Die Frau des Blauen Reiter - Heidi Rehn - E-Book
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Die Frau des Blauen Reiter E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Die Farben der Liebe 

Maria studiert Malerei, allen Widerständen zum Trotz. Nicht nur in der männlich dominierten Kunstwelt gilt es für sie als junge Frau, Vorurteile zu überwinden, sondern auch bei ihren Eltern. Dann aber lernt sie Franz Marc kennen, und zum ersten Mal fühlt sich Maria als Künstlerin ernstgenommen und als Frau begehrt. Gemeinsam suchen sie nach neuen Ausdrucksformen, inspirieren und ermutigen sich, ihre Malerei weiterzuentwickeln. Obwohl Franz in der Liebe als unstet gilt, kann sie sich seinem unwiderstehlichen Charme nicht lange entziehen. Ihre Beziehung ist leidenschaftlich und intensiv. Doch dann taucht in Franz’ Leben eine andere Frau auf, ausgerechnet Marias verehrte Lehrerin an der Kunstakademie ... 

Die Geschichte einer großen Malerin und der berühmten Künstlergruppe »Der Blaue Reiter«.

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Seitenzahl: 503

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Über das Buch

Endlich hat Maria es geschafft, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie ihre künstlerische Ausbildung an der renommierten Damenakademie in München abschließen muss. In der Kunst- und Bohèmestadt hofft sie, der preußischen Strenge ihrer Heimatstadt Berlin zu entfliehen und den Mut aufzubringen, die ersehnte eigene künstlerische Ausdrucksform zu finden. Nach einer kurzen Beziehung mit einem ihrer Lehrer, die in einer schmerzlichen Trennung endet, lernt sie Franz Marc kennen. Sogleich wird sie von ihren Kommilitoninnen gewarnt. Franz sei ein Frauenheld und nicht an einer ernsthaften Beziehung interessiert. Maria nimmt sich fest vor, seine Avancen zu ignorieren. Doch seinen vor Begeisterung sprühenden Ausführungen über die Kunst und dem besonderen Reiz seines einfühlsamen Schaffens kann sie sich nicht entziehen. Zwischen ihnen entspinnt sich eine Amour Fou, von der beide zunächst nicht glauben, dass sie nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Kunst für immer verändern würde.

Über Heidi Rehn

Heidi Rehn, geboren 1966, studierte Germanistik und Geschichte in München. Seit vielen Jahren schreibt sie hauptberuflich. In München bietet sie literarische Spaziergänge „Auf den Spuren von …“ zu den Themen ihrer Romane an, bei denen das fiktive Geschehen eindrucksvoll mit der Historie verbunden wird. Im Aufbau Taschenbuch sind von ihr der Roman „Die Tochter des Zauberers – Erika Mann und ihre Flucht ins Leben“ sowie „Das doppelte Gesicht“ und „Die letzte Schuld“, die ersten beiden Bände der Krimireihe um Emil Graf und Billa Löwenfeld, erschienen. Mehr zur Autorin unter www.heidi-rehn.de.

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Heidi Rehn

Die Frau des Blauen Reiter

Kunst ist ihre Leidenschaft, Franz Marc die Liebe ihres Lebens

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Motto

Prolog — Berlin, Weihnachten 1902

Kapitel 1 — München, Mitte Februar 1905

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28 — Sommer 1920

Epilog — München, 1. September 1952

Nachbemerkung

Weiterführende Literatur

Zitate

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

»Alles sinnliche Genießen in der Natur und Kunst hat die Liebe mir gebracht – sie hat an alle verborgenen Saiten geschlagen und sie zum Schwingen und Tönen gebracht (…) Und das ist die Liebe, nach der sich meine Seele sehnte.«

Maria Marc

»Die Welt ist weder schön noch hässlich, aber unsere Leidenschaften sind immer schön und wunderbar.«

Franz Marc

Prolog

Berlin, Weihnachten 1902

»An die Münchner Damenakademie willst du jetzt noch? Hast du inzwischen nicht lange genug für deine Malerei studiert?«

Philipp Franck runzelte konsterniert die hohe Stirn. Seine buschigen weißen Augenbrauen wie auch die Lippen zwischen Schnauzer und Spitzbart am Kinn setzten die geschwungenen Linien faszinierend parallel fort. Ein ausdrucksstarkes Mienenspiel! Es juckte sie in den Fingern, zu Stift und Papier zu greifen, um das festzuhalten. Leider war das jetzt jedoch nicht der Moment, zu zeichnen.

Als sie dem Vater stattdessen ihre Pläne ausführlicher erläutern wollte, kam ihr die Mutter in vorwurfsvollem Ton zuvor. »Erst warst du an der Königlichen Kunstschule, dann im Damenatelier von Karl Storch. Ganz zu schweigen von deinen diversen Freiluftmalkursen in Holstein in den vergangenen Sommern …«

»Damit sollte es genug sein«, unterbrach der Vater sie und schenkte Maria ein vermutlich aufmunternd gemeintes Lächeln. Auf sie wirkte es jedoch eher mitleidig. »Deine Bilder sehen doch schon sehr ordentlich aus.«

»Schon sehr ordentlich« – eine schallende Ohrfeige! Ihr blieb die Luft weg. Doch was hatte sie erwartet? Sie wusste ja, wie wenig ihre Familie mit dem anfangen konnte, was sie tat und was ihr am Herzen lag. Malen zu wollen, war in deren Augen ungeheuerlich. Künstlerin werden zu wollen, erst recht. Hieß das nicht, sein Innerstes nach außen kehren, Einblick in sein Denken gewähren, sich selbst wichtig nehmen, gar offen für jedermann zur Schau stellen? Und das obendrein als Frau? Inständig mahnten sie sie zu mehr Zurückhaltung, wie es sich ihrer Ansicht nach für eine Tochter aus gutem Haus gehörte.

Dieses Mal aber würde sie nicht aufgeben. Dieses Mal würde sie kämpfen, bis sie ihren Willen durchgesetzt hatte. Sie musste malen. Sie musste Künstlerin werden. Und deshalb musste sie nach München. An die Damenakademie. Daran führte kein Weg vorbei. Entschlossen ballte sie die Fäuste.

Sie saßen am Mittagstisch im Speisezimmer der Direktorenwohnung im zweiten Geschoss der Preußischen Boden-Kredit-Aktienbank Berlin, unweit des Prachtboulevards Unter den Linden. Würziger Tannenduft vermischte sich mit feiertäglichem Essensdunst, satte Schläfrigkeit legte sich über die Gemüter. In der Hoffnung, es wirkte sich positiv auf die Entscheidung der Eltern aus, hatte Maria genau diesen Zeitpunkt gewählt, um ihre Bitte vorzutragen. Und jetzt das!

»Vor allem dein ›toter Erpel kopfüber an der Wand‹ sticht schon sehr ordentlich aus deinen Werken heraus. Sehr lebensecht.« Süffisant schmunzelnd schob ihr drei Jahre jüngerer Bruder Wilhelm mit der Spitze des Messers die Entenbratenreste auf dem Teller hin und her, wobei das Silber auf dem Porzellan schrill quietschte.

»Es reicht!«

Die Mutter knüllte die Damastserviette zusammen und bedachte ihren Sohn mit einem mahnenden Blick. Folgsam legte er das Messer auf den Teller zurück. Sie bedeutete dem Dienstmädchen, abzuräumen und die Nachspeise zu servieren.

Maria beobachtete, wie die großen, schweren Teller, Schüsseln und Saucieren vom Tisch verschwanden und kristallene Dessertschalen sowie dunkler Schokoladenpudding mit warmer Vanillesauce auf einer weißen Porzellanplatte aufgetragen wurden. Der Vater schenkte Likörwein dazu aus, den die schräg durch die hohen Fenster einfallende Wintersonne golden funkeln ließ. Was für ein Motiv für ein Stillleben! Zu gern hätte Maria wenigstens das jetzt auf ihrem Skizzenblock festgehalten. Es brannte ihr förmlich unter den Nägeln. Ständig stieß sie im Alltags- und Familienleben auf interessante Motive, die sie später in Öl ausführte. Letztlich war sie immer in Gedanken bei ihrer Malerei. Als »überspannt« und »verrückt« pflegten die Eltern und der Bruder sie deshalb zu bezeichnen, dabei hatte sie nur etwas gefunden, wofür sie brannte. Seit frühester Jugend schon.

Der erlegte Enterich vor der Holzwand war ihre Abschlussarbeit an der Königlichen Kunstschule gewesen. »Realitätsgetreu und sicher in der Formgebung« hatte die Beurteilung im Zeugnis gelautet. Sieben Jahre lag das zurück. Danach hätte sie, obwohl gerade erst neunzehn, bereits als Zeichenlehrerin arbeiten können. Ein konkretes Angebot aus Leipzig hatte sie sogar schon gehabt. Mit ausdrücklicher Billigung der Eltern hatte sie jedoch den Rat der Schule befolgt und eine einjährige Zusatzausbildung zur Turnlehrerin absolviert. Und im Anschluss daran weitere Malkurse an privaten Damenateliers in Berlin durchsetzen können.

Damals war den Eltern zwar klar geworden, welch außergewöhnliches Talent in ihr steckte und dass es in der Position als Lehrerin vergeudet wäre, dennoch musste sie jedes Jahr aufs Neue darum kämpfen, ihr Studium zu verlängern. So wie jetzt. Weil die Eltern trotz allem nicht verstanden, dass sie nicht auf dem Status »realitätsgetreu und sicher in der Formgebung« stehenbleiben wollte. Dass ihr mehr vorschwebte. Weil ihr mehr möglich war. Und sie mehr sein wollte als nur die Tochter aus gutem Haus, die »schon sehr ordentlich« malte und zeichnete. Dazu brauchte sie allerdings die richtigen Impulse. Und die erhoffte sie sich in München. Der Kunststadt schlechthin.

