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Schon sein ganzes Leben sehnt sich der 11-jährige Telemachos nach seinem Vater, den er nie kennengelernt hat: König Odysseus. Der Trojanische Krieg ist vorbei, doch er ist nicht zurückgekehrt. Sind die fantastischen Geschichten über seine Abenteuer mit einäugigen Riesen, Zauberinnen und Ungeheuern wahr? Kommt er irgendwann zurück nach Ithaka? Noch einmal 10 Jahre vergehen … Annika Thor erzählt die Mythen um Odysseus in beeindruckender, außerordentlich kluger und einfühlsamer Weise. Durch die Sehnsucht und die Perspektive seines Sohnes entsteht eine Spannung mit riesiger Sogkraft. Deutlich tritt hervor, was Krieg mit den Menschen macht und wieso Telemachos ein anderes Leben wählen möchte als das des Kriegers und Helden.
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Seitenzahl: 375
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Über das Buch
Schon sein ganzes Leben sehnt sich der elfjährige Telemachos nach seinem Vater, den er nie kennengelernt hat: König Odysseus. Der Trojanische Krieg ist vorbei, doch er ist nicht zurückgekehrt. Sind die fantastischen Geschichten über seine Irrfahrten und Abenteuer mit einäugigen Riesen, Zauberinnen und Ungeheuern wahr? Und kommt er irgendwann zurück nach Ithaka?
Wie der Krieg Menschen verändert, dass Frauen ebenso gut regieren können wie Männer, oder dass auch der Sohn eines gefeierten Helden seinen eigenen Weg finden muss – dass alles stellt die preisgekrönte Autorin einfühlsam und voller Spannung dar.
Ishtar Bäcklund Dakhils Illustrationen sind kleine Kunstwerke, die die Geschichte wunderbar ergänzen.
Ab 10 Jahren.
»Die alte Geschichte in einer leichten, genialen und rebellischen Version.«
Dagens Nyheter, Stockholm
Für Cornelia, Max und Isidor
und auch Sam für seinen Vorschlag
Cover
Titel
Impressum
DIE INSEL
Die Sehnsucht des Jungen
Der unwillige Krieger
Tagträume und Albträume
Der einäugige Riese
Krieg spielen
Die Gabe des Windgottes
Der Bettlerprinz
Die Göttin und die Schweine
Mächtige Männer
Penelopes List
Ein unendliches Gewebe
Schwierige Wahl
Kein Ausweg
Der Besucher
Herr im Haus
Die Rede auf dem Marktplatz
DIE REISE
Ein alter König und eine junge Prinzessin
Der Untergang von Troja
Eine königliche Hochzeit
Das hölzerne Pferd
Zurück nach Ithaka
DER KRIEG
Der Fremde
Vater und Sohn
Die Insel der Phaiaken
Ein Spion berichtet
Die Heimkehr
Der alte Bettler
Ein nächtliches Gespräch
Der Bogenwettkampf
Das Blutbad
Ein anderes Leben
Der Pfad wand sich an steilen Hängen hinauf und hinab, aber der Junge war nicht müde. Manchmal rannte er ein Stück weit, nur um zu spüren, wie der laue Wind ihm übers Gesicht strich, und ab und zu wurde er langsamer, um einem flatternden Schmetterling oder einem glänzenden Käfer zuzuschauen. Dann lief der Hund voraus und wartete mit hängender Zunge und wedelndem Schwanz weiter vorne auf ihn.
Sie hatten keine Eile, obwohl die Sonne, die wie eine riesige gelbrote Pflaume hinter ihnen über dem Bergrücken hing, bald verschwinden würde. Es war, als würde die letzte Wärme des Tages wie Saft aus einer reifen Frucht herausgepresst, sie strömte über die Erde und ließ den Duft nach Thymian und Rosmarin in einer Wolke aufsteigen, die ihn fast schwindlig werden ließ.
In der einen Hand hielt der Junge die schöne Muschel, die ihm Großmutter, die Mutter seines Vaters, geschenkt hatte. Die würde er seiner Mutter zeigen, wenn er nach Hause kam, und auch Eurykleia. Großmutter hatte gesagt, die Muschel sei vielleicht von einem fernen Ufer an die Insel gespült worden, ja, vielleicht hätte sein Vater sie irgendwann in der Hand gehalten.
Es war ein guter Tag gewesen, und der Junge freute sich auf das Abendessen, das ihn zu Hause erwartete, denn ein bisschen Hunger hatte er schon, das musste er zugeben. Er blieb stehen, um den Riemen seiner rechten Sandale zu binden, und als er den Kopf wieder hob, war der Pfad vor ihm leer.
»Argos!«, rief er, und sofort kam der Hund auf ihn zugestürzt, sprang an ihm hoch und leckte ihm das Gesicht.
Argos war genauso alt wie der Junge: Der Vater des Jungen hatte begonnen, den Hund schon im Welpenalter zu einem Jagdhund abzurichten. Das war vor der Abreise des Vaters gewesen. Inzwischen war der Hund erwachsen, der Junge dagegen immer noch ein Kind. Das war schon eigenartig, wenn man es sich überlegte – als ob die Zeit für einen Hund schneller verging als für einen Menschen. Verging die Zeit auch für einzelne Menschen unterschiedlich schnell? Konnte ein Tag so lang sein wie ein Jahr, und ein Jahr kurz wie ein einziger Tag? Und hatte es tatsächlich eine Zeit gegeben, bevor er selbst auf die Welt gekommen war? Ja, wahrscheinlich schon, aber diese Zeit konnte er sich nicht als wirklich vorstellen – nicht so wie diese nachmittägliche Stunde, die angefüllt war mit dem Summen der Hummeln und Bienen und dem würzigen Duft der Pflanzen, die den Pfad säumten. War sein Vater ein Junge gewesen, der denselben Pfad entlanggegangen war? Hatte er auch das Summen der Bienen gehört, war ihm auch der Duft des Thymians in die Nase gestiegen? Hatte er damals einen anderen Hund gehabt, einen, der gestorben war, bevor es Argos und den Jungen gab?
Jetzt liefen Argos und der Junge um die Wette einen steilen Hang hinauf und blieben oben stehen. Beide keuchten, und der Junge beugte sich vor, die Hände auf die Knie gestützt, um zu verschnaufen. Von hier aus konnte er den Hügel sehen, auf dem der Palast lag, und jenseits davon das Meer. Weiter unten breitete sich die Stadt um den Hafen aus, wo Handelsschiffe und Fischerboote vertäut waren. Dies war seine Insel, sein Ithaka.
Der Junge hieß Telemachos, er war elf Jahre alt. Der Name seines Vaters war Odysseus. Odysseus war der König von Ithaka. Doch alles, was Telemachos über seinen Vater wusste, hatte er von anderen erzählt bekommen. Das Einzige, woran er sich selbst erinnerte – oder sich zu erinnern glaubte – war, dass er auf ausgestreckten Armen hoch in die Luft gehoben worden war und auf ein lachendes, rotbärtiges Gesicht hinuntergesehen hatte. Auch an das Kitzeln im Bauch und an das Lachen, das damals in ihm aufperlte und seinen kleinen Körper ganz angefüllt hatte, meinte er sich zu erinnern.
