Bernsteinerbe - Heidi Rehn - E-Book
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Bernsteinerbe E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Ein rettender Lichtschein in düsteren Zeiten: Der dramatische historische Roman »Bernsteinerbe« von Heidi Rehn jetzt als eBook bei dotbooks. Die stolze Handelsstadt Königsberg im Jahre 1662: Nach einer Kindheit im kaiserlichen Heerestross hat die couragierte Carlotta wie zuvor ihre Mutter Magdalena ihre Berufung als Wundärztin gefunden. Auch wenn in Preußen allerorten die Angst vor dem »Schwarzen Tod« grassiert, versorgt die Heilerin gemeinsam mit dem jungen Medicus Christoph Kepler aufopferungsvoll die Schwachen und Kranken – und knüpft dabei ein Band zu dem ebenso sensiblen wie anziehenden Arzt, dem sie sich nicht entziehen kann. Doch dann reißen sie die Schatten des Krieges auseinander und in den Wirren des Königsberger Aufstandes macht Carlotta eine erschütternde Begegnung, die ihr Schicksal – und das ihrer Familie – für immer verändern könnte … Hochspannend und bildgewaltig lässt Heidi Rehn das 17. Jahrhundert und ein Europa im Umbruch lebendig werden: »Perfekte Recherche und eine wunderbare Heldin. Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen«, urteilt Bestsellerautorin Iny Lorentz. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der opulente Historienroman »Bernsteinerbe« von Bestseller-Autorin Heidi Rehn, der krönende Abschluss ihrer farbenprächtigen historischen Familiensaga um die Wundärztin Magdalena, der unabhängig von den anderen Teilen gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 860

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Über dieses Buch:

Die stolze Handelsstadt Königsberg im Jahre 1662: Nach einer Kindheit im kaiserlichen Heerestross hat die couragierte Carlotta wie zuvor ihre Mutter Magdalena ihre Berufung als Wundärztin gefunden. Auch wenn in Preußen allerorten die Angst vor dem »Schwarzen Tod« grassiert, versorgt die Heilerin gemeinsam mit dem jungen Medicus Christoph Kepler aufopferungsvoll die Schwachen und Kranken – und knüpft dabei ein Band zu dem ebenso sensiblen wie anziehenden Arzt, dem sie sich nicht entziehen kann. Doch dann reißen sie die Schatten des Krieges auseinander und in den Wirren des Königsberger Aufstandes macht Carlotta eine erschütternde Begegnung, die ihr Schicksal – und das ihrer Familie – für immer verändern könnte …

Hochspannend und bildgewaltig lässt Heidi Rehn das 17. Jahrhundert und ein Europa im Umbruch lebendig werden: »Perfekte Recherche und eine wunderbare Heldin. Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen«, urteilt Bestsellerautorin Iny Lorentz.

Über die Autorin:

Heidi Rehn, geboren 1966 in Koblenz/Rhein, steht mit ihren mitreißenden historischen Romanen regelmäßig auf den deutschen Bestsellerlisten. Nach einem Studium der Germanistik und Geschichte arbeitete sie als Dozentin und als PR-Beraterin, bevor sie sich als Texterin, Journalistin und Autorin selbständig machte. 2014 erhielt sie den »Goldenen Homer« für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Für Interessierte bietet sie Romanspaziergänge durch die Münchner Innenstadt an, bei denen sich die realen Schauplätze und eindrucksvollen Hintergründe ihrer Romane hautnah miterleben lassen.

Die Website der Autorin: www.heidi-rehn.de

Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/HeidiRehnAutorin

Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/Heidi_Rehn

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin die historischen Krimis »Mord am Marienplatz«, »Tod im Englischen Garten« und »Die Tote am Fluss«; die zwei erstgenannten Bücher sind auch in dem Sammelband »Mord in München« erhältlich.

Außerdem erscheint bei dotbooks ihre große historische Saga um die Wundärztin Magdalena: »Die Wundärztin«, »Hexengold« und »Bernsteinerbe«. »Die Wundärztin« und »Bernsteinerbe« sind auch bei dotbooks und SAGA Egmont als Hörbuch erhältlich.

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eBook-Neuausgabe Juli 2023

Copyright © der Originalausgabe 2011 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Kathy SG und eines Gemäldes von Charles Leckert

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ys)

ISBN 978-3-98690-792-1

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Heidi Rehn

Bernsteinerbe

Historischer Roman

dotbooks.

Man muss ein Pfund Salz zusammen essen,

bis man einander kennt.

(Baltisches Sprichwort)

In Erinnerung an Eva Sponheimer,

geb. Grohnert (1917-2002)

PrologDie List

KÖNIGSBERG / PREUSSEN

Anfang September 1662

Auf Roths Worte folgte bestürztes Schweigen. Neugierig schweifte Carlottas Blick über die illustre Schar der Anwesenden. Der ungewöhnlichen Hitze zum Trotz hatten sich an diesem Nachmittag des ersten Dienstags im September nahezu alle Kneiphofer Bürger zur Versammlung im Junkergarten eingefunden: vom erfolgsverwöhnten Bernsteinhändler aus der Langgasse über den brummigen Zimmermann aus der Köttelgasse und den wild schwadronierenden Malzbrauer aus der Schempergasse bis hin zum durchgeistigten Gelehrten aus der Magistergasse. Die angespannte Lage der Stände hatte sie auf den von Mauern umgrenzten Platz unter den weit ausladenden Linden nahe des Alten Pregels geführt. In seltener Eintracht hielten sich die Herren in feingewebtem englischem Tuch dicht neben den Männern in groben Drillichröcken. Sogar die biederen Kaufmannswitwen mit den kostbaren Spitzenschnebben auf dem Kopf rückten an die drallen Handwerkerfrauen und derben Krämerweiber mit ihren schlichten weißen Hauben heran.

Bereits fünf Jahre schwelte der Zwist der Königsberger Stände mit ihrem Kurfürsten Friedrich Wilhelm, seit gut zwei Jahren schon tagte der Landtag im Schloss der benachbarten Altstadt. Nach dem gestrigen Treffen der Oberräte mit dem kurfürstlichen Statthalter Fürst Radziwill, den Altstädter und Löbenichter Bürgermeistern und dem Kanzler der ehrwürdigen Albertina schien endlich Bewegung in die Angelegenheit zu kommen – wenn auch nicht solcherart, wie die Kneiphofer sich das seit langem erhofften.

»Wie es aussieht, schwenken die Altstädter und Löbenichter also um. Es heißt, in wenigen Tagen steht Friedrich Wilhelm mit seinen Truppen vor der Stadt«, wiederholte Roth seine letzten Sätze. Umständlich wischte er sich den Schweiß von der hohen Stirn, wippte auf den Fußspitzen und räusperte sich. Bevor er weitersprechen konnte, schob sich der dicke Schimmelpfennig vor. Die siebzehnjährige Carlotta horchte auf. Allmählich wurde der Nachmittag interessant.

»Machen wir uns doch nichts vor«, hub der Druckereibesitzer an. »Auf gut Deutsch bedeutet das: Wir Kneiphofer sind völlig wehrlos. Sind erst die Kanonen auf unsere Mauern gerichtet, nutzt uns der Beistand des polnischen Königs Johann II. Kasimir rein gar nichts mehr, auch wenn wir ihn Anfang Juli in unserem Bundesbrief zu unserem Lehnsherrn erklärt haben. Denn er wird unseretwegen nicht mit den Säbeln rasseln, um den Kurfürsten zu erschrecken, da er streng genommen auch dessen oberster Lehnsherr ist und außerdem bekanntlich eine Krähe der anderen nicht die Augen aushackt. Und vergesst nicht: Setzt der Brandenburger erst einmal die Akzise sowie die Beschneidung unserer ständischen Mitspracherechte durch, hat auch der Pole etwas davon. Welcher Fürst wehrt sich schließlich gegen eine Steuer, um sich ein stehendes Heer zu finanzieren? Mit anderen Worten: Die Kacke dampft gehörig.«

»Genau!«

»Recht habt Ihr!«

»Was aber können wir tun?«

Kaum hatte Schimmelpfennig geendet, schwoll die Unruhe unter den Versammelten an. Die Ersten bückten sich bereits

nach Steinen oder brachen Zweige von den Bäumen. Soweit Carlotta das von ihrem Platz im schattigen Spielmannswinkel erkennen konnte, wirkte Schöppenmeister Roth müde und kraftlos. Entschlossen raffte die junge Wundärztin den Stoff ihres grünen Samtrocks, um sich durch die Menge nach vorn zu schieben.

»Nicht!« Blitzschnell fasste die Mutter sie am Arm und hielt sie zurück. Die schräg stehenden, smaragdgrünen Augen der zierlichen Kaufmannswitwe funkelten aufgebracht. »Dir steht es nicht an, dich in dieser Runde zu Wort zu melden. Nicht allein dein jugendliches Alter spricht dagegen. Wir leben erst seit vier Jahren hier am Pregel. Es ist nicht unsere Angelegenheit, wenn die Kneiphofer Stände seit Jahren mit dem Kurfürsten streiten. Davon abgesehen bin ich diejenige von uns beiden, die dem Kontor unserer Familie nach dem Tod deines Vaters vorsteht. Ich habe das Stimmrecht, nicht du. Oder interessiert dich der Handel jetzt doch mehr als die Wundarztkunst? «

»Wenn uns das nichts angeht, frage ich mich, wozu wir überhaupt hergekommen sind.« Verärgert entriss Carlotta sich ihren Händen und machte einen Schritt nach vorn.

