Der Sommer, als Camilla verschwand - Kirsten Bey - E-Book

Der Sommer, als Camilla verschwand E-Book

Kirsten Bey

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Beschreibung

1990. Sechs junge Leute verbringen zusammen einen unvergesslichen Sommer. Doch mit einem Paukenschlag endet das fröhliche Treiben. Camilla, der Star der Clique, verschwindet spurlos. Erst Jahre später kommt heraus, was sich in jenem Sommer tatsächlich zugetragen hat.

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Der Sommer, als Camilla verschwand

Kirsten Bey

Das Buch:

1990. Sechs junge Leute verbringen zusammen einen unvergesslichen Sommer. Doch mit einem Paukenschlag endet das fröhliche Treiben. Camilla, der Star der Clique, verschwindet spurlos. Erst Jahre später kommt heraus, was sich in jenem Sommer tatsächlich zugetragen hat.

Die Autorin:

Kirsten Bey, geboren 1968 in Elmshorn hat schon immer gern geschrieben. Eine erste Veröffentlichung erfolgte während der Schulzeit. Darauf folgten Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien sowie die Romane "Eine Handvoll Lebenslügen" (2009), "Im Schneetreiben" (2012) und Paulines Stalker" (2020).

Der Sommer, als Camilla verschwand

Roman

Kirsten Bey

1. Auflage, 2023

© 2023 Kirsten Bey

Coverdesign von: Anna-Maria Friedrich

Covergrafik von: Anna-Maria Friedrich

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

ISBN Taschenbuch: 978-3-384-04365-8

ISBN E-Book: 978-3-384-04366-5

Inhalt

Cover

Halbe Titelseite

Die Autorin:

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Der Sommer, als Camilla verschwand

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 34

Der Sommer, als Camilla verschwand

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Kapitel 1

Sanft gluckerten die Ostseewellen an den Strand. Felicitas‘ Blick schweifte über Kinder, die am Strand spielten, und Erwachsene, die ein Sonnenbad nahmen. Einige Badegäste stakten im flachen Wasser umher oder schwammen im Meer. Und auch wenn Felicitas keine Touristin, sondern eine Einheimische war, konnte sie sich an diesem sonnigen Tag der sorglosen Ferienstimmung kaum entziehen.

Und dann gab es noch ein paar jüngere Leute, die ein wenig abseits beisammensaßen. Unwillkürlich blieb Felicitas‘ Blick an der kleinen Gruppe haften. Wie alt mochten sie alle sein? Anfang zwanzig? Felicitas registrierte das flirtende Lächeln, das zwischen einigen von ihnen hin- und herwanderte. Kleine, betont unauffällige Berührungen. Ein ironisches Augenzwinkern hier, ein verräterisches Blinzeln da. Aber auch abweisende Bewegungen, ein gelangweilt verzogener Mundwinkel, ein genervtes Augenrollen. Hatten sie sich früher auch so verhalten?

Bestimmt. Unwillkürlich glitt ein Lächeln über Felicitas‘ Züge. Damals. Vor beinahe fünfundzwanzig Jahren. Die langen Sommerabende, an denen ihre kleine Freundesclique sich genau hier am Strand versammelt hatte. Die kurzen Nächte, die endeten, sobald früh am Morgen die Sonne gleich einem rotglühenden Ball aus der Ostsee stieg. Und obwohl sie alle aus dieser Gegend stammten und mit ihr vertraut waren, bestaunten sie mehr als einmal in seltener Eintracht dieses Naturschauspiel. Streitigkeiten und Zerwürfnisse waren ebenso vergessen wie kompliziert anmutende Verabredungen und wilde Liebesschwüre. Sie hatten gespürt, dass es Momente gab, die einfach nur zum Innehalten einluden. Augenblicke, in denen die Zeit stehenblieb.

Sie erinnerte sich an Urlauber, die ihre kleine Clique damals mit leisem Neid betrachtet hatten. Es müsse doch herrlich sein, hier aufzuwachsen, hatten die Besucher angemerkt. Am Meer. Am Strand. In unmittelbarer Umgebung von Restaurants und Strandbuden, Minigolfplätzen und Eisdielen.