»Das kann ja wohl nicht sein«, wandte Penelope, seine Mutter, ein. »Du warst noch nicht einmal ein Jahr alt, als dein Vater abreiste.«
Aber Eurykleia, seine alte Kinderfrau, die vor langer Zeit auch die Kinderfrau seines Vaters gewesen war, sagte, das sei durchaus möglich. Wenn ein Mensch nur eine einzige Erinnerung an etwas sehr Wichtiges habe, sagte Eurykleia, dann habe sich diese wie ein Abdruck in eine Wachsplatte in ihm eingeprägt und werde niemals verschwinden. Die Erinnerungen, die man später sammle und die nicht so wesentlich seien, die seien wie Vögel, die in einen Taubenschlag hinein und heraus fliegen – mal seien sie da und mal seien sie, schwups, weg!
Odysseus war seit zehn Jahren fern von Ithaka, weit weg bei der Stadt Troja, wo die griechischen Könige und deren Krieger darum gekämpft hatten, Helena, die Gattin des Königs Menelaos, zurückzuholen, die mit einem trojanischen Prinzen geflohen war. Inzwischen war Troja besiegt, ja, sogar dem Erdboden gleichgemacht. In dem langen Krieg waren viele Menschen gestorben: Griechen und Trojaner, Männer, Frauen und Kinder.
»Krieg«, sagte Eurykleia und schüttelte ihren weißhaarigen Kopf, »Krieg ist das Schlimmste, was es gibt. Sind die Menschen etwa deshalb auf die Erde gekommen, um sich gegenseitig umzubringen?«
Telemachos hatte Leute sagen hören, die Götter hätten den Krieg gewollt, und manche Götter hätten zu der einen Seite gehalten und manche zur anderen. Die Griechen hätten ihren Sieg Athene zu verdanken, der Göttin des Kampfes und der Weisheit, deren heiliger Vogel die Eule war.
Eurykleia glaubte an nichts von alledem. Sie sagte, die Menschen verstünden nichts von den Plänen der Götter. Sie würden den Göttern die Schuld an dem Bösen geben, das sie selbst zu verantworten hatten. Doch da mahnte Penelope, vor solchen Reden solle sie sich hüten, die könnten gefährlich sein.
Telemachos’ Mutter war eine freundliche, kluge Frau, die nie ein böses Wort über jemanden verlor oder zu jemandem sagte. Sie behandelte die Sklaven, die den Haushalt versorgten, immer großzügig und bestrafte sie nicht, wenn sie etwas falsch gemacht hatten, sondern wies sie nur freundlich zurecht. Ihre ruhige, gelassene Art bewirkte, dass alle, auch die Männer, auf sie hörten und ihre Ansichten achteten. Die Einzige, die ihr zu widersprechen pflegte, war Eurykleia, vor der Penelope selbst großen Respekt hatte – fast so, als wäre sie ihre eigene Mutter, obwohl Eurykleia eigentlich eine Sklavin war. Penelope hatte oft angeboten, die alte Frau freizulassen und ihr ein Häuschen und ein Stück Land zu schenken, wo sie eigenes Gemüse anbauen und Hühner halten könnte, aber Eurykleia entgegnete immer, sie ziehe es vor, in dem Palast zu bleiben, in dem sie gelebt hatte, seit sie ein junges Mädchen war. Telemachos’ Großvater Laertes hatte Eurykleia als Sklavin gekauft, als er jung war, sie aber sofort zu seiner Haushälterin gemacht, da sie so ungewöhnlich klug und tüchtig war.
Für Telemachos war Eurykleia wirklich wie eine Großmutter – zu ihr kam er mit seinen Fragen oder um getröstet zu werden, wenn Penelope keine Zeit hatte, und Eurykleia war es, die ihm jeden Abend Märchen erzählte. Die Märchen handelten von Göttern, Monstern und Helden – manchmal auch von Heldinnen. Denn Eurykleia sagte, Mädchen und Frauen könnten genauso mutig und stark sein wie Jungen und Männer.
»Aber nur Männer führen Krieg«, wandte Telemachos ein.
»Nicht, weil sie mutiger sind«, sagte Eurykleia, »sondern weil sie glauben, das müssten sie tun, um richtige Männer zu sein. Sie meinen, sie wären klüger als die Frauen, und darum nehmen sie sich das Recht heraus, über uns zu bestimmen. Ihr Leben lang waschen und baden wir die Männer und geben ihnen Kleider zum Anziehen. Wenn sie in ihren Kriegen gefallen sind, waschen wir sie erneut und hüllen sie in Leichentücher. Aber so muss es nicht sein. Vor sehr, sehr langer Zeit hatten die Frauen die Macht. Damals gab es keine Kriege.«
Telemachos wusste nicht genau, ob das wahr war oder ob es eines von Eurykleias Märchen war. Allerdings war es ja nicht ganz unmöglich. Seit zehn Jahren hatte seine Mutter alle wichtigen Entscheidungen getroffen, sowohl im Palast als auch was die Landwirtschaft der Königsfamilie betraf. Hin und wieder versuchte Großvater Laertes, sich einzumischen, doch das wehrte Penelope immer freundlich ab, und der alte Mann gab nach, obwohl er selbst König der Insel gewesen war, bevor er seinem Sohn Odysseus die Macht übergeben hatte.
Alle wussten, dass Penelope von den meisten Dingen etwas verstand: Sie wusste, wie das Getreide gemahlen wurde, wie groß die Vorräte sein mussten, die für den Winter eingelagert wurden, und was verkauft werden konnte, um Geld einzunehmen, sie wusste, wann es Zeit war, die Lämmer zu schlachten, die im Frühjahr auf die Welt gekommen waren, welches Futter die Hühner bekommen sollten, um besser zu legen, und auch welche Schreiner besonders gut ein Dach reparieren konnten. Außerdem beherrschte sie voller Geschick die Dinge, die allgemein als weibliche Tätigkeiten galten: Essen zubereiten, Garn spinnen, Stoffe weben und Kleider nähen. Die meisten Arbeiten im großen Haushalt des Palastes wurden von den Sklaven erledigt, aber Penelope scheute sich weder davor, selbst einen Spaten in die Hand zu nehmen, noch, ein Spinnrad zu benutzen.
Telemachos liebte seine Mutter und war stolz auf sie, aber dennoch fehlte ihm sein Vater. Odysseus hatte sich natürlich nicht alleine auf den Weg gemacht, sondern zusammen mit Hunderten von anderen Männern, darum warteten Jungen und Mädchen überall auf der Insel eifrig auf ihre Väter und viele Frauen auf ihre Männer.
Nun, der Krieg war inzwischen zu Ende, jetzt würden Telemachos’ Vater und all die anderen nach Hause kommen! Penelope hatte bereits die Nachricht erhalten, dass Odysseus und die Männer aus Ithaka die Küste vor Troja an Bord ihrer zwölf Schiffe verlassen hatten.
