und zog sich einen Espresso. Er setzte sich und sog vorsichtig den Duft des starken Kaffees ein. Es funktionierte zwar mit Einschränkungen, aber er konnte riechen. Er war erleichtert. Gerade als er trinken wollte, klingelte es an der Tür. Mike fluchte, stand auf und öffnete. Dana trat ein. Sie begrüßte ihn mit einem stürmischen Kuss und entschuldigte sich dafür, dass sie am frühen Morgen, als sie aufgebrochen war, den Hausschlüssel hatte liegen lassen.
„Bin ja da, keine Panik“, grinste er und gebot ihr, sich zu setzen. Dann zog er ihr auch einen Espresso und setzte sich zu ihr. Er erzählte zunächst von seinen Telefonaten und fragte, wie ihr Vormittag gelaufen sei. Sie sah ihn an und bemerkte den neuen Gips.
„Sieht viel besser aus als vorher. Bin ich froh, wenn du wieder ohne Spachtelmasse vor mir stehst.“
„Und ich erst“, grinste er.
„Ich war um neun bei Stefanie. Wir haben ein Gespräch über das Geschehene geführt. Ich sagte, ich bräuchte dringend ihren psychologischen Beistand.“ Er kannte ihre langjährige Freundin Stefanie Großmann gut. Sie war eine hervorragende Therapeutin. Wenn jemand Rat wusste, dann sie.
„Gut so. Das ist der richtige Weg“, bestärkte er sie in ihrem Handeln. Sie lächelte dankbar.
„Danach bin ich zu Sandy gefahren. Sie hat mich nicht als Ärztin, sondern als Freundin erst einmal kräftig gedrückt und mir eine große Portion Trost gegeben. Danach hat sie mich eingehend untersucht und mir bescheinigt, dass ich für die nächsten sechs Wochen nicht arbeitsfähig bin. Sie hat mir sogar eine Psycho-Reha empfohlen. Ach Mike, das ist alles so schrecklich. Wie soll ich nur den Freitag überstehen? Ich habe Angst den Kopf zu verlieren.“ Sie schmiegte sich an ihn. Der Kaffee war mittlerweile kalt. Mike nippte an seiner Tasse und schüttelte sich.
„Bäh! Da kann ich gleich meine Hand in eine Pfütze tauchen und Schmutzwasser schlürfen.“ Er unterstrich gestisch seine Worte und versuchte, sie mit dieser Slapstick-Einlage ein wenig aus dem Tal der Tränen zu holen. Zu gerne hätte er sie ins Schlafzimmer gezerrt, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Aber mit der gebrochenen Nase, der genähten Platzwunde an der Schläfe, den zahllosen Blutergüssen am Rumpf, der Knochenabsplitterung im linken Knie und den anderen Wunden von der Schussfahrt mit dem Jeep und von den Misshandlungen durch Gideon Hall, war ihm nicht nach Sex zumute. Außerdem war seine Freundin seit dem Missbrauch durch ihren Onkel extrem traumatisiert und es würde viel Verständnis, Liebe und Zuspruch brauchen, um sie da herauszuholen. An zügellosen Ritten durch die Betten war nicht zu denken.
„Komm! Lass uns nach Rölsdorf fahren und ein wenig an der Rur spazieren gehen. Danach trinken wir in Lendersdorf einen leckeren Kaffee und lassen den Abend im Brauhaus in Düren bei gut bürgerlicher Küche ausklingen, was meinst du?“ Er versuchte alles, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Sie nahm als Einwilligung seine Hand und half ihm hoch. Wie zwei hoch betagte Senioren schlichen sie aus der Küche und zogen sich Jacken und Halbstiefel an. Sie verschloss die Haustür. Dann stiegen sie in ihren Leihwagen und fuhren der gewollten Ablenkung entgegen. Sie konnten damit ihren Sorgen und Ängsten nicht entgehen, diese aber für ein paar schöne Stunden verdrängen und ihren erschütterten Seelen etwas Erleichterung gönnen.
„Hey Brother!“ David erwachte aus dem tiefen Schlund, in den er gerissen worden war. Eine vertraute Stimme aus einem anderen Leben drang an sein Ohr. Er hatte mit diesem Mann in den neunziger Jahren Seite an Seite für die IRA und gegen die Welt gekämpft. Dann war David untergetaucht und der andere in Irland geblieben. Er wusste nicht, was aus seinem alten Kampfesgefährten geworden war.
Nun blickte er in die stahlblauen Augen von Daniel O’ Brian. Der gedrungen wirkende Ire mit den rostroten Haaren und der unverkennbaren Whiskeystimme stand leibhaftig neben seinem Bett.