Anfangs hatten sie den Urlaubern zu erklären versucht, dass Seeburg sich keinesfalls immer so gab wie im Sommer. Dass es im Winter lausig kalt werden konnte, wenn der Ostwind über das Meer fegte. Dass der Zauber, der den Sommer umgab, angesichts von geschlossenen Eisdielen und nur wenigen geöffneten Restaurants einen Großteil eingebüßt hatte. Dafür war dann während der Urlaubssaison oft viel zu viel zu tun.

Doch davon hatten die meisten Urlauber nichts hören wollen. Und vielleicht hatten sie ja sogar recht. Felicitas konnte sich nicht erinnern, damals auch nur einen Gedanken daran verschwendet zu haben, wie die Urlauber zuhause leben mochten. Ihre Freunde und sie selber wohnten immerhin in mehr oder weniger stattlichen Häusern. Keiner von ihnen musste sich mit einem Geschwisterkind ein stickiges Zimmer im achten Stock eines Wohnblocks teilen. Und selbst Jürgen und Peter, die definitiv nicht auf der Sonnenseite von Seeburg aufgewachsen waren, blieben zumindest die salzige, frische Luft und die malerische Umgebung. Damals waren derartige Gedanken natürlich völlig absurd. Doch heute sah Felicitas die Dinge anders. Unwillkürlich tauchte die Frage in ihr auf, ob es den andern genauso erging.

Wie mochte etwa Simone zu dieser Überlegung stehen? Felicitas war geneigt, den Gedanken sehr schnell mit einem Kopfschütteln ad acta zu legen. Simone war busy und geschäftstüchtig. Und zwar immer und ständig. Mit Sicherheit betrachtete sie die Ostsee, den Strand und das Leben rund um Seeburg ausschließlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wenn sie könnte, dann würde sie den Wettergott verklagen. Bernhard hatte Felicitas diese Einschätzung über Simone einmal zugeraunt, heimlich und leise, damit Simone es nicht mitbekam. Damals herrschte während der Ferienzeit eine ausufernde Schlechtwetterperiode, die die Touristen von Tag zu Tag mit längeren Gesichtern herumlaufen ließ.

Und die anderen? Dass Bernhard Simone öffentlich widersprach, stand außerhalb von Felicitas‘ Vorstellungskraft. Jürgen war bereits verstorben. Peter lebte weit entfernt von Seeburg quasi, am anderen Ende der Welt.

Unwillkürlich tauchten Bilder aus der Vergangenheit vor Felicitas auf. Peter, der Blicke auf Camilla abschoss, die - je nachdem, ob sie sich gerade versöhnt oder gestritten hatten - leidenschaftlich oder wütend ausfielen. Bernhard, der stets bestrebt war zu schlichten und zu vermitteln. Peters älterer Bruder Jürgen, der mit Argusaugen über das Verhältnis seines Bruders zu Camilla wachte. Und Mona, die mit gesenktem Kopf ihre nackten Füße in den Sand bohrte.

Die Strandclique. So hatten die Einwohner von Seeburg sie genannt. Mal abschätzend, mal humorvoll. Mal verärgert, mal anerkennend.

Nur Doris in ihrer schon damals ziemlich unverblümten Art, hatte es auf den Punkt gebracht.