»Ihr, verehrtes Fräulein Grohnert?« Überrascht sah der weißhaarige Schöppenmeister von seinem Podest zu ihr hinunter.

»Gebt mir einen kurzen Moment«, bat sie. »Ich habe einen Vorschlag, wie wir uns die Kurfürstlichen vom Hals schaffen können.«

»So?« Ungläubig musterte Roth sie. Ihr Herz pochte. Sie empfand größten Respekt vor dem tapferen Mann, der mit seiner geheimen Reise nach Warschau sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Friedrich Wilhelm bezichtigte ihn seither des

Hochverrats. Dennoch kämpfte er weiter für die Rechte der Stände und gegen die dreisten Ansprüche des Brandenburgers.

Haltsuchend umklammerte Carlotta den Bernstein an der Lederschnur um ihren Hals. Dank ihrer Kindheit im kaiserlichen Heerestross und der Erlebnisse während des Nordischen Krieges wusste sie die tapfere Aufrichtigkeit solcher Männer zu schätzen und wollte dem Schöppenmeister unbedingt zur Seite stehen.

»Bitte«, sagte er und half ihr auf die Bank.

Kaum stand die schmächtige Rotblonde neben dem großgewachsenen Schöppenmeister, wurde es wieder still unter den Linden. Lediglich das Schnattern der Enten am nahen Flussufer und das muntere Plätschern des Wassers im steinernen Bassin waren zu hören. Als Carlotta der gebannten Aufmerksamkeit der versammelten Bürger gewahr wurde, musste sie schlucken. Etwas hastig und in zu schrillem Ton hub sie an: »Seit Tagen werde ich als Wundärztin ungewöhnlich häufig zu Schwerkranken gerufen. Doch ...«

Weiter kam sie nicht.

» Schwerkranke? «

»Heißt das, die Pest ist ausgebrochen?«

»Warum sagt uns das niemand?«

Carlotta erschrak. Das hatte sie nicht gewollt. Hilflos schaute sie zu Roth. »Ruhe!«, rief der Schöppenmeister in den Lärm hinein. Sofort wurde es leiser. »Niemand hat etwas von der Pest gesagt. Lasst sie bitte erst ausreden.«

Ermutigend klopfte er ihr auf die Schulter. Dankbar nickte sie ihm zu und versuchte es ein zweites Mal: »Es ist wohl eher die unerträgliche Hitze denn die Pest, die unsere Mitbürger derzeit dahinrafft wie die Fliegen.« Das anschwellende Gemurmel signalisierte Erleichterung. Eine beschwichtigende Geste seitens Roths genügte, um für Ruhe zu sorgen. »Aber warum sollten wir die Menschen draußen vor den Toren der Stadt nicht in dem Glauben belassen, bei uns grassiere die Pest?«

Empörung wurde laut.

»Warum das?«

»Ohne Not soll man nicht lügen.«

»Wenn wir das tun, will niemand mehr unsere Waren kaufen.«

»Das bringt uns nur Unheil.«

»Keine Sorge«, rief Carlotta in den Lärm hinein. »Es wird nicht von langer Dauer sein. Unsere Notlage rechtfertigt diese Lüge.«

»Ihr seid viel zu jung, um das abschätzen zu können«, erklangen von neuem Widerworte. Auch dieses Mal genügte es, dass Roth die Hand hob, um Ruhe einkehren zu lassen.

»Bedenkt, was passiert, wenn es heißt, bei uns grassiere die Pest.« Carlotta wagte ein scheues Lächeln. »Glaubt ihr, ein einziger von Friedrich Wilhelms Söldnern marschiert noch freiwillig in unsere Stadt? Vom Kurfürsten selbst ganz zu schweigen.«

Damit hatte sie den Nerv getroffen. Hämisches Gelächter erklang.

»Der wird als Erster weglaufen.«

»Ein rechter Hasenfuß ist er, das haben wir doch schon immer gewusst.«

»Wie aber soll das gehen?«, übertönte Schimmelpfennig die anderen. »Das Gerücht allein wird nicht genügen. Der Kurfürst ist nicht dumm. Gleich wird er begreifen, was dahintersteckt.«

»Deshalb sollten wir gut sichtbar Särge aus der Stadt hinaustragen.« Carlotta staunte selbst, wie ruhig ihr das von den Lippen kam. »Natürlich brauchen wir keine wirklichen Toten, leere Särge genügen für diesen Zweck. Gleich morgen früh schaffen wir sie unter großem Aufwand aus der Stadt. Dank der Pestmasken und der bodenlangen Umhänge machen die Träger deutlich, welcher Art ihre Last ist. Auch eine Handvoll Fackelträger und ein paar Klageweiber sollten nicht fehlen. Am besten ziehen sie durch das Brandenburger Tor in der Haberbergschen Vorstadt hinaus. Gewiss hat der Kurfürst in der Nähe Späher postiert. Sie werden nichts Eiligeres zu tun haben, als ihren Truppen von dem Ausbruch der Pest zu berichten. Jede Wette, dass binnen Stunden zum Rückzug geblasen wird.«

Eisiges Schweigen breitete sich im Junkergarten aus. Carlotta wurde flau. Bang wanderte ihr Blick von einem zum anderen. Der glatzköpfige Schimmelpfennig studierte angestrengt seine Stiefelspitzen, der alte Grünheide lächelte wohlwollend, aber stumm aus dem wettergegerbten Gesicht. Neben ihm schnaubte der stämmige Farenheid entrüstet auf. Der rotbärtige Gellert hielt sich verlegen dicht auf der anderen Seite. Emsig polierte Kaufmann Boye seine runden Brillengläser. Das wenigstens ließ Carlotta kurz aufatmen. Sie wusste, es war seine Art, Unterstützung zu signalisieren. Ebenso konnte sie sich auf den alten Martenn Gerke verlassen. Nicht weit von den vieren saß er unter der dicksten der alten Linden auf einer Bank. Im milden Licht der Augustsonne wirkten die Schluppen an seiner Rheingrafenhose noch bunter als sonst, auch Rock und Kragen strahlten in auffälligem Rot. Die farbenfrohe Kleidung konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, wie ausgezehrt und müde er war. Dennoch rang er sich ein scheues Lächeln ab. Apotheker Heydrich deutete das als Zustimmung

und begann, laut Beifall zu klatschen. Damit schien der Bann gebrochen. Nach und nach hoben auch die anderen Räte die Hände. Die Kaufleute und Handwerker taten es ihnen endlich nach. Bald erklangen die ersten Bravorufe.

»So machen wir es!«

»Auf, Zimmermann, holt uns die Särge.«

»Wer stellt sich als Träger zur Verfügung?«

Vorsichtig spähte Carlotta zu ihrer Mutter. Die hatte sich ganz in den Spielmannswinkel zurückgezogen. Doch als selbst die griesgrämige Kaufmannswitwe Ellwart Jubelrufe anstimmte, winkte sie Carlotta stolz zu.

»Verehrtes Fräulein Grohnert«, verbeugte sich Roth anerkennend, »Euer Vorschlag stößt auf breite Zustimmung. Ich bin stolz, Euch zu den Töchtern unserer Stadt zu zählen. Euer Denken beweist nicht nur den unerschrockenen Mut, sondern zweifelsohne auch den Witz, der uns Königsberger Bürgern von jeher zu eigen ist. Zwar weilt Ihr erst seit wenigen Jahren bei uns am Pregel, dennoch überrascht mich das nicht. Immerhin gehen Eure Wurzeln auf alteingesessene Kaufmannsgeschlechter des Kneiphofs zurück.« Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu.

»Danke.« Carlotta knickste brav. »Ohne diese Wurzeln wäre ich wohl kaum auf die Idee verfallen. Wollen wir nur hoffen, dass uns die List auch hilft.«

»Wie könnt Ihr daran zweifeln?«, meldete sich Schimmelpfennig wieder zu Wort. »So kühn, wie der Plan ist, und so gut er zu uns Kneiphofern passt, so töricht hat sich bislang doch auch der Kurfürst stets erwiesen.«

»Wollen wir es hoffen. Wenn es nämlich tatsächlich zum Schießen kommt, werden wir Kneiphofer uns am Ende rasch als die wahren Tölpel erweisen.«

Erster TeilDer Aufstand

KÖNIGSBERG

Herbst 1662

Kapitel 1

Carlotta kicherte. Christoph Keplers blumige Art zu erzählen amüsierte sie. »Du übertreibst mal wieder maßlos! Nur tumbe Ochsen und gackernde Hähne um dich her, das ist doch gar nicht zum Aushalten!« Übermütig warf sie den Kopf in den Nacken. Natürlich wusste sie, wie bezaubernd ihre rotblonden Locken im Sonnenlicht leuchteten. Ein Seitenblick auf den jungen Medicus genügte, sich der gewünschten Wirkung zu versichern. »Unter all den Professoren und Studenten muss es außer dir doch mindestens noch einen weiteren vernünftigen Kopf gegeben haben«, lockte sie weiter. »Immerhin hat dich dein Vater an die besten Universitäten Europas geschickt.«