Es gab nur eine Sache, an die Telemachos nicht gern dachte, die aber trotzdem immer wieder in seinen Gedanken auftauchte.
»Hat Vater viele andere im Krieg erschlagen?«, fragte er Eurykleia.
»Ein paar, glaube ich«, antwortete Eurykleia. »Das konnte er wohl nicht vermeiden. Aber dein Vater ist ein kluger Mann. Wenn es geht, besiegt er seine Feinde lieber mit List als mit Gewalt. Bestimmt hat er das auch dort drüben im Krieg so gehalten.«
Nachdem der Junge zu Abend gegessen, gebadet und seiner Mutter gute Nacht gesagt hatte, bat er Eurykleia, während sie seine Bettdecke zurückschlug:
»Erzähl von meinem Vater! Erzähl von Odysseus!«
»Soll ich erzählen, wie es kam, dass Odysseus gezwungen wurde, in den Krieg zu ziehen?«, fragte Eurykleia.
Diese Geschichte hatte sie schon oft erzählt, aber Telemachos wurde es nie langweilig, sie zu hören, und Eurykleia wiederholte sie immer wieder gern.
»Ja!«, rief Telemachos. »Erzähle!«
»Aber zuerst«, sagte Eurykleia, »muss ich erzählen, wie deine Eltern sich kennengelernt haben. Nicht wahr?«
»Ja!«, sagte Telemachos wieder. »Tu das!«
Eurykleia setzte sich auf seinem Bett zurecht, schloss die Augen, holte tief Luft und begann zu erzählen.
In Sparta lebte eine Prinzessin, die hieß Helena. Es hieß, sie sei die schönste Frau Griechenlands – ja, vielleicht der ganzen Welt. Ihre Schönheit hätte genügt, um viele Freier anzulocken, aber außerdem würde derjenige, der sie heiratete, Herrscher des großen, mächtigen Königreiches Sparta werden. Helenas zwei Brüder, die die Königswürde geerbt hätten, waren nämlich schon gestorben. – Alle Könige, Prinzen und mächtigen Männer Griechenlands versammelten sich in Sparta und wetteiferten um Helenas Hand. Dein Vater Odysseus war einer von ihnen. Aber Helenas Vater ließ sich viel Zeit damit, zu entscheiden, wer seine Tochter zur Frau bekommen sollte.«
»Durfte sie das nicht selbst bestimmen?«, fragte Telemachos.
Eurykleia schüttelte den Kopf.
»Nein, der König wollte seinen Nachfolger selbst aussuchen, und Helena musste sich nach seinem Willen richten. Jeden Abend versammelten sich die Freier im großen Saal des Palastes. Dort wurden ihnen Speisen und Getränke, Gesang und Musik angeboten. Helena und ihre jüngere Schwester Klytaimnestra kleideten sich wie zum Fest und zeigten sich den Männern. Aber eines Abends erblickte Odysseus eine junge Frau, die in den Saal kam und Helena etwas ins Ohr flüsterte. Die Frau war schlicht gekleidet, fast wie eine Sklavin, aber aus ihrem würdigen Benehmen und durch die Art, wie Helena und ihre Schwester sich ihr gegenüber verhielten, schloss er, dass diese Frau ihnen ebenbürtig war. Vielleicht war sie nicht so strahlend schön wie die beiden Schwestern, aber Odysseus konnte den Blick nicht von ihr abwenden.
»Wer ist dieses Mädchen dort?«, fragte er den Mann, der neben ihm saß.
»Wer? Ach so, die«, antwortete der Mann zerstreut. »Ich glaube, sie heißt Penelope. Eine Cousine der Prinzessinnen oder so etwas.«
Penelope! Das war der schönste Name, den Odysseus je gehört hatte. Bevor das Mädchen den Saal verlassen konnte, trat er auf sie zu und begann ein Gespräch mit ihr. Bald hatten sie einander kennengelernt und sich verliebt. Odysseus interessierte sich nicht mehr dafür, Helena zu heiraten und König von Sparta zu werden. Er hatte ja sein eigenes Reich hier auf Ithaka, auch wenn das viel kleiner war, und inzwischen wusste er, wen er als Königin an seiner Seite haben wollte.
Odysseus hielt um Penelopes Hand an und bekam ein Ja, doch der König von Sparta wollte ihnen erst gestatten zu heiraten, wenn Helena mit einem ihrer Freier Hochzeit gehalten hätte. Das Problem war nur, dass der König sich nicht entscheiden konnte, wer seine Tochter und das Königreich bekommen sollte. Alle Freier waren ja mächtige Männer, und der König befürchtete, die Abgelehnten könnten aus Zorn vielleicht einen Krieg gegen Sparta beginnen.
Odysseus, der schon als junger Mann sehr klug war, bot an, das Problem des Königs zu lösen. Sein Vorschlag war: Bevor der König seinen Beschluss fasste, sollten sämtliche Freier einen feierlichen Eid schwören, Helenas zukünftigen Gatten niemals anzugreifen und diesen immer zu verteidigen, falls er mit einem Feind in Streit geriete. Wenn alle dies geschworen hätten, würde der König das Los bestimmen lassen, wer seine Tochter heiraten durfte. So hätte jeder die gleiche Chance, und der Gewinner könne der loyalen Freundschaft der anderen sicher sein.
Der König sah sofort ein, dass dies ein vernünftiger Vorschlag war. Alle Freier legten den Schwur ab, und der König verlangte dies auch von Odysseus, obwohl Odysseus gar nicht mehr vorhatte, Helena zu heiraten. Dann wurde mit Strohhalmen das Los gezogen, dabei sorgte Odysseus dafür, dass er selbst einen der kurzen Halme zog. Den längsten Halm zog Menelaos, ein Königssohn aus dem mächtigen Mykene, der mit seinem Bruder Agamemnon als Freier gekommen war. Als die Sache entschieden war, bot der König Agamemnon an, Klytaimnestra zu heiraten, die fast ebenso schön war wie ihre Schwester.
Jetzt stand der Vermählung von Odysseus und Penelope nichts mehr im Weg. Kurz danach reisten sie zurück, hierher zur Insel. Und dann kamst du auf die Welt, kleiner Telemachos.«
Eurykleia machte eine Pause und strich Telemachos über den widerspenstigen Schopf.
»Erzähl weiter!«, bat Telemachos. Eurykleia lächelte über seinen Eifer.
»Du wurdest geboren und warst das schönste Kind der Welt. Deine Eltern beteten dich an, und für mich warst du ebenfalls ein großes Glück. Ich hatte ja deinen Vater versorgt, als er klein war, und jetzt durfte ich seinen Sohn in den Armen halten. Alles wäre gut gewesen, wenn da nicht die Sache mit Menelaos und Helena gewesen wäre.«
Telemachos setzte sich im Bett auf. Jetzt würde das richtig Spannende kommen, das wusste er.