„Ihr haltet euch wohl für ziemlich cool.“ Doris war jünger als die anderen. Heute krähte kein Hahn mehr nach einem Altersunterschied von sechs Jahren. Doch damals hatte Doris allein durch diesen Umstand nicht wirklich zu ihnen gehört. Ihre Wut darüber war unverkennbar. „Dabei ist eure alberne Strandclique doch in Wahrheit nichts anderes als Camillas Hofgesellschaft. Ihr tanzt doch alle nur um sie herum. Ihr seid Camillas Clique und nichts anderes.“

Camillas Clique. Je länger Felicitas darüber nachdachte, umso eher war sie geneigt, Doris Recht zu geben. Sie hatten nie darüber gesprochen, doch tatsächlich stieg und fiel alles mit Camilla. Camilla, die in der Lage war, mit einer einzigen Geste, einem Lächeln oder einem Stirnrunzeln die Stimmung ihrer Clique zu beeinflussen. Camilla, die so ziemlich jeden Mann mit einem Blick aus ihren hellblauen Augen um den Finger wickeln konnte. Und tatsächlich hatte sich die gesamte, einst so eingeschworene Clique sehr schnell aufgelöst, als Camilla nicht mehr dabei war.

Nur langsam kehrten Felicitas‘ Gedanken zurück in die Gegenwart. Der Strand. Die Sonne. Der Sommer. Und vorhin das Gespräch mit Doris.

„Und Becky hat tatsächlich Peter eingeladen? Meinst du wirklich, dass er diesmal kommt?“ Atemlos hatte Felicitas auf Doris‘ Antwort gelauscht. Sie war sich ungeschickt und täppisch dabei vorgekommen.

„Ich könnte mir vorstellen, dass es klappt. Immerhin hängt er sehr an Becky und sie an ihm. Aber sicherlich wird es ihm ausgesprochen schwerfallen, sich auf den Weg hierher zu machen.“ Ein lästernder Unterton, wie er typisch war für die Doris von heute, meilenweit entfernt von dem wütenden, frustrierten Mädchen aus jenem Sommer. „Schließlich ist er seit ewigen Zeiten nicht mehr zuhause gewesen.“

Seit ewigen Zeiten. Felicitas sann über die Worte nach. Seit damals. Seit jenem Sommer, als Camilla spurlos verschwand.

Kapitel 2

Unruhig schweifte Peters Blick durch den kleinen, düsteren Büroraum. Obwohl er die auf dem Computerbildschirm flackernde E-Mail bereits mehrmals gelesen hatte, wusste er immer noch nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte. Er stand von seinem Platz auf, reckte sich und ging hinüber zum Fenster. Langsam öffnete er den Vorhang und blinzelte, als das grelle, karibische Sonnenlicht den Raum durchflutete. In der Ferne erhaschte er einen Blick auf türkisfarbenes Wasser. Wie viele Arbeitsplätze mochte es geben, die mit einem solchen Ausblick aufwarten konnten?

Zumal dieses winzige, unaufgeräumte Büro keinesfalls seinen Hauptarbeitsplatz darstellte. Denn der befand sich am Strand, auf dem Meer und in den Booten, mit denen er seine Kunden zu den Tauchrevieren hinausbrachte. Und natürlich unter Wasser. Unwillkürlich sah Peter vor seinem inneren Auge farbenprächtige Fische an sich vorbeiziehen. Korallenriffe, die sich aus den Tiefen des Meeres erhoben. Majestätische Meeresschildkröten, die an vor langer Zeit versunkenen Schiffswracks entlang schwammen.

Erst das Öffnen der Zimmertür riss ihn aus seinem Tagtraum. Peter fuhr herum.

„Ach, hier steckst du.“ Hendrik betrat das Büro und näherte sich dem Schreibtisch. Seit Jahren führten sie gemeinsam ihre Tauchschule. Im Laufe der Zeit hatte sich ihre zunächst rein geschäftliche Beziehung gewandelt, und sie waren längst zu guten Freunden geworden. Hendrik nickte in Richtung des Bildschirms. „Gibts was Neues?“

„Becky plant ihre Verlobung. Lies es selber, wenn du möchtest.“

„Deine Nichte Becky.“ Hendrik ließ sich auf den Bürostuhl sinken. „Ist sie nicht ein bisschen jung für so einen Schritt?“

Peter lachte. Er fand selber, dass es sich gekünstelt anhörte. „Hast du tatsächlich vergessen, dass Becky mit ihren 21 Jahren nur wenig jünger ist als deine eigene Frau?“

