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Claudine träumt von einer Karriere als Polizistin. Stattdessen arbeitet sie in der Kunstgalerie auf dem alten Gutshof Charlottenlund. Doch ausgerechnet in dieser idyllischen Umgebung wird mitten in den Ausstellungsräumen eine Tote gefunden. Zusammen mit dem Polizisten Helfried macht Claudine sich auf die Jagd nach den Hintergründen.
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Seitenzahl: 283
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Mord auf Charlottenlund
Roman
Kirsten Bey
Buchbeschreibung:
Claudine träumt von einer Karriere als Polizistin. Stattdessen arbeitet sie in der Kunstgalerie auf dem alten Gutshof Charlottenlund. Doch ausgerechnet in dieser idyllischen Umgebung wird mitten in den Ausstellungsräumen eine Tote gefunden. Zusammen mit dem Polizisten Helfried macht Claudine sich auf die Jagd nach den Hintergründen.
Über die Autorin:
Kirsten Bey, geboren 1968 in Elmshorn hat schon immer gern geschrieben. Eine erste Veröffentlichung erfolgte während der Schulzeit. Darauf folgten Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien sowie die Romane „Eine Handvoll Lebenslügen“ (2009), „Im Schneetreiben“ (2012), „Paulines Stalker“ (2020) und „Der Sommer, als Camilla verschwand“ (2023)
Mord auf Charlottenlund
Roman
Kirsten Bey
1. Auflage, 2024
© 2024 Kirsten Bey
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
ISBN Taschenbuch: 978-3-384-39910-6
ISBN E-Book: 978-3-384-39911-3
Kapitel 1
Eine knarrende Tür. Vorsichtig stieß Claudine sie ein Stück weit auf. Mondlicht schimmerte durch die Fensterscheiben. Flackernd geisterte es über das verblichene Tapetenmuster. Für einen Moment verweilte es auf dem alten Sekretär aus dunklem Holz. Doch Claudine schenkte dem klobigen Möbelstück keine Beachtung. Ihr Blick heftete sich auf die Vorhänge, die in langen Schals neben dem Fenster bis auf den Boden reichten.
Sie trat einen Schritt näher. Ihr Herz pochte heftig. Der geladene Revolver schmiegte sich in ihre Handfläche. Hier musste er sein. Gleich würde sie ihn erwischen. Nur noch Sekunden und dann ...
Da, ein Geräusch. Doch es handelte sich dabei keineswegs um einen Schuss, der sich aus ihrem Revolver löste. Es war Claudines Handywecker, der klingelte. Das Signal zum Aufstehen.
Nur langsam begannen Claudines Gedanken sich zu regen. Wo war sie? Ihr Blick fiel auf den Sekretär. Für einen kurzen, hoffnungsvollen Moment wähnte sie sich in ihrem Traum. Doch das war natürlich Unsinn. Denn selbstverständlich befand sie sich nicht auf Verbrecherjagd. Stattdessen lag sie in ihrem Bett im Gutshaus von Charlottenlund. Und der Tag würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Aufklärung eines Kriminalfalls für Claudine parat halten, sondern ihre Arbeit als Verenas Assistentin in der Kunstgalerie. Daran würde auch ihr immer mal wieder aufflackernder Impuls, ihre Chefin umzubringen, nichts ändern. Mordgedanken waren nicht strafbar, selbst wenn sich deren Heftigkeit mit jedem Tropfen eiskalten Duschwassers, das kurz darauf auf Claudine herab prasselte, verstärkte.
Wütend biss sie die Zähne zusammen. Dabei hatte sie sich neulich erst bei Verena über die eisigen Wassertemperaturen beschwert. Verenas Mann Andreas hatte daraufhin an den Leitungen herumgebastelt. Tatsächlich wurde das Wasser wärmer. Bis heute. Ganz offensichtlich war der Erfolg von Andreas‘ Reparaturversuchen nur von sehr kurzer Dauer.
Genau wie dessen Anwesenheit.
Denn als Claudine die Küche betrat, fand sie ihre Chefin alleine vor. Verena saß am Tisch und war damit beschäftigt, ein Brötchen mit Erdbeermarmelade zu bestreichen. Auf Claudines Gruß hin hob sie kaum den Kopf.
Claudine räusperte sich. „Wo ist denn Ihr Mann? Frühstückt er heute nicht mit uns?“
„Er ist verreist.“ Verenas Stimme klang derart abweisend, als würde das Visier einer Ritterrüstung herunterklappen.
Claudine befand spontan, es sei besser, nicht weiter nachzufragen. Auch eine erneute Beschwerde wegen des eiskalten Duschwassers verkniff sie sich.
Nach einem wortkargen Frühstück ging sie zusammen mit Verena hinüber in die Galerie. Verena wies ihr mit einer sparsamen Geste den Platz am Schreibtisch zu. Sie selber schlüpfte in ihren Mantel.