»Was denkst du, Teuerste?« Christoph tat empört, nahm den schwarzen Spitzhut vom Kopf und neigte den stämmigen Oberkörper, um einen eleganten Kratzfuß anzudeuten. Dabei schrappte sein rechter Schnallenschuh über den trockenen Staub auf dem Altstädter Kirchplatz. Das blankpolierte Schwarz des Leders verwandelte sich in unansehnliches Grau. »Nichts liegt mir ferner, als dich über die wahren Zustände an diesen Orten höchster Weisheit in die Irre zu führen.« Abrupt richtete er das aschblonde Haupt auf und zwinkerte ihr aus den grauen Augen schelmisch zu. »Schließlich erinnere ich mich nur zu gut, wie sehr du seit jeher darauf brennst, das wahre Studentenleben kennenzulernen. Auch wenn wir uns lange nicht gesehen haben, wird sich daran wenig geändert haben.«

Neckend versetzte er ihr einen sanften Nasenstüber. Sie stemmte mit gespielter Empörung die Hände in die Hüften. »Dafür hat sich bei dir wohl Entscheidendes geändert. Soweit ich mich erinnere, sind wir uns gestern erst in Heydrichs Apotheke begegnet. Wenn dein Gedächtnis dir inzwischen zu schaffen macht, weiß ich hervorragende Tropfen gegen diese Art von Beschwerden.«

»Da handelt es sich gewiss um eine Rezeptur deiner berühmten Frau Mama, der allseits geschätzten Magdalena Grohnert.« Von neuem zwinkerte er belustigt. »Keine Sorge, meine liebe Carlotta! Natürlich ist mir nicht entfallen, dich gestern erst getroffen zu haben. Wie könnte ich eine Begegnung mit dir je vergessen? Trotzdem leide ich darunter, deine Gegenwart viel zu lang entbehrt zu haben. Schließlich bin ich zwei Jahre auf Reisen gewesen. Du ahnst nicht, wie schmerzlich ich dich währenddessen vermisst habe.«

»Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich dich beneide.« Sie wurde ernst. »Am liebsten würde ich gleich heute noch mein Kleid gegen Hosen eintauschen und ebenso wie du die Universitäten in aller Herren Länder besuchen. Wie herrlich muss es sein, den Vorträgen der Gelehrten zu lauschen.«

»Das mit den Hosen möchte ich mir gar nicht vorstellen.« Christoph schnitt eine Grimasse. »Schließlich gefällst du mir als weibliches Wesen weitaus besser denn als übereifriger Student.« Leicht neigte er den Kopf, um ihr tief in die blauen Augen zu schauen. »Ich hoffe, es gelingt mir, dich rasch von dieser unsinnigen Idee abzubringen, Hosen anzuziehen und wie ein Mann studieren zu wollen. Im Übrigen ist das wohl nicht die einzige übermütige Idee, die du in den letzten Wochen gehabt hast. Höchste Zeit, alles daranzusetzen, den Unfug schnellstens aus deinem hübschen Kopf zu vertreiben.«

»Was willst du damit sagen?« Carlotta wusste selbst nicht, warum sie hinter der Anspielung einen Tadel befürchtete. Tatsächlich war die Finte mit den leeren Särgen geglückt. Friedrich Wilhelms Truppen hatten vor den Toren des Kneiphofs abgedreht, kaum dass sie den vermeintlichen Trauerzug erspäht hatten. Mehr als zwei Wochen waren seither vergangen, und noch immer waren sie nicht wieder aufgetaucht. Beunruhigend war allerdings, dass der aus der Altstadt stammende Christoph wusste, wer auf diese List verfallen war. Jemand musste das Geheimnis aus dem Kneiphof hinausgetragen haben.

»Keine Sorge«, Christoph beugte sich vor, um einen Kuss auf ihre Hand zu hauchen. »Als Sohn des kurfürstlichen Leibarztes werde ich den Teufel tun und mit gespitzten Ohren durch den aufrührerischen Kneiphof laufen. Meine Angst, dort mit der üblen Pest in Berührung zu kommen oder gar gegen unheimliche leere Särge zu stoßen, ist viel zu groß.« Ein weiteres Mal zwinkerte er. »Schließlich wäre es töricht von mir, mich um solche Dinge zu scheren, wo sich mir gerade eine viel aufregendere Möglichkeit bietet, den Nachmittag zu verbringen. Lass uns ein wenig miteinander durch die Straßen spazieren.«

Seine grauen Augen hatten plötzlich einen Glanz, der Carlottas Herz zum Rasen brachte. Verschämt äugte sie zur Uhr am Kirchturm. Kurz vor zwei.

»Du weißt, dass das nicht geht.« Bedauernd runzelte sie die Stirn. »Bislang sind zwar erst wenige Leute unterwegs, doch das ändert sich bald. Das schöne Wetter wird die Königsberger nach draußen locken. Und du weißt, wie sie sich die Mäuler wetzen, wenn sie dann ausgerechnet uns beide zusammen sehen.« Ihre Finger spielten mit dem Bernstein an der Lederschnur um ihren Hals.

»Keine Sorge«, suchte Christoph sie zu beruhigen. »Im Moment frönen die meisten noch der wohlverdienten Mittagsruhe. Lass uns einfach den schönen Tag genießen.« Munter schwenkte er den spitzen Hut, breitete die Arme zur Seite und streckte das blasse Studierzimmergesicht der Sonne entgegen. »Wir sollten uns sputen, Teuerste. Früher, als uns lieb ist, werden wir hinter den Ofen hocken und keinen Fuß mehr freiwillig vor die Tür setzen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust, zog wie ein Storch ein Bein hoch und mokierte heftiges Frösteln. »Ganz zu schweigen davon, dass wir kaum noch einmal Gelegenheit finden werden, ungestört zusammen zu sein.«

»Du bist wirklich noch der alte Kindskopf wie ehedem«, überging sie die Anspielung. »Nicht einmal die zwei Jahre in der Fremde haben dich zur Vernunft gebracht.« Zwar schüttelte sie entschlossen den Kopf, gab ihm insgeheim aber recht. Die Sonne verwöhnte die Dreistädtestadt am Pregel an diesem Septembersonntag wahrscheinlich zum letzten Mal in diesem Jahr. Das galt es, in vollen Zügen auszukosten. »Also gut, lass uns ein Stück miteinander gehen und erzähl mir genauer, warum es dir so ganz und gar nicht behagt hat, in den hehren Himmel der Wissenden emporzusteigen.«

Ein eigenartiges Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Christoph hatte ihr schon vor seiner Studienreise gut gefallen. Nun aber hatte er etwas an sich, das einen regelrechten Sog auf sie ausübte. Unauffällig musterte sie ihn von der Seite. Sein Äußeres hatte sich zu seinem Vorteil verändert. Aus dem ehedem etwas farblosen Burschen war ein eleganter junger Herr geworden. Die modisch geschnittene Kleidung rückte die breiten Schultern und die sehnige Gestalt ins rechte Licht. Die weite Rheingrafenhose und der figurbetonte Justaucorps aus dunkelgrünem Samt waren von einem Schnitt, wie ihn die meisten Königsberger erst in einigen Jahren tragen würden. Die muskulösen Waden wurden durch die hellen Strümpfe trefflich betont. Unter dem hohen Spitzhut schimmerte das auf Kinnlänge gestutzte Haar golden in der Sonne und umspielte schmeichlerisch das breite Gesicht. Ein spitzbübisches Grinsen zuckte um die fleischigen Lippen. Am Kinn war die helle Kerbe zu erkennen, die er sich einst bei einem Sturz zugezogen hatte. Die Versuchung war groß, mit den Fingerspitzen die feinen Konturen seines Antlitzes nachzufahren. Schutzsuchend umklammerte Carlotta den Bernstein. Zugleich reckte sie sich ein wenig, um Christoph wenigstens bis zu den Schultern zu reichen.

Er fasste nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss darauf. Sein Atem kitzelte auf der Haut. Jäh schoss ihr eine Erinnerung aus vergangenen Zeiten durch den Kopf. Ein anderer Bursche hatte ihr einmal ähnlich angenehm die Sinne verwirrt. Erschrocken schloss sie die Lider. An das Vergangene wollte sie nicht mehr denken. Das war für immer vorbei. Sie schlug die Augen auf und lächelte. »Also gut! Allzu viel Zeit bleibt dir nicht, von deinen zwei Jahren in der Fremde zu erzählen.«

»Zwei Jahre, das klingt lächerlich kurz. Wenn ich dich anschaue, scheint es mir eine Ewigkeit zu sein.« Sein durchdringender Blick brachte ihre Wangen abermals zum Glühen. »Schließlich kann ich mir anders nicht erklären, dich zu einer so betörend schönen jungen Frau herangereift zu sehen.«

»Du übertreibst schon wieder, mein Bester.« Beherzt lief sie los. »Wir waren eben bei den Professoren. Dein Urteil fiel nicht sonderlich schmeichelhaft aus. Wo warst du überall: Krakau, Breslau, Leipzig, Heidelberg und Padua? Oder habe ich eine Stadt vergessen?«

»Bologna«, ergänzte er. »Die Gestalt des ehrwürdigen Professors dort musst du dir übrigens etwa birnenförmig vorstellen. Oder vielleicht doch eher wie ein Flaschenkürbis?« Über seinem Nachdenken blieben sie abermals stehen. Mit den schlanken Händen formte er eine bauchige Figur in der Luft. Nach kurzem Zögern wiederholte er die der Birne zugedachte Rundung. Carlotta errötete ob der Anzüglichkeit. »Wie auch immer«, erneut hielt er inne, verwarf die Figur durch ein rasches Wedeln mit den Händen und gluckste vergnügt. »Gewiss reicht deine Vorstellungskraft, um zu ahnen, was ich meine.«

Der Blick aus seinen grauen Augen ruhte auf ihrem Gesicht, glitt an ihrer zierlichen Gestalt entlang. Unwillkürlich schob sie sich in Positur. Das schlichte hellrote Samtkleid betonte ihre schmale Gestalt und passte bestens zu ihren rotblonden Locken, die sie wie meist offen trug. Zufrieden zwirbelte sie eines der bunten Bänder um den Finger und ließ Christoph gewähren, bis er ihr geradewegs wieder in die blauen Augen blickte. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Sie genoss es, bewies es doch, wie sehr ihre Person ihn fesselte, trotz der sieben Jahre, die sie beide trennten.