„Dafür bin ich doppelt so alt.“ Hendrik fiel in Peters Lachen ein. Doch dann wurde seine Miene ernst. „Aber zurück zu Becky. Es freut mich, dass sie jetzt offenbar endgültig nach vorne schaut.“

„Du meinst, nach ihrer depressiven Phase?“

„Ich wollte es nicht so plump ausdrücken. Außerdem ist es ja auch wirklich ein Schicksalsschlag, so früh den eigenen Vater zu verlieren.“

„Becky möchte ihre Verlobung mit einer großen Party feiern.“

„Eine Party?“ Hendrik warf ihm einen abwägenden Blick zu. „Und da ihr Vater nicht dabei sein kann, besteht sie doch bestimmt darauf, dass ihr Lieblingsonkel kommt, oder?“

„Nicht nur das.“ Peter fuhr sich durch die Haare. „In ihrer Einladung bezeichnet sie mich sogar als Ehrengast.“

„Aha.“ Hendrik wandte sich dem Bildschirm zu und überflog Beckys E-Mail, bevor er sich wieder zu Peter umdrehte. „Tja, mein Lieber. Es sieht ganz so aus, als müsstest du diesmal tatsächlich nach Hause fahren.“

Zurück nach Seeburg. Zurück an die Ostsee. Beinahe gegen seinen Willen wanderten Peters Gedanken in die Vergangenheit. 1990. Die Strandclique. Ausgelassene Partys, die erst in den frühen Morgenstunden ein Ende fanden. Wirre Versprechungen, ausufernde Träume. Es war eine Zeit des Aufbruchs und des Verlustes. Ein Sommer, der mit einem Paukenschlag endete. Einem Paukenschlag, den eigentlich er selber hatte setzen wollen. Doch Camilla hatte ihn überflügelt, mühelos und grausam. Allein die Erinnerungen an diesen Sommer hatten Peter eine Rückkehr nach Hause bislang schier unmöglich gemacht. Und jetzt das. Hilfesuchend warf er einen Blick auf den Bildschirm, fast, als könnte sich dort eine Lösung für sein Dilemma abzeichnen.

Hendriks Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart. „Möchtest du denn nicht dabei sein, wenn Becky heiratet?“

„Erst einmal steht ja nur eine Verlobung im Raum.“

„Nur eine Verlobung.“ Hendrik hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr. „Das klingt ja beinahe abwertend.“

„So habe ich das nicht gemeint.“

„Wie denn?“

„Nun, ich denke schon, dass Becky wirklich ernsthaft in ihren Freund verliebt ist.“

„Ernsthaft verliebt.“ Hendrik zog die Worte in die Länge. „Wann warst du das letzte Mal ernsthaft verliebt, Peter?“

Peter versuchte ein Lachen, doch erneut hörte es sich hohl und künstlich an. Frauen hatte es viele gegeben. Aber zu mehr als flüchtigen Affären und kurzen, letztendlich jedoch sehr unverbindlichen Beziehungen, hatte es nie gereicht. Gab es sie wirklich nicht, diese eine, ganz besondere Begegnung, die alles überstrahlte? Camillas hellblaue Augen tauchten vor ihm auf. Doch sehr schnell wurde dieses Bild überlagert von einem ebenso schüchternen, wie hoffnungsvollen Blick aus graugrünen Augen. Aber auch diese Erinnerung brach so rasch, wie sie aufgetaucht war, in sich zusammen. Es war ohnehin sinnlos. Es lag alles viel zu lange zurück. Mit seinen damals gerade einmal zweiundzwanzig Jahren war er kaum erwachsen gewesen. Und er hatte es vergeigt. Endgültig. Letztendlich hatte er sie alle verloren. Camilla. Felicitas. Und nicht zuletzt seinen Bruder Jürgen. Und wie groß sein Verlust tatsächlich wog, hatte er erst erkannt, als es längst zu spät war.