»Menelaos war, ehrlich gesagt, ein echter Langweiler«, fuhr Eurykleia fort. »Er war auch viele Jahre älter als seine junge Frau, und Helena hätte ihn wohl niemals gewählt, wenn sie selbst etwas zu sagen gehabt hätte. Wahrscheinlich hätte sie viel lieber deinen Vater geheiratet, der jung, stattlich und klug war, und vermutlich konnte sie überhaupt nicht begreifen, warum Odysseus ihre unscheinbare Cousine Penelope vorzog.
Schon bald tauchte der schöne Prinz Paris aus Troja am Hof von Sparta auf. Inzwischen herrschte Menelaos dort, da der alte König sich zurückgezogen hatte. Paris wurde sehr beliebt, vor allem bei den Frauen, und Helena war oft mit ihm zusammen, während ihr Mann damit zu tun hatte, das Reich zu lenken und sich um seine Soldaten zu kümmern. Der Prinz flüsterte ihr ins Ohr, Aphrodite, die Göttin der Liebe, habe ihm die schönste Frau der Welt versprochen, und alle wüssten ja, dass sie, Helena, die Schönste sei. Und unversehens waren beide nach Troja, der Heimatstadt des Prinzen, geflohen.
Es heißt«, fuhr Eurykleia fort, »Paris hätte Helena mit Gewalt entführt, doch daran glaube ich nicht, und deine Mutter glaubt das übrigens auch nicht. Sie müsste es ja wissen, denn sie und Helena waren zusammen aufgewachsen, fast wie Schwestern. Helena sehnte sich nach Liebe und Abenteuern, und genau das versprach ihr der junge Prinz. Wer will sie deshalb tadeln? Schließlich konnte niemand wissen, zu wie viel Elend diese Flucht führen würde.
Menelaos regte sich anfangs nicht allzu sehr darüber auf, dass seine Frau verschwunden war. Die Königswürde hatte er ja schon erhalten, und in Sparta gab es noch genug schöne Frauen, auch wenn sich keine mit Helena messen konnte. Aber sein Bruder Agamemnon, inzwischen Herrscher von Mykene, war ein harter, kampflustiger Mann. Er kam nach Sparta, um Menelaos davon zu überzeugen, dass er seine ungehorsame Frau nach Hause holen müsse. Wie würde das aussehen, fragte er seinen Bruder, wenn Frauen selbst über ihr Leben bestimmen könnten? Wenn sie wählen dürften, wen sie lieben wollten, genau wie die Männer es tun?
›Denk an deine Ehre!‹ Mit diesen Worten herrschte Agamemnon Menelaos an, der mit unschlüssiger Miene auf seinem Thron saß. ›Wie soll das Volk hier in Sparta einem König gehorchen können, der nicht einmal in der Lage ist, auf seine eigene Frau aufzupassen?‹
Dieses Argument überzeugte Menelaos. Er beschloss, Helena aus Troja zu holen, wenn nötig, auch mit Gewalt. Troja war eine reiche, mächtige Stadt. Um Troja zu besiegen, brauchte er eine starke Armee. Menelaos hatte den Schwur nicht vergessen, den alle, die um Helenas Hand anhielten, abgelegt hatten, darum sandte er jetzt Boten aus, um die ehemaligen Freier an ihr Versprechen zu erinnern. Hierher nach Ithaka kam ein Bote, der Palamedes hieß.
Das Gerücht erreichte die Insel noch vor dem Boten. Als Odysseus es hörte, wurde er sehr unglücklich, er wollte nämlich nicht in den Krieg ziehen.«
»Hatte er Angst?«, unterbrach Telemachos seine Kinderfrau. Er wusste bereits, was Eurykleia antworten würde, wollte es aber noch einmal von ihr hören.
»Vor dem Krieg haben alle Angst«, sagte Eurykleia, »und die am lautesten verkünden, sie hätten keine, haben wahrscheinlich noch mehr als die anderen. Aber dein Vater war nicht feige. Er war ein mutiger Mann, ja, mitunter sogar waghalsig. Ich habe dir bestimmt schon erzählt, wie es war, als er ein Wildschwein jagte und es so nah an sich heranließ, dass die Bestie ihm mit ihren spitzen Hauern eine große Wunde im Schenkel aufriss? Das gab eine hässliche Narbe, die er wohl immer noch hat.«
Diese Geschichte hatte Telemachos schon oft gehört, darum nickte er, und Eurykleia fuhr mit ihrer Erzählung fort.
»Odysseus hatte nicht damit gerechnet, sein Versprechen, Menelaos zu verteidigen, jemals halten zu müssen. Vermutlich fand er, dass es auf diese Situation gar nicht zutraf. Denn man konnte schließlich nicht behaupten, der König von Sparta sei von einem Feind angegriffen worden, oder? Zwar hatte seine Frau ihn verlassen, doch war das ein hinreichender Grund, um einen Krieg anzufangen? Nein, das fand Odysseus nicht. Wenn Menelaos Helena wenigstens ebenso sehr geliebt hätte, wie Odysseus Penelope liebte, hätte er ihn vielleicht verstanden, aber Odysseus kannte Menelaos und wusste, dass ihn vor allem der Königsthron und die Ehre, mit der schönsten Frau der Welt verheiratet zu sein, interessierten. Helena selbst war ihm nie wichtig gewesen.
Und jetzt würden viele Menschen sterben, um die Ehre des Königs Menelaos zu retten. Odysseus wusste, dass er das nicht verhindern konnte, aber er gedachte, sein Bestes zu tun, um selbst nicht sterben zu müssen, und wollte auch möglichst keine anderen Unschuldigen töten. Also tat er das, was er am besten konnte: Er ersann einen Plan.
Als der Bote Palamedes auf Ithaka an Land stieg, sah er als Erstes einen vornehm gekleideten Mann, der hinter einem Pflug herging und einen Acker pflügte. Vor den Pflug waren ein Ochse und ein Esel gespannt. Die Tiere zogen unterschiedlich stark und in verschiedene Richtungen, auch blieb der Esel immer wieder stehen und weigerte sich, weiterzugehen, wie sehr der Mann hinter dem Pflug ihn auch antrieb.
Palamedes trat näher und erkannte zu seinem Entsetzen Odysseus, den er in Sparta am Hof getroffen hatte.
›Bester Odysseus, was machst du da?‹, fragte er.
›Ich pflüge meinen Acker‹, war die Antwort. ›Gleich bin ich fertig, dann werde ich säen!‹
Odysseus ging zu einem Sack, aus dem er etwas in eine Schöpfkelle füllte. Als er den Inhalt der Schöpfkelle in die Furchen streute, sah Palamedes, dass es weder Weizen- noch Roggenkörner waren, sondern Salz. Salz! Als ob daraus etwas wachsen könnte!
Der arme Mann, er hat vollkommen den Verstand verloren, dachte er. Doch dann erinnerte er sich daran, wie listig Odysseus war. Palamedes war auch kein Dummkopf, daher überlegte er, wie er herausfinden könnte, ob Odysseus wirklich verrückt war oder ob er das nur vortäuschte, um nicht in den Krieg ziehen zu müssen.
