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Liebe in schwierigen Zeiten - Teil 1 des sechsteiligen Serials »Der Sommer der Freiheit« Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle. Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen. Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …
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Seitenzahl: 140
Heidi Rehn
Der Sommer der Freiheit 1
Serial Teil 1
Knaur e-books
Es begann im Sommer 1913
Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle, Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen.
Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …
Für Meta – ein Hoch auf eine ganz besondere Freundschaft!
Wenn man nicht hat, was man liebt,
muss man lieben, was man hat.
(Französisches Sprichwort)
Man kann viel, wenn man sich nur recht viel zutraut.
(Wilhelm von Humboldt)
Wieder einer jener Sommer, in denen entweder alles möglich oder zu ewigem Stillstand verdammt war. Selma liebte dieses Gefühl banger Erwartung zu Beginn der vierwöchigen Sommerfrische. Gleich nach dem Frühstück begann sie, das Hotel Bellevue wieder in Besitz zu nehmen. Neugierig, was sich seit ihrem Besuch im Vorjahr verändert hatte, strich sie durch die wie ausgestorben daliegenden Korridore. Im ersten Stock begegnete ihr ein Zimmermädchen, das ihr noch vom letzten Aufenthalt her bekannt vorkam. Dagegen schien der Liftboy im zweiten Stock erst wenige Wochen in seiner goldbetressten Livree zu stecken, derart stolz wölbte er die schmale Jünglingsbrust heraus. Eine schwarz gekleidete, erschöpft wirkende Gouvernante kreuzte im dritten Stock ihren Weg. Offenbar hatte sie es gerade aufgegeben, ihren aufmüpfigen Schützlingen hinterherzurennen. So nah unter dem Dachgeschoss staute sich selbst um diese Stunde schon die Augusthitze, was einem bei kleinster Anstrengung den Schweiß auf die Stirn trieb. Selma schätzte sich glücklich, eine luftig-locker fallende Tunika über dem knöchellangen Plisseerock gewählt zu haben.
Sie passierte die Hintertreppe, die zum Speicher hinaufführte. Am Treppenabsatz angekommen, zögerte sie einen Moment, ob sie sich noch einmal zu den geheimnisumwitterten Turmspitzen an den vier Ecken des riesigen Hotelpalastes schleichen sollte. Erst wenige Jahre waren vergangen, seit sie dort oben mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Grischa aufregendste Abenteuer erlebt hatte. Sie war eine wahre Meisterin im Erfinden spannender Geschichten gewesen. Ein Blick in die Gesichter der anderen Hotelgäste hatte ihr genügt, um sich vor Grischas staunenden Augen auf dem Speicher in die märchenhaft schöne, aber bleichgesichtige Gattin des mürrischen Bankdirektors vom Nachbartisch zu verwandeln. In Wahrheit handele es sich natürlich um eine russische Prinzessin, die in Baden-Baden ihre Liebe zu einem polnischen Fürsten entdecke, hatte sie versucht, Grischa glauben zu machen. Leider hatte er nicht annähernd ihre Leidenschaft für diese Art von Abenteuern geteilt und sich als Liebhaber sehr tolpatschig angestellt. Ein linkisches Tête-à-Tête unter Geschwistern aber war allemal besser gewesen, als stundenlang mit den Eltern über die Lichtentaler Allee flanieren und artig vor den anderen Gästen posieren zu müssen.
Albernes Kichern aus Richtung des Speichers verrieten die geflohenen Schützlinge der Gouvernante. Offenbar erlitten sie gerade dasselbe Schicksal wie Grischa und sie damals. Selma wünschte den Gören, für einige Stunden unentdeckt von den anderen Erwachsenen zu bleiben.
Über die Haupttreppe begab sie sich auf den Weg nach unten. Die dicken Teppiche in den Fluren und über den Treppenstufen verschluckten ihre Schritte. Der Geruch nach reinigenden Seifen, schweren Parfums, dicken Zigarren und verschwenderischem Blumenschmuck, wie er in dieser Mischung nur Häusern wie dem Bellevue zu eigen war, wehte durch das weite Treppenhaus. Für Selma verhieß er heimkommen in eine Welt, die ihr von frühester Kindheit an vertraut war und die Jahr für Jahr dasselbe Programm bereithielt.