Hastig ging er hinüber zum Schreibtisch. Mit einem schnellen Druck auf die Maus schloss er Beckys E-Mail, fast so, als könne er auf diese Weise auch sämtliche Gedanken in seinem Inneren einfach wegklicken. „Jetzt muss ich aber los. Ich habe noch zu tun.“

Im Weggehen warf er Hendrik einen raschen Blick zu. Prangte womöglich eine weitere Frage auf dessen Stirn, die er weder beantworten konnte noch wollte? Doch Hendrik hatte sich dem Computerbildschirm zugewandt und tippte auf der Tastatur herum. Er wirkte abwesend und schien tief in den Weiten des World Wide Web versunken. Gerade wollte Peter die Bürotür hinter sich schließen, als er Hendriks Stimme erneut vernahm.

„Komm ja nicht auf die Idee, Becky in dieser Situation allein zu lassen. Dieses Mal kannst du dich vor einer Heimkehr nicht drücken, Peter.“

„Ja, ich weiß. Aber ich …“

„Keine Ausreden. Schau mal.“ Hendrik nickte in Richtung des Computerbildschirms. „Ich habe bereits einen Flug für dich herausgesucht. Du kannst ihn direkt buchen.“

„Aber die Tauchschüler …“

„Es dauert nicht lange. Nur zwei kurze Klicks und alles ist erledigt. So lange können die Tauchschüler sicher warten.“

Wenn er jetzt ablehnte oder auch nur den Versuch unternahm, einen Aufschub auszuhandeln, fand er sich vermutlich sehr schnell in einer Diskussion wieder, die er keinesfalls führen wollte. Dennoch konnte er dem Impuls nicht widerstehen, auch wenn sein Einwand lediglich aus einem hastig hervorgestoßenen Wort bestand.

„Aber …“

„Kein aber.“ Hendrik lächelte ihn wissend an. „Buch den Flug jetzt.“

„Ich kann doch aber nachher ….“

„Wie du meinst.“ Hendrik lehnte sich zurück.

Das plötzliche Einlenken seines Freundes irritierte Peter mehr, als er zugeben wollte. Er erhaschte einen Blick auf den Bildschirm. Das Logo einer Fluggesellschaft leuchtete ihm entgegen. „Es spielt doch keine Rolle, ob ich jetzt buche oder später.“

„Wenn es keine Rolle spielt, dann buch doch jetzt.“

„Warum bist du so wild darauf, dass ich jetzt gleich buche.“ Er lächelte wieder dieses entsetzlich falsche Lächeln, das ihn selber nervte. „Hast du Angst, ich könnte es mir anders überlegen?“

„Es wäre nicht das erste Mal, nicht wahr?“

„Damals bin ich kurz vor dem Abflug krank geworden. Ich konnte nicht reisen.“

„Danach wurdest du aber sehr schnell wieder gesund.“

„Willst du damit andeuten, ich hätte mir meine Krankheit nur eingebildet?“

„Oh, ich denke schon, dass du wirklich krank warst, damals. Die Frage ist nur, woher die Krankheit kam.“

„Vielleicht von einem Virus?“

„Einem Virus.“ Hendrik ließ die Worte in ihrem ganz eigenen Rhythmus durch den Raum pendeln.

Peter war noch immer versucht hinauszustürmen. Doch etwas an Hendriks geradezu provozierender Ruhe hinderte ihn daran. Seine Gedanken überschlugen sich. Was sollte er machen? Wenn er jetzt ging, würde er das Problem lediglich aufschieben. Warum nur hatte er Hendrik überhaupt von Beckys Einladung erzählt? Aus einem Impuls heraus lief er zurück zum Schreibtisch und riss Hendrik die Maus aus der Hand.

„Was machst du da?“

„Ich buche den Flug.“ Peter spürte, wie sich seine Kiefermuskulatur anspannte, als er diese Worte herausquetschte. „Jetzt.“

„Wirklich?“ Hendrik beobachtete sein Tun.

Als Peter kurz darauf in hastigem Tempo das Büro verließ, hatte er trotz allem das Gefühl, als wäre er Hendrik auf den Leim gegangen.