„Ich muss los. Ich habe einen Termin. Bitte schreib währenddessen die Preislisten sauber ab. Und keine Fehler, hörst du? Die Scheune schließe ich gleich auf. Denk daran, dich auch dort blicken zu lassen und nach dem Rechten zu schauen. Funktioniert die Kamera jetzt eigentlich?“
„Nicht wirklich.“
„Hast du den Elektriker informiert?“
„Nein. Ich dachte, Sie hätten ihn bereits letzte Woche angerufen.“
Verena verdrehte die Augen und warf ihr einen dieser Immer-muss-ich-mich-um-alles-kümmern-Blicke zu. „Ich melde mich nachher beim Elektriker. Du übernimmst bitte die Gestaltung der Einladungen für die nächste Vernissage.“
„Die Weihnachtsausstellung?“
„Genau. Irgendetwas fehlt bei den Einladungen.“
„Was denn?“
„Keine Ahnung. Finde es heraus. Für meinen Geschmack ist die ganze Sache nicht rund. Schau dir die Internetauftritte der Künstler an. Lass dich ein wenig inspirieren.“
„Aha.“
Was genau meinte sie damit? Doch angesichts des vorwurfsvollen Untertons in Verenas Stimme zog Claudine es vor, diese Frage nicht laut zu stellen. Stattdessen schaltete sie den Computer ein und ordnete die Unterlagen auf dem Schreibtisch. Mit den Preislisten und den Besuchern wäre sie für die nächsten Stunden gut beschäftigt.
Claudine beschloss, zunächst die Internetrecherche durchzuführen. Diese Arbeit erschien ihr definitiv reizvoller als das Schreiben von Preislisten. Sie schaute sich auf den Webseiten der Künstler um. Gedankenverloren folgte sie einigen Links, die sie immer tiefer in das Dickicht des Internets lockten. Als sie auf die Uhr blickte, zuckte sie zusammen. So spät war es schon? Jetzt wurde es wirklich Zeit, einen Blick in die Scheune zu werfen.
Dort befand sich ein weiterer Ausstellungsraum, der größeren Artefakten vorbehalten war. So lautete zumindest die offizielle Erklärung. Doch Claudine hatte längst herausgefunden, dass Verena die in der Scheune gezeigten Objekte als eher zweitrangig einstufte. Bereits kurz nach ihrer Ankunft auf Charlottenlund hatte Claudine ein lautstarkes Streitgespräch mitbekommen, in dem es um genau diese Einschätzung ging. Ein aufgebrachter, exzentrisch gekleideter Mann um die sechzig, hatte einer nicht minder empörten Verena gegenübergestanden.
„Du glaubst doch wohl selber nicht, dass ich deine Kunstwerke ausstelle. In der Galerie ganz sicher nicht. Und auch für die Scheune finde ich sie nicht geeignet.“ Mit einer ihrer unnachahmlich graziösen Gesten hatte Verena auf die Fotos gedeutet, die der Mann in der Hand hielt.
„Deine Zwei-Klassen-Einordnung von Kunst ist unmöglich. Meine Kunstwerke gehören definitiv in die Galerie und ganz sicher nicht in die Scheune. Sieh dir nur diese Plastik an. Ein Meisterwerk. Ich habe sie sexuelles Happening genannt.“
„Unter diesem Begriff wird die Plastik schon mal gar nicht bei mir ausgestellt.“
„Tatsächlich? Dabei hätte ich dich gar nicht für derart prüde gehalten. Schließlich handelt es sich um ein sinnliches Motiv. Schau, wie perfekt ich die Körper herausgearbeitet habe. Und die betörend erotische Komponente, die so unübertrefflich zum Ausdruck kommt. Das ist Kunst, Verena.“
„Die erotische Komponente ist mir so was von egal, Cord.“
„Liebste Verena, würde es dir etwas ausmachen, mich ZehZeh zu nennen?“
„Jetzt komm mir bitte nicht auch noch mit diesem albernen Künstlernamen. Für heute reicht es wirklich, Cord.“
„Wer war das?“ Neugierig war Claudine näher getreten, nachdem Cord mit einem wütenden Türenschlagen den Raum verlassen hatte.
„Cord-Conrad Steinfeld. Die beiden Anfangsbuchstaben seiner Vornamen bilden in einer etwas eigensinnigen Schreibweise seinen Künstlernamen. Er lebt hier in der Nähe. Ein Hobbykünstler.“ Aus Verenas Mund klang es fast nach einer Beleidigung. „Er wird wiederkommen.“
Verena sollte recht behalten. Und seit kurzem beherbergte die Scheune sowohl Cords Plastik als auch ein paar seiner Gemälde. Verena hatte durchgesetzt, dass der Titel der Plastik durch ein schlichtes Happening ersetzt wurde. Eine Änderung, mit der Cord sich merklich schwergetan hatte.
Cords Bilder zeigten zumeist eine junge Frau mit Zöpfen in allerlei verwirrenden Posen und Positionen. Hier durften die von Cord ausgesuchten Titel bleiben, auch wenn Worte wie süße Versuchung oder verträumte Sinnlichkeit steile Falten auf Verenas Stirn trieben.
Doch eine andere Frage beschäftigte Claudine weit mehr, als die übermäßig gefühlsduseligen Titel von Cords Kunstwerken. Tatsächlich hatte sie beobachtet, wie Cord ein paar Tage nach seinem wütenden Weggang, Verena auf eine geradezu verschwörerische Art einen Umschlag zugeschoben hatte. Was hatte er enthalten? Geld? Hatte Cord auf diese Weise die Ausstellung seiner Werke überhaupt erst ermöglicht? Auch heute sinnierte Claudine über diese Frage, während sie sich ihre Jacke anzog, um sich auf den Weg zu Cords Kunstwerken in der Scheune zu machen. Gerade waren keine Gäste in der Galerie. Der Moment erschien Claudine geeignet, ihren eigentlichen Arbeitsplatz kurz sich selber zu überlassen. Doch als sie gehen wollte, öffnete sich die Tür und eine Besucherin kam herein. Eine blonde Frau.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Claudine.