»Ein etwas dicklicher Mensch ist der Doktor also?«, erinnerte sie ihn sanft an das Thema ihres Gesprächs.

»Ja, reichlich dick ist der Doktor aus Bologna.« Christoph räusperte sich und fand zu seiner Erzählung zurück. »Schließlich läuft das Ganze in noch dickeren Beinen aus. Die erinnern übrigens an einen Elefanten. Ja, der Gute hat etwas von diesem exotischen Tier. Ähnlich schwerfällig bewegt er sich vorwärts, ungefähr so.« Er schwankte mit den Hüften hin und her. Wie zufällig stieß er dabei mehrmals gegen Carlotta. Sie erbebte, weniger aus Schreck denn vor Wonne. So dicht neben ihm erahnte sie das herbe Duftgemisch von Tabak, Kaffee und Lavendel, das er verströmte.

Viel zu schnell erreichten sie den Kneiphofer Domplatz mit den hoch aufragenden Giebeln und den prächtig herausgeputzten Häusern. Carlottas Blick schweifte über den trutzigen Dom mit seinen beiden ungleichen Türmen hinüber zu den Fassaden, die den Platz vor dem imposanten Gotteshaus umgaben. Grell blinkten die kupfernen Wetterfahnen auf den Giebeln im nachmittäglichen Sonnenlicht. Zwei Amseln besetzten die Waagschalen einer Justitia und stimmten von den Aussichtspunkten ihre Weisen an. Wasserblau überstrahlte der Himmel die kehligen Sänger im Hintergrund. In der Ferne schäumten weiße Wolkenberge.

»Es wird Zeit für mich. Von hier aus gehe ich besser allein. Nicht, dass meine Mutter uns beide ...«

»... zusammen sieht«, ergänzte Christoph mit einem wissenden Lächeln, um sogleich spielerisch tadelnd den Zeigefinger zu erheben. »Was sagt man dazu, dass die ehrbare Tochter der noch ehrbareren Magdalena Grohnert, geborene Singeknecht, auf offener Straße mit dem Tunichtgut von Sohn des Medicus Kepler tändelt?«

»An dir ist ein echter Gaukler verlorengegangen. Du solltest auf Jahrmärkten auftreten.«

»Narr auf dem Jahrmarkt – das wäre vielleicht kein schlechter Weg, mein Leben ungestört mit dir zu verbringen.« Seine Augen blitzten auf. »Schließlich bieten so manche Wundärzte ihre Kunst als reisende Tandler an. Warum nicht? Komm, noch heute schließen wir beide uns einer der Truppen draußen auf dem Sackheim an. Fortan kann es uns gleichgültig sein, ob mein Vater über die Bernsteinessenz deiner Mutter spottet oder deine Mutter meinem Vater verbissene Stubengelehrsamkeit vorwirft.« Geschickt schleuderte er den Spitzhut in die Luft, vollführte eine übermütige Drehung auf einem Bein und fing ihn mit einer tiefen Verbeugung wieder auf. »Überzeugt?«

»Das klingt verlockend.« Sie suchte seinen Blick. »Mich begeistert vor allem die Aussicht, sommers wie winters im zugigen Planwagen zu hocken und nicht zu wissen, was uns am nächsten Tag erwartet, was wir in die Suppentöpfe kriegen, wenn wir überhaupt in einer Stadt geduldet werden und nicht wie räudige Hunde mit Knüppeln und Stöcken davongejagt werden.«

»Zugegeben: Sonderlich durchdacht ist die Idee noch nicht. Vielleicht schlafen wir ein oder zwei Nächte darüber und entscheiden dann, wann und wie wir uns miteinander aus dem Staub machen.« Sein scherzhafter Ton konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie ernst er es im Grunde meinte. Ihr Herz raste. Mit einem Burschen durchzubrennen, das hatte sie sich vor vier Jahren, kurz nach ihrer Ankunft in Königsberg, schon einmal gewünscht. Dieses Mal jedoch hatte es einen ganz anderen Reiz. Kaum wagte sie zu atmen, um den Zauber des Gedankens nicht zu zerstören.

Christoph schien ähnlich zu empfinden. »Schließlich vergeht die Zeit mit dir wie im Fluge, meine Liebste. Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als öfter mit dir zusammen zu sein. Dafür muss sich doch ein Weg finden lassen, auch jenseits der Gaukler.«

»Dein Vater wird sich kaum freuen, das zu hören«, widersprach sie leise. Schon kitzelte sein Atem ihre Nasenspitze, sie nahm wahr, wie sich seine Lippen öffneten. Für den Bruchteil eines Augenblicks meinte sie, jemand anderen vor sich zu sehen. Erschreckt zuckte sie zurück.

Von der Uhr am Dom schlug es drei. Carlotta seufzte. Seit einer halben Stunde sollte sie bei der Mutter sein. Die Straßen und Plätze rund um den Dom und die ehrwürdige Albertina füllten sich. Die Königsberger waren aus der Mittagsruhe erwacht. Lärmend zog ein Haufen Studenten an ihnen vorbei. Sobald sie ihrer ansichtig wurden, feixten sie und flüsterten freche Bemerkungen. Carlotta wandte sich zu Christoph und lächelte. »Vielleicht ist es doch besser, wenn du mir noch bis zur Hofgasse Geleitschutz gewährst. Wer weiß, aus welchen Ecken die Studenten kriechen, um in die Krüge vor der Stadt zu ziehen?«

»Ja, du hast recht«, stimmte Christoph schmunzelnd zu und bot ihr galant den Arm. Sie wagte jedoch nicht, sich unterzuhaken, sondern spazierte lieber einen Schritt neben dem gutaussehenden jungen Medicus über den Domplatz zur Schönbergschen Gasse gen Westen.

»Wo waren wir vorhin stehengeblieben?« Christoph gab sich wieder gänzlich unbekümmert. »Also, das tölpelhafte Auftreten des Bologneser Doktors hat so manchen darüber hinweggetäuscht, wie viel Wissen trotz allem in dem winzigen Kopfüber dem riesigen Elefantenleib Platz hatte. Schließlich kannte er die Schriften William Harveys bestens und konnte dessen Lehren über den menschlichen Körper so genau erklären, als habe er bei ihm persönlich in London studiert. Hast du dich schon einmal damit befasst, welche gewaltige Aufgabe das menschliche Herz Tag für Tag zu leisten hat?« Wieder blitzte der Schalk in seinen Augen auf. »Schließlich jonglierst du im Kaufmannskontor deiner Mutter so viel mit Zahlen, dass es dir ein Leichtes sein dürfte, die Leistung des Herzens nach der Theorie von Harvey zu berechnen.«

»Willst du allen Ernstes behaupten, die studierte Medizin ist letztlich nichts anderes als gesunde Rechenkunst, ähnlich wie das Führen der Handelsbücher?«

»Ich habe gleich gewusst, wie sehr dich diese Vorstellung interessieren wird«, gab Christoph zurück. »Mich stört daran allerdings, wie berechenbar das menschliche Herz ist. Schließlich beraubt uns das liebgewordener Vorstellungen.«

Abermals führte er ihre Hand zu einem flüchtigen Kuss an die Lippen. Scheu wandte sie den Blick beiseite. Viel zu schnell näherten sie sich der Langgasse. Immer mehr Menschen waren auf den Straßen unterwegs. Das unverhoffte Sommerwetter an den letzten Septembertagen verlieh den Königsbergern eine besondere Anmut. Nirgendwo sonst spazierte man mit einer ähnlichen Selbstverständlichkeit derart wohlgemut in den besten Roben über die Straßen.

»Sieh an, der studierte Medicus aus der Altstadt und die kleine Wundärztin aus dem Kneiphof!« Die riesige Hand des jungen Apothekers Caspar Pantzer aus dem Löbenicht landete auf Christophs Schultern. »Oh, verzeiht, ich wollte euch nicht stören. Schon sehe ich euch an den Nasenspitzen an, wie eifrig ihr die besten Rezepte gegen Gallenleiden austauscht. Vergesst auch die anderen Organe nicht. Insbesondere das Herz sollte eurer sorgfältigen Betrachtung würdig sein.« Er zwinkerte Carlotta frech zu, versetzte Christoph nochmals einen kräftigen Hieb auf den Rücken und schlenderte in die Goldene Gasse davon. Seine leicht gekrümmte Gestalt mit dem spitzen Hut und dem wallenden Umhang verschwand rasch im Gegenlicht.

»Du darfst nicht denken, ich wollte dich ...«, setzte Christoph verlegen an. Die Röte seiner sonst so hellen Wangen rührte sie. Er wirkte wie ein törichter Knabe, den man auf frischer Tat ertappt hatte, und nicht wie der studierte Physicus, der ihr viel beizubringen wusste.