„Wo bin ich?“ Er versuchte, sich zu orientieren. Da waren Schüsse, der Sturz in den Fluss, die unsäglichen Schmerzen, das Aufflackern seines Bewusstseins, das sterile Krankenhauszimmer und dann diese bodenlose Schwärze. Er drehte den Kopf zum Fenster. Dichte Nebelschwaden verbargen den Wald. Er hatte praktisch keine Sicht. Er war vollkommen ratlos. Sein Hirn war so überfüllt mit Fragen, dass er gar nicht wusste, wo er ansetzen sollte.
„Wo, zur Hölle, bin ich? Wer hat mich zusammengeflickt? Was ist das hier? Wieso bist du hier?“
Daniel legte den Zeigefinger an die Lippen. Das Zeichen für 'schweig still und lausche'. Sogleich verstummte er. Nun würde er alles erfahren.
„Ich bin seit dreizehn Jahren hier. 1995 wurde mir die IRA zu heiß und ich bin abgetaucht. Hab mich tot gestellt und die Insel verlassen. Bin zunächst bei Freunden in Holland untergekommen und habe mich einer Terrorgruppierung angeschlossen. Die waren gnadenlos: keine Worte, draufhalten, Kopfschuss, Ende! Aber wir wurden verraten und mussten uns unsichtbar machen. Ich bin Ende sechsundneunzig mit Frederic Leclerc zusammengetroffen.“ David zuckte, als er den Namen hörte. Der einflussreiche Belgier ist der beste Freund von Barnie und half ihm bei der Jagd auf ihn und Onkel Gideon. Er unterbrach Dannys Redeschwall.
„Weiß er, dass ich hier bin?“
„Nein! Lass mich erzählen. Ende sechsundneunzig baute F. L. gerade eine Privatarmee auf. Er suchte einen kompromisslosen und zuverlässigen Vormann. Ich konnte ihn rasch von meinen Qualitäten überzeugen. Er gab mir freie Hand und so schufen wir mit seinem Geld und meinen Kontakten dieses Basislager. F. L. hat mit seiner und der Baufirma von Barnabas Hall diese Einrichtung geschaffen. Also: sie sprengten tiefe Löcher in die Ardenner Berge und errichteten größtenteils unterirdisch dieses Lager.
Wir verfügen über dreißig Einzelzimmer, einen OP-Saal, acht Krankenzimmer, ein Krematorium und einen Fitnessbereich. Das gesamte Areal umfasst achtzehn Hektar von seinem Privatbesitz! Hohe Elektrozäune verhindern das Eindringen neugieriger Touristen. Das hier ist ein Bootcamp, ein Ausbildungslager, ein Zuhause für kleine Ganoven und Trickbetrüger, aber auch für ganz harte Jungs, eiskalte Killer, Schläger, Bodyguards, alles, was du willst. F. L. ist die No. 1, ich bin die No. 2 usw.! Ich habe alle zweiundzwanzig Männer und acht Frauen persönlich rekrutiert. Nur ich kenne die bürgerlichen und die Spitznamen aller Personen. Ich kenne ihre Vergangenheit und ihre Geschichten, ihre Stärken und ihre Schwächen. Jeder kennt von dem Anderen nur die Nummer, keine Namen, die sind Tabu. Du warst seit deiner Ankunft No. 99. Ich habe No. 1 verschwiegen, wer du bist. Er weiß nur, dass du aus meiner Heimat stammst. Es interessiert ihn auch nicht. Er will, dass seine Leute funktionieren, ihren Job machen und schweigen. Er zahlt für ihren Unterschlupf, ernährt sie und lässt sie nach Gefechten wieder zusammenflicken. Selbst bei schweren Verwundungen brauchen wir keine Öffentlichkeit, denn wir beschäftigen zwei exzellente Chirurgen und haben draußen weitere Ärzte, die sich zur Verfügung halten und für Geld nahezu alles tun. Für dieses Rundum-Sorglos-Paket verlangt er lediglich erstklassige Arbeit und unbedingten Gehorsam. Und wenn mal etwas schief geht, jemand im Einsatz oder auf dem OP-Tisch hops geht, verschwindet die Person in unserem hauseigenen Ofen, Klappe zu, Feuer an, Geschichte!“ Daniel grinste diabolisch.
„Keine Spuren. So ist die Regel. Wenn eine Nummer frei wird, vergebe ich die neu. Du hast Glück. Gestern ist eine freigeworden. Doch dazu später mehr. Zuerst musst du wieder auf die Beine kommen. Der Fluss hat dich übel zugerichtet.“ Wieder unterbrach David seinen alten Freund, denn er musste unbedingt einige Dinge sofort wissen.
„Was ist mit Barnie und Onkel Gideon?“ fragte er und blickte ihn erwartungsvoll an.