„Das weiß ich gar nicht so genau.“ Die Frau lächelte verlegen und schaute sich um. Ihr umherschweifender Blick schloss nicht nur die Galerie, sondern das gesamte Gutshaus ein. „Lebt Verena noch immer hier?“
„Ja.“ Claudine nickte. Sie musterte die Frau genauer. Sie mochte Ende vierzig sein und damit etwa im gleichen Alter wie Verena. „Sie ist allerdings gerade nicht da. Kann ich etwas ausrichten? Ich bin Verenas Assistentin.“
„Verena und ich waren früher befreundet und ...“
Bevor die fremde Frau weitersprechen konnte, öffnete sich erneut die Tür. Eine Frau mit hoch aufgetürmten roten Haaren stürmte herein. Beinahe wäre sie an der Türschwelle gestolpert. Schwer atmend baute sie sich vor Claudine auf.
Claudine wich erschrocken zurück. „Was ist los? Ist etwas passiert?“
„Das kann man wohl sagen.“ Die Frau schnaufte. Sie war völlig außer Atem. „Drüben in der Scheune, zwischen diesen ganzen nackten und halbnackten Menschen ...“ Unvermittelt hielt die Frau inne und rang nach Luft.
Eine Beschwerde über die Plastik von Cord-Conrad Steinfeld alias ZehZeh? Claudines Gedanken rasten. Wie konnte sie jetzt souverän reagieren und zeigen, dass sie die Lage im Griff hatte?
Die Frau wartete Claudines Entgegnung gar nicht erst ab. Sobald sie wieder fähig war, Luft zu holen, sprach sie weiter. Noch immer beherrschte ein atemloser Unterton ihre Stimme. „Dort liegt eine Tote.“
„Eine Tote?“ Claudine starrte die Frau an. Das konnte sie doch unmöglich ernst meinen.
Die Frau nickte bestätigend. Ihre Augen hefteten sich mit einer seltsamen Mischung aus Sensationslust, Neugierde und Schrecken auf Claudine.
Eine Tote in der Scheune. Diesmal war es Claudine, die nach Luft rang. Das konnte nicht sein. Oder doch?
Kapitel 2
Eine Tote. Natürlich war es nicht sehr pietätvoll, doch im Geheimen hatte Helfried in seiner verschlafenen kleinen Polizeiinspektion hin und wieder genau davon geträumt. Ein richtiger Einsatz, weit entfernt von den Verkehrsdelikten und Ladendiebstählen, mit denen er es sonst meist zu tun hatte. Doch als ihn am Telefon mehrere wild durcheinander kreischende Frauenstimmen geradezu angefleht hatten, nach Charlottenlund zu kommen, wo angeblich eine Leiche in der Scheune lag, war ihm mulmig zumute geworden. Auf einmal war alles so echt.
Er hängte einen Zettel an die Tür der Polizeistation, auf dem bei dringenden Angelegenheiten an das nächste Revier verwiesen wurde. Dann schloss er ab und machte sich auf den Weg nach Charlottenlund.
Trotz seines noch immer heftig pochenden Herzens genoss Helfried die Fahrt. Erst kürzlich hatte er seinen Dienst in dieser Gegend aufgenommen. Die Landschaft war hier, nahe der Ostsee, lieblicher, als er es von seinem Zuhause kannte. Sogar ein paar sanfte Anhebungen gab es. Zudem gefiel Helfried die leichte Brise, die den Geruch nach Seetang und Meer durch das einen Spaltbreit geöffnete Autofenster trieb.
Vor dem Gutshaus von Charlottenlund brachte Helfried den Wagen zum Stehen. Beeindruckt musterte er den imposanten Bau aus rotem Backstein, der sich wohlig in der Oktobersonne zu räkeln schien. Fraglos hatten diese alten Mauern schon viel gesehen. Feiern und festliche Empfänge hatten sich hier genauso abgespielt wie Niederlagen und Dramen. Mit Sicherheit war auch der eine oder andere Tote dabei gewesen.
Während Helfried seinen Blick umherschweifen ließ, wurde die Tür eines Seitenflügels des Gebäudes aufgerissen. Das Wort Galerie prangte in dezenten Buchstaben darüber. Eine Frau winkte ihm zu. „Herr Kommissar. Bitte hierher. Kommen Sie schnell.“
Herr Kommissar. Helfried wusste spontan nicht, ob er sich verspottet oder geschmeichelt fühlen sollte. Er folgte der Frau in einen großen, hell ausgeleuchteten Raum. Die Einrichtung wirkte betont sachlich, ja geradezu steril. An den Wänden hingen gerahmte Bilder und Zeichnungen in den verschiedensten Formaten. Skulpturen und Plastiken erhoben sich auf hölzernen Podesten. Postkarten, Bücher und Flyer wetteiferten um die Gunst der Aufmerksamkeit. Am hinteren Ende des Raumes lehnte eine junge Frau mit dunklen Haaren und blassem Gesicht an einem Schreibtisch. Neben ihr standen eine Blondine sowie die Rothaarige, die ihn hereingewunken hatte.
„Was ist passiert?“ Helfried zückte sein Notizbuch.
„Eine Tote.“ Die Rothaarige übernahm das Kommando. „Sie liegt drüben in der Scheune. Ich habe sie dort gefunden.“
„In der Scheune?“
„Die Scheune gehört zur Galerie. Dort befindet sich ein weiterer Ausstellungsraum. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.“
Helfrieds nervöser Blick streifte die kleine Runde. Eine Tote in der Scheune. Dazu drei Frauen, die vor ihm standen. War etwa eine von ihnen die Täterin? Er musste unbedingt die Personalien aufnehmen. Mit wichtiger Miene drückte er einen Stift auf das Papier.