»Schon gut.« Beschwichtigend legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Allmählich begegnen uns zu viele bekannte Gesichter, findest du nicht? Da wird es immer schwieriger, ungestört zu reden. Lass uns die Unterhaltung bei anderer Gelegenheit fortsetzen.«

»Wie du meinst«, stimmte er zu ihrer Enttäuschung hastig zu, holte dann aber noch einmal tief Luft, fasste sie an den Händen und fügte augenzwinkernd hinzu: »Dazu sollten wir uns allerdings einen besser geeigneten Ort suchen. Schließlich brauchen wir Ruhe, um unser Wissen über die Heilkunst auszutauschen.«

»Solange du mir nicht doch die Gauklerwagen vor der Stadt vorschlägst, bin ich gern damit einverstanden.« 

Kapitel 2

Wie leicht Männer zu lenken waren! Zufrieden über ihren kleinen Sieg, lächelte Lina, stemmte die Arme in die rundlichen Hüften und pustete sich eine Strähne des strohblonden Haars aus dem Gesicht. Wie zufällig schob sie das Becken noch ein wenig weiter heraus. Die schwungvolle Bewegung brachte den weiten Rock aus dunkelroter Wolle zum Schwingen. Übermütig streckte sie die Fußspitzen darunter hervor und gewährte so einen Blick auf die schmalen Fesseln.

Auch auf diese beiläufige Geste reagierte der Wirt des Grünen Baums mit einem genüsslichen Grunzen. Lina spitzte den Mund und warf das offene Haar nach hinten. Es war kaum zu glauben: Vier Jahre waren seit ihrem kopflosen Durchbrennen mit Fritz vergangen, trotzdem ließ sich der rotgesichtige Wirt mit einer Leichtigkeit von ihr umgarnen, als wäre sie nie fort gewesen. Schmachtete sie ihn aus ihren weit aufgerissenen grünblauen Augen an und presste den Busen ein wenig fester gegen seinen feisten Wanst, geriet er gar an den Rand der Beherrschung. Erregt keuchte er, leckte sich die Lippen und begann, am ganzen Leib zu zittern. Bald zeichneten sich dunkle Flecken auf seinem Hemd ab. Deutlich roch sie den stechenden Schweiß. Auch das war genau wie damals, wenn er nachts in ihre Kammer geschlichen war. Langsam fuhr sie mit den Fingern am Ausschnitt ihres Mieders entlang und sonnte sich in der Gier, die in seinen Augen flackerte. Schließlich lenkte sie ihn geschickt zur Ofenbank im hinteren Teil der leeren Gaststube.

Im Stillen pries sie sich glücklich, dass nicht nur der Wirt, sondern auch der Tagesablauf des angesehenen Kneiphofer Gasthauses in der Langgasse über all die Jahre unverändert geblieben war. Wie zu den Zeiten, als sie noch als brave Magd die Tische in der Gaststube poliert und die grapschenden Finger des Wirts unter ihrem Rock erduldet hatte, verschwanden die Kneiphofer Kaufleute gleich nach dem zweiten Frühstück um zehn zur nahe gelegenen Börse an der Grünen Brücke. Die gestrenge Wirtin nutzte die knappe Stunde bis zum Auftauchen der ersten Mittagsgäste, um auf dem Markt frisches Gemüse zu erstehen oder gar bis zum Unteren Fischmarkt zu laufen. Vor allem an einem Montag waren umfangreiche Einkäufe nötig.

Sacht versetzte Lina dem dicken Wirt einen Schubs. Er plumpste auf die Bank, schnaufte laut und hielt die Augen starr auf ihren drallen Busen gerichtet. Mehrmals schluckte er.

Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Sie angelte sich den Zipfel ihres Rocks und tupfte sie trocken.

»Ah!«, stöhnte er auf.

»Aber, aber!« Sie tadelte ihn mit erhobenem Zeigefinger, tippte dann aber keck mit der Fingerspitze auf seine vom vielen Branntwein blaurot geäderte Knollennase. »Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich mich zu Euch setze.« Schon rutschte sie ihm auf den Schoß und balancierte mit den Oberschenkeln auf seinen Beinen ihr Gleichgewicht aus. Deutlich spürte sie, wie sich seine Hose an der entscheidenden Stelle spannte. Sie legte ihm den Arm um die Schultern und schmiegte sich gegen seine breite Brust. »Das ist doch fast wie in alten Zeiten, was?«, säuselte sie. Dass sein Puls spürbar schneller wurde, nahm sie als Aufmunterung, ihm noch näher zu Leibe zu rücken.

»Lina, mein Mädchen«, japste er, »du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.« Er schloss die Augen und lehnte den kahlen Schädel zurück in den Nacken. Seine riesige Pranke landete auf ihrer Brust, die wurstigen Finger begannen, ihren Busen zu kneten, immer fester und fordernder, bis sie vor Schmerz aufschrie.

»Nicht so grob!« Energisch drückte sie seine Hand weg. Als er erschreckt zurückzuckte, rang sie sich ein Lächeln ab. »Sonst ist es schneller vorbei, als Euch lieb ist.« Um ihn wieder für sich zu gewinnen, rieb sie sich an ihm. Einen kurzen Moment lang öffnete er die Augen. Sie kraulte ihm das spärliche Haar im Nacken und küsste ihn auf die Nasenspitze. Er schnurrte wie ein Kater und schloss von neuem die Lider.

»So ist es recht, wir haben viel Zeit. Jetzt bin ich wieder ganz bei Euch«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Wenn Ihr wollt, bleibt das auch so. Legt einfach ein gutes Wort bei Eurer Frau ein, und Ihr habt mich nachts in der Kammer ganz für Euch allein, genau wie früher.«

»Was willst du von meiner Frau?« Jäh riss er die Augen auf. Deutlich stand ihm das schlechte Gewissen im Gesicht. Als Lina die Hand hob, um ihm beruhigend über die stoppelige Wange zu streicheln, schob er sie brüsk weg. Schon ärgerte sie sich über ihre Unachtsamkeit, zu früh seine Frau erwähnt zu haben. Doch nun war es zu spät, der Fehler begangen. Es sei denn, tröstete sie sich mit einem tiefen Blick in seine nach wie vor unstet flackernden Augen, es gelang ihr, ihn rasch wieder von dem bösen Geist zu befreien.

Sie warf das Haar zurück, griff nach seiner Hand und presste sie fest auf die Stelle ihrer Brust, wo sie ihr Herz vermutete. Wie zufällig verrutschte dabei der Stoff ihres Mieders, und er bekam die bloße Haut zu fassen. »Ach, wenn Ihr nur wüsstet, wie übel mir in den letzten Jahren mitgespielt wurde«, seufzte sie. »Nichts habe ich mir inniger gewünscht, als wieder unter Eurem Schutz zu stehen.« Unter Mühen presste sie sich eine Träne heraus, wischte sie schniefend beiseite. Dabei gab sie seine Hand frei. Mit Genugtuung nahm sie wahr, wie seine Finger nach unten glitten, ihren nackten Busen umklammerten, von neuem zu kneten begannen. »Was habe ich nicht alles angestellt, um zu Euch zurückzukehren. Ihr seid meine einzige Hoffnung. Nur die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Euch hat mich all das Schreckliche überstehen lassen.«

Sie bog sich zurück. Sofort war er über ihr, riss das Mieder auf und suchte mit den Lippen ihre Brust. Mit beiden Händen umklammerte sie seinen breiten Schädel, wollte ihn tiefer gegen den Bauch pressen. Jäh schoss er hoch und biss zu, mitten in ihren Busen. Seine Zähne bohrten sich in das weiche Fleisch, gierig begann er, an ihr zu saugen.

»Aua!« Sie wollte ihn wegschieben. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Es ging viel zu rasch. War er erst einmal befriedigt, legte er nie und nimmer ein gutes Wort für sie bei seiner Frau ein.

Doch er war nicht nur schneller, sondern auch stärker, als sie erwartet hatte. Ohne Mühe hielt er sie fest umklammert, presste ihr fast die Luft aus dem Leib. Sie zerrte, wand sich, versuchte, ihn zu kneifen und zu zwicken, holte alsbald sogar mit den Füßen zum Treten aus. Doch dadurch fachte sie seine Lust nur weiter an. Immer heftiger rangelten sie auf der engen Ofenbank miteinander. Je heftiger sie sich wehrte, desto mehr Gefallen fand er daran. Sein Keuchen wurde schneller, seine gierig hervorquellenden Augen fraßen sie regelrecht auf. Schon versuchte er, nach ihrem Mund zu schnappen, sie ins Ohrläppchen zu beißen, sie zu lecken und zu küssen. Gleichzeitig schob er ihren Rock hoch, ließ die schwieligen Finger über die zarte Haut zwischen den Schenkeln gleiten. Hastig zerrte er an seiner Hose und drängte sich ihr ungestüm entgegen. Eng umschlungen fielen sie zu Boden.

»Lasst mich!«, schrie sie verzweifelt. Doch sie waren allein im Haus, keiner würde sie hören. Brünstig wie ein Stier fiel der Wirt über sie her, wälzte sich mit ihr über den schmutzigen Wirtshausboden, absolut unempfänglich für das, was sie von ihm wollte: Fürsprache für ihre Wiedereinstellung als Magd. Geschlagen schloss sie die Augen und hoffte nur noch, es möge schnell vorübergehen.

»Was ist denn hier los?« Die kreischende Stimme überschlug sich. Jäh sprang der Wirt vom Boden auf. Ein gewaltiger Schatten fiel auf Lina. Sie musste gar nicht erst hinsehen, um zu wissen, dass die Wirtin früher als erwartet zurückgekehrt war. Nervös versuchte ihr Mann, seine verräterische Blöße zu bedecken, und stopfte eilig das Hemd in die Hose. Sein riesiger Schädel glühte feuerrot, die grauen Bartstoppeln betonten die Scham auf seinem Gesicht.