Sobald sie beim Nachmittagstee im Gartenpavillon die übrigen Hotelgäste kennenlernen würde, konnte sie abschätzen, was in den nächsten vier Wochen zu erleben war. Anders als ihre Eltern fühlte Selma sich noch viel zu jung, um die Sommerfrische in der trägen Eintönigkeit immer gleicher Tagesabläufe zu verbringen. Sollte sich kein ähnlich gesinnter Hotelgast passenden Alters finden, wäre da immer noch Grischa, mit dem sie sich beim Tennis, Croquet oder gar den Rennen im nahen Iffezheim vergnügen konnte. Wie jedes Jahr würde es sich das Hotelierspaar des Bellevue, Lilly und Rudolf Saur, nicht nehmen lassen, aussichtsreiche Bekanntschaften zwischen den Gästen zu stiften. Gerade ein Fräulein im heiratsfähigen Alter wie Selma, das obendrein als gute Partie galt, stand hoch im Kurs. Versonnen lächelnd hob sie die linke Hand, betrachtete den Brillantring, den Gero ihr zur Verlobung an Neujahr geschenkt hatte. Schon jetzt freute sie sich auf den verdutzten Blick von Lilly Saur, sobald sie ihn in der Sonne funkeln sah. Mit dem aus Ostpreußen stammenden Gutsbesitzersohn Gero von Sudloff hatte sie eine hervorragende Wahl getroffen. Soeben war er zum Sozius einer angesehenen Rechtsanwaltskanzlei am Charlottenburger Kurfürstendamm, dicht vor den Toren Berlins, avanciert. Außerdem verstand er sich bestens darauf, verbotene Begierden in ihr zu wecken. Sie errötete, lag doch ihr letztes Beisammensein keine zwei Tage zurück.
»Hoppla!« Sie stolperte und stieß gegen etwas Weiches. Als sie aufsah, fand sie sich in den Armen eines erschreckend gut aussehenden, dunkelhaarigen Mannes. Seine nahezu schwarzen Augen funkelten vergnügt, die schön geschwungenen Lippen unter dem dünnen Oberlippenbart waren zu einem amüsierten Lächeln gespitzt. »Excusez-moi, mademoiselle.« Seine dunkle Stimme in dem wundervoll harmonischen Französisch traf sie ins Mark.
»Pardon, monsieur.« Zu ihrem Bedauern ließ er sie viel zu schnell wieder los und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Hastig strich sie die weich fallende Seide ihrer cremefarbenen Tunika glatt, prüfte den Sitz der Frisur und schritt mit einem huldvollen Nicken quer durch die Eingangshalle zum Gartensalon.
Wie schon in den dämmrigen Korridoren und der Halle, so herrschte auch in dem zum Kurpark gelegenen Salon gähnende Leere. Lediglich das Zwitschern des gelbgrünen Kanarienvogels in dem Vogelbauer nahe der Terrassentür hieß Selma willkommen. Die Sonne schickte sich gerade an, um die Ecke des Südflügels zu spitzen. Zur Mittagsstunde würde sie von der Lichtentaler Allee aus das stattliche Anwesen inmitten seiner großzügigen Parkanlage mit goldenem Licht fluten. In Erwartung der großen Hitze waren die gelb-weiß gestreiften Markisen vor den bodentiefen Fenstern halb heruntergezogen. Durch die offene Terrassentür strömte süßer Rosenduft aus der benachbarten Gönneranlage herein, von der Oos wehte ein angenehm kühler Lufthauch in den halbrunden Vorbau.
»Dich haben sie wohl ganz vergessen«, begrüßte Selma den Vogel. Zu ihrer Verwunderung hatte er sich ganz auf die zum Garten zeigende Seite geflüchtet. Eine Kralle an den Gitterstäben, mit der anderen auf der fingerdicken Stange balancierend, reckte er sich voller Sehnsucht dem allmählich über den Baumwipfeln aufziehenden Sonnenball entgegen. Schließlich setzte er zu einem lang anhaltenden Pfeifton an, der vom Garten her nicht weniger sehnsüchtig beantwortet wurde.