„Sind Sie hier verantwortlich?“, fragte er die Rothaarige.
„Ich?“ Sie starrte ihn an, als wäre seine Frage an Absurdität nicht zu überbieten. „Wie kommen Sie denn darauf? Nein, natürlich nicht. Die Galerie gehört Verena.“
„Und wer von Ihnen ist Verena?“
„Verena ist doch gar nicht da.“ Der Tonfall der Rothaarigen implizierte, dass Helfried das nun wirklich hätte wissen müssen.
Zu Helfrieds Überraschung räusperte sich die Dunkelhaarige. Aufmerksam betrachtete er sie. Sie war jünger als die beiden anderen Frauen. Helfried schätzte sie auf Mitte zwanzig. Damit befand sie sich im gleichen Alter, wie er. „Ja? Was wollten Sie sagen?“
„Ich bin Verenas Vertretung.“
Helfried betrachte versunken das Kleid der jungen Frau. Wann hatte er zuletzt eine Frau in einem Kleid gesehen? Er räusperte sich und hoffte, dass niemand ihm seine Verlegenheit ansah. „Sie vertreten also Verena. Wann wird sie zurückerwartet?“
„Später.“
„Und wo ist sie jetzt?“
Sie zuckte mit den Achseln und schaute ihn nervös an. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Sie ist vorhin aufgebrochen, um einen Termin wahrzunehmen. Leider hat sie keine Uhrzeit für ihre Rückkehr hinterlassen.“
„Können Sie sie auf dem Handy anrufen?“
„Ich ... “. Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. Ganz augenscheinlich stieg ihre Nervosität um eine Stufe. „Ich habe leider Verenas Handynummer nicht.“
„Nicht? Obwohl Sie die Vertretung sind?“
„Das bin ich noch nicht lange. Irgendwie hat es sich bislang nicht ergeben, dass Verena mir ihre Handynummer ausgehändigt hat.“
Irgendetwas an dieser Antwort störte Helfried. Er hatte angenommen, dass einer Vertretung als erste Amtshandlung die Handynummer der zu vertretenden Person quasi aufgedrängt wurde. War es nicht ansonsten vollkommen sinnlos, sich überhaupt eine Vertretung zu suchen?
Hilfesuchend wandte Helfried sich an die blonde Frau. Sie stellte sich als Gitta Steinfeld vor. Sie sei eine alte Freundin von Verena. Nein, ihre Handynummer habe sie ebenfalls nicht. In Gedanken schüttelte Helfried den Kopf. Wie sollte er hier vernünftig ermitteln, wenn niemand auch nur ansatzweise die Kontaktdaten der Chefin oder Freundin kannte? Hieß es nicht immer, dass auf dem Land ein jeder über so ziemlich alles aus dem Leben seiner Nachbarn, Freunde und Bekannten informiert sei? Unzufrieden runzelte Helfried die Stirn, während die Rothaarige ungeduldig an ihn heranrückte.
„Herr Kommissar, wollen Sie sich nicht endlich die Tote ansehen?“ Ihre ganze Gestalt, angefangen von den wild durcheinander fliegenden Haaren, über den vorwurfsvoll wogenden Busen, bis zu den hin- und her trampelnden Füßen, wirkte wie ein fleischgewordener Ausdruck ihrer Ungeduld.
„Ja, natürlich. Sofort. Ich bräuchte aber noch Ihren Namen und Ihre Anschrift.“
„Diese Formalitäten können wir nun wirklich später erledigen. Lassen Sie uns erst einmal hinüber zur Scheune gehen.“ Unauffällig lotste die Rothaarige ihn in Richtung Tür. Helfried war beinahe versucht, ihr nachzugeben. Doch im letzten Moment besann er sich. Er war hier als Polizist vor Ort. Er hatte das Sagen.
„Und Sie sind?“ Mit strenger Miene verharrte er vor der Rothaarigen und zückte erneut den Stift und das Notizbuch.
„Elfie Schneider.“
„Und Sie haben die Tote gefunden?“
„Das sagte ich doch schon. Sie liegt mitten im Kreis der Nackten.“
„Im Kreis der Nackten?“ Unwillkürlich schaute Helfried auf.
„Ja. Von denen wimmelt es in der Scheune nur so.“
„Von Nackten?“
„Kommen Sie. Ich zeige es Ihnen. Dann kann ich Ihnen auch Verenas Handynummer geben.“
„Sie kennen die Handynummer? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?“
„Sie haben mich ja nicht danach gefragt.“ Trotz des erlittenen Schreckens zogen sich Elfis Mundwinkel zu einem breiten Lächeln auseinander. Oder fletschte sie gar die Zähne? Helfried betrachtete sie unentschlossen.
„Aber woher kennen Sie sie? Ich muss Sie bitten ...“ Helfried drückte den Rücken durch und bemühte sich um eine aufrechtere Haltung. „... mir die Handynummer unverzüglich auszuhändigen.“
„Ach, nun machen Sie es doch nicht so förmlich. Ich klingel eben bei Verena durch.“
Bevor Helfried eingreifen konnte, zog Elfie ihr Handy aus der Tasche. Sie rief eine Nummer auf und presste das kleine Gerät an ihr Ohr. „Verena-Schatz. Ich bin es. Elfie. Wo steckst du denn? Bitte komm doch schnell nach Hause. Hier ist die Hölle los, es ist wirklich unglaublich.“
„Wann kommt sie?“, fragte Helfried.