Unglücklicherweise«, sagte Eurykleia, »kam ich auf unserem täglichen Spaziergang mit dir dort vorbei. Dein Vater tat so, als würde er uns nicht kennen, aber Palamedes begriff trotzdem, dass du Odysseus’ Sohn warst, und eh ich wusste, wie mir geschah, hatte er dich an sich gerissen und vor dem Pflug auf die Erde gelegt.
›Schau her‹, rief er Odysseus zu, ›hier ist ein Stück Land, das du zu pflügen vergessen hast!‹
Zuerst sah Odysseus nicht, dass du dort lagst, sondern lief zum Pflug und griff nach den Zügeln des Esels und des Ochsen. Doch dann gabst du einen Laut von dir, und dein Vater sah, wer da in der Furche lag und strampelte. Zärtlich und behutsam hob er dich hoch und wischte die Erde ab, die an deinen Kleidern hängen geblieben war. In einem einzigen Augenblick hatte er Palamedes, Menelaos und den Krieg vergessen und dachte nur noch an dich, seinen geliebten kleinen Sohn. Auf diese Art verriet er unfreiwillig, dass er keineswegs verrückt war, und darum war er gezwungen, die kriegstauglichen Männer auf der Insel einzuberufen und mit ihnen nach Troja zu ziehen.
Das war ein Tag des Kummers«, schloss Eurykleia und wischte sich mit einem Zipfel ihres Schals die Augen, »aber jetzt, Telemachos, musst du schlafen, und wenn du morgen früh aufwachst, ist dein Vater vielleicht schon da.«
Bald, schon bald würde sein Vater kommen! Telemachos wusste genau, wie alles ablaufen würde. Als Erstes würde ein Wachtposten von der Stadt zum Palast heraufeilen. Atemlos würde er berichten, in der Meerenge zwischen dem Festland und der Insel Zakynthos seien zwölf Schiffe gesichtet worden. Die Schiffe seien noch zu weit entfernt, um die Farben der Segel oder etwas anderes erkennen zu lassen, das verriet, wem sie gehörten. Dennoch würden alle begreifen: Eine so große Flotte konnte nicht aus Handelsschiffen bestehen. Das konnte nichts anderes sein als die Flotte aus Ithaka, die vor über zehn Jahren nach Troja gesegelt war.
Telemachos’ Mutter würde vor Freude weinen, und Eurykleia würde sie auffordern, ein Bad zu nehmen und ihre schönsten Kleider und Schmuckstücke anzulegen. Telemachos selbst würde sich auch gründlich waschen und seine widerspenstigen Haare kämmen, die genauso rot waren wie die seines Vaters. Währenddessen kämen die Hirten mit ihren besten Kühen, Schafen und Schweinen, die für ein Festmahl geschlachtet werden sollten. Die Sklavinnen würden den großen Saal mit den schönsten bestickten Wandbehängen schmücken und sämtliche Becher aus Silber und Gold polieren, während die Küchensklaven das Fleisch und frisches Gemüse zubereiteten und den Wein mit Kräutern und Honig würzten.
Penelope würde Odysseus’ Eltern, Laertes und Antikleia, benachrichtigen lassen, die natürlich so schnell wie möglich zum Palast kämen. Unten in der Stadt würde sich das Gerücht verbreiten, und alle Bewohner wären voller Freude und Erwartung und würden die Volksversammlung einberufen, um ein Empfangskomitee zu bestimmen. Die ganze Stadt würde mit Blumen geschmückt werden, und die Bewohner würden sich so vorbereiten wie auf eines der großen jährlichen Feste zu Ehren der Götter.
Ein paar Stunden später käme ein neuer Bote zum Palast, um zu berichten, dass die Schiffe sich Ithakas Hafen näherten. Es gebe keinen Zweifel: es sei Odysseus’ Flotte, die da nach Hause zurückkehrte. Penelope würde wieder in Tränen ausbrechen, und die Tränen würden auf ihren geschminkten Wangen Ränder hinterlassen. Eurykleia würde sie auffordern, die Schminke aufzufrischen, aber Telemachos’ Mutter würde antworten, ihr Mann dürfe gern sehen, dass sie vor Glück über seine Wiederkehr geweint hatte. Diese Worte stellte sich Telemachos besonders oft vor.
Bald darauf würden aus der Stadt Jubelrufe zum Palast aufsteigen, vermischt mit der Musik der Sackpfeifen und Flöten. Telemachos würde seine Mutter fragen, ob er zum Hafen hinunterlaufen dürfe, aber ihr wäre es vermutlich lieber, dass er mit ihr und den Eltern seines Vaters auf dem Innenhof des Palastes blieb.
Dort würden sie nebeneinanderstehen und warten, und schließlich würden sie sehen, dass er sich näherte: Odysseus mit seinem roten Bart, seinem breiten Lächeln, seinen starken Armen.
Jedes Mal, wenn er in seinen Tagträumen so weit gekommen war, wurde Telemachos unsicher. Was würde sein Vater dann sagen und tun, wem würde er sich zuerst zuwenden? Würde er, als guter Sohn, den Anfang damit machen, seine greisen Eltern zu ehren? Oder würde er zuerst seine Gattin küssen, die so lange auf ihn gewartet hatte?
Oder würde er sich umschauen und fragen: »Wo ist mein Sohn, wo ist der kleine Telemachos, nach dem ich mich so sehr gesehnt habe?« Er hatte ja einen pausbäckigen Einjährigen zurückgelassen, der kaum Haare auf dem Kopf gehabt hatte, wie sollte er daher jetzt den schmalen Elfjährigen mit dem widerspenstigen Schopf wiedererkennen? Aber wenn er den Jungen betrachtete, würde er sehen, wer er war, er würde es in seinem Blick sehen, und die Haarfarbe, die gleich war wie seine eigene, wäre natürlich auch hilfreich.
Telemachos würde absolut reglos dastehen, bis er sicher war, dass sein Vater ihn wiedererkannt hatte. Erst dann würde er auf ihn zurennen, und Odysseus würde sich bücken und seinen Sohn auf ausgestreckten Armen in die Luft heben, genau wie er es vor langer Zeit getan hatte, dazu war er nämlich stark genug, obwohl Telemachos jetzt natürlich sehr viel schwerer war als damals.
Dann würden alle in den Festsaal ziehen und essen und trinken und glücklich sein. Musiker würden fröhliche Melodien spielen, und die jungen Leute würden dazu tanzen. Ein Sänger würde eine Erzählung über Odysseus’ Heldentaten in Troja anstimmen, doch da würde Odysseus ihn unterbrechen und sagen: »Schweige jetzt, heute wollen wir nicht an den Krieg denken. Bald werde ich von meinen Abenteuern erzählen und berichten, was mich so lange nach dem Ende des Krieges von Ithaka ferngehalten hat. Danach darfst du ein Lied darüber dichten und es uns vorsingen.«
Am Abend, wenn Telemachos im Bett lag, würde Odysseus zu ihm ins Zimmer kommen. Er würde seinem Sohn als Erstem erzählen, warum er nicht früher nach Hause hatte kommen können, und dann würde er versprechen, Ithaka niemals mehr zu verlassen, ohne Telemachos mitzunehmen, und auch niemals mehr an einem Krieg teilzunehmen.