Ihr schwirrte der Kopf, wenn sie an die Namen der dort ansässigen Künstler dachte. Und an die vielen Künstlerinnen. Die private Damenakademie an der Isar bildete auf höchstem Niveau aus, der Münchner Künstlerinnen-Verein garantierte die denkbar beste Unterstützung. Die Schwärmereien ihrer Freundin Janne nahmen kein Ende. Sie kannten sich aus Storchs Sommerkursen. Inzwischen lebte Janne schon zwei Semester an der Isar. Nie wurde sie müde, ihr die vielen kreativen Möglichkeiten aufzuzählen, die sich jungen Frauen dort eröffneten. Dazwischen malte sie ihr immer wieder auch das freie, ungezwungene Leben weit weg vom preußisch-biederen Berlin und den strengen Eltern in den schönsten Farben aus. Maria brannte darauf, auch das kennenzulernen. Am liebsten sofort. Das brauchte sie ebenso für ihre künstlerische Entfaltung, um das zwar gut gemeinte, für eine originelle Malerin jedoch absolut vernichtende »schon sehr ordentlich« ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Jedes Mal drängte Janne sie inständiger, den längst überfälligen Wechsel nach München durchzusetzen, jedes Mal verlangte es sie selbst ungeduldiger denn je nach dem Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben.

»Als anständiges junges Fräulein aus gutem Haus hast du einen Ruf zu verlieren.«

Die Bemerkung der Mutter holte Maria in die Gegenwart zurück. Ahnte sie etwas von ihren Überlegungen? Sie bemerkte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

»Nach allem, was man über München hört, kommt die Stadt wohl kaum für dich in Frage. Als deine Eltern müssen wir darauf achten, welchen Umgang du pflegst und in welchen Kreisen du verkehrst.«

Die Mutter suchte ihren Blick. Maria setzte alles daran, ihm Stand zu halten. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Wilhelms breiter werdendes Grinsen.

»Die Münchner Damenakademie genießt einen ausgezeichneten Ruf«, setzte sie an. Die trockene, viel zu warme Luft im Raum lähmte ihr Hirn. »Dort unterrichten die angesehensten Professoren aus dem In- und Ausland. Frauen aus den besten Kreisen studieren dort.«

»Andere können es sich ohnehin nicht leisten«, warf Wilhelm vorlaut ein.

»Allmählich wird es Zeit für dich, an Wichtigeres im Leben zu denken als immer nur ans Malen«, wischte die Mutter das beiseite. »Du bist inzwischen sechsundzwanzig. Nachdem du dich zum Glück entschlossen hast, dein Leben nicht als Zeichen- und Turnlehrerin zu vergeuden, solltest du dich endlich nach einer geeigneten Partie umsehen. Malen kannst du ja weiterhin. Das macht sich immer ganz hübsch. Apropos.« Sie räusperte sich, versicherte sich quer über den Tisch des Einverständnisses ihres Gemahls. »Dieser junge Assessor beim Adventstee von Frau Doktor Mertens letzten Donnerstag scheint mir sehr interessiert an dir, so angeregt, wie ihr beide euch unterhalten habt. Hilstein heißt er, nicht wahr?«

Kaum erwähnte sie den Namen, schälte sich aus Marias Gedächtnis eine vage Erinnerung heraus. Bei ihr hatte der Assessor nicht viel Eindruck hinterlassen, sonst hätte sie irgendein Detail, ein auffälliges Charakteristikum an ihm im Gedächtnis behalten, doch da war nichts.

»Wir sollten ihn baldmöglichst einladen«, entschied die Mutter. »Ein wohlerzogener Mensch. Aus sehr angesehener Familie, wurde mir versichert. Und mit besten Aussichten, seinen Weg im Justizministerium zu machen.«

»Rothaarig ist er. Und tendiert schon jetzt zu Doppelkinn und gemütlichem Bauchansatz.«

Wilhelm zwinkerte Maria zu. Sein Beistand überraschte sie. Gelegentlich zeigte er doch seine guten Seiten.

»Andererseits prädestiniert ihn das natürlich, an deiner Seite glücklich zu werden«, setzte er nach, wieder mit dem gewohnt frechen Grinsen im Gesicht.

Trotz erneut aufwallenden Ärgers zwang sie sich zur Gelassenheit. Kratzte betont langsam mit dem Dessertlöffel die Puddingreste aus dem Schälchen und verzichtete ausnahmsweise darauf, sich einen Nachschlag zu gönnen. Während sie sich eine Strähne aus dem Gesicht strich, beobachtete sie in der spiegelnden Glasvitrinentür in Wilhelms Rücken, wie sich die Sonne in ihrem goldblonden Haar verfing. »Ein echter Schatz, den Sie da auf Ihrem Kopf tragen«, pflegte ein älterer Malerkollege verzückt zu schwärmen, der sie immer wieder gern bei solchen Lichtspielen porträtierte. Dabei fand sie selbst nichts Besonderes an ihrem Haar. Welch großer Einfluss eine andere Perspektive doch hatte, gerade wenn es um Bildmotive ging.

Plötzlich kam ihr eine Idee.

»Professor Storch riet mir, mich stärker auf die Pleinairmalerei zu konzentrieren. Darin sieht er bei mir großes Potenzial. Das sollte ich aus einer anderen Sichtweise weiter verfolgen.«

Von Neuem wandte sie sich direkt an den Vater, bedachte ihn mit einem besonders ergebenen Tochterlächeln.

»Nachdem ich die letzten Jahre vor allem die norddeutschen Landschaften gemalt habe, wäre es eine echte Bereicherung, mich eine Zeit lang im Süden umzusehen. Die Landschaft um München, das berühmte Dachauer Moos und natürlich das Voralpenland ermöglichen, noch einmal ganz andere Lichtakzente zu studieren. Ich sollte mich von Experten vor Ort anleiten lassen, wie die malerisch am besten zu fassen sind. Das würde das, was ich bei Storch in den vergangenen Jahren gelernt habe, sinnvoll ergänzen. Auch die alpine Landschaft mit einzubeziehen, wäre eine große Herausforderung, der ich mich einmal stellen sollte, um mich zu verbessern.«

»Vor allem, wenn du es einmal damit versuchst, die Berge tatsächlich zu erklimmen, statt sie nur zu malen«, spottete Wilhelm. »Das wäre erst recht eine große Herausforderung. Damit würdest du noch weitaus mehr an dir verbessern.«

Die Mutter zog die Augenbraue nach oben.

»Wurde Storch nicht unlängst nach Königsberg an die Kunstakademie berufen?«, erkundigte sich der Vater und tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel, schob das leere Dessertschälchen von sich weg. Das Dienstmädchen eilte herbei, um es abzuräumen und den Kaffee zu servieren.

»Nach Königsberg?«, hakte die Mutter interessiert ein. »Eine hohe Auszeichnung.«

Ihre Vorfahren stammten aus Ostpreußen. Regelmäßig waren sie im Sommer auf den Gütern der weit verzweigten Verwandtschaft zu Gast und pflegten dabei auch dem von ihr geliebten Königsberg einen Besuch abzustatten.

Der Vater begann umständlich, seine Zigarre aus der Banderole zu wickeln.

»Wäre es nicht sinnvoller, wenn du in Königsberg einen weiteren Kursus bei Storch …?«, setzte die Mutter an.

Maria sank der Mut. Mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet.

»Wir sollten Storchs Wechsel nach Königsberg als Zeichen sehen, auch Maria noch einmal einen Wechsel in andere Gefilde zu ermöglichen«, widersprach der Vater überraschend. »Wenn er ihr Talent tatsächlich in der Landschaftsmalerei sieht, klingt es nach einem vernünftigen Vorschlag, die in einer völlig anderen Umgebung zu vertiefen. Und am besten wohl auch einmal bei anderen Professoren.«

Am liebsten hätte Maria vor Freude laut gejubelt.

»In Schreiberhau in Schlesien konnte sie bereits mehr als genug Berge und andere Landschaften …«, fing die Mutter von Neuem an, wurde allerdings wieder unterbrochen. Dieses Mal von Wilhelm.

»Das Riesengebirge bei Schreiberhau ist zwar eine gute Vorübung für die Alpen, mehr aber auch nicht. Das sind keine richtigen Berge, erst recht ist das kein alpines Gelände, demzufolge verfügen sie dort über völlig andere Lichtverhältnisse.«

Dankbar nickte Maria ihm zu.

»Nur zu gern besuche ich dich im Frühling in München, Schwesterherz. Dann können wir uns gemeinsam davon überzeugen, wie viel herausfordernder die Alpen im Vergleich zum Riesengebirge sind. Auch ich kann meine bisherigen Studien in München hervorragend vertiefen.«

»Nichts da!«, erstickte der Vater halb lachend, halb empört die Idee gleich im Ansatz. »Du bleibst in Berlin und konzentrierst dich hier ganz darauf, überhaupt erst einmal deine Studien richtig zu beginnen, bevor du daran denkst, sie irgendwo anders zu vertiefen. Mir scheint, du hast dein Potenzial noch nicht einmal ansatzweise ausgeschöpft.«

»Danke, Väterchen!«

Maria sprang vom Stuhl und eilte zum Vater, umarmte ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Verblüfft ließ er es geschehen.