„Keine Ahnung. Sie hat das Gespräch ja gar nicht entgegengenommen. Ich habe ihr auf die Mailbox gesprochen. Meinen Sie etwa ...“ Elfies Augen wirkten groß und größer, bis sie schließlich ihr gesamtes Gesicht beherrschten. „Meinen Sie, Verena ist ebenfalls tot?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“
„Nun, es könnte doch sein, oder? Wenn schon eine Tote in ihrer Scheune liegt.“
„Es könnte natürlich auch sein, dass es sich bei der Toten in der Scheune um Verena handelt.“ Helfried sprach die Worte nur langsam aus, fast als würde er ihnen selbst nicht trauen.
„Um Verena?“ Elfie schaute ihn ungläubig an. „So ein Unsinn. Nein, natürlich ist es nicht Verena. Ich habe die Tote doch gesehen.“
„Und Sie können definitiv ausschließen, dass es sich um Verena handelt?“
„Selbstverständlich kann ich das.“ Elfie schnaubte laut durch die Nase.
Helfried sah sich hilfesuchend um. Ein Teil von ihm hegte die Hoffnung, vor Lachen prustende Kollegen würden ihm entgegenspringen, begeistert von dem nicht gerade pietätvollen Scherz, den sie als Einstand für ihn vorbereitet hatten. Doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen warf ihm Elfie einen wissenden Blick zu. „Ich weiß, wer sie ist.“
Helfried hätte sie am liebsten angeblafft. Doch unvermittelt schloss er seinen bereits geöffneten Mund. Es war nicht nötig. Er würde gewinnen. Er war Polizist. Sie musste ihm den Namen nennen.
Und tatsächlich. Als Elfie endlich weitersprach, reihte sie sorgsam ein Wort an das nächste. „Bei der Toten handelt es sich um Lorna.“
„Lorna?“ Helfried schaute von Elfie zu seinem Block und zurück.
„Lorna Hinrichsen.“ Elfie sprach den Namen betont langsam aus.
Helfried notierte ihn sorgfältig in seinem Notizbuch.
Kapitel 3
Claudine beobachtete, wie Verenas Wagen die Auffahrt nach Charlottenlund hinauf brauste. In Gedanken versuchte sie, die verwirrenden Ereignisse der letzten Stunden in eine zeitliche Abfolge einzureihen. Die tote Frau. Der junge Polizist, der bleich und erschrocken aus der Scheune herausgetreten war und der jetzt Verstärkung herbeitelefonierte. Und dazu Gitta und Elfie. Wobei Gitta praktisch gar nicht redete, Elfie dafür aber ununterbrochen. Genau wie jetzt, als Verena aus ihrem Auto stieg, die Tür hinter sich zuwarf und auf die Personen zueilte, die sich vor dem Gutshaus versammelt hatten.
„Verena-Schatz. Wie gut, dass du endlich da bist. Hier ist wirklich die Hölle los.“
Verena musterte die kleine Menschenansammlung, ohne Elfie besondere Beachtung zu schenken. Ihr Blick blieb an dem Polizisten hängen, der sein Telefongespräch gerade beendet hatte. „Was ist passiert?“
„Sie sind die Betreiberin der Galerie?“
„Ja.“ Verena bedachte den Polizisten mit diesem leicht arroganten Blick, den Claudine zu fürchten gelernt hatte. „Verena Meyerbehr. Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Meister. Also, so heiße ich. Ich meine ...“ Der junge Polizist wurde rot und knetete unsicher sein Notizbuch in den Händen. Er deutete auf das Gebäude im Hintergrund. „Ist das Ihre Scheune?“
„Ja. Sie wird aber nicht als Scheune genutzt, sondern als Ausstellungsfläche. Wenn Sie hier sind, weil es irgendein albernes Gesetz gibt, das die Nutzung meiner Scheune für andere Zwecke verbietet, dann ...“
„Nein, nein. Es geht um etwas vollkommen anderes. Der Grund für mein Kommen liegt darin, dass ...“ „Aber Herr Kommissar.“ Elfie schlängelte sich mit einem breiten Lächeln zwischen Verena und den Polizisten. „Sie werden unserer Verena doch nicht völlig unvorbereitet den Tatort zeigen? Am Ende erleidet sie noch einen Schock.“
„Aber ... “
Elfie versuchte, sich bei Verena unterzuhaken, was diese jedoch zu verhindern wusste. Doch Elfie ließ nicht locker. „Du musst nämlich wissen Verena, dass die liebe Lorna ...“
„Was ist mit Lorna? Ist sie hier?“
„Tja, ich weiß wirklich nicht, wie ich diese Frage korrekt beantworten soll. Lorna ist hier. Aber sie weilt nicht mehr unter uns.“
„Was meinst du damit?“
„Lorna ist tot. Sie liegt in deiner Scheune. Mitten zwischen den ganzen Nackten.“ Elfie zog einen übertriebenen Schmollmund. „Wie außerordentlich traurig. Findest du nicht auch, meine Liebe?“
„Sie ist ...“
„Ja, sie ist tot.“ Der Polizist schaltete sich hastig ein. „Vorausgesetzt es handelt sich bei der Toten tatsächlich um ...“ Er warf einen hastigen Blick auf seinen Block. „... um Lorna Hinrichsen. Ist Ihnen dieser Name bekannt?“
„Ja.“ Verena nickte ungewohnt schwerfällig. Ihre Wangen wurden bleich. „Lorna hat gelegentlich für mich gearbeitet. Sie war so etwas wie meine Assistentin.“
„Ihre Assistentin? Aber ich dachte, das wäre ...“ Fragend schaute der Polizist sich um.