Tage vergingen. Wochen vergingen. Monate vergingen. Ab und zu legte ein Schiff im Hafen von Ithaka an, aber es waren immer Handelsschiffe, die kamen, um Getreide, Wolle und Wein zu holen und kostbare Waren aus Gold, Silber und Glas zu verkaufen. Die zwölf Schiffe, die aus Troja zurückkehren sollten, ließen sich nicht blicken.
Immer wenn Fremde nach Ithaka kamen, lud Telemachos’ Mutter sie in den Palast ein, um sie zu befragen. Waren sie Odysseus begegnet? Hatten sie etwas von ihm gehört? Seeleute und Kapitäne, handelsreisende Kaufleute, Bettler, die von Insel zu Insel zogen – allen stellte sie die gleichen Fragen, aber keiner konnte eine Antwort geben. Mitunter behauptete einer der Kaufleute, er sei Odysseus begegnet – doch das sagte er nur, um sich bei Penelope einzuschmeicheln und ihr mehr Waren verkaufen zu können, oder ein Bettler tat so, als hätte er etwas zu erzählen, allerdings nur im Austausch für eine Mahlzeit, aber Penelope durchschaute sie alle. Die Bettler wurden trotzdem gespeist, denn das wurden alle, die im Palast um Hilfe baten, doch die verlogenen Kaufleute mussten davonziehen, ohne auch nur ein einziges kleines Schmuckstück verkauft zu haben.
Mitunter befanden sich an Bord der Schiffe auch Sänger, die ihre Lieder und Geschichten auf der Leier begleiteten. Sie erzählten die uralten Sagen von Göttern und Helden – dieselben, die Telemachos von Eurykleia gehört hatte – und sie brachten auch Nachrichten darüber mit, was sich auf anderen griechischen Inseln und auf dem Festland alles ereignet hatte, ja, sie berichteten sogar von fremden Ländern, wo die Menschen andere Sprachen sprachen, andere Sitten und Gebräuche hatten und an andere Götter glaubten.
Die Sänger wurden ebenfalls in den Palast eingeladen. Dort bat Penelope sie, alles zu erzählen, was sie über die Ereignisse wussten, die geschehen waren, seit das griechische Heer Troja verlassen hatte. Nicht nur sie und Telemachos, sondern alle im Palast warteten gespannt darauf, etwas über Odysseus zu erfahren, doch die Erzählungen der Sänger handelten immer von anderen Männern: von Agamemnon, der nach Mykene zurückgekehrt war und von seiner eigenen Frau, Klytaimnestra, und deren Geliebten ermordet worden war; von Ajax, dessen Schiff mitsamt der Besatzung in einem Sturm untergegangen war; und von Diomedes, der sein Königreich verloren hatte, weil seine Gattin die Stadttore für ihn zusperren ließ, als sie erfuhr, dass er eine Trojanerin mitgebracht hatte, die er ihr vorzog.
Das waren spannende Erzählungen, und Telemachos lauschte ihnen mit offenem Mund. Dennoch hätte er viel lieber nur ein paar wenige Worte darüber gehört, was seinem Vater widerfahren war, doch darüber schien niemand etwas zu wissen. Es war, als hätten Odysseus, seine Männer und alle seine Schiffe sich in Rauch aufgelöst, als der Krieg zu Ende war.
Die Sänger wussten viel darüber zu berichten, was während des Krieges geschehen war – wer gegen wen gekämpft hatte, wer gesiegt hatte und wer gestorben war. Das waren blutige, schreckliche Geschichten, und Penelope unterbrach die Sänger oft, bevor sie das Ende erreicht hatten.
»Schluss jetzt mit diesen Schauergeschichten«, sagte sie dann. »Hört auf, sonst bekommt mein Sohn Albträume!«
Tatsächlich hatte Telemachos manchmal Albträume, nachdem er etwas Schreckliches gehört hatte.
Zum Beispiel, als einer der Sänger erzählte, was geschehen war, nachdem die Griechen die Trojaner besiegt hatten und Troja plünderten. Alle trojanischen Männer – sowohl junge als auch alte – wurden umgebracht, während Frauen und Kinder als Sklaven in Gefangenschaft kamen. Das war schlimm genug, aber das Allerschlimmste hatten die griechischen Krieger einem kleinen Jungen angetan, dem Sohn des Anführers der Trojaner, des Prinzen Hektor. Hektor war im Kampf gefallen und seine Frau als Sklavin weggeführt worden. Ihren kleinen Sohn, der erst zwei oder drei Jahre alt war, hatte sie nicht mitnehmen dürfen. Die Griechen befürchteten nämlich, der Junge könne zu einem mutigen Krieger heranwachsen, der sich an allen, die seinen Vater getötet und seine Stadt zerstört hatten, rächen würde. Darum warfen sie das Kind von der Stadtmauer, wo es unten auf den Steinen zerschmetterte.
»Wer hat das getan?«, wollte Telemachos wissen, doch darauf wusste der Sänger keine Antwort.
»Das war doch nicht mein Vater?«, fragte er Eurykleia am Abend, als er im Bett lag. »Vater hätte einem Kind doch niemals etwas angetan?«
»Nein, nein«, sagte Eurykleia. »Das kann nicht Odysseus gewesen sein. Davon bin ich überzeugt.«
In jener Nacht träumte Telemachos, er sei wieder klein und ein Mann schwinge ihn mit ausgestreckten Armen hoch in die Luft. Das kitzelte so schön im Bauch, dass er vor Freude schrie, bis er sah, dass der Mann, der ihn hochhielt, gar nicht lachte. Das Gesicht, das er unter sich sah, war hart und grausam, und dahinter öffnete sich ein Abgrund. Im selben Augenblick, als er begriff, dass er jetzt in den Abgrund geschleudert werden würde, wachte er mit einem Schrei auf.
Ab da sorgte Penelope dafür, dass die Sänger keine Geschichten mehr über den Krieg erzählten. Telemachos konnte dennoch nicht aufhören, an den kleinen Jungen zu denken, der von der Stadtmauer geworfen worden war. Aber davon konnte sein Vater nichts gewusst haben! Denn dann hätte er es verhindert, davon war Telemachos überzeugt.
Es wäre besser gewesen, wenn der Krieg mehr wie ein Brettspiel abgelaufen wäre, überlegte er. Das Ziel der Griechen wäre gewesen, hinter die Mauern Trojas zu gelangen, und das der Trojaner, sie daran zu hindern. Wenn es den Kriegern gelungen wäre, endlich in die Stadt zu kommen, hätten die Griechen gewonnen und die Trojaner hätten gestehen müssen, besiegt zu sein. Die Griechen hätten einen schönen Preis bekommen und Menelaos hätte seine Frau nach Hause zurückholen können. Niemand hätte sterben oder andere umbringen müssen.