„Dein Onkel wurde, wie die Bullen sagen, auf der Flucht erschossen. Sie haben ihm eine Kugel durchs Herz gejagt. Sorry Buddy. Dein Vater ist zwei Tage später an den Verletzungen, die ihm wohl dein Onkel zugefügt haben muss, gestorben. Bad news!“
Er hob beinahe entschuldigend die Hände.
„Shit. Onkel Gideon war für mich wie ein Vater. Barnie ist entbehrlich. Onkel Gideon nicht!“ David schluckte. Ihn traf in diesem Moment die brutale Gewissheit, nun ganz allein zu sein. Da war es nur ein kleiner Trost, dass sein Onkel ihm beizeiten die Zugangsdaten für das Schweizer Nummernkonto, den Safe bei der Bank of Ireland und für das Geld in der Karibik verschafft hatte. Die Kontaktpersonen in der Schweiz, in Dublin und auf den Caymans bekamen damals für seine Legitimation ein Passbild und eine Geldsumme, der sie nicht widerstanden.
Aber all das Geld und die Berge von Gold und Diamanten, die sein Onkel über Jahrzehnte durch seine Geschäfte angehäuft und im europäischen Ausland und in Übersee eingelagert hatte, konnten den Verlust nicht ausgleichen. Ihm schwindelte. Dann straffte er sich und schwor augenblicklich Rache. Doch zunächst musste er alles durch Daniel in Erfahrung bringen. Darum forderte er ihn auf, weiter zu reden.
„Wie gesagt, du wurdest ganz schön plattgemacht. Hast einen Wadendurchschuss, einen Steckschuss im rechten Oberarm, einen Trümmerbruch im linken Unterarm und zahllose Platzwunden am Rumpf erlitten. Ganz ehrlich, Buddy, du siehst aus wie ein totgeprügelter Straßenköter. Du brauchst lange, bis du wieder einigermaßen fit bist und wir dich eingliedern können. No. 8 hat dich beim morgendlichen Joggen nach All Hallows Eve im Unterholz der Rur gefunden und geborgen. Dein Glück, dass durch die Rur kein Zaun gezogen wurde und der Fluss frei durchs Gelände fließt.
Am gleichen Tag hast du ein paar Blutkonserven verschlungen, der Doc hat dich aufgeschnitten und alles repariert. Später am Tag schicke ich ihn vorbei, damit er dir die Folgen der Verletzungen erläutert. Aber jetzt schlaf, du hast einen weiten Weg vor dir.“ Daniel nickte kurz, gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und verließ das Zimmer.
Dana lag seit vier Uhr in der Frühe wach. Gestern Nachmittag kauften sie in Düren Trauerbekleidung. Danach führten sie ein langes Gespräch mit dem Diakon Martin von der Pfarre St. Anna und waren abends zu Mike nach Arnoldsweiler gefahren. Das alles erschöpfte sie sehr, darum schlief sie rasch ein. An einen Traum konnte sie sich nicht erinnern. Sie schlief tief und fest. Aber nun lag sie wach und dachte über den kommenden, den wohl schwersten Tag in ihrem Leben nach. Es war alles bereit für eine schöne Beerdigung. Kann eine Beerdigung schön sein? Ich trage meinen Vater zu Grabe. Naja: ich trage ihn nicht selbst. Aber ich werde hinter dem Wagen herlaufen, auf dem der Sarg steht. Der schwere Eichensarg wird mit hunderten roten Rosen geschmückt sein. Mike wird mich stützen, damit ich bei diesem Canossagang nicht zusammenbreche. Oh mein Gott! Wäre es doch schon vorbei.
Sie zitterte. Obwohl er die Heizung auf Maximum aufdrehte, fror sie. Schon mehrere Male war sie kurz davor, ihn zu wecken, um den Tag nochmals mit ihm durchzusprechen. Aber er hatte auch einiges durchgemacht und brauchte dringend Schlaf, um neue Kräfte zu sammeln. Also ließ sie ihn schlafen und grübelte weiter.
Ellen half ihr sehr, obwohl sie selbst den Verlust ihres besten Freundes betrauerte. Sie war eine gute Seele und schon immer ein bisschen Mutterersatz.
Mike regte sich neben ihr. Er streckte sich, drehte seinen Kopf in ihre Richtung und blinzelte. Just in diesem Moment schrillte der Wecker: 6 Uhr! Er drückte drauf und der Alarm erlosch. Dann beugte er sich vor, gab ihr einen Kuss und hauchte:
„Guten Morgen, wie hast du geschlafen?“ Wortlos kuschelte sie sich in seine Arme, sog seinen Duft ein und flüsterte „Halt mich!“ Er spürte ihre Erregtheit. Ihr Herz schlug wild und ihre Hände waren feucht. Aber anders als in den vergangenen Monaten war es keine frühmorgendliche, sexuelle Erregung, die sie trieb. Er ahnte, was in ihr vorging. Er erinnerte sich an den Tod seiner geliebten Mutter.