Claudine trat ungelenk einen Schritt vor. „Ich bin die Assistentin.“
„Lorna hat mir früher hin und wieder geholfen.“ Verena schien Mühe zu haben, die richtigen Worte zu finden.
„Und in der letzten Zeit hat sie nicht mehr für Sie gearbeitet?“ Der Polizist hielt seinen Stift im Anschlag.
„Du hast dir eine neue Assistentin gesucht, nachdem du mit Lorna mal wieder eine deiner Auseinandersetzungen hattest, nicht wahr, Verena?“ Elfie zündete sich eine Zigarette an und blies genüsslich den Rauch aus, bevor sie fortfuhr. „Diesmal ist es also zu einem endgültigen Bruch zwischen Lorna und dir gekommen. Dabei war es schon immer kompliziert mit euch beiden. Ich habe da so einiges mitbekommen.“
Völlig unerwartet schaltete sich die zweite Frau mit leiser Stimme ein. Gitta.
„Handelt es sich bei der Toten tatsächlich um Lorna Hinrichsen? Es ist kein Irrtum möglich?“
Claudine bemerkte, dass Verenas Blick an Gitta hängenblieb. Sie schien verwirrt und irritiert. Claudine fiel ein, dass Gitta sich vorhin – in einem anderen Leben, wie es ihr jetzt vorkam - als alte Freundin von Verena vorgestellt hatte. Warum hatte Verena ihr bislang keinerlei Beachtung geschenkt? Gerade in einer derartig aufwühlenden Situation wünschte man sich doch die Hilfe einer guten Freundin. Gitta näherte sich Verena mit langsamen Schritten.
„Ich bin es wirklich.“ Behutsam legte sie eine Hand auf Verenas Arm. „Es tut mir so leid, dass ich ausgerechnet jetzt hier auftauche. Natürlich wäre ich längst gegangen. Aber Herr ...“ Hilfesuchend schaute Gitta zu dem Polizisten hinüber.
„Meister.“
„Genau. Herr Meister bestand darauf, dass ich bleibe, bis sein Kollege eingetroffen ist.“
„Gitta.“ Verena formte den Namen ihrer Freundin derart unbeholfen, als hätte sie Probleme damit, die einzelnen Buchstaben aneinanderzureihen. „Ich habe eine halbe Ewigkeit nichts von dir gehört. Wo kommst du auf einmal her?“
Auch Elfie warf Gitta einen höchst interessierten Blick zu. „Das gibts ja gar nicht. Gitta Förster. Ach nein, Gitta Steinfeld. Du hast doch damals Cord geheiratet. Und danach bist du irgendwann abgehauen. Was treibt dich hierher? Und warum tauchst du ausgerechnet heute hier auf, wo Cords Lebensgefährtin mausetot in Verenas Scheune liegt?“ Elfie runzelte die Stirn und wandte sich an den Polizisten. „Wird Gitta damit zur Hauptverdächtigen?“
„Dazu kann ich nichts sagen.“ Der junge Polizist schaute in sein Notizbuch, fast, als ließe sich dort die Antwort auf Elfies Frage finden. „Gleich wird mein Kollege hier sein. Und ein Arzt.“
„Warum?“ Elfie starrte ihn verständnislos an. „Ich will wirklich nicht herzlos erscheinen. Aber Lorna ist mit Sicherheit nicht mehr zu helfen. Was soll da ein Mediziner ausrichten?“
„Es geht um gewisse Formalitäten.“
„Aha.“ Elfie schien nicht recht zufrieden mit dieser Auskunft.
„Ist es in Ordnung, wenn ich erst mal Kaffee koche?“ Gitta warf einen Blick in die Runde. „Ich fürchte, Verena kippt uns sonst um.“
Tatsächlich wirkte Verena blass und angeschlagen. Claudine warf Gitta einen Blick zu. „Lassen Sie nur. Ich kümmere mich um den Kaffee. Bleiben Sie am besten bei Verena.“
„Vielen Dank, Claudine. Das ist sehr nett.“ Gitta schenkte ihr ein schwaches Lächeln.
Claudine drehte sich um und machte sich auf den Weg ins Gutshaus. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie der Polizist zu seinem Auto ging, den Kofferraum öffnete und darin herumkramte. Sie nickte ihm zu. „Möchten Sie auch einen Kaffee?“
„Ich muss erst den Tatort sichern.“ Mit wichtiger Miene zog er eine Rolle Flatterband hervor. „Aber wenn ich damit fertig bin, dann gerne.“
Der herbei telefonierte Kommissar brachte Ordnung in die aufgewühlte Situation. Er warf einen Blick in die Scheune, die mittlerweile von der Spurensicherung in Beschlag genommen worden war. Dann erkundigte er sich bei Verena und Elfie nach Lornas Angehörigen. Ein Lebensgefährte, eine Tochter. Kurzerhand beauftragte er den jungen Polizisten damit, die Nachricht von Lornas Tod zu überbringen. Kommissar Wolf selber ließ sich auf einem Stuhl in der Küche nieder und griff nach einem Kaffeebecher. Er deutete auf Verena und Elfie. „Woher kennen Sie sich?“
„Elfie hat früher hier geputzt“, erklärte Verena. Noch immer schienen ihre Augen riesengroß und erschrocken. Ihre Wangen waren auffällig bleich.