Diese Gedanken hielten Telemachos nachts wach. Er wurde blass, hohläugig und kraftlos, konnte weder spielen noch rechnen oder Bogenschießen und Gymnastik üben. Eurykleia musterte ihn bekümmert, und als er eines Morgens wieder lustlos in seiner Grütze stocherte, sagte sie:
»Du schläfst zu wenig, mein Junge. Schlafen ist wichtig, denn im Schlaf kommen die Träume, und manchmal sind die Träume wahr. Meine Träume erweisen sich fast immer als wahr. Das kommt oft vor, wenn man alt wird!«
Telemachos überlegte. Er wollte fragen, aber die Wörter stolperten nur so in seinem Mund herum. Er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte.
»Hast du schon mal geträumt … ich meine, träumst du manchmal … also, handeln deine Träume irgendwann auch von meinem Vater?«
Eurykleia lächelte.
»Seltsam, dass du mich ausgerechnet heute danach fragst«, sagte sie. »Heute Nacht habe ich tatsächlich von Odysseus geträumt.«
Telemachos' Herz begann heftig zu klopfen. Es pochte so stark gegen seine Rippen, als wäre es ein kleines, in einen Käfig gesperrtes Tier, das sich gegen die Gitterstäbe warf.
»Was«, stieß er keuchend aus, »was hast du denn geträumt?«
»Iss deine Grütze, mein Junge, dann werde ich es dir erzählen.«
Ich habe geträumt«, begann Eurykleia, »dass ich die zwölf Schiffe aus Ithaka bei Troja vom Ufer ablegen sah. Zuvorderst segelte das größte Schiff, auf dem Odysseus das Kommando führte. Günstige Winde trugen die Schiffe nach Südwesten und an der Küste des Festlandes entlang, bis sie nur noch ungefähr eine Tagesreise von Ithaka entfernt waren. Doch da, als sie schon die Landzunge bei Malea umrunden und den Kurs nach Nordwesten einschlagen wollten, schleuderte Zeus, der König der Götter, ihnen einen Nordwind entgegen und trieb sie außer Kurs. Nebel bedeckte das Meer, Wellen warfen die Schiffe hin und her, und der Wind zerriss die Takelage. Sie holten die Segel ein und ruderten aus Leibeskräften, doch der Sturm trieb sie unerbittlich neun Tage und Nächte lang gen Süden. Am Morgen des zehnten Tages erreichten sie eine Insel vor der libyschen Küste, wo sie eine Quelle mit frischem Wasser fanden und eine Mahlzeit zubereiten konnten.
Während die Männer aßen, legte sich der Sturm und der Wind drehte: Jetzt kam er aus südlicher Richtung und führte immer wieder einen Hauch Wüstenhitze mit. Eigentlich hätten sie sofort aufbrechen müssen, doch dafür war Odysseus viel zu neugierig. Vorher wollte er wissen, ob die Insel bewohnt war, und wenn, von wem. Er schickte zwei seiner Männer aus, um die Insel zu erforschen. Der Tag verging, ohne dass sie zurückkamen, und schließlich befürchtete Odysseus, sie könnten auf einen feindseligen Stamm gestoßen und gefangen genommen oder sogar umgebracht worden sein. Mit einer größeren Gruppe bewaffneter Männer brach er auf, um im Inneren der Insel nach den Kundschaftern zu suchen.«
»Hat er sie gefunden?«, fragte Telemachos.
»Ja«, erwiderte Eurykleia. »Warte nur, gleich wirst du hören!«
Sie gluckste leise vor sich hin und fuhr dann fort:
»Und ob er sie gefunden hat! Sie hockten zusammen mit den Inselbewohnern im Gras und schienen Odysseus und seine Gefährten nicht einmal wiederzuerkennen. Vor ihnen stand eine Schale mit Früchten, die gelben Pflaumen ähnelten. Das waren Lotosfrüchte, die einzige Nahrung der Inselbewohner. Die beiden Kundschafter hatten von den Früchten gegessen, und das hatte bewirkt, dass sie die Erinnerung an die Heimat verloren hatten sowie jegliche Sehnsucht danach, nach Hause zurückzukehren. Sie wollten nur noch dortbleiben, wo sie waren, um weiterhin die Lotosfrucht und das liebliche Vergessen zu genießen.
Odysseus und die anderen mussten die Kundschafter zu den Schiffen zurückschleppen, sie an Bord stoßen und sie fesseln, um sie daran zu hindern, zu den Lotosessern zurückzufliehen.
Dann gab Odysseus den Befehl zur sofortigen Abreise, damit seine anderen Gefährten nicht in Versuchung kamen, von der Lotosfrucht zu kosten. In der Dämmerung erreichten sie eine bewaldete Insel mit einem natürlichen Hafen, wo sie Anker warfen. Die ganze Nacht hörten sie das Meckern von wilden Ziegen, und am nächsten Morgen begaben sie sich auf die Jagd. Das Jagdglück war günstig, und am Abend feierten sie mit Ziegenfleisch und Wein.
Ach, wenn sie nur am Morgen weitergesegelt wären! Dann hätten sie Ithaka in einer oder zwei Wochen erreicht! Aber neben der Insel der Ziegen, nur durch einen schmalen Sund davon getrennt, lag eine größere Insel. Von dort drangen Laute von Ziegen und auch von Schafen, und bimmelnde Glöckchen verrieten, dass dies keine wilden Tiere waren. Wo es zahme Tiere gab, musste es auch jemanden geben, der sie gezähmt hatte, und Odysseus konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, er musste herausfinden, wer die Besitzer der Tiere waren. Vielleicht würden er und seine Männer als geehrte Gäste willkommen geheißen werden, so wie es Brauch war. Dann würden sie Gaben erhalten und dürften ihren Vorrat an Essen und Wein auffüllen. Er gab der Besatzung an Bord seines Schiffes den Befehl zum Ablegen und hieß die Männer an Bord der anderen Schiffe auf der unbewohnten Insel zu warten.
Es dauerte nicht lange, über den Sund zu rudern. Odysseus nahm die zwölf Männer mit, die ihm die liebsten waren, und ließ den Rest an Bord bleiben. Eine allzu große Schar hätte die Bewohner der Insel erschrecken können, und das wollte er vermeiden. Ein paar Schläuche mit seinem besten Wein nahm er zum Anbieten mit. Die kleine Gruppe mit Odysseus an der Spitze brach vom Strand auf und stand bald vor einer riesigen Höhle. Neben der Höhle lag ein großes, von Steinmauern umgebenes Gehege, wo zahlreiche Schafe und Ziegen weideten. Kein Mensch war zu sehen. Vorsichtig spähten sie in die Höhle und sahen Pferche für Lämmer und Kitze, Melkeimer, Schüsseln voller Molke, und Käselaibe, die zum Reifen aufgereiht dalagen.