Lina sah eine letzte Möglichkeit. Hilflos wie ein Igel rollte sie sich zusammen, umschlang die Knie mit den Händen und weinte los. Kaum vermochte sie Luft zu holen, so arg beutelte sie das Schluchzen. Zaghaft blinzelte sie zwischen Tränen und Wimpern hindurch, sah jedoch außer klobigen Holzpantinen und dreckverklebten Stiefelspitzen kaum etwas. Angewidert kniff sie die Augen zusammen und jammerte weiter.

Eine halbe Ewigkeit dauerte es, bis sich die Wirtin endlich erbarmte. »Bist du es, Lina?« Zunächst klang die Stimme besorgt, beinahe zärtlich. Unerwartete Freude glomm in Lina auf. Vielleicht bedurfte sie gar nicht der Hilfe des Wirts. Vielleicht wurde auch so alles gut, und die Wirtin nahm sie bei sich auf. Das hatte sie vor vielen Jahren schon einmal getan, hatte die katholische Zwölfjährige aus der allergrößten Not gerettet und sie den Klauen ihres Vaters entrissen, der sie ihr zur Begleichung seiner Zechschulden zum Verkauf angeboten hatte. Trotz dieser unglücklichen Umstände hatte sie Lina mitten im protestantischen Kneiphof einen sicheren Halt geboten. Wäre sie wenige Jahre später nicht so töricht gewesen und dem einfältigen Fritz auf den Leim gegangen, hätte sie den Schutz der zupackenden Frau gewiss bis ans Ende ihrer Tage genossen. Ein neuerliches Schluchzen schüttelte Linas dicken Leib.

»Komm schon, Mädel, lass dich anschauen«, sagte die Wirtin leise. Vorsichtig rüttelte sie sie an den Schultern, bis Lina sich aufsetzte. Schnaufend griff die stämmige Frau ihr unter die Arme und zog sie hoch, bis sie dicht voreinander standen. Dann legte sie ihr die fleischige Hand unters Kinn und musterte sie aufmerksam. »Was hat der alte Hurenbock dir angetan?«

Sie atmete Lina mitten ins Gesicht. Lina musste würgen, versuchte, dagegen anzukämpfen, biss sich auf die Lippen und senkte den Blick. Das war ein Fehler. Die Wirtin verstand das falsch.

»Du altes Miststück!«, keifte sie los und schlug ihr so heftig auf die Wangen, dass es laut klatschte. Von dem Schwung flog ihr Kopf herum, das offene, strohblonde Haar vernestelte sich in den Fingern der Wirtin. »Dir werde ich helfen, einen anständigen Ehemann zu verführen! Am helllichten Tag, wenn Hausfrau und Gesinde die Einkäufe erledigen!«

Wutentbrannt suchte sie sich von Linas Haaren zu befreien, zerrte, dass Lina vor Schmerz die Tränen in die Augen schossen. Schutzsuchend hob sie die Arme, doch das reizte die Wirtin zu weiteren Gewalttätigkeiten. Abermals versetzte sie ihr eine schallende Ohrfeige. »Das hätte ich mir gleich denken können, du pfäffisches Miststück. War doch nicht anders zu erwarten von einem Weib wie dir, das mitten in der Nacht mit einem tumben Fischerjungen davonrennt. Bist also doch eine Hure geblieben. Scher dich fort aus meinem Haus und lass dich nie wieder hier blicken!«

Zur Bekräftigung nahm sie das Leintuch, das sie stets in ihrer Schürze stecken hatte, und drosch damit auf Lina ein. Quer durch die ganze Gaststube trieb sie sie wie ein ekelerregendes Tier vor sich her.

»Haltet ein, gute Frau!«, flehte Lina verzweifelt. »Es ist alles ganz anders. Wie könnte ich Euren Mann verführen? Erinnert Euch, wie brav und fleißig ich früher jede Arbeit für Euch erledigt habe. Nie habe ich gemault oder mich beklagt. Habt Ihr das alles schon vergessen?«

Händeringend wollte sie auf die Knie sinken. Die Wirtin aber schubste sie weiter. Linas Blick fiel auf den Wirt. Längst hatte der sich die Hose hochgezogen, den Gürtel geschnürt und war zum Ausschank geschlurft. Als ginge ihn das Gekeife nicht das Geringste an, füllte er sich einen Krug mit Bier und leerte ihn in einem Zug. Genüsslich wischte er sich den Schaum von den Lippen, schenkte nach, trank abermals, die Augen gierig auf das schäumende Nass in dem Tonkrug gerichtet. Über so viel Gleichgültigkeit wurde Lina heiß und kalt zugleich.

»Untersteh dich, noch einmal einen Fuß in mein Haus zu setzen!«, fuhr die Wirtin zu keifen fort. Eng umklammerte sie Linas Oberarm, zerrte sie zur Tür und stieß sie entschlossen hinaus. »Nie mehr sollst du mir unter die Augen treten!«

Kapitel 3

Lina meinte, der Kopf platze ihr, so laut hallte das Türschlagen der Wirtin in ihren Ohren nach. Erst allmählich begriff sie, dass der Lärm nicht von der nahen Tür, sondern von weiter entfernt zu ihr herüberklang. Es war auch kein Knallen, sondern ein richtiges Donnern gewesen. Im nächsten Moment schien die Erde zu beben. Verwundert setzte sie sich auf und schaute Richtung Langgasse. Aus den letzten Monaten, die sie im Hafen von Pillau verbracht hatte, war ihr diese Art von Lärm nur allzu bekannt. Das war kein herbstliches Gewitter, sondern diese Art von Donner war von Menschenhand gemacht. Sie schloss die Augen wieder, um den Gedanken zu verdrängen, dass die Landung des kurfürstlichen Heeres unter Führung von Friedrich Wilhelm schon seit einigen Wochen in der aufmüpfigen Stadt am Pregel angekündigt war. Ein inniges Ave-Maria würde helfen, zur Sicherheit fügte sie noch ein Paternoster hinzu. Sie wagte einen zweiten Blick, doch in der nahen Langgasse hatte sich wenig geändert. Es donnerte und grollte weiter.

Nun nahm sie auch die anderen Menschen wahr, die erstaunt die Köpfe gen Himmel hoben, doch das strahlend blaue Firmament war bar jedes Anzeichens eines spätsommerlichen Unwetters. Das Donnern indes dröhnte weiter über die Mauern der Stadt hinweg. Ängstlich hielten Passanten ihre unruhig werdenden Pferde, Esel und Ochsen an den Riemen, stellten die Leiterwagen und Karren ab. Das eben noch so muntere Zwitschern der Spatzen war verstummt, selbst das heisere Krächzen eines schwarzen Raben hörte auf. Verwirrt wieherten die Pferde ob der unnatürlichen Starre, suchten sich durch Schütteln aus den kurzen Zügeln zu befreien. Die Zugochsen grunzten und scharrten mit den Hufen, zahlreiche Hunde kläfften aufgeregt dagegen an. Schon wurden die ersten Flüche laut, weil die Unruhe der Tiere nicht mehr einzudämmen war. Ein Kind greinte, die Mutter stimmte ein beruhigendes Lied an, bald fielen andere Frauen in den zarten Gesang ein. Darüber verklang das Donnergrollen allmählich wieder in der Ferne.

»War wohl doch nur eine Übung drüben auf der Friedrichsburg«, meinte einer.

»Was auch sonst? Nie und nimmer traut sich der Kurfürst, die Kanonen auf die Stadt zu richten«, stellte ein Fuhrmann in barschem Ton fest und strich seinem Esel über das staubige Fell. »Richten mag er die Geschütze gern auf unseren Kneiphof. Doch niemals wird er wagen, sie tatsächlich gegen uns abzuschießen.«

Sein Nebenmann ergriff den vor ihm stehenden Karren und schob wieder an. »Stimmt, dazu müssten seine Soldaten erst wissen, wie das mit dem Zielen überhaupt geht.« Mit grimmiger Miene rückte der Stadtknecht seinen breitkrempigen Hut zurecht.

Die Umstehenden lachten befreit auf. Mit einem Mal schien niemand mehr eine ernsthafte Gefahr in dem Kanonendonner zu sehen. Davon wurde Lina erst recht bang. Immerhin war sie vor wenigen Tagen erst von Pillau an den Pregel gekommen und wusste, wie ernsthaft man am Haff mit der Ankunft des Kurfürsten höchstselbst gerechnet hatte. Der Geschichte mit der angeblichen Pest im Kneiphof schenkte Friedrich Wilhelm wohl doch keinen Glauben mehr.

»Auf geht’s!«, rief der Kutscher und schwang die Peitsche über dem massigen Schädel seines Ochsen. Schon ruckte der Wagen an, dahinter setzte sich ein mit Fässern beladener Karren in Bewegung. Der Stadtknecht half einem Händler, einen schweren Sack zu schultern. »Aus dem Weg!«, rief der Kutscher. Gefährlich dicht an den beiden vorbei lenkte er sein Fuhrwerk zur Grünen Brücke. »Pass auf, du Hundsfott!«, rief der Stadtknecht und fuchtelte wild mit der Pike durch die Luft. Der Händler suchte ihn zurückzuhalten, redete emsig auf ihn ein. Endlich setzte er sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung.