Vom entgegengesetzten Ende des Tisches vernahm sie das leise, aber vielsagende Seufzen der Mutter.

»Die Zustimmung deines Vaters zur Münchner Damenakademie ist keinesfalls ein Freibrief für endlose Studien, noch dazu in einer solchen Umgebung«, fing die Mutter noch einmal mit dem Thema an, als Maria und sie sich an der Garderobe zum Nachmittagsspaziergang ankleideten. »Die dort herrschende Liberalität ist nicht nur positiv zu sehen. Gerade nicht für jemanden von deiner Konstitution. Wenn du schon nach deinem Aufenthalt in Itzehoe im vergangenen Jahr eine Kur für deine Nerven nötig hattest und du dich diesen Sommer allein nach Grömitz an die Ostsee zurückziehen musstest, weil dich alles so leicht aufwühlt, dann …«

Statt den Satz zu beenden, ließ sie den Schluss bedeutungsschwanger in der Luft hängen. Maria war froh, dass sie im düsteren Flur standen. So konnte die Mutter nicht sehen, wie sie von Neuem errötete.

Der Malsommer in Itzehoe hatte sich in der Tat zu einer aufwühlenden Episode in ihrem Leben entwickelt, weniger der Landschaft wegen, die sie mehrfach in Öl festzuhalten versucht hatte, als vielmehr eines gewissen Herrn Westphal wegen. Niemals durfte die Mutter von ihm erfahren! Niemals die wahre Ursache für ihren Kollaps herausfinden, der in diesem Frühjahr letztlich in dem mehrwöchigen Aufenthalt im Taunusbad Langenschwalbach gegipfelt war. Den ganzen Sommer war sie unfähig gewesen, Menschen um sich zu ertragen. Westphals Name verursachte ihr nach wie vor Übelkeit.

»Du musst mir versprechen, auf dich achtzugeben.« Die Stimme der Mutter klang auf einmal besorgt. Unerwartet fasste sie Maria an den Händen, drückte sie fest.

»Der München-Aufenthalt könnte dich nicht nur krank machen, sondern deinem Ruf nachhaltig schaden. Was jemand wie Doktor Hilstein wohl dazu sagt? Ohnehin bleibt abzuwarten, wie offen man ihm gegenüber überhaupt von deinen künstlerischen Ambitionen sprechen sollte.«

»Hast du vorhin nicht gemeint, die machten sich ›ganz hübsch‹?«

»Das bleibt abzuwarten.«

Kapitel 1

München, Mitte Februar 1905

Wie Maria es auch drehte und wendete, es half nichts. Sie sah furchtbar aus. Verzweifelt streckte sie ihrem Spiegelbild die Zunge heraus.

Wie war sie nur auf die verrückte Idee verfallen, in diese Tracht zu schlüpfen? Sich ausgerechnet darin zeichnen zu wollen? Zu allem Überfluss als Heimarbeit bei Marie Schnür. Für Selbstporträts besaß sie kein Talent. Das wusste sie doch. Dazu musste sie sich nicht erst Angelo Janks vernichtendes Urteil in Erinnerung rufen, mit dem er neuerdings sämtliche Arbeiten von ihr zerpflückte. Dabei hatte er bis vor Kurzem noch keine Gelegenheit ausgelassen, ihr Talent zu loben. Sie zur besten Schülerin gekürt, die er angeblich je gehabt hatte. Um dieser Ungerechtigkeit zu entgehen, hatte sie sich aus seinen Kursen ab- und bei der Schnür angemeldet. Die sieben Jahre ältere Lehrerin mochte sie, verehrte sie geradezu. Unbedingt wollte sie sie mit ihren Bildern beeindrucken, ihr gefallen, vielleicht sogar ihre Freundin werden.

Welcher Teufel hatte sie nun jedoch geritten, außer ihrem bewährten Stillleben- auch den Porträtkurs bei ihr zu belegen? Mit diesem Übereifer machte sie am Ende nur alles kaputt.

Marias Augen wanderten zwischen dem Skizzenblock in ihrer linken Hand und dem Spiegel an der Innenseite des Kleiderkastens hin und her. Nachdenklich strich sie sich mit dem Bleistift übers Kinn. Vielleicht war doch noch etwas zu retten? Weniger an ihr selbst als an der Zeichnung?

Sie zupfte am Stoff, probierte eine andere Gewichtung von Stand- und Spielbein, musterte ihr Spiegelbild, betrachtete die Zeichnung. Akzentuierte die eine Linie auf dem Papier stärker, radierte eine andere dafür aus, schraffierte einen Schatten dunkler. Sah wieder in den Spiegel.

Es änderte nichts. Die Zeichnung war korrekt, das Modell war, wie es war: hoffnungslos. Nichts stimmte an ihr, aber auch rein gar nichts. Die Ärmel der Bluse waren zu voluminös, die Weste spannte über der Brust, der Rock bauschte sich zu breit über die Hüften, und zu allem Überfluss überschattete der Hut mit der ausladenden Krempe und den langen Satinbändern das Gesicht. Verdeckte so das einzig Schöne an ihr: das dichte, honiggoldene Haar, das sie zu einem Zopf geflochten trug.

Einzig daraus ließe sich ein guter Akzent gewinnen. Aber nicht mit dem Hut obenauf. Wütend zerrte sie ihn vom Kopf und pfefferte ihn in die Ecke. Und den Skizzenblock schwungvoll gleich hinterher.

»Bist du so weit?«

Plötzlich stand Janne im Zimmer. Erschrocken fuhr Maria herum. Starrte sie an wie eine Erscheinung. Die Wirtin musste sie hereingelassen und gleich zu ihrem Zimmer am Ende des langen Flurs geschickt haben. Maria hatte nicht einmal die Klingel gehört.

»Geh allein. Ich bleibe hier. Ich habe zu tun.«

Nach einem flüchtigen Blick auf die Freundin begann sie hastig, sich das Kostüm auszuziehen.

Janne sah hinreißend aus. Bei ihr betonte die Bauerntracht genau die richtigen Stellen ihrer wohlgeformten Figur. Das war selbst unter dem offenen Mantel zu erkennen. Und der Hut mit den langen Bändern umrahmte ihr ebenmäßiges Gesicht vortrefflich.

Sie sollte sie zeichnen, nicht sich. Flüchtig streifte sie noch einmal ihr Spiegelbild.

Neben Janne wirkte sie noch plumper, unförmiger und biederer als ohnehin. Völlig ausgeschlossen, sich an ihrer Seite zu zeigen.

»Warum ziehst du dich aus? Hast du etwa vergessen, was wir vorhaben?«

Janne umklammerte ihre Handgelenke und versuchte, sie am weiteren Aufknöpfen der Bluse zu hindern.

Eine Weile rangelten sie miteinander.

»Lass mich!«, bat Maria. »Ich komme nicht mit. Ich habe es mir anders überlegt. Ich habe keine Zeit.«

»Das ist nicht dein Ernst! Natürlich kommst du mit«, widersprach Janne. »Die Bauernkirta im Schwabinger Bräu ist das Ereignis des Jahres. Alle gehen da hin. Die Herren von der Akademie wie auch die Damen von der Damenakademie, Lehrer wie Schüler. Darauf freust du dich seit Wochen! Im letzten und im vorletzten Jahr hast du dir da die Seele aus dem Leib getanzt. Und geflirtet und …«

»Dieses Jahr ist es anders. Mir steht nicht der Sinn danach. Und dir würde ich nur den Spaß verderben. Amüsier dich lieber ohne mich.«

»Fang jetzt bloß nicht so an! Jank …«

»Es reicht! Ich bleibe hier.«

Nicht auch noch seinen Namen nennen! Janne wusste doch, dass er der Quell allen Unglücks war. Dass sie nicht darüber hinwegkam, dass sie bei ihm in Ungnade gefallen war. Als Schülerin. Und als Geliebte. Ohne Vorwarnung. Völlig abrupt. Von einem Tag auf den anderen.

»Du bist verrückt!«

Janne schüttelte den Kopf. Maria nutzte die Gelegenheit und stieß sie energisch von sich weg. Janne strauchelte, verlor das Gleichgewicht, fiel rücklings aufs Bett.

»Verrückt war ich, als ich eingewilligt habe, mich in dieses lächerliche Kostüm zu zwängen, um mit dir zur Bauernkirta zu gehen«, erklärte Maria, sobald sie wieder ruhiger atmete, und stemmte die Hände in die Seiten.

»Schau mich doch an! Wie ein Trampel sehe ich aus. Lächerlich mache ich mich in dem Aufzug. So wird alles nur schlimmer statt besser.«

»Willst du dich etwa für alle Zeit in deiner Kammer verkriechen? Damit machst du es mit keinem Deut besser. Im Gegenteil. Jank wird triumphieren. Das darfst du ihm nicht durchgehen lassen. Zeig dem aufgeblasenen Schönling, dass er nicht der einzige Mann auf der Welt ist, der dich interessiert und der sich für dich interessiert. Versink seinetwegen nicht in Trübsal, nur weil er dich auf einmal nicht mehr will. Das ist er nicht wert. Jetzt musst du dich erst recht ins Vergnügen stürzen. Du bist nur einmal jung.«

Sie sprang vom Bett, fischte den Hut aus der Ecke, in die Maria ihn eben geschleudert hatte, klopfte den Staub ab, drückte die Dellen heraus und wollte ihn Maria reichen, als ihr Blick auf den Skizzenblock fiel, der dort ebenfalls lag. Gleich legte sie den Hut beiseite und bückte sich nach dem Block, blätterte ihn noch im Aufrichten neugierig durch, um schließlich an dem halbfertigen Selbstbildnis hängen zu bleiben.