›Wer das alles besitzt, muss reich sein‹, sprachen die Männer untereinander. ›Sicher wird er uns üppig beschenken.‹
Einige von ihnen meinten, es wäre doch am besten, gleich ein paar Käselaibe und Lämmer mitzunehmen und sich damit auf den Weg zu machen, bevor der Besitzer nach Hause käme, doch davon wollte Odysseus nichts hören. Er vertraute auf die Gesetze der Gastfreundschaft und darauf, dass jeder, der in guter Absicht kam, freundlich aufgenommen würde. Darum ließen er und seine zwölf Gefährten sich vor der Höhlenöffnung nieder und verzehrten nur einen der Käse, weil sie Hunger bekamen.
Als die Sonne sich im Westen auf den Horizont senkte, hörten sie ein gewaltiges Stapfen, das sich der Höhle näherte. So viel Lärm konnte ein einzelner Mann nicht erzeugen, ja, nicht einmal mehrere Männer wären dazu in der Lage. Odysseus und die anderen erschraken und verzogen sich tiefer in die Höhle hinein. Die schweren Schritte hielten vor der Höhlenöffnung an, gleich darauf ertönte ein entsetzliches Poltern, als ein Armvoll Holz hereingeworfen wurde. Ein Armvoll? Nein, da wurde ein wahrer Berg aus Holz in die Höhle geschleudert, die Gestalt draußen füllte die ganze Höhlenöffnung, und alles wurde dunkel. Odysseus begriff, dass der Besitzer der Tiere zwar allein hier lebte, aber ein Riese war! Allmählich bereute er, dass sie sich nicht lieber außerhalb der Höhle versteckt hatten.
Schafe und Ziegen strömten in die Höhle, und nach ihnen kroch der Riese selbst auf allen vieren durch die Öffnung, die er dann mit einem großen Felsblock verschloss, damit die Tiere nicht hinauskonnten. Ohne die dreizehn Männer zu bemerken, die sich ganz hinten in der Dunkelheit versteckten, begann er mit seiner Arbeit. Er melkte die Schafe und die Ziegen und ließ die Lämmer und Kitze an ihren Müttern trinken, während er Milch für Käse ansetzte und den Rest in Eimer tat, um sie später selbst zu trinken.
Nachdem der Riese seine Arbeit beendet hatte, legte er ein Armvoll Holz auf die Feuerstelle und zündete ein Feuer an. Im Licht der Flammen entdeckte er die kleinen Gestalten, die voller Entsetzen an der hintersten Höhlenwand kauerten. Da sahen auch sie ihn zum ersten Mal in all seiner Schrecklichkeit: eine gewaltige grobschlächtige Erscheinung mit Händen so groß wie Brunnendeckel und Armen und Beinen dick wie Baumstämme. Das Schlimmste war aber sein Gesicht. Nase, Mund, Kinn und Wangen sahen aus wie bei einem Menschen, aber mitten auf seiner Stirn saß nur ein einziges Auge, das Odysseus und seine Männer zornentbrannt anstarrte. Ein Zyklop, ein einäugiger Riese!
Mit dröhnender Stimme fragte der Riese, wer sie seien und was sie in seiner Höhle zu suchen hätten. Odysseus erwiderte höflich, sie seien Griechen auf dem Rückweg von Troja, und bat den Zyklopen, die Gesetze der Gastfreundschaft zu respektieren und Zeus, den Göttervater, zu ehren, den Beschützer der Fremden und Gäste. Der Zyklop antwortete mit höhnischem Gelächter.
›Was scheren mich eure Gesetze und eure Götter? Was frage ich nach Zeus? Ich, Polyphem, bin der Sohn seines Bruders Poseidon, Gott des Meeres, und ich bin ebenso stark wie Zeus. Ich mache, was ich will, und sollte ich dich und deine Freunde verschonen, dann nicht, weil ich Zeus fürchte, sondern lediglich, weil ich Lust dazu habe. Aber jetzt gerade habe ich Hunger, und darum mache ich das hier!‹
Mit diesen Worten streckte er seine Arme aus, packte die beiden Männer, die am nächsten saßen, einen mit jeder Hand, und schmetterte sie an die Höhlenwand, dass ihre Schädel zersplitterten und die Gehirne herausquollen. Voller Angst und Entsetzen sahen die anderen, wie Polyphem ihre Gefährten verschlang, mit Haut, Haaren und Knochen. Sie konnten nichts tun, nur weinen und Zeus um Rettung anflehen, während der Zyklop seinen Schmaus mit frischer Milch hinunterspülte, rülpste, sich inmitten seiner Tiere hinlegte und einschlief. Sein Schnarchen hallte durch die Höhle und klang wie Donnergrollen in den Bergen.
Zuerst wollte Odysseus nach vorne schleichen und die Brust des Zyklopen mit dem Schwert durchbohren, während dieser schlief, doch dann sah er ein, dass es ihm und seinen Gefährten niemals gelingen würde, den Felsblock, der die Höhlenöffnung verschloss, beiseitezurollen. Zwar gab es in der Höhle reichlich zu essen und zu trinken, aber die Vorstellung, an diesem schrecklichen Ort bleiben zu müssen, eingesperrt in dem Dämmerlicht und der stickigen Luft, die nach Tieren stank und nach menschlichem Blut – nein, dann doch lieber gleich aufgefressen werden!
Im Morgengrauen wachte Polyphem auf und gähnte laut. Die Männer, die kein Auge zugemacht hatten, warteten, während der Riese wieder Feuer machte, melkte und die Tiere versorgte. Nachdem er alles erledigt hatte, griff er sich zwei Männer und verschlang sie auf die gleiche Weise wie die beiden ersten. Dann wälzte er den Felsblock beiseite, so leicht, als wäre der Fels ein Federball, und ließ die Schafe und Ziegen hinaus. Pfeifend folgte er ihnen und rollte den Felsblock wieder an seinen Platz zurück.
Odysseus beobachtete genau, was der Zyklop trieb, und begann einen Plan zu schmieden. Vier von seinen Männern waren bereits tot, acht lebten noch, und dazu noch Odysseus selbst. Es würde ihm nicht gelingen, alle zu retten, aber vielleicht die meisten. In der Nähe des Feuers stand ein Pfahl aus Olivenholz. Mit seinem Schwert hackte er eine Stange ab, ungefähr zwei Meter lang, spitzte sie an dem einen Ende zu und härtete sie über dem immer noch glimmenden Feuer. Dann ließ er die Männer auslosen, welche vier ihm dabei helfen sollten, den Zyklopen unschädlich zu machen.
Stunde um Stunde warteten sie auf die Rückkehr des Polyphem. Sie wussten nicht, welche Tageszeit es war, weil der Felsblock die ganze Höhlenöffnung so abdeckte, dass kein Tageslicht hereindrang. Im schwachen Schein des Feuers hielten sie sich an den Händen und warteten, warteten und warteten. Schließlich war das Stampfen des Riesen zu hören, zuerst in der Ferne, dann näher und näher. Die Männer schwiegen, ein jeder in sein eigenes Entsetzen eingeschlossen. Würden sie alle sterben? Oder nur ein paar von ihnen?