»Hat es dich schlimm erwischt?« Keuchend stieg ein Kaufmann die wenigen Stufen des Beischlags vor dem Wirtshaus zum Grünen Baum nach oben. Als er sich Lina näherte, die dort noch immer reglos auf dem Boden saß, lag ein mitleidiges Lächeln auf dem weißbärtigen Gesicht. »Kannst du aufstehen, oder brauchst du Hilfe?« Noch bevor sie protestieren konnte, fasste er sie behutsam am Arm und half ihr auf die Beine. »Darf ich dich auf einen Teller Suppe einladen? Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung vertragen. Die Wirtin hat ein großes Herz für Menschen in Not.«

»Danke, nein«, beeilte sich Lina zu versichern. »Das ist sehr großzügig von Euch, gnädiger Herr. Doch es geht mir schon besser. Jetzt, da das Donnern vorbei ist, ist alles wieder gut. Ich muss weiter. Habt vielen Dank.«

Froh, nach wenigen Schritten bereits mitten auf der Langgasse zu stehen, mischte sie sich alsbald unter die Menge. Als Teil der wogenden Masse, die sich nordwärts zur Krämerbrücke schob, fühlte sie sich wohler. Das gab ihr Zeit, zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Im Kneiphof herrschte gewiss die größte Aussicht, eine ordentliche Stellung zu finden. Die reichen Bürger und Kaufleute, die in der Stadt zwischen Altem und Neuem Pregel wohnten, konnten immer noch eine zusätzliche Magd gebrauchen, um die aufwendigen Hausarbeiten zu erledigen.

In den letzten Jahren hatte sich die Langgasse verändert. Neben ausladenden An- und Vorbauten auf den Beischlägen trugen einige Gebäude zusätzliche Figuren oder Inschriften als Verzierungen auf den Giebeln, andere hatten Säulen rechts und links des Eingangs erhalten, wieder andere waren durch größere Fenster verschönert worden. Hie und da wurde eifrig gewerkelt und gebaut, um die Häuser noch imposanter zu gestalten. Kein Zweifel, den Kneiphofern ging es sehr gut, wenn nicht gar besser als je zuvor. Linas Zuversicht, in einem Haushalt als Magd unterzukommen, wuchs.

Auf der Krämerbrücke wurde das Gedränge noch dichter. An den Buden gab es großen Andrang. Auch drüben in der Altstadt ging es derzeit nicht weniger munter zu. Lina erinnerte sich an das, was sie auf ihrem Fußmarsch von Pillau nach Königsberg aufgeschnappt hatte: Seit zwei Jahren schon tagte der Landtag im kurfürstlichen Schloss.

»Achtung!« Mit einem beherzten Sprung zur Seite rettete sie sich im letzten Moment vor einem Karren, der ihr unerwartet in die Quere gekommen war. Während der Knecht noch fluchte, blieb sie wie angewurzelt stehen: Keine fünf Schritte hinter dem Karren standen zwei Soldaten in langen, blauen Röcken, die Gesichter von den braunen Filzhüten halb verdeckt. Sie traute ihren Augen nicht: zwei kurfürstliche Söldner, unbewaffnet und ganz allein mitten im Kneiphof? Ihr Herz klopfte schneller. Nach allem, was sie über den Zwist zwischen Friedrich Wilhelm und den aufrührerischen Kneiphofern wusste, konnte es nicht lang dauern, und man schnappte die Blauröcke, vierteilte sie und knüpfte ihre sterblichen Reste an der nächsten Ecke auf. Argwöhnisch äugte sie umher. Außer ihr schien niemand Anstoß an den beiden zu nehmen. Vorsichtig ging sie weiter.

Ihr Unbehagen rührte noch von einem weiteren Umstand: In den vergangenen Wochen hatte sie sich mehr als einmal der Zudringlichkeit der Soldaten erwehren müssen. Kaum steckten die Burschen im blauen Rock des kurfürstlichen Heeres, schon meinten sie, alle Frauen gehörten ihnen. Nein, so rasch wollte sie den Soldaten nicht mehr unter die Augen kommen. Von einer Stellung in der Altstadt sollte sie besser Abstand nehmen. Rund um den Landtag tummelten sich die Blauröcke gewiss erst recht. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Vielleicht sollte sie ihr Glück hinten im Löbenicht versuchen. Die Malzbrauer und die dort ansässigen Handwerker galten zwar auch als wohlhabend, gaben sich aber weitaus weniger hochnäsig als die reichen Kneiphofer Kaufleute oder die Altstädter Bürger. Sollte sie dort nichts finden, konnte sie in den bescheideneren Vorstädten um Arbeit bitten. In den zahlreichen Krügen und Gasthäusern auf dem Sackheim, dem Steindamm oder dem Rossgarten sowie drüben im Haberberg jenseits des Alten Pregels gab es gewiss auch den nahen Winter über Bedarf an einer tüchtigen Kraft. Denn auch in der kalten Jahreszeit trafen dort Kaufleute aus nah und fern ein, wie sie aus ihrer Zeit im Grünen Baum wusste.

Beim Gedanken an den nahenden Winter schüttelte es Lina. Hastig reckte sie die Nase Richtung Sonne, die an diesem letzten Montag im September noch immer warm vom Himmel strahlte. Wenn das milde Wetter noch einige Tage anhielt, war es nicht schlimm, keine Bleibe zu haben. Dann konnte sie es wagen, sich für eine Weile in den Lauben auf der Lomse zu verbergen. Mit neuerwachter Zuversicht strich sie sich das strohblonde Haar aus dem Gesicht, wand es am Hinterkopf zu einem Zopf und steckte es hoch. Selbst das Nächtigen in einer Gartenlaube schien ihr allemal besser als das Ausharren bei Fritz und dem Kind. Kurz spürte sie einen feinen Stich in der Herzgegend, erinnerte sich an zwei große blaue Augen und zwei winzige Händchen, die sich ihr flehentlich entgegenstreckten. Rasch schob sie das Bild weg, dachte an die aufgedunsene Fratze von Fritz, wenn er schwankend vor ihr stand, ätzenden Branntweingeruch ausatmete und versuchte, ihr keuchend ein weiteres Kind zu machen. Gut, dass sie dem entkommen war! Auch wenn der Preis für die Flucht hoch gewesen war, so öffnete sich auch ein kleiner Spalt Hoffnung. Eines Tages würde sie zurückkehren und das Kind für immer zu sich holen.

»Pass auf, wo du hintrittst.« Ein Bursche versetzte ihr mit dem Ellbogen einen Stoß. Sie hatte es satt, herumgeschubst zu werden, und hob empört die Hand, da sah sie, dass er einen guten Kopf größer war als sie und obendrein Hut und Umhang eines Studenten von der Albertina trug. »Entschuldigung«, murmelte sie kleinlaut. Wie gut sie daran tat, merkte sie, als sie kurz darauf zwei weitere Studenten entdeckte, die dem ersten dicht auf den Fersen folgten. »Ja, die Herren Studiosi«, gackerte ein zahnloser alter Mann neben ihr. »Um die schlägt man besser einen weiten Bogen. Keiner von uns will sich mit denen anlegen.« Er kratzte sich am kahlen Schädel, schob dabei seine löchrige Mütze vom Kopf und entblößte die grindige Haut darunter. Angewidert wandte Lina sich ab und suchte rasch auf die andere Seite der Langgasse zu gelangen, wo weniger verwahrloste Menschen unterwegs waren.

Nach wenigen Schritten tauchten abermals die beiden Blauröcke mit den Filzhüten vor ihr auf. »Du kommst ihnen nicht aus, was, mein Kind?« Schon stand der kahle Alte wieder bei ihr und hauchte sie bei jedem Wort aus seinem fauligen Mund an. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, zuckte sie zurück. Wieder gackerte er wie ein Huhn. »Nicht erschrecken: Das hier sind keineswegs zwei tapfere Helden, die im Auftrag des Kurfürsten den Kneiphof ausspähen. Die sind höchstens nur insofern tapfer, als sie die Mutprobe ihrer Kommilitonen bestehen.« Da Lina ihn verständnislos ansah, fuhr er fort: »Die zwei Studenten haben sich die Röcke der Kurfürstlichen nur übergestreift und müssen so durch die gesamte Langgasse marschieren. Schaffen sie es, am Ende heil anzukommen, werden sie von den anderen wie Helden gefeiert. Schaffen sie es nicht, kriegen sie von den Kneiphofern unterwegs die verdienten Prügel für den Unsinn. Glaub mir, mein Mädchen: Früher, als uns allen lieb sein kann, tauchen hier sowieso die echten Blauröcke auf. Und dann ist Schluss mit dem Übermut, das kannst du mir glauben. Sowohl mit dem der Studenten als auch mit dem der Stände.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, kratzte sich noch einmal ausführlich am Kopf und setzte die löchrige Mütze wieder auf. Brummend trottete er von dannen.