»Gräm dich nicht. Hier drinnen hast du alles, was du zum Leben brauchst, und musst nicht einmal um dein Futter bangen.«
Lockend streckte Selma den Finger durch die Stäbe, pfiff dazu eine sich nach oben schraubende Melodie ähnlich der, die der Vogel bei ihrem Eintreten angestimmt hatte. Langsam drehte er den Kopf, ruckte einige Male vor und zurück und stimmte freudig in das Trällern ein. Aufgeregt begann er auf seiner Käfigstange hin und her zu trippeln. Durch die weit geöffnete Tür war das Antworten erneut zu hören.
»Armes Kerlchen«, murmelte Selma. »Offenbar hältst du nicht viel von deinem goldenen Käfig.«
Schon hatte sie die Käfigtür geöffnet. Für einen Moment verstummte der Kanarienvogel, legte das Köpfchen schief, schien sie Rat suchend anzuschauen. Das Zwitschern im Garten wurde lauter. Flugs hüpfte er auf die Querstange vor der Käfigtür, schwang zwei-, dreimal probehalber seine Flügel und flatterte dicht an Selmas lachendem Gesicht vorbei auf die offene Tür zu.
Sein Flügelschlag war erschreckend unruhig. Es dauerte einige bange Augenblicke, bis er den winzigen Körper ausbalanciert hatte, um den üppig blühenden Rhododendron beim Terrassenaufgang zu erreichen. Atemlos machte er Station. Flugs hechtete eine mehrfarbig gestreifte Katze aus dem Dickicht. Ein einziger Hieb mit der Pfote genügte ihr, um den grell leuchtenden Vogel zu erlegen.
Entsetzt schrie Selma auf.
»Zu spät, Liebes«, hörte sie die tiefe Stimme von Großmutter Meta aus einem der gepolsterten Rattansessel. Gemächlich erhob sie sich und kam auf sie zu. Rhythmisch klackte ihr schwarzer Gehstock über den schwarz-weiß gefliesten Steinboden des Gartensalons. »Auch wenn sich alle nach der Freiheit sehnen, ist sie nicht für jeden geschaffen. Man muss schon etwas mit ihr anzufangen wissen, sonst beschert sie eher Leid denn Freude.«
»Das sagst ausgerechnet du, Großmama? Ich dachte, in deinen Augen ist die Freiheit gerade für uns Frauen das Erstrebenswerteste.«
Erstaunt schaute Selma sie an. Die zierliche Großmutter reichte ihr kaum bis zur Schulter. Trotz ihres Hüftleidens legte sie großen Wert auf eine aufrechte Haltung. Das dunkelviolette Kostüm und das sorgfältig frisierte silbergraue Haar betonten ihre Würde, zählte sie inzwischen doch schon stolze fünfundsechzig Jahre.
»Gerade weil ich die Freiheit über alles liebe, weiß ich, wie wichtig es ist, sie nicht nur großmütig zu verschenken. Zuerst sollte man den Beschenkten in ihrem Gebrauch unterrichten, sonst endet sie im Desaster.«
Selma trat auf die Terrasse und streckte mit geschlossenen Augen das Antlitz der Sonne entgegen. Sie dachte an Gero, das ziellose, unstete Leben, das sie in Berlin führte. Zugleich tönte ihr die angenehme Stimme des Franzosen im Ohr. Wie wenig wusste sie mit der Freiheit anzufangen, die sie kühn hinter dem Rücken der Eltern für sich in Anspruch nahm. Wenn sie doch wenigstens ihr unbedarftes Handeln von vorhin rückgängig machen und den Vogel vor dem grausamen Tod in der ungewohnten Freiheit bewahren könnte!
Aufbruch
Eine leichte Brise bauschte die Gazegardinen vor den offenen Fenstern zu hauchzarten Säulen. Einen Atemzug später flatterten sie im auffrischenden Wind weißen Fahnen gleich ins Innere des Salons. Auf ihren durchscheinenden Schleppen strömte der verheißungsvolle Geruch nach Sommer und Aufbruch herein, ging mit den süßen Damenparfums, der staubtrockenen Teppichluft und den bitteren Kaffeedämpfen, die im Salon hingen, ein atemberaubendes Gemisch ein.
