Die Buchhandlung in der Amalienstraße - Heidi Rehn - E-Book
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Die Buchhandlung in der Amalienstraße E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Der Krieg steht bevor. Düstere Zeiten brechen an. Zwei Buchhändlerinnen setzen für ihre Überzeugungen alles aufs Spiel. München, 1913. Für die rebellische Elly wird ein Traum wahr, als sie in der Buchhandlung in der Amalienstraße ihre Ausbildung beginnen darf. Zusammen mit ihrer wissbegierigen Freundin Henni liest sie jedes Buch, das ihr in die Finger kommt. Gegen alle Widerstände gründen Elly und Henni einen Salon für Schriftstellerinne. Die harsche Zensur des Kaiserreichs lässt nichts unversucht, um den modernen Frauen Steine in den Weg zu legen. Doch dann bricht der erste Weltkrieg über die jungen Buchhändlerinnen hinein. Als Ellys Freund Leo an die Front gerufen wird, können sie sich nicht mehr in ihre Bücher flüchten … Der große, gefühlige München-Roman von Erfolgsautorin Heidi Rehn 

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Die Buchhandlung in der Amalienstraße

Die Autorin

HEIDI REHN, in Koblenz am Rhein geboren, arbeitet seit vielen Jahren als freie Journalistin und Autorin. Vor allem mit ihren München-Romanen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie sich einen Namen gemacht. 2014 erhielt sie den »Goldenen Homer« für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Sie veranstaltet regelmäßig literarische Spaziergänge durch München.

Das Buch

Der Krieg steht bevor. Düstere Zeiten brechen an. Zwei Buchhändlerinnen setzen für ihre Überzeugungen alles aufs Spiel.

München, 1913. Für Elly wird ein Traum wahr, als sie in der Buchhandlung in der Amalienstraße ihre Ausbildung beginnen darf. Zusammen mit der jungen Buchhalterin Henni liest sie jedes Buch, das ihr in die Finger kommt. Die rebellische Elly und die wissbegierige Henni diskutieren angeregt über Emanzipation und engagieren sich für Frauenrechte, aber bald verdunkeln die heraufziehenden Wolken des Ersten Weltkriegs ihren Horizont. Vermehrt kontrollieren die Zensuragenten des Kaiserreichs der Buchhandlung und bedrängen die jungen Buchhändlerinnen. Als schließlich Ellys Freund Leo an die Front gerufen wird, können sie sich nicht mehr in ihre Bücher flüchten …

Heidi Rehn

Die Buchhandlung in der Amalienstraße

Roman

Ullstein

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Epilog

Auswahl der erwähnten Buchtitel

Liste der wichtigsten Figuren

Nachbemerkung

Karte

Quellenangaben Motto

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

In Erinnerung an MetaSchaff dir deine Welt; wie du sie schaffst, so ist sie.Sie ist nur in dir selbst, in deiner Vorstellung.Schaff sie dir und glaub an deine Welt!Helene Böhlau, HalbtierModern sein heißt für die Frau ein eigenes Gesetzin der Brust tragen, dessen Erfüllung ihr vielleicht nicht banales Glück, gewiß aber das höchste Glückder Erdenkinder gewährt: die Persönlichkeit.Carry Brachvogel, Hebbel und die moderne Frau

Prolog

München, Mitte März 1910

Der Abend hatte sich gelohnt. Elly wusste jetzt, was sie werden wollte: ausgebildete Buchhandelsgehilfin. Und ebenso wusste sie, was sie keinesfalls werden wollte: abhängig von einem Mann, der ihr den Lebensunterhalt sicherte. Sie würde auf eigenen Beinen stehen, unabhängig durch einen Beruf, der ihr schon lange am Herzen lag. Der Vortrag im Verein für Fraueninteressen hatte ihr gezeigt, wie ihr das gelänge. Sie platzte vor Ungeduld, mit Henni darüber zu sprechen.

Beim Verlassen des Saales beobachtete sie die Anwesenden. Fast nur Frauen, fast alle zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt, älter als Henni und sie, und fast alle aus den gleichen gutbürgerlichen, gebildeten Kreisen wie sie, aber nicht wie Henni. Das aber würde künftig ebenso wenig eine Rolle spielen wie das Geschlecht, wie die Berliner Buchhändlerin Marie Lesser vorhin ausgeführt hatte. Vor zehn Jahren habe das zwanzigste Jahrhundert begonnen. Das Zeitalter, in dem Frauen ein eigenständiges Leben führten, ganz nach ihren Vorstellungen und intellektuellen Fähigkeiten, unabhängig von der Herkunft. Eine Beschäftigung im Buchhandel biete die ideale Voraussetzung dafür. Kein Wunder, dass der Anteil der Frauen in der Branche seit Jahren kontinuierlich steige. Seit zwei Jahren existiere sogar ein Buchhandelsgehilfinnenverein, der den weiblichen Angestellten und ihrer zunehmenden Bedeutung im Börsenverein Gehör verschaffe.

Für Elly bestand kein Zweifel: Das war ihre Chance!

»Der Vortrag war großartig, findest du nicht?«

Beschwingt zog sie ihre Freundin Henni in die dunkle Märznacht hinaus. Schneeflocken wirbelten durch die kalte Luft. Sie breitete die Arme zur Seite, legte den Kopf in den Nacken und tanzte übers Trottoir.

Manche der Frauen, die wie sie den Vortrag besucht hatten und sich nun auf den Heimweg machten, sahen missbilligend zu ihr herüber. Andere schüttelten den Kopf, wobei nicht genau zu entscheiden war, ob zustimmend oder ebenfalls indigniert. Einige, gar nicht so wenige aber lächelten.

»Recht haben Sie, Fräulein!« Eine Dame mittleren Alters applaudierte ihr. »Wäre ich noch einmal