Kapitel 3

„Hast du deinen Onkel denn jetzt eingeladen?“, fragte Kevin und stieg in die Badewanne. Gleichzeitig versuchte er, den fünfarmigen Kerzenleuchter im Blick zu behalten, den Becky auf einem Hocker, unter dem Dachfenster platziert hatte. Und da war sie wieder. Wie schon so oft erklang praktisch ohne sein Zutun Simones Stimme in seinem Kopf. Kerzenlicht im Badezimmer. Was soll das? Wenn es euch zu dunkel ist – was um zwei Uhr nachts naturgemäß der Fall sein dürfte – dann macht doch Licht an. Mir ist es ohnehin schleierhaft, warum ihr um diese Zeit überhaupt ein Bad nehmen müsst.

Tapfer versuchte Kevin die imaginären Worte seiner Mutter zu ignorieren. Stattdessen ließ er sich in das warme Wasser sinken und zog Becky an sich. Er schob ihre nassen Haare beiseite und hauchte einen Kuss auf ihren Hals. Zu seiner Erleichterung verschwand die Stimme seiner Mutter aus seinem Kopf. Die Worte, die er jetzt vernahm, waren real und kamen eindeutig von Becky.

„Na klar habe ich Peter eingeladen.“ Mit geschlossenen Augen schmiegte sie sich an ihn.

„Und hat er geantwortet?“

„Natürlich. Er freut sich sehr und hat schon einen Flug gebucht.“

„Wann kommt er an?“

„In ein paar Tagen. Du wirst ihn also bald kennenlernen.“ Beckys Stimme klang nach einem zufriedenen Schnurren.

„Ich freue mich darauf.“ Das Badewasser platschte. Kevin hoffte inständig, dass Becky nicht die leise Nervosität bemerkte, die in ihm aufflackerte, sobald die Rede auf ihren sagenhaften Onkel kam. Lag es daran, dass Peter, der enormen örtlichen Entfernung zum Trotz, für Becky offenbar eine Art Vaterersatz darstellte? Kevin beschloss, diese für ihn völlig untypischen, philosophischen Betrachtungen erst einmal beiseitezuschieben. Das führte zu nichts. Stattdessen konzentrierte er sich lieber auf rein praktische Fragen. „Nennst du ihn eigentlich Onkel?“

„Natürlich nicht.“ Becky schaute ihn gleichermaßen entrüstet, wie auch belustigt an. Kevin liebte diesen Blick. Wie er alles an Becky liebte. Sogar den leicht verdrießlichen Tonfall, den sie jetzt anschlug. „Du glaubst aber nicht, dass ich Peter nur eingeladen habe, weil deine Mutter darauf gedrängt hat, oder?“

„Nein.“

„Wirklich nicht?“ Sie drehte den Kopf in seine Richtung. Ein weißer Schaumball prangte an ihrer Schläfe.

„Wirklich nicht.“ Er drückte ihr einen neuerlichen, leicht verwischten Kuss an den Hals.

„Warum ist deine Mutter eigentlich derart versessen darauf, dass mein Onkel zu unserer Feier kommt?“

„Ich weiß es nicht.“ Kevin hatte auf diese Überlegung bislang keinen Gedanken verschwendet. Schon vor langer Zeit war er zu der Überzeugung gelangt, dass es einfacher war, den Wünschen seiner Mutter ohne weitere Fragen nachzukommen, statt ewig mit ihr zu diskutieren. Auch sein Vater hatte neulich erst angemerkt, dass Simone in der Lage sei, Kräfte zu entfesseln, die einer Naturkatastrophe gleichkamen, sobald sich ihr unvermutet Hindernisse in den Weg stellten.