Maria wollte ihr den Block wegnehmen, sie aber drehte sich blitzschnell zur Seite und trat einige Schritte in die Mitte des Raums, um das Licht der einzigen Lampe besser auszunutzen.

»Das ist gut. Das ist sogar sehr gut!«

Aufgeregt tippte sie mit dem Finger auf den Block.

»Klar in der Linienführung. Hervorragend in der Proportion. Wieso behauptest du immer, Porträts lägen dir nicht? Warum hast du das weggeworfen? Jetzt ist das Papier zerknickt.«

Vorsichtig strich sie es glatt, darauf bedacht, die Zeichnung nicht mit dem Handrücken zu verwischen.

»Die Schnür wird entzückt sein, wenn du es ihr nächsten Montag zeigst. Für ihren Kurs hast du das doch gezeichnet, oder? Die ›Heimarbeit Selbstbildnis‹. Gut, dass du den Kurs gewählt hast. Gib dir nur für Jank keine Mühe mehr. Den Anatomiekurs an der Damenakademie nutzt er frech, um sich an seine Schülerinnen heranzuwanzen. Damit ist ab sofort Schluss. Zumindest bei dir. Dem zeigst du die kalte Schulter. Für das gute Schnürlein musst du dich gar nicht so arg ins Zeug legen. Dich mag sie sowieso am liebsten von uns allen. Dein Talent hat sie längst erkannt.«

Sie legte den Block auf die Kommode, nahm den Hut vom Bett und setzte ihn Maria wieder auf den Kopf.

Maria wollte gerade nachfragen, ob sie das tatsächlich ernst meinte mit dem überschwänglichen Lob und dem Hinweis auf die Schnür, »Schnürlein«, wie die meisten Schülerinnen an der Damenakademie in der Barerstraße sie liebevoll nannten, jene zierliche, attraktive und bewundernswert selbstbewusste Lehrerin und Künstlerin, die schon einige Male die Titelblattzeichnung für die Zeitschrift Jugend geliefert hatte. Und trotzdem Woche für Woche in der Damenakademie unermüdlich an den Fähigkeiten ihrer talentierten und weniger talentierten Schülerinnen feilte. Sie ermutigte, nicht aufzugeben. Schon allein, um es den Männern in der »Königlichen Akademie der schönen Künste« zu zeigen, an der Frauen nicht studieren durften.

»Meinst du wirklich, die Zeichnung ist gelungen?«, hakte sie noch einmal verzagt nach.

»Dein Haar ist einfach wundervoll! Damit verzauberst du alle«, überging Janne die Frage und strich ihr über die Wange, hauchte einen Kuss darauf.

»Unter dem Hut sieht man aber nichts davon.«

Maria begriff, dass der Moment vorbei war. Und dass ihr wohl nichts anderes blieb, als doch mit zur Bauernkirta – »Bauernkirchweih« – zu kommen, wollte sie die Freundin nicht vergrätzen. Sie brauchte sie als Vertraute in der vertrackten Geschichte mit Jank. Und als Verbündete gegenüber den Eltern, die um nichts in der Welt erfahren durften, was sie in München trieb, wenn sich die Pforten der Damenakademie nach dem täglichen Unterricht hinter ihr schlossen und sie sich den weiteren Angeboten hingab, die die Kunst- und Bohèmestadt für junge Damen bereithielt.

Viel zu behütet war sie in Berlin gewesen, trotz ihrer mittlerweile achtundzwanzig Jahre. Nicht vorbereitet auf das, was außerhalb des Elternhauses zwischen den Geschlechtern üblicherweise geschah. Dagegen war sogar die Geschichte mit Westphal vor zwei Jahren rührend unschuldig gewesen, auch wenn sie für sie in Langenschwalbach geendet hatte. Kein Wunder, dass sie sich auf jede Gelegenheit stürzte, das Versäumte nachzuholen. Und dabei immer wieder auf die Nase fiel. Nur deswegen neigte sie zu überspannten Nerven, geriet bei der kleinsten Herausforderung aus der Fassung. So würde nie eine echte Künstlerin aus ihr, die sich selbstbewusst dem Leben stellte, um ihm in Bildern dynamisch Ausdruck zu verleihen.

Rasch knöpfte sie die Bluse wieder zu, zog die enge Weste darüber und betrachtete sich noch einmal von allen Seiten im Spiegel. Wenn sie es wie bei der Zeichnung machte, hier eine Linie durch Zupfen am Stoff etwas mehr unterstrich, dort eine andere durch Hineinstopfen in den Rockbund stärker zurücknahm und insgesamt mit der Frisur das Augenmerk auf ihr Haar lenkte, sah sie auf den zweiten Blick gar nicht so übel aus. Tatsächlich besaß sie ein sympathisch-hübsches Gesicht. Das hatten ihr schon einige Künstlerkollegen versichert und sie und ihr mysteriös in der Sonne leuchtendes Haar porträtiert.

Janne hatte recht: Es wäre fatal, sich zu verkriechen. Sollte Jank davon erfahren – und das würde er, denn auf die Bauernkirta im Schwabinger Bräu gingen alle aus dem Umfeld der Akademie und der Damenakademie, er selbst eingeschlossen –, verbuchte er das gewiss als persönlichen Sieg. Und verführte die nächste. Das wollte sie um jeden Preis verhindern.

Am Eingang des Festsaals mit der von Stuck und Girlanden verzierten Decke nahm es ihr den Atem. Das Fest war bereits in vollem Gang. Hunderte in Bauerntracht oder dem, was sie dafür hielten, zogen in einer der berühmtem Polonaisen an Janne und ihr vorbei, sangen oder vielmehr brüllten gegen die ohrenbetäubende Blasmusik vorn auf der Bühne an. Männer wie Frauen, Studenten wie Professoren. Was für ein lebensüberschäumendes Motiv!

Maria kniff die Augen zusammen, um die Szenerie genauer zu betrachten. Der Trubel war gewaltig. Dichte Rauchschwaden vernebelten ihr den Blick. Bierdunst hing in der Luft. Der Holzboden klebte von verschüttetem Bier. Seit Stunden musste es zwischen den schlanken, weißen Säulen hoch hergehen.

Unruhig tänzelte Janne neben ihr auf der Stelle, reckte den Kopf in alle Richtungen, um in dem Wirrwarr bekannte Gesichter zu entdecken. Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. Sie war ganz in ihrem Element. Bei nächstbester Gelegenheit würde sie sich ins Gewühl stürzen. Genau solcher Feste wegen war sie nach München gegangen, hatte Maria genau solcher Vergnügungen wegen überredet, ihr zu folgen.

Maria blickte sich weiter um. Und landete nach kürzester Zeit wie von einem Magneten angezogen in der Ecke hinten rechts. Bei Jank. Natürlich. Ihm entkam sie nicht. Nach wie vor zog er sie magisch an. Trotz allem, was er ihr angetan hatte.

Sein eckiger Kopf stach aus der Menge heraus, der forschende Blick seiner dunklen, asymmetrisch geformten Augen, die etwas nach oben gezogene linke Braue, der stets leicht spöttische Gesichtsausdruck. Viel zu gut kannte sie die Details. Viel zu sehr hatte sie sie geliebt. Viel zu oft hatte sie sie aus nächster Nähe studiert. Selbst aus der Ferne meinte sie, jetzt noch jede Linie erfassen und Jank aus dem Stegreif porträtieren zu können. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen. Nicht die Leidenschaft, mit der er sie geliebt, und die Neugier, mit der er ihren Bildern begegnet war, aus ihrem Kopf verbannen. Was tat er ihr da nur an?

Leider war er nicht allein. An seiner Seite bewegte sich eine zwar hübsche, aber gesichtslose Brünette in einem ungarisch anmutenden Kostüm im Takt der Musik. Aufmerksam folgte sie der Polonaise mit den Augen, wartete vermutlich auf den geeigneten Moment, um sich einzureihen. Jank legte ihr den Arm um die Hüften, neigte sich zu ihr herunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr, streifte dabei wie zufällig ihr Haar mit den Lippen. Sie errötete.

Maria schluckte. Was für ein stimmiges Motiv die beiden abgaben, der gut aussehende Herr in den Dreißigern und die unschuldige junge Dame Anfang zwanzig auf dem Künstlerfasching. Nur zu gut ahnte Maria, was er der Unbekannten wohl gerade gesagt hatte. Zu oft war sie selbst in den letzten Monaten diejenige gewesen, die er auf dieselbe Art besitzergreifend an sich gezogen hatte, um ihr etwas Frivoles zuzuraunen, bevor er mit ihr den Ort des Geschehens gewechselt hatte. Zu ihrer beider Vergnügen.

Das aber war jetzt vorbei. Vor wenigen Tagen hatte er ihr das verkündet. Aus heiterem Himmel hatte er es sich anders überlegt mit ihr. Und nun umgarnte er bereits die Nächste.

Auch wenn Maria von Anfang gewusst hatte, wie unstet er war, schmerzte es ungeheuerlich, das mit eigenen Augen zu sehen.

Sie spürte einen aufrüttelnden Stoß in der Seite, schrak zusammen. Janne hatte recht. Sie sollte die Zwei nicht derart auffällig anstarren. Entschlossen drehte sie sich zu der Freundin um.