„Ich war für die Pflege und den hygienischen Zustand der Ausstellungsräume verantwortlich“, präzisierte Elfie und schaute Kommissar Wolf direkt in die Augen. „Sie ahnen ja nicht, wie viel Dreck in einer Galerie anfällt. Man könnte meinen, die Besucher würden aus purer Absicht den halben Wald hereinschleppen. Und andere fassen die Bilder an, obwohl das natürlich streng verboten ist. Wir hatten mal eine Fotoausstellung, da haben Personen ihre Finger direkt auf die Rahmen und das Glas gedrückt. Richtige Fettränder waren das. Ziemlich widerlich.“
„Und jetzt putzen Sie hier nicht mehr?“
„Nein.“
„Und warum nicht?“ Kommissar Wolf schaute Elfie interessiert an. Claudine bemerkte, dass der Pullover des Kommissar an den Nähten und den Ellenbogen abgeschabt wirkte und sogar kleine Löcher aufwies. Seine Gesichtszüge waren kantig und sein verwuschelter Haarschopf schien schon seit längerem keinen Friseur mehr gesehen zu haben.
„Ich möchte nicht weiter darüber reden. Da fragen Sie am besten Verena.“ Elfie warf Verena einen süffisanten Blick zu.
Doch zu Elfies Ärger dachte Kommissar Wolf gar nicht daran, ihren Anweisungen Folge zu leisten. Stattdessen wechselte er das Thema. „Und die Tote? Lorna Hinrichsen? Was ist mit ihr?“
„Was soll mit ihr sein?“ Elfie zuckte mit den Schultern. „Sie ist tot.“
Verena ergriff das Wort. „Lorna hat früher ebenfalls hier gearbeitet.“
„Und du meinst, das könnte etwas mit ihrem Tod zu tun haben?“ Elfie schien auf einmal beunruhigt. „Nicht, dass ihr mich demnächst auch leblos zwischen diesen grässlichen Nackten von Cord wiederfindet.“
„Cord?“
„Cord-Conrad Steinfeld. Lornas Lebensgefährte. Er hat die Plastik geschaffen, auf der Lorna aufgefunden wurde“, erklärte Verena in Richtung des Kommissars. „Was passiert denn jetzt?“
Kommissar Wolf schenkte Verena ein breites Lächeln, bei dem seine schiefen, gelben Zähne sichtbar wurden. „Erst einmal machen wir uns ein Bild von der Lage. Sobald genauere Erkenntnisse vorliegen, sehen wir weiter.“
„Was für Erkenntnisse meinen Sie?“ Verena warf dem Kommissar einen ebenso fragenden wie auch beunruhigten Blick zu.
Erneut lächelte Kommissar Wolf auf diese Art, die er vermutlich für charmant hielt. Claudine fand ihn eher anbiedernd. „Überlassen Sie das am besten uns. Wir sind Profis. Aber zumindest sind auf den ersten Blick keine Anzeichen von äußerlicher Gewalt erkennbar.“
„Äußerliche Gewalt?“ Verena bedachte den Kommissar mit einem konsternierten Blick.
„Es muss schließlich Gründe dafür geben, warum Lorna Hinrichsen tot in Ihrer Scheune liegt.“
„Und was für Gründe könnten das sein?“
„Wir werden es herausfinden. Momentan ist alles denkbar. Sogar ein Unglück kommt in Betracht. Lorna Hinrichsen könnte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten haben. Oder vielleicht ist sie gestolpert und durch einen fatalen Sturz zu Tode gekommen.“
„Und was passiert, wenn es sich nicht um ein Unglück handelt?“ Verena wurde noch eine Stufe bleicher.
„Vorerst ermitteln wir in alle Richtungen.“ Kommissar Wolf trank einen letzten Schluck Kaffee und stand auf. Als er die Tür erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um. „Bis auf weiteres darf niemand die Scheune betreten. Die Ausstellung dort ist momentan geschlossen. Sie hören in Kürze von mir.“ Er zwinkerte Verena vertraulich zu.
Kapitel 4
Helfried parkte den Wagen am Straßenrand, direkt vor einem unauffälligen Einfamilienhaus. Er stieg aus, rückte seine Polizeimütze zurecht und näherte sich der Haustür. Es war ein äußerst bedrückender Aspekt seiner Arbeit, eine Todesnachricht zu überbringen.
Er räusperte sich und betätigte den Klingelknopf. Ein großer, hagerer Mann öffnete. Obwohl er nach Helfrieds flüchtiger Schätzung nicht mehr der Allerjüngste war, hielt er sich aufrecht und seine Augen wirkten lebhaft. Ein gezwirbelter Bart beherrschte sein Gesicht. Seine Kleidung war dunkel, bis auf einen langen bunten Schal, der lose um seinen Hals hing. An seinen Füßen glänzten schwarze Lackschuhe.
Überrascht starrte er Helfried an. „Ist etwas passiert?“
„Darf ich hereinkommen?“
Der Mann warf ihm einen misstrauischen Blick zu und machte keinerlei Anstalten, die Tür weiter zu öffnen. Helfried holte tief Luft. „Es geht um Lorna Hinrichsen.“
„Um Lorna?“ Der Mann klang erschrocken. „Hatte sie einen Unfall?“
„Sind Sie ein Verwandter?“
„Cord Steinfeld. Ich bin Lornas Lebensgefährte.“
Komisch. Irgendwie kam Helfried der Name Steinfeld bekannt vor. Doch jetzt, in dieser Situation, die seine gesamte Aufmerksamkeit erforderte, kam er nicht dazu, genauer darüber nachzudenken. Unsicher verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Kann ich ...“
Diesmal nickte Cord Steinfeld und bat Helfried herein. Er lotste ihn zu einem ovalen Tisch im Wohnzimmer. Dichtgewachsene Pflanzen verschatteten die Fenster und tauchten den Raum in ein dämmriges Halbdunkel.