Verwundert sah Lina ihm nach, bis er im Gewühl nahe dem Badehaus verschwunden war. Ihr Blick streifte an den Fassaden der gegenüberliegenden Häuser entlang: Fresken, Ornamente, Figuren und erlesene Materialien, wohin sie auch blickte. Selbst in den kleinsten Winkeln kehrten die Einwohner der Dominsel ihren Reichtum heraus. Kein Wunder, dass der Kurfürst gierig die Finger nach dem Geld der Königsberger ausstreckte. Wer so übermütig mit seinem Besitz protzte, dem geschah das letztlich nur recht. Sie stutzte und sah ein zweites Mal hin. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht: Gegenüber lag das Singeknecht-Anwesen. Nicht nur die Fresken und Reliefs an jeder nur denkbaren Ecke der Fassade, sondern vor allem die goldenen Figuren auf den einzelnen Stufen des Giebels, obenauf gekrönt von einem hochmütigen Neptun mit Dreizack, nahmen dem Betrachter schier den Atem. Linas Herz vollführte einen kleinen Freudenhüpfer. Dass sie ausgerechnet in dieser Stimmung vor dem Haus angelangt war, musste ein Wink des Schicksals sein. Zwar waren die Singeknechts seit langem ausgestorben, ihre direkten Nachfahren aber, Magdalena und Carlotta Grohnert, waren vor vier Jahren in die Stadt zurückgekehrt. Mehr als einmal hatte die katholische Lina die beiden ebenfalls katholischen Neuankömmlinge auf Geheiß der Wirtin des Grünen Baums bei wichtigen Gängen durch die protestantische Stadt begleitet. Gleich sah sie die zierliche, rotblonde Carlotta vor sich, wie sie in jenem Sommer an ihrem geheimen Zufluchtsort am südlichen Pregelufer gesessen und um ihren gerade verstorbenen Vater getrauert hatte. Wie sie errötet war, als Lina ihr von ihrem Liebsten erzählt hatte, von all den hochfliegenden Plänen, die sie mit Fritz seinerzeit gehegt hatte. Ganz so unschuldig, wie sich Carlotta gegeben hatte, war sie mit ihren dreizehn Jahren dann doch nicht gewesen. Dafür hatte Lina schon damals ein gutes Gespür gehabt.

Versonnen wanderte ihr Blick erneut über das Kaufmannshaus. Ebenerdig, direkt neben dem doppelflügeligen Eingang, erstreckte sich das Kontor. Carlottas Mutter Magdalena führte den von ihren Ahnen begonnenen Bernsteinhandel also fort. Gleich darüber, im ersten Stock, balancierte eine schmächtige Magd am offenen Fenster und versuchte, trotz der gefährlichen Stellung auf dem Sims die Scheiben zu polieren. Welch ein vergebliches Unterfangen, warf die Vormittagssonne doch unbarmherzig ihre Strahlen auf die Glasstücke zwischen den Bleiverstrebungen! Von drinnen erteilte eine untersetzte, apfelbäckige Frau aufgebracht ihre Anweisungen. Wild gestikulierend, trat sie an die offenstehenden Fensterflügel. Lina brauchte nicht erst die Ohren zu spitzen, um zu ahnen, wie unzufrieden die Wirtschafterin mit dem von der verschreckten Magd erzielten Resultat war. Wissend schmunzelte sie. Die kostbaren Fensterscheiben polieren, das war eine ihrer leichtesten Übungen gewesen, als sie noch Magd bei den Wirtsleuten im Grünen Baum am anderen Ende der Langgasse gewesen war. In Sachen streifenfreier Scheiben machte ihr so schnell keiner etwas vor. Außer auf warmes Wasser, viel Essig sowie kostbares Papier zum Nachpolieren schwor Lina auf trübe, graue Tage. So angenehm die Sonne wärmte, so hinderlich war sie für blank gewienerte Scheiben. Für den hartnäckigen Fliegendreck hatte Lina darüber hinaus noch eine ganz besondere Waffe parat. Die war zwar nicht eben billig und von daher nicht für jeden Bürgerhaushalt geeignet, aber so, wie das Singeknecht’sche Anwesen vor Reichtum strotzte, war sie dort ganz gewiss angebracht. Sie lächelte. Alles in allem sah es ganz danach aus, als freute sich die Wirtschafterin über neue, zupackende Hilfe.

Entschlossen strich Lina das Mieder glatt, spuckte auf die staubbedeckten Schuhspitzen und rieb sie am Rocksaum blank. Rasch steckte sie eine vorwitzige Haarsträhne in den streng gezwirbelten Zopf zurück und marschierte aufrechten Hauptes quer über die Straßen direkt auf den opulenten Beischlag zu. Ein halbes Dutzend sauber gefegter Treppenstufen führte in dessen Mitte zum Eingang des Hauses hinauf. Schon als sie den Fuß auf die erste der breiten Sandsteinstufen setzte, wusste sie, dass sie gut daran tat. 

Kapitel 4

Als der riesige schwarze Schatten von hinten seine Schwingen über sie legte und sie mit einem lüsternen Auflachen gegen die Mauer um den Gemeindegarten am Pregel presste, erschrak Carlotta bis ins Mark. Gerade noch rechtzeitig unterdrückte sie einen Aufschrei. Christoph breitete bereits die Arme aus, um sie aufzufangen.

»Wie konntest du nur!«, entfuhr es ihr aufgebracht. Als sie sein zerknirschtes Gesicht sah, schmolz der Ärger dahin.

»Verzeih«, wisperte er leise. »Nichts lag mir ferner, als dich mit meinem Spaß zu Tode zu erschrecken.«

»Das war ein schlechter Spaß!« Sie sank in seine Arme und wartete, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Urplötzlich hatte sie es eben mit der Angst bekommen. Zu allem Überfluss hatte Christoph seltsam zu keuchen begonnen und sein Gesicht vor ihr verborgen. Auf einmal war ihr die lang verdrängte Erinnerung an jene Nacht im Spreewald vor viereinhalb Jahren vor Augen gestanden. Zwei Fuhrleute wollten damals über sie herfallen. Ein Zufall nur hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Sie schloss die Augen, vergrub die Nase in Christophs Brust und umklammerte den Bernstein. Ihr Atem ging noch immer schnell, ihr Puls raste. Sacht strich Christoph ihr über das rotblonde Haar.

»Verzeih mir, Liebste! Ich wollte das nicht.«

»Schon gut.« Sie hob den Blick. »Du konntest es nicht wissen.«

»Was?«

»Nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wischte sich die Wangen trocken. »Wenigstens hat uns niemand gesehen.« Ihr Kinn wies auf die leere Gasse. »Eigentlich ein großer Zufall, dass außer uns niemand unterwegs ist. Das muss wohl an der Hitze liegen. Die Leute sind sie allmählich leid.«

»Der Sommer scheint in diesem Jahr gar kein Ende mehr zu finden.« Erleichtert ging er auf das Thema ein.

»Septemberwärme dann und wann sagt einen strengen Winter an«, griff sie einen Spruch der alten Wirtschafterin Hedwig auf.

»Dann und wann ist dieses Jahr leicht untertrieben. Doch lass uns die warme Zeit genießen, solange sie anhält. Bald werden wir lange genug am Ofen kauern.«

»Du hast recht«, erwiderte sie. »Doch ich bin in Eile. Vor der Vesper will ich noch zu Apotheker Heydrich.«

»Dann ziehst du also die Gesellschaft des alten Apothekerwitwers der meinen vor?« Er musterte sie mit einem schelmischen Blick. »Du spielst mit dem Feuer, meine Liebe. Schließlich solltest du nicht vergessen: Er hat drei Töchter im heiratsfähigen Alter. Die Verbindung mit mir als dem einzigen Sohn des Stadtphysicus und kurfürstlichen Leibarztes muss ihm lohnend erscheinen. Hast du es auf ihn abgesehen, um bei ihm ungehindert deine Salben zu zaubern, schnappe ich mir eine von den drei Töchtern. Viel Spaß, dann wirst du meine Schwiegermutter. «

»Freu dich nicht zu früh, mein Lieber. Als deine Schwiegermutter werde ich dir so manche Lektion erteilen. Am besten nimmst du übrigens Friederike. Die ist zwar genauso dick wie die beiden anderen Heydrich-Töchter, aber sie hat wenigstens etwas Interesse am Laboratorium. Else und Minna dagegen denken nur an die Schlemmereien und wie sie sich etwas von den unerlaubten Genüssen aus der Offizin stibitzen können. Nicht einmal vor den Kaffeebohnen machen sie halt.«

»Du scheinst dir ja schon Gedanken gemacht zu haben. Und du hast recht. Friederike hätte den Vorteil, dass wir beide uns weiterhin regelmäßig im Laboratorium sehen könnten. Während du mit dem Alten über dem Mikroskop grübelst, mische ich mit ihr am Tisch nebenan eine Rezeptur für die Galle der Witwe Ellwart oder das Zipperlein von Grünheide. Was für Aussichten! Komm, lass uns noch ein wenig nach nebenan in den Garten gehen. Eine kurze Rast auf einer Bank wird uns guttun. Der alte Heydrich in seiner Apotheke wird auch noch ein wenig länger warten können.« Übermütig warf er den Hut in die Luft, fing ihn einhändig auf und führte sie durch die offenstehende Pforte in den Gemeindegarten.

Angenehme Kühle empfing sie in dem menschenleeren Garten. Der ähnlich wie der benachbarte Junkergarten angelegte Hof war von brusthohen Mauern umgrenzt. Ein gutes Dutzend Linden spendete angenehmen Schatten. Vom Pregel zog frische Luft herein. Die träge Nachmittagssonne spitzte durch die Zweige und zauberte ein Mosaik aus hellen und dunklen Flecken auf den staubtrockenen Lehmboden. Langsam färbte sich das Laub bunt, die ersten vertrockneten Blätter knisterten unter den Sohlen. Zielstrebig steuerte Carlotta einen abseits von den übrigen Bänken stehenden steinernen Stuhl an.

»Interessant.« Christoph legte den Zeigefinger über die Lippen. »Es sollte mir zu denken geben, dass du unter all den möglichen Plätzen ausgerechnet den Ehebrecherstuhl wählst.«