Langsam ließ Selma die Zeitschrift sinken, lehnte den Kopf in den Nacken und hing einem verführerischen Gedanken nach. Warme Sonnenstrahlen kitzelten sie auf der Nasenspitze. Sie kuschelte sich gegen die Lehne der Chaiselongue, bettete die ausgestreckten Beine auf das Fußteil des Möbels und wippte die Zehen in der Luft. Der einschläfernde Rausch des endlosen Augustvormittags umfing sie. Auf seinen Schwingen entfloh sie dem Damensalon des Bellevue mit seinem munteren Stilgemisch aus samtrot gepolsterten Barocksesseln, zierlichen Louis-Seize-Tischen und dem gediegenen Empire-Sekretär in eine nüchtern-modern eingerichtete Junggesellenwohnung am Savignyplatz in Charlottenburg. Geros Stimme drang so verführerisch an ihr Ohr, als säße er neben ihr auf dem Sofa. Ebenso wirklich fühlte sie die Haut seiner glattrasierten Wangen auf den ihren, meinte zu spüren, wie sich seine Hände an ihren Hals legten, mit den Fingerkuppen zärtlich die Linien der Adern nachfuhren. Ach, mochte dieser Augenblick zur Ewigkeit werden! Ein vernehmliches Räuspern schreckte sie auf. Hastig befreite sie sich aus den Fängen des Seidenschals, den der Wind ihr um die Brust geschlungen hatte. »Das wurde soeben für Sie abgegeben.«
Als sie das Antlitz hob, erspähte sie dicht vor ihrer Nase ein Serviertablett. Es dauerte eine Weile, bis sie gewahr wurde, was ihr auf der im Sonnenlicht funkelnden Silberplatte präsentiert wurde: eine langstielige rote Rose und ein Kuvert aus dickem, handgeschöpftem Büttenpapier. Auf Anhieb erkannte sie darauf die großzügig geschwungenen Schlingen von Geros Handschrift. Röte huschte über ihre Wangen. Undenkbar, diesen Brief in Gegenwart des Obers zu öffnen. Voller Unbehagen spürte sie Metas und Heddas Blicke, die jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgten. Selma ahnte, was Gero ihr schrieb, schließlich war das nicht der erste Brief, der sie nach ihrem verzehrenden Abschied voneinander letzte Woche erreichte. Für das Wochenende hatte er seinen Besuch in Baden-Baden angekündigt. Allein der Gedanke, dass er sich, ›um den Anstand zu wahren‹, wie er sich mit schelmischem Lächeln ausgedrückt hatte, im Maison Messmer einquartiert hatte, färbte ihre Wangen noch kräftiger ein. Gero und Anstand, das waren zwei Begriffe, die in ihr eine ganz besondere Spannung erzeugten.
Geziert griff sie nach der Rose, streichelte mit den zart duftenden Blättern an ihren Lippen entlang, bevor sie endlich auch den Brief in die Hand nahm. In einer lässigen Drehung legte sie ihn betont achtlos auf den Beistelltisch, bettete die Rose obenauf. Einstimmig seufzten Mutter und Großmutter. Die daraus herauszuhörende Enttäuschung war Selma eine innere Genugtuung. Als der Ober mit dem Tablett in der Hand vor ihr verharrte, fragte sie leicht gereizt: »Sonst noch etwas?«
»In der Auffahrt wartet ein …«, setzte er in seiner näselnden Stimme an, um sofort wieder mit hochgezogener Augenbraue innezuhalten. Grischa stürzte in den Salon, riss sich noch im Laufen den flachen Strohhut vom Kopf und rief ausgelassen: »Schwesterherz, du glaubst nicht, was vor dem Eingang vorgefahren ist!«
»Christian, bitte!«, versuchte Hedda den Achtzehnjährigen zur Räson zu bringen. Pikiert richtete sie sich halb aus dem roten Lesesessel auf, schüttelte vorwurfsvoll den frisch frisierten Kopf. Ihr goldblondes Haar war so kunstvoll aufgesteckt, dass Selma um jede Strähne bangte, die sich daraus löste.
»Übermut ist das Vorrecht der Jugend, mein Kind«, warf Meta ein. Selma musste gar nicht erst zu ihr hinüberspähen. Allein aus dem Klang der für eine Frau ungewöhnlich tiefen Stimme war das Schmunzeln herauszuhören, das die Worte auf Metas lebhaftem, von Falten eher interessant denn alt gezeichnetem Gesicht begleitete.