„Es tut mir sehr leid.“ Helfried räusperte sich und ließ sich langsam auf dem Stuhl gegenüber von Cord nieder. „Aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihre Lebensgefährtin tot aufgefunden wurde.“
„Lorna?“ Völlig entgeistert schaute Cord Steinfeld ihn an. „Aber wie kann das sein?“
„Wir sind noch dabei, die genauen Umstände zu ermitteln. Fakt ist, dass der Leichnam in der Scheune des Gutshofs von Charlottenlund lag.“
„In der Scheune von Charlottenlund?“ Cord lehnte sich vor. Selbst in den schummrigen Lichtverhältnissen war erkennbar, wie etwas in seinen Augen aufflackerte. „Etwa dort, wo auch meine Kunstwerke ausgestellt sind?“
„Sie lag auf einer Plastik mit dem Titel ...“ Helfried blätterte in seinem Notizbuch. „...Happening. Ist die von Ihnen?“
„Ja.“ Cord Steinfeld sank in sich zusammen. „Was genau ist passiert?“
„Wir wissen es noch nicht.“
„Wer hat sie gefunden? Etwa Verena, dieses arrogante Weibsstück?“
„Nein. Es war Elfie Schneider. Kennen Sie sie?“
„Ja, natürlich.“ Cords Nicken hatte etwas verstörtes. „Aber Lorna und Elfie konnten sich in letzter Zeit nicht besonders gut leiden. Früher war das ganz anders.“
Unauffällig machte Helfried sich eine Notiz. Und bei dem Gedanken an Elfie fiel ihm ein, wo er den Namen Steinfeld schon einmal gehört hatte. Denn es war Elfies schrille Stimme, die in seinem Kopf widerhallte. Gitta Förster. Ach nein, Gitta Steinfeld. Du hast doch damals Cord geheiratet. Und danach bist du irgendwann abgehauen.
„Gitta Steinfeld.“ Unwillkürlich warf Helfried den Namen in das Gespräch, beinahe wie einen Stein, der unversehens in einem Teich landete und dort Wellen schlug. Im gleichen Moment fragte er sich, ob es sich bei dieser spontanen Eingebung um eine gute Idee handelte. Kommissar Wolf hatte ihn lediglich damit beauftragt, die Hinterbliebenen von Lorna Hinrichsen über deren Tod zu informieren. Ging er zu weit? Doch für derartige Bedenken war es jetzt ohnehin zu spät. Hastig fuhr Helfried fort. „Sagt Ihnen dieser Name etwas?“
„Ja, natürlich.“ Cord nickte. „Gitta ist meine Frau. Wir waren heute verabredet. Ist sie etwa auch ...“
„Nein. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Momentan befindet sie sich auf dem Gutshof von Charlottenlund.“ Eine deutliche Unsicherheit schwang in Helfrieds nächster Frage mit. „Sie haben eine Ehefrau und eine Lebensgefährtin? Das finde ich ziemlich ... nun ja ... ungewöhnlich.“
„Was wissen Sie denn, junger Mann?“ Cord starrte ihn an. „Gitta und ich haben vor Ewigkeiten geheiratet. Wir leben schon lange nicht mehr zusammen. Lorna ist meine Lebensgefährtin. War meine Lebensgefährtin. Und jetzt ist sie ...“
Automatisch dämpfte Helfried seine Stimme und bemühte sich um einen beschwichtigenden Unterton. „Sie erwähnten, dass Sie heute mit Ihrer Frau verabredet waren. Aus welchem Grund?“
„Gitta wollte über irgendetwas mit mir sprechen. Aber sie ist nicht zum vereinbarten Termin erschienen.“
„Worum ging es denn?“
„Es tut mir leid.“ Cord starrte mit leerem Blick auf die düsteren Pflanzen vor dem Fenster. „Ich sehe mich im Moment nicht in der Lage, weitere Fragen zu beantworten.“
„Kommen Sie allein zurecht? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich jemanden anrufen, der Ihnen beisteht?“ Besorgt musterte Helfried den Mann, der plötzlich um Jahre gealtert schien.
Cord wandte sich ab. „Nein, lassen Sie nur.“
Helfried notierte seine und die Telefonnummer von Kommissar Wolf auf einer Karte, die er vor Cord auf den Tisch legte. „Melden Sie sich gern bei mir oder meinem Kollegen, falls Sie Fragen haben.“
Dann stand er auf und verließ mit leisen Schritten das Haus. Als er zum Auto ging, kam ihm eine junge Frau entgegen. Sie trug einen knappen Rock und auffallend lange, dunkle Zöpfe. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Helfried war sich sicher, sie schon einmal gesehen zu haben. Aber wo? Unauffällig beobachtete er sie, während er übertrieben sorgfältig sein Handy auf neu eingegangene Nachrichten prüfte. Die Frau dagegen schien ihn keinesfalls zu erkennen. Sie warf ihm lediglich einen knappen Blick aus den Augenwinkeln zu und setzte ihren Weg mit zügigen Schritten fort.
Helfried grübelte für einen Moment über die Frau nach. Woher kannte er diese auffallende Erscheinung? Doch so sehr er sich bemühte, er kam nicht darauf. Schließlich startete er den Wagen und fuhr langsam die Straße hinunter. Als er einen Blick in den Rückspiegel warf, war die junge Frau verschwunden.