„Kennen die beiden sich von früher?“

„Meine Mutter und dein Onkel? Das ist gut möglich. Sie kommen ja beide von hier. Aber er war doch ewig nicht mehr in Seeburg, oder?“

„Das stimmt.“ Becky wand sich in der Wanne. Wasser plätscherte und ein quietschendes Geräusch entstand. Ob man sie im Erdgeschoss hören konnte? Und war es ihr nicht peinlich? Immerhin lag dort die Wohnung von Doris, Beckys Mutter. Doch für Becky schienen derlei Überlegungen keine Rolle zu spielen. Ungezwungen strich sie sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn, schmiegte sich enger an ihn und kümmerte sich nicht um weitere verräterische Geräusche. „Glaubst du, es ist etwas dran, an der alten Geschichte?“

„Du meinst die Sache mit dem verschwundenen Mädchen?“

„Genau. Wie hieß sie doch gleich?“

„Camilla.“

„Camilla, richtig. Kannst du dir vorstellen, dass ein Mensch einfach so verschwindet?“

Kevin zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“

„Camilla muss damals in etwa so alt gewesen sein, wie wir heute, oder?“

„Ja. Ich denke, das kommt hin.“

„Und sie ist wirklich einfach so weg? Glaubst du das?“

Kevin erlaubte sich ein neuerliches Schulterzucken. „Offenbar hat sie keinerlei Spuren hinterlassen. Fest steht, dass seit über zwanzig Jahren nie wieder jemand etwas von ihr gehört hat.“

„Vielleicht hat nie jemand wirklich nach ihr gesucht.“ Beckys Stimme klang auf einmal nachdenklich. „Würdest du nach mir suchen, wenn ich verschwinde?“

Entrüstet schaute er sie an. „Natürlich.“

„Aber warum hat es dann bei Camilla niemand getan?“

„Sicher lebt sie längst woanders. Vielleicht möchte sie gar nicht gefunden werden.“ Vorsichtig reihte Kevin ein Wort an das andere. Seine Versuche, die augenfälligen Klippen in diesem Gespräch zu umschiffen, kamen ihm tölpelhaft und wenig überzeugend vor. „Die ganze Geschichte hat sich abgespielt, bevor wir geboren wurden. Es liegt alles weit zurück.“

„Aber hätte sie sich nicht irgendwann gemeldet? Selbst wenn sie damals unzufrieden war, abgehauen ist und zunächst wirklich nicht gefunden werden wollte. Es gab doch bestimmt Menschen, die ihr wichtig waren. Würde sie denen nicht mitteilen wollen, dass sie sich nicht um sie zu sorgen bräuchten?“

„Ich weiß nicht.“

„Sie muss doch auch Eltern gehabt haben.“ Becky ließ nicht locker. „Verwandte, Freunde. Irgendwen.“

„Camillas Vater soll selber einst abgehauen sein, Jahre bevor Camilla verschwand. Und ihre Mutter war wohl ständig betrunken.“ Kevin räusperte sich. Die nächste Frage war heikel. „Dein Onkel war doch damals mit Camilla zusammen, nicht wahr? Ob er deswegen nie nach Seeburg zurückgekehrt ist? Wegen Camillas Verschwinden?“

„Du glaubst doch wohl nicht diesen Unsinn, der noch immer hinter vorgehaltener Hand erzählt wird? Dieser alberne Dorfklatsch, nach dem Peter etwas damit zu tun haben könnte.“

„Aber du musst zugeben, dass diese Möglichkeit durchaus besteht.“

„Meine Mutter sagt, diese Gerüchte seien absoluter Unsinn.“ Beckys Stimme klang erregt und wütend. „Peter und Camilla waren längst kein Paar mehr, als Camilla verschwunden ist. Und immerhin kommt doch Peter jetzt zurück nach Seeburg. Er wäre wohl kaum unserer Einladung gefolgt, wenn er tatsächlich etwas zu verbergen hätte, oder?“

Kevin wog nachdenklich den Kopf. Wirklich überzeugend erschien das alles in seinen Augen nicht. Aber war es sinnvoll, diese Sache mit Becky weiter zu diskutieren? Kevin wurde einer Entscheidung enthoben, denn Becky wechselte spontan das Thema.