»Lass mich raten, Kleiner. Wie viele Versuche habe ich?« Huldvoll erhob sich Selma von dem roten Samtsofa, schlenderte dem Bruder entgegen, kostete dabei Mutter Heddas empörtes Luftschnappen genüsslich aus. Sicher klappte ihr bei Selmas Anblick gerade die Kinnlade herunter, während Meta anerkennend nickte. Genau darauf hatte Selma es angelegt, als sie nach dem gemeinsamen Frühstück im Wintergarten das biedere weiße Leinenkostüm mit dem einschnürenden Korsett gegen den knöchellangen Hosenrock und die locker fallende Tunikabluse im Paul-Poiret-Stil ausgetauscht hatte. Gero hatte ihr die Kombination geschenkt, nachdem sie die neuesten Zeichnungen des Pariser Modeschöpfers in der Dame so begeistert hatten. Der weich fließende Stoff in sattem Violett umschmeichelte ihre grazile Figur, das anschmiegsame Hüftmieder schenkte ihr grenzenlose Bewegungsfreiheit und verschwenderisch viel Luft zum Atmen. Die Absätze ihrer cremefarbenen Spangenschuhe versanken im weichen Teppichflor. Die Lautlosigkeit der Schritte erinnerte sie an ein Schweben auf Wolken. Schwungvoll schlang sie sich den farblich auf die Schuhe abgestimmten Seidenschal um den Hals. Einzig, dass die Mutter so lange gebraucht hatte, bis ihr die Provokation auffiel, trübte den Triumph ein wenig. Schließlich saßen sie schon seit gut einer halben Stunde im Damensalon zusammen.
»Wie viele Versuche brauchst du, Schwesterherz?« Grischa legte den Kopf schief, musterte sie unverhohlen. Ihr unkonventioneller Aufzug schien ihm zu gefallen. Der Ober hüstelte vernehmlich in die Faust, bis Grischa begriff und zur Seite trat, um ihn durch die doppelflügelige Tür hinauszulassen.
»Hab Erbarmen mit mir zartem Geschöpf, mein Held!« Übertrieben matt sank Selma an Grischas trotz frisch überstandenem Abitur noch immer erschreckend schmale Pennälerbrust.
»Welches Parfum rieche ich da?« Unter gespielter Empörung zuckte sie zurück und wedelte sich Luft zu. Liebevoll strichen die Fingerkuppen ihrer linken Hand über Grischas glatte Wange. Aufmerksam musterte sie das fein gezeichnete Gesicht, dem noch jede charakterliche Prägung fehlte.
»Vertrau dem Rat deiner großen Schwester: Für eine Dame ist der Duft zu schwer, für einen Herrn von Welt zu süß. Sollte deine Wahl auf einem väterlichen Rat beruhen, denk daran, unser lieber Herr Vater befindet sich in solchen Dingen leider nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Gero wird dir gern behilflich sein, ein weltmännischeres Rasierwasser auszuwählen. In wenigen Tagen trifft er hier ein, dann könnt ihr einen Bummel durch die Läden unternehmen.«
»Danke für das Angebot, aber ich komme bestens klar.« Entschieden schob Grischa ihre Hand fort, schleuderte die Kreissäge lässig auf einen Sessel und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Wie gedankenlos von mir! Mit dem Abitur in der Tasche bist du natürlich längst groß.« Belustigt musterte Selma ihn weiter. Sein Gebaren war ein einziges Nacheifern Geros. Das bartlose Kinn in die Luft gereckt, die blassen Lippen gespitzt sah er sie herausfordernd an. Ebenso wie die Geste war ihm der dunkle Anzug mindestens eine Nummer zu groß. Das feine englische Tuch schlotterte ihm um die schlaksigen Gliedmaßen, der Kragen des weißen Seidenhemds war eine Spur zu weit, und die Krawatte saß leicht schief. Rührung bemächtigte sich Selmas. Nur eine Frage der Zeit, bis der kleine Bruder diese Missgriffe hinter sich lassen und erwachsen sein würde. Schneller, als ihr lieb sein konnte, würde sie nicht nur der Körpergröße wegen zu ihm aufschauen.
»Erspare mir das anstrengende Raten«, bat sie. »Verrat mir bitte gleich, was in der Hotelauffahrt Spektakuläres vorgefahren ist. Eine Dampflok wird es kaum sein. Das hätten wir längst mitbekommen.«
»Mit einem Gefährt bist du nah dran.« Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust. »Mehr verrate ich nicht. Schließlich will ich deinem Liebsten nicht den Spaß verderben.«