Die aber stand gar nicht mehr neben ihr. Wo war sie hin? Vom Erdboden verschluckt?

Statt Janne blickte sie einem kahlköpfigen, untersetzten Jüngling in hellblau-weißem griechischen Gewand ins apfelrunde Gesicht.

»Ich bin der Grassl Hubert. Gerade wollte ich dich auffordern«, rief er und packte sie am Arm, zerrte sie zum Tanzboden.

»Nein!«

Sie sträubte sich. Vergebens. Er war stärker. Schon fand sie sich im dichtesten Gewühl, seine Hände auf ihren Hüften. Schwungvoll führte er sie zu den Klängen einer lustigen Polka im Kreis, jauchzte laut, schnalzte mit der Zunge und drehte sie um die eigene Achse, bis ihr schwindelig wurde und sie stolperte.

Lachend fing er sie auf.

Aus dem Augenwinkel erspähte sie Janks verdutzte Miene. Gleich reckte sie das Kinn etwas höher und strahlte Hubert an.

»Gut, was?«, fragte er.

»Passt schon«, erwiderte sie.

Sie nutzte die erstbeste Gelegenheit, sich ihm zu entwinden und in die entgegengesetzte Richtung zu fliehen.

Wo steckte nur Janne? Wieso hatte sie sie im Stich gelassen? Sie hätte wenigstens Bescheid geben können, bevor sie wegging.

Verzweifelt hielt Maria nach ihr Ausschau. Bei all den wild Feiernden und noch wilder Trinkenden gar nicht so einfach. Mehr als einmal deutete ein Kommilitone ihr Suchen falsch und wollte ebenfalls mit ihr tanzen. Einer grapschte ihr sogar direkt an die Brust und versuchte, sie zu küssen. Nur mit einer Ohrfeige wurde sie ihn wieder los.

Endlich fand sie Janne. Ihr strohblondes Haar hob sich von der dunklen Holztäfelung einer Säule am anderen Ende des Saales ab, ebenso setzte die weiße Bluse ihrer bunten Tracht einen markanten Akzent.

»Warum bist du fort?«, fragte sie sie, sobald sie bei ihr war.

»Du warst doch wieder mit Jank beschäftigt.«

»Ist das ein Grund, mich einfach stehen zu lassen?«

Maria konnte ihren Ärger kaum verbergen, dann aber bemerkte sie, dass Janne ihr gar nicht richtig zuhörte, sondern fast schon entrückt an ihr vorbei nach hinten sah.

Irritiert drehte sie sich um und folgte ihrem Blick.

Mangels Stühlen oder Bänken saßen einige junge Leute an der Seitenwand erschöpft auf dem Boden und ließen einen tönernen Bierkrug zwischen sich kreisen.

Auch das gab ein interessantes Bildmotiv ab, doch Maria ahnte, dass das nicht der Grund für Jannes Interesse war.

»Sieh nur, Dörte!«, raunte Janne ihr zu, aber da hatte Maria die gemeinsame Freundin ebenfalls schon entdeckt. Sie saß auf dem Schoß eines stattlichen dunkelhaarigen Mannes in bretonisch anmutendem Gewand. Von irgendwoher kam er Maria bekannt vor, allerdings fiel ihr nicht ein, woher. Dörte kicherte und schien sich köstlich zu amüsieren. Typisch! Die junge Düsseldorferin mit dem runden Apfelgesicht voller Sommersprossen ließ ungern eine Gelegenheit zum Flirten aus. Maria hatte es längst aufgegeben, sich zu merken, mit wem sie gerade »zugange war«, wie Dörte es selbst nannte.

An diesem Abend hatte sie sich also ein neues Opfer geangelt. Vor Kurzem noch hatte sie in Marias Gegenwart versucht, Jank zu bezirzen. Zwar bezweifelte Maria, dass sie von ihrer Beziehung mit ihm geahnt hatte, trotzdem hatte es sie verletzt. Mehrere Monate waren Jank und sie zusammen gewesen. Und jetzt wollte sie sich nicht vorstellen, dass Dörte die Ursache für seine abrupte Abkehr von ihr gewesen war. Dann schon lieber die konturlose Brünette von vorhin.

Schon wollte Maria sich abwenden und Janne fragen, warum sie sich überhaupt für Dörtes neueste Eroberung interessierte, da traf sich ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde mit dem des Unbekannten im Bretonengewand. Und blieb an ihm hängen.

Hastig schob er Dörte von seinen Oberschenkeln und starrte sie an.

Kurz hielt sie ihm stand, dann wandte sie sich wieder an Janne.

»Kennst du den Marc?«

Unvermittelt stand auch Hubert wieder bei ihnen.

»Ach, was frag ich! Natürlich kennst du den«, winkte er resigniert ab, noch bevor sie ihm hatte antworten können. »Ihr Weiberleut kennt den schönen Franzl doch alle.«

»So viele andere schöne Männer gibt’s hier ja auch nicht.«

Janne grinste süffisant.

»Und so viele kluge Frauen gibt’s wohl leider auch nicht. Oder warum sonst schaut ihr euch allweil die Augen nach dem Franzl aus?«, konterte er. »Dabei weiß doch ein jeder, dass er seit Ewigkeiten mit der Frau Professor Annette Simon verbandelt ist. Eine verheiratete Frau! Zwei kleine Mädchen hat sie. Das Jüngste könnt glatt von ihm sein. Nicht, dass ich jetzt was gesagt hätt, gar nichts gesagt hab ich!«

Übertrieben legte er den Finger auf die Lippen, zwinkerte ihnen zu.

»Dass der Professor Simon das mitmacht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber so ist das wohl, wenn einer zu tief in seinen seltsamen Studien übers Altertum versinkt, statt auf seine hübsche junge Frau aufzupassen.«

»Das scheint dir richtig nahe zu gehen. Die Frau Professor Simon liegt dir wohl sehr am Herzen«, neckte Maria ihn.

Vorstellen konnte sie sich das gut. Vor einigen Tagen erst hatte sie sie gesehen. Vor dem neuen Kaufhaus Tietz am Bahnhofsplatz. Tatsächlich mit Franz Marc zusammen, wie ihr jetzt auch wieder einfiel. Daher kannte sie ihn also. Annette Simon war eine feine Frau. Und gerade deswegen so auffällig. Vor allem an seiner Seite. Sehr grazil war sie in ihren Bewegungen. Neben ihm wirkte sie sogar noch zierlicher und zerbrechlicher. Maria erinnerte sich, dass er zu allem Überfluss eine hohe, schwarze Pelzmütze und eine braune, kurze, pelzgefütterte Jacke mit seltsamen Schnüren um die Knöpfe getragen hatte. Die hatte gleich ihr Interesse geweckt.

Wie Vater und Kind hatten die Beiden gewirkt. Und natürlich hatten sie Aufsehen erregt. Halb München zerriss sich das Maul über sie und ihre unstatthafte Beziehung. Immerhin war sie die Gattin eines angesehenen Gelehrten an der Universität und er der jüngere Sohn eines stadtbekannten Malers aus Pasing, studierte seit einiger Zeit selbst Malerei an der Akademie.

»Entweder nimmt er gerade Maß an dir, um dich zu porträtieren …«, hörte sie Hubert sagen.

Plötzlich hielt er inne. Sah sie verdutzt an, als ob er ebenfalls gerade Maß an ihr nähme.

Sah nochmals zu Franz Marc.

Dann wieder zu ihr.

»Oder was?«, hakte sie nach.

»Oder er hat sich gerade bis über beide Ohren in dich verliebt. So irre, wie der dich anstiert«, antwortete Janne an seiner Stelle und lachte.

Kapitel 2

Als Maria gut zwei Wochen später die ausgetretenen Treppenstufen eines Hinterhauses in der Schellingstraße nach oben stieg, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Bei jedem Knarren der Holzstiegen zuckte sie zusammen. Ihre Nervosität war lächerlich. Es ging lediglich um eine Einladung zum Tee. Allerdings bei der von ihr so verehrten Marie Schnür.

Ob sie Franz Marc kennenlernen wolle, hatte sie sie gestern nach Ende des Stilllebenkurses gefragt. Der komme zu ihr. Allein wolle sie ihn nicht empfangen. Nicht, dass es anzügliches Gerede gäbe. Natürlich hatte Maria ihr den Gefallen tun wollen und zugesagt. Und jetzt zitterten ihr die Finger, als sie den Klingelknopf drückte. Aber nicht wegen Franz Marc. Der interessierte sie nicht. Trotz der seltsamen Begegnung bei der Bauernkirta. Was sollte sie mit einem, der wie Jank hinter allen Röcken her war?

Von drinnen waren auf einmal laute, fröhliche Stimmen zu hören. Mehrere. Wild durcheinander. Maria stutzte. Hatte die Schnür sie nicht eingeladen, um zu verhindern, allein mit Franz Marc zu sein? Seltsam. Hoffentlich hörte sie das Läuten in dem Lärm überhaupt. Voller Unruhe studierte Maria das Muster des Türblatts, stapfte sich den Schnee von den Schuhen und versuchte, selbstbewusst zu wirken, während sie darauf wartete, dass ihr geöffnet wurde.

»Geh nicht«, hallte ihr Jannes Rat im Ohr. Auf dem Heimweg aus der Damenakademie hatte sie ihr abends ganz aufgeregt erzählt, dass das »Schnürlein« sie um ihren Besuch gebeten hatte.

»Die führt etwas im Schilde«, hatte Janne gemutmaßt.

»Wie kommst du darauf?«, hatte sie irritiert gefragt. »Ausgerechnet du hast mir doch ständig von ihr vorgeschwärmt. Erst bei der Rückgabe der Hausaufgaben hast du mir wieder gestanden, wie sehr du mich darum beneidest, von ihr gelobt zu werden. Oder gönnst du mir nicht, dass die Schnür mich zu sich nach Hause einlädt und nicht dich?«

»Natürlich gönne ich dir das. Wir sind Freundinnen«, hatte Janne entrüstet widersprochen. Und war unvermittelt stehen geblieben. Mitten auf dem eisglatten Trottoir. Fast wären die Passanten hinter ihnen in sie hineingeschlittert. Ein älterer Herr hatte lauthals zu schimpfen begonnen. Durch den scheußlichen Schneeregen waren die Wege zu gefährlichen Rutschbahnen mutiert.

»Pass gut auf dich auf. Du weißt, ich bin jederzeit für dich da.«

Flüchtig hatte Janne sie umarmt und war in die entgegengesetzte Richtung davongeeilt, so rasch es bei den Witterungsbedingungen möglich war. Was hätte Maria darum gegeben, hätte sie ihr Näheres über ihre rätselhaften Andeutungen verraten.

Doch nicht allein deshalb stand sie nun nervös vor Marie Schnürs Wohnung. Vorsichtig nahm sie sich den Hut vom Kopf und zupfte sich das locker hochgesteckte Haar zurecht.

Den dritten Winter in Folge verbrachte sie als Schülerin der legendären Damenakademie in München, war nicht nur dank der Affäre mit Jank schon oft in Privatwohnungen und Ateliers von Lehrkräften und namhaften Künstlern zu Gast gewesen. Allerdings noch nie bei der von ihr angebeteten Lehrerin. Dabei buhlte sie schon lange um deren Aufmerksamkeit. Umso märchenhafter, jetzt endlich das Ziel erreicht zu haben.

»Maria, wie schön!«, begrüßte die Schnür sie.

Es hatte etwas länger gedauert, bis die Tür endlich geöffnet wurde. Maria hatte schon überlegt, ein zweites Mal zu läuten. Die Geräusche aus dem Wohnungsinneren waren immer lauter geworden.

»Nur herein in die gute Stube!« Einladend wies die Schnür nach drinnen. »Es ist eng bei mir. Am besten legen Sie gleich hier vorn ab.«

Zu Marias Erleichterung half sie ihr noch bei offener Tür aus dem Mantel. Maria fürchtete, sie ungeschickt anzurempeln oder in dem schmalen Flur etwas umzustoßen. Gelegenheit dafür gab es reichlich. Die Wände waren übersät mit Zeichnungen in Glasrahmen, dazwischen Dutzende Podeste mit Figuren, Vasen oder Dosen. Selbst die wuchtige Kommode war von zerbrechlichem Nippes übersät. Und die Schnür im Gegensatz zu ihr rank und schlank genug, sich dazwischen grazil zu bewegen.

Der Garderobenhaken quoll über, dennoch gelang es ihr, Marias Mantel darüber zu hängen. Den Hut platzierte sie auf der Ablage, die ebenfalls bereits mehr aufgenommen hatte, als sie sollte.

»Die anderen sind schon mitten im Gespräch.«

Sie ließ offen, ob das ein Tadel oder eine Feststellung war. Dabei war Maria wie gewünscht pünktlich um vier eingetroffen. Wahrscheinlich hatte die Schnür die anderen früher bestellt. Absichtlich. Wortlos zeigte sie auf die offene Tür gegenüber, die vermutlich ins Wohnzimmer führte. Maria begriff das als Aufforderung, sich nicht noch genauer umzusehen, und ging hinein.

Um bereits auf der Türschwelle wieder jäh stehenzubleiben.

Auf dem Sofa thronte Jank!

Mit ihm hatte sie nicht gerechnet. War sie in der richtigen Fassung, ihm zu begegnen? Sollte sie ihr verführerisch goldenes Haar nicht erst geschickter zurechtbinden?

In der nächsten Sekunde ärgerte sie sich über sich selbst. Warum lag ihr noch immer so viel daran, welchen Eindruck sie auf ihn machte? Warum übte er nach wie vor so viel Macht über sie aus? Sicher, er war ein glühender Liebhaber. Und ein genialer Maler und Mentor, von dem sie viel gelernt hatte. Aber ein schlechter Charakter.

Sie sollte ihm aus dem Weg gehen, um nicht doch wieder schwach zu werden. In den Flur aber konnte sie nicht zurück. Die Schnür versperrte den Weg.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich zu Marias Erstaunen weniger besorgt denn vorwurfsvoll. Auf ihrem ebenmäßigen Gesicht lag plötzlich Missmut. Sie drängte Maria regelrecht ins Wohnzimmer.

»Professor Jank kennst du bereits«, stellte sie fest und wechselte zum Du, als wären sie schon lange befreundet. »Und das ist …«

»Franz Marc!«, antwortete der breitschultrige, dunkelhaarige Malerkollege, der Maria auf der Bauernkirta so angestarrt hatte. Seine Stimme klang dunkel und bestimmt. Mit einem Satz war er aus dem Sessel gesprungen und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen, verdeckte die Sicht auf Jank.

Sein Händedruck war warm und fest. Aus der Nähe wirkte er noch imposanter als im Schwabinger Bräu. Er strahlte eine ungeheure Präsenz aus, die sie gern genossen hätte, wäre da nicht Jank, dem sie unbedingt entkommen musste. Aber nun versperrte Franz ihr den Weg.

»Da komme ich ja gerade richtig«, vernahm sie eine weitere weibliche Stimme in ihrem Rücken. Dörte!

Sie kam so selbstverständlich mit einem großen Tablett, beladen mit Teekanne, Kuchen und Geschirr, herein, dass offensichtlich war, dass sie sich bei der Schnür wie zu Hause fühlte. Maria schluckte. Jannes Verdacht kam ihr in den Sinn. War es das, was die Schnür im Schilde führte? Wollte sie ihr auf diese Weise demonstrieren, wie viel sie von Dörte hielt?

Ihr Blick wanderte über den Tisch vor dem Sofa. Darauf lagen Skizzenhefte und Blöcke, dazwischen Blätter mit verschiedenen anatomischen Studien und Zeichnungen. An der Wand gegenüber lehnten ungerahmte Bilder, Leinwände mit der Front zur Wand direkt daneben. Der vertraute Geruch nach Ölfarben und Terpentin stieg ihr in die Nase. Es herrschte das vertraute Chaos, das sie auch aus anderen Künstlerwohnungen kannte. Allerdings schien sich das Atelier der Schnür entweder im Zimmer nebenan oder ganz woanders zu befinden. Staffelei, Pinsel, Palette oder Farbtuben waren nirgends zu entdecken.

»Mein Atelier ist im Hinterhaus«, erklärte die Schnür. Anscheinend hatte sie Marias suchenden Blick registriert. »Wir waren gerade mitten in der Diskussion über die Aktzeichnungen …«

»Was sagst du dazu?«

Franz hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf, sondern duzte sie ebenfalls ganz selbstverständlich. Flugs fischte er eines der Blätter vom Tisch, auf dem Rötelzeichnungen eines männlichen Akts mal sitzend von hinten, mal von der Seite, mal halb schräg, mal auch nur der Oberkörper ohne Hintern und Beine zu sehen waren. In der Bildmitte prangte der komplette Körper, räkelte sich in lasziver Pose, das Geschlecht deutlich entblößt. Marias Blick fiel auf das Gesicht: Franz. Verlegen sah sie zur Seite, streifte Jank, der sie unverblümt betrachtete. Sie errötete. Verdammt!

Das neuerliche Klingeln an der Wohnungstür ersparte ihr die Antwort an Franz. Die Schnür warf Dörte einen strengen Blick zu, die aber setzte sich zu Jank aufs Sofa. Er lächelte süffisant. Der Schnür bliebe keine Wahl. Sie musste selbst zur Tür gehen und öffnen. Sichtlich enerviert verschwand sie in den Flur.

Dörte schenkte Maria einen triumphierenden Blick. Bevor Maria sich abwandte, registrierte sie aus dem Augenwinkel Janks Schmunzeln. Ostentativ legte er Dörte den Arm um die Schultern und zog sie näher zu sich heran. Sie schmiegte sich an seine Seite.

Der Nachmittag entpuppte sich als Groteske. Maria war gespannt, wer als Nächstes auftauchte.

Zu ihrer Verwunderung war es Hubert Grassl. Seit der Kirta lungerte er auffällig oft im Umkreis der Damenakademie oder des Café Luitpold herum, wo die Malschülerinnen nachmittags ihren Mokka oder eine heiße Schokolade zu trinken pflegten. Ihn schob die Schnür genauso ungeduldig ins Wohnzimmer wie vorhin Maria. Er reagierte ähnlich überrascht wie sie, sobald er die Lage erfasste, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen.

»Schau an, die Maria! Und der Franzl. Und beide schon mitten im angeregten Gespräch über die Kunst.«

Augenzwinkernd warf er einen Blick auf die Aktzeichnungen, grinste noch breiter, dann verbeugte er sich knapp vor Jank. »Und der Herr Professor! Welch Vergnügen, auch Ihnen hier zu begegnen. Verzeihung, wenn ich Sie mitten im angeregten Disput mit Fräulein Dörte wahrscheinlich gleichfalls über die Akte …«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, unterbrach Jank ihn und erhob sich. »Entschuldigen Sie. Sie sind ja jetzt alle gut beschäftigt.«

Ohne auf Dörtes verdutzte Miene zu achten, eilte er an Maria vorbei in den Flur, wo die Schnür mit den heruntergefallenen Mänteln am Garderobenhaken kämpfte. Maria hörte, wie er ihr anbot, zu helfen. Dann schloss er die Tür.

»Ich setze neues Teewasser auf«, sagte Dörte und eilte ebenfalls wieder hinaus. Hubert folgte ihr, ließ die Tür zum Flur allerdings weit hinter sich offen stehen.

Die Stimmen draußen wurden lauter, schwankten zwischen Amüsement und Verärgerung, wie Maria sich einbildete herauszuhören. Schon wollte sie ebenfalls hinaus, da hielt Franz sie abermals auf.

»Was sagst du jetzt also zu den Zeichnungen?«

Er fasste sie am Arm und führte sie zum Fenster, wo das Licht besser war. Die Unruhe im Rest der Wohnung schien ihn nicht zu kümmern.

»Leider bin ich wenig firm in Aktzeichnungen«, wich sie aus und unternahm einen neuerlichen Versuch, sich ihm zu entziehen.

Zu zaghaft, wie sich zeigte. Franz lächelte. Auf einmal war sie gar nicht mehr so sicher, ob sie noch hinaus wollte.

»Höchste Zeit, dass wir einmal über die Akte reden.«

Franz nötigte sie geradezu, die Blätter aufmerksamer zu betrachten. Sie schienen wirklich gut. Wer sie wohl gezeichnet hatte? Die Schnür? Der immer gleiche Schwung in der Linie ließ ein und dieselbe Person hinter allen vermuten. Eine Signatur fehlte.

»Eigentlich konzentriere ich mich auf Landschaftsmalerei und Stillleben«, setzte sie an.

Deutlich spürte sie Franz’ Blick auf sich ruhen. Das machte sie nervös. Ebenso wie der Gedanke, was Jank und die anderen wohl draußen im Flur miteinander veranstalteten. Offenkundig hatten es sowohl die Schnür als auch Dörte auf ihn abgesehen.

»Den Porträtkurs bei Marie Schnür habe ich nur …«, fügte sie eher geistesabwesend hinzu, um überhaupt etwas zu sagen, und wandte sich wieder Franz zu.

»Dachte ich’s mir!« Erfreut nahm er ihr die Blätter aus der Hand, legte sie achtlos auf die Fensterbank und strahlte sie an. »Porträts sind eine ganz eigene Kunst. Und beim Akt kommt es ohnehin ganz aufs Modell an.«

Freimütig glitt sein Blick über sie, verharrte länger, als schicklich war, auf ihrem Busen, bevor er verkündete: »Am liebsten bin ich mit der Staffelei an der frischen Luft unterwegs, möglichst draußen in den Bergen. Da fange ich direkt auf der Leinwand mit einem Bild an. Skizzen und Entwürfe dauern mir einfach zu lang.«

»Ist dein Vater nicht ein bekannter …«

»Mein Vater hat sich mit Genre- und Landschaftsbildern einen Namen gemacht. Er zählt zum erlauchten Kreis der Münchner Schule, musste allerdings vor einigen Jahren mit dem Malen aufhören. Inzwischen sitzt er im Rollstuhl.«

»Das tut mir leid.«

»Schon gut. Früher war er sehr produktiv, jetzt grämt er sich nicht zu arg, denn er erhält eine gute Pension. Zum Dank, dass er auf Schloss Linderhof und in Herrenchiemsee für den verstorbenen König tätig gewesen ist.«

Aus Franz sprudelte es nur so heraus. Maria wunderte sich. Sie kannten sich doch gar nicht. Er schien gleich Zutrauen zu ihr gefasst zu haben. Und das, obwohl sie sich bislang so abweisend ihm gegenüber verhalten hatte. Wie unhöflich von ihr!

Es rührte sie, wie offen er ihr gegenüber war. Und wie er sie dabei ansah. Und überhaupt anscheinend alles daran setzte, sie für sich zu gewinnen. Ausgerechnet er, der stadtbekannte Schwabinger Schlawiner. Das tat gut. Gerade weil sie Jank draußen im Flur wusste, lächerlich umschwärmt von Dörte und der Schnür zugleich. Aber auch, weil Franz eine ganz eigene Art hatte, die ihr sehr gefiel. Sie trat einen Schritt näher zu ihm. Er roch gut. Männlich. Herb. Nach. Ölfarbe. Lösungsmitteln. Und nach nasser Leinwand.

»Da muss ich mich wohl noch sehr ins Zeug legen, um ihm eines Tages halbwegs das Wasser reichen zu können.« Franz schien nicht zu bemerken, was in ihr vorging, sondern redete unbekümmert weiter.

»Eigentlich eine verrückte Idee von mir, mich demselben Metier zuzuwenden wie mein Vater, noch dazu, da er so übergroße Schatten wirft. Lange habe ich nicht im Traum daran gedacht, zu malen. Anfangs wollte ich Pfarrer werden. Dann habe ich es mit der Philosophie versucht. Während meines Jahrs beim Militär habe ich allerdings gemerkt, dass ich malen muss. Inzwischen kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, je etwas anderes im Leben zu tun.«

Kurz hielt er inne.

Wieder dieser Blick. Forschend. Aber auch sehr interessiert. Und fasziniert.

»Wie bist du zur Malerei gekommen?«, fragte er endlich.

Wie er sie jetzt schon wieder anlächelte! Ihr Herzschlag stockte. Sie brauchte nur wenige Sekunden, um sich zu besinnen. Und ihm jetzt ebenso freimütig zu erzählen, dass sie schon seit frühester Jugend male und bereits die verschiedensten Damenateliers und Sommerkurse absolviert habe. Sie verriet ihm auch, dass sie derzeit mit sich hadere, ob sie wirklich ausreichend Talent besitze, weil ein guter Freund, der ebenfalls male und an der Damenakademie unterrichte, ernsthafte Zweifel in ihr geweckt habe.

»Wenn du schon so lange malst und dir dein Talent mehrfach bestätigt wurde, bist du auf dem richtigen Weg. Wie kann dich da ein Einzelner noch verunsichern, womöglich gar von deinem Weg abbringen? Hast du nicht eben erwähnt, du hättest bereits mit neunzehn einen erfolgreichen Abschluss an der Königlichen Kunstschule gemacht?«

»Und noch eine Ausbildung zur Turnlehrerin absolviert«, ergänzte sie.

»Turnen kannst du auch noch!« Begeistert klatschte er in die Hände. »Ich liebe es, mich sportlich zu betätigen. Der ideale Ausgleich zum stundenlangen Stehen vor der Staffelei. Kannst du mir nicht eine Übung zur Auflockerung zeigen? In etwa so etwas?«

Er versuchte, auf einem Bein zu balancieren, das zweite ans Knie anzuwinkeln und die Arme in die Höhe zu recken. Sofort verlor er das Gleichgewicht. Sie musste lachen. Und demonstrierte ihm, wie die Figur richtig positioniert wurde. Übermütig probierte er es von Neuem. Stellte sich dabei ungeschickter an als nötig, um sie abermals zum Lachen zu bringen.

Im unbeschwerten Hin und Her mit Franz vergaß sie völlig ihren Ärger über Jank und die beiden anderen Frauen. Ebenso schien Franz längst alles um sie herum vergessen zu haben. Selbst dass sie eigentlich über die Rötelzeichnungen hatten reden wollen, spielte keine Rolle mehr. Obwohl die Blätter weiterhin in Sichtweite lagen, die entblößenden Zeichnungen obenauf, wirkte er nicht im Geringsten verlegen. Ihn interessierte offenkundig nur noch Maria und das, was sie ihm zu erzählen hatte. Sofort fragte er nach, wenn er etwas genauer wissen wollte. Gebannt hörte er zu, was sie sagte. Sie badete sich in seiner Aufmerksamkeit. Vom ersten Moment ihrer Begegnung brachte er ihr eine besondere Wertschätzung entgegen, wie sie es so bei noch keinem anderen Menschen erlebt hatte. Vor allem nicht bei einem Mann. Und einem Künstlerkollegen.

Nur zu gern ließ sie sich auf seine zügellose Neugier ein. Obwohl sie kaum etwas von ihm wusste außer dem stadtweiten Tratsch über seine Liebeleien, überhaupt zum ersten Mal mit ihm persönlich redete, noch dazu unter vier Augen. Das war sonst nicht ihre Art, erst recht nicht nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre. Und zuletzt nach der mit Jank.

»Das verstehe ich gut, dass du es nach den norddeutschen Landschaften mit den Bergen hier im Süden versuchen willst.«

Franz rückte so dicht an sie heran, dass sie den Tabakgeruch in seinen Kleidern registrierte. Er steckte sich ein Zigarillo zwischen die Lippen, bot ihr auch eines an.

»Ich rauche nicht.«

»Noch nicht.«

Verschmitzt schmunzelte er, inhalierte einige Male. Blies den Rauch in bunten Kringeln zur Seite aus, wandte sich dann mit einem versonnenen Blick zum Fenster. Für eine Weile verlor er sich in dem winzigen Ausschnitt des dämmrigen Märzhimmels, der von dort aus zu sehen war.

»Allein die Blautöne, die es braucht, um einen sonnigen Sommertag im Voralpenland annähernd zu fassen, sind völlig anders als oben im Norden. Himmelsblau, Bayerischblau, Königsblau, Azurblau …«

»Aber keinesfalls Preußischblau.«

»Das bestimmt nicht.«

Amüsiert zwinkerte er ihr durch den Zigarillorauch zu.

»Auch das Grün auf den Wiesen hier im Süden, das Gelb der Weizenfelder oder das Braun des Ackers sind anders als etwa in der Lüneburger Heide. Hier herrscht eine völlig andere Stimmung. Gar nicht zu vergleichen.«

Dass er bislang noch nie selbst in Norddeutschland gewesen war, störte ihn nicht im Mindesten, wie sich zeigte. Nicht einmal Berlin habe er besucht, räumte er ein, dafür vor zwei Jahren eine Frankreichreise mit einem Kommilitonen unternommen.

»Ein großartiges Land! Die Loire-Schlösser sind genial, aber malen wollte ich sie nicht. Überhaupt reizen mich Gebäude nicht als Sujets. Auch Städte oder Straßenszenen interessieren mich nicht, nicht einmal in Paris, das so ganz anders ist als München, Tours oder Orléans. Dafür bietet die bretonische Küste ein unendliches Thema. Das raue Meer hat etwas. Die Stimmung bei Flut, im Sturm, aber auch bei Windstille. Jedes Mal aufs Neue faszinierend. Niemals sieht es gleich aus, selbst von ein und derselben Stelle aus nicht. Und das Farbengewitter, das sich dort oben in jeder Sekunde entlädt, ist gewaltig. Das Blau changiert zwischen Graublau, Algenblau, Blaugrün …«

»Bretonischblau?«

Wieder lachten sie.

»Bislang war ich nur an der Ostsee und von Königsberg aus am Haff«, räumte sie ein. »Der Atlantik ist gewiss komplett anders, vor allem das sich rapide verändernde Licht, die schäumende Brandung, die schnell übers Firmament entlangjagenden Wolken. Das alles spiegelt sich natürlich in den unterschiedlichen Blautönen.«

Die Begeisterung, mit der er seine Eindrücke aus Frankreich schilderte, war ansteckend. Schon hatte sie selbst konkrete Bilder im Kopf. Unfassbar, welche Worte er hatte, um die unterschiedlichen Nuancen der Farben zu beschreiben. Anscheinend konnte er das auch auf Französisch. Seine Mutter stamme aus dem Elsass, er sei zweisprachig aufgewachsen, erwähnte er beiläufig.

»Bestimmt hast du von deiner Reise viele Skizzen mitgebracht und schon einige Bilder gemalt.«

Gebannt sah sie ihn an. Würde er ihr die zeigen?

»Abgesehen von der Tracht, in der du mich auf der Bauernkirta gesehen hast, habe ich nur einige Tuscheskizzen aus Paris und eine in Öl aus der Bretagne mitgebracht.«

Sie war irritiert. Eine überraschend geringe Ausbeute für eine solch ausgedehnte Reise. Er aber tat, als wäre es für einen Maler selbstverständlich.

»Es sind wirklich keine großen Sachen, aber vor allem dieses Licht wird mir im Sinn bleiben«, setzte er nach, blickte zugleich wieder nach draußen in den sich allmählich verdunkelnden Winterhimmel über München. »Wie ist das zu fassen? Ein endloses Farbenspiel. Mit welchen Mitteln macht man das auf der Leinwand für den Betrachter erlebbar? Die unendliche Tiefe, die darin steckt, das Geheimnisvolle, das sich dabei offenbart. Mir geistert ein junges Mädchen mit feuerrotem Haar durch den Kopf, das ich gegen das tiefblaue Meer in seinen verschiedenen Schichten zeigen will. Allerdings arbeite ich noch daran, wie ich es am geschicktesten anstelle, damit die beste Wirkung zu erreichen.«

»Die Spannung zwischen Rot und Blau in einem solchen Sujet aufzugreifen, ist eine hervorragende Idee. Das schlägt einen weiten Bogen.«

Sie nippte am Tee, den Dörte ihr gebracht hatte, sichtlich beleidigt, dass weder Maria noch Franz sie beachteten. Dafür bemühte sich Hubert mit allen Mitteln, sie zu unterhalten, während sie sich immer wieder ins Gespräch zwischen der Schnür und Jank einzuschalten versuchte, wie Maria mit einem beiläufigen Blick zum Sofa registrierte. Ins Wohnzimmer zurückgekehrt, führten die vier bald hitzige Diskussionen mit- und gegeneinander, wie an ihren erregten Stimmen zu erkennen war.

»Van Gogh ist großartig.« Unbeeindruckt von den anderen sprang Franz zum nächsten Punkt. »In Paris seine Bilder zu sehen, war eine echte Offenbarung. Sein eigenwilliger Pinselstrich, die Kraft seiner Farben – wirklich famos! Danach war mir klar, dass mir das Studium an der Akademie nichts mehr bringt. Dass ich meinen Weg selbst finden muss, jenseits der akademischen Lehre und Sichtweisen.«

»Du bist weg von der Akademie? Ohne Abschluss? Sehr mutig!«

»Du warst im letzten Jahr mit Max Feldbauer im Dachauer Moos unterwegs?« Abrupt drückte er den Zigarillo in einem bunten Unterteller auf dem hölzernen Fensterbrett aus. Seine Fingerspitzen waren vom Tabak gelblich verfärbt, trugen allerdings auch deutliche Spuren von Ölfarben. Blau, Rot, Grün und Gelb schien er am liebsten in kräftigen Tönen zu verwenden.

»Woher weißt du …?«, fragte sie überrascht.

»München ist ein Dorf, erst recht die Künstlerszene.« Er lachte. »Die Maler von der Scholle sind gute, solide Lehrmeister. Max Feldbauer ist sicherlich die beste Adresse, wenn du Moorlandschaften in den Griff bekommen willst. Überhaupt pleinair malen willst. Auch als Zeichner hat er einiges zu bieten. Ebenso wie unser liebes Schnürlein.«

Wieder griff er nach den Aktzeichnungen auf dem Fensterbrett, betrachtete sie noch einmal ausgiebig, bevor er sie Maria reichte.

»Ich glaube, es wird Zeit, zu gehen.« Verlegen deutete sie durchs Fenster nach draußen. Inzwischen war es dunkel geworden.

»Ich bring dich nach Hause.«

Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, zog er sie an der Hand mit sich, bedankte sich bei der Schnür für die Einladung und verabschiedete sich von den drei anderen. Leicht verdutzt tat sie es ihm nach. Und bemerkte mit Genugtuung Janks Erstaunen, dass sie gemeinsam mit Franz die Wohnung verließ. Hand in Hand. Auch Dörte und Hubert wirkten überrascht.

Als Franz ihr im engen Flur in den Mantel half und ihr den Hut reichte, berührte er sie wie zufällig am Arm, streifte ihr Haar. Lächelte sie von Neuem an. Sie lächelte zurück. Es wunderte sie, wie wenig Scheu er hatte, sie zu berühren. Und wie schön sie es fand.

»Du wohnst auch in der Kaulbachstraße?«, fragte er auf dem Weg nach unten, sobald sie ihm ihre Adresse genannt hatte. »Dann sind wir quasi Nachbarn. Unglaublich, dass es die Bauernkirta oder vielmehr einen Nachmittagstee beim Schnürlein braucht, damit wir uns begegnen.«

Er schüttelte den Kopf, riss ihr schwungvoll die Hoftür auf und folgte ihr nach einer übertrieben tiefen Verbeugung nach draußen auf die Schellingstraße.

Der Frost hatte wieder angezogen, den tagsüber angetauten Schnee auf dem Trottoir erneut gefrieren lassen. Galant bot Franz ihr den Arm. Ihr gefiel der feste Griff, mit dem er ihr über die rutschigen Partien half.

Gemächlich schlenderten sie an den Buchhandlungen, Antiquariaten und Cafés vorbei bis zur Ludwigstraße, schlängelten sich durch die Studenten- und Professorengruppen, die sich nach dem Ende der Vorlesungen und Seminare aus den Universitätsgebäuden auf die Gehwege ergossen, und wechselten vor dem hell erleuchteten Siegestor die Straßenseite.

Eine voll besetzte Tram quälte sich nordwärts nach Schwabing, die Räder quietschten in den Schienen, der Waggon schepperte wegen des holprigen Untergrunds. Der Schaffner läutete mit der Glocke Sturm, um Fuhrwerke und Radler wie auch zu langsame Passanten fortzuscheuchen.

Vor dem Milchgeschäft an der Ecke zur Schackstraße erregte sich eine Gruppe Dienstmädchen lauthals über eine anstehende Preiserhöhung.

»Meine Gnädige wird sich freuen«, meinte eine sarkastisch.

»Meine wird behaupten, ich wollte sie betrügen«, empörte sich eine Zweite. »Die hat keine Ahnung nicht, wie teuer das Leben ist.«

»Die Meinige geizt mit dem Haushaltsgeld, um sich mit schönen Hüten und Klamotten in der Gesellschaft zu beweisen«, schimpfte eine andere.

»Serviert lieber Bier statt Milch zum Frühstück«, rief Franz ihnen zu, als sie an ihnen vorbeigingen. »Das sorgt für bessere Laune, vor allem beim Hausherrn. Und billiger ist es obendrein.«

Die Mädchen drehten sich um. Fröhlich winkte er ihnen. Sie kicherten.

»So schnell kann man für gute Stimmung sorgen«, erklärte er Maria. Sie lächelte.

Viel zu schnell erreichten sie das Haus, in dem sie wohnte.

»Wir sollten das mit unserer Nachbarschaft als glückliche Fügung sehen.«