„Hast du mit deiner Mutter eigentlich schon die Sache wegen der Verlobungsfeier geklärt?“

Leider war dieser Punkt um keinen Deut besser als der vorherige. Kevin holte tief Luft und schaute sich hilfesuchend um. „Becky ….“

„Hast du mit ihr gesprochen oder nicht? Wir waren uns doch einig. Oder?“

„Ja, sicher ….“

„Du hast also nicht mit ihr gesprochen.“ Sie wandte den Kopf und warf ihm einen strengen Blick zu. „Wann kümmerst du dich darum? Morgen?“

„Morgen schon?“

„Ja. Es wird Zeit. Ich fürchte, sie wird nicht begeistert davon sein, dass wir ihr Angebot nicht annehmen. Bestimmt hat sie sich bereits in jede Menge Vorbereitungen gestürzt. Redest du morgen mit ihr?“

Er hätte sich gern noch ein wenig gewunden. Dabei wusste er genau, dass es zwecklos war. Außerdem hätte er Becky nahezu alles versprochen. Für sie würde er den Mond vom Himmel holen, wenn es das war, was sie sich wünschte. Und natürlich würde er ein Gespräch mit seiner Mutter führen, vor dem er sich unter anderen Umständen gern gedrückt hätte.

„Ich rede mit ihr. Versprochen. Gleich morgen Abend.“ Obwohl Kevin bei diesen Worten das Gefühl hatte, seinen Kopf quasi selbst auf dem Schafott zu platzieren, fühlte er sich glücklich. Becky war bei ihm. Dieser Gedanke überstrahlte alles. Kevin spürte, wie ihm innerlich warm wurde. Ich liebe dich, Becky. Seit ewigen Zeiten. Schon damals, als du mithilfe eines gefälschten Schülerausweises, die Clubs und Diskotheken von Seeburg unsicher gemacht hast. Als dir nicht einmal aufgefallen ist, dass es mich überhaupt gibt.

Er zog sie an sich und spürte, dass bei diesen Gedanken sogar das bevorstehende Gespräch mit seiner Mutter an Schrecken verlor.

Kapitel 4

Die Abendsonne schien durch das Fenster. Abwesend ließ Kevin seinen Blick durch den bereits für den nächsten Morgen hergerichteten Art déco Saal schweifen. Früher hatte er manchmal beim Eindecken der Tische geholfen. Sonderlich viel Elan hatte er allerdings nie auf diese Aufgabe verwendet. Und seitdem Becky einen festen Platz in seinem Leben einnahm, war das Hotel seiner Eltern für Kevin praktisch ohnehin bedeutungslos.

Tatsächlich meinte er in dem Blick seiner Mutter etwas Abwertendes wahrzunehmen, als sie mit zwei gefüllten Kaffeebechern auf ihn zukam. Versuchte sie etwa, ihn auf diese Weise zu einem schlechten Gewissen zu nötigen? Aber das Hotel gehörte schließlich nicht ihm. Und ganz offensichtlich hatte seine Mutter doch alles im Griff. Simone Superstar. Beckys spöttische Stimme hallte in seinem Kopf wieder.

„Und er kommt wirklich?“ Simone sank auf den Platz ihm gegenüber. Geschickt platzierte sie die beiden Kaffeebecher so, dass das Frühstücksgeschirr für die Hotelgäste nicht berührt wurde.

„Du meinst Peter?“ Obwohl er eigentlich keinen Kaffee am Abend mochte, nippte Kevin an seinem Becher. Das nächtliche Gespräch mit Becky fiel ihm ein. „Warum ist es für dich so wichtig, dass er bei unserer Feier dabei ist?“

Simone räusperte sich. „Ich habe vor allem an Becky gedacht. Es wäre eine schöne Geste, zumal ihr Vater ja leider bereits verstorben ist.“

Die Worte seiner Mutter klangen klar und aufrichtig. Doch aus irgendeinem Grund nahm Kevin ihr ihre Besorgnis nicht recht ab. Er kam jedoch nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Erneut richtete sie eine Frage an ihn.

„Wann wird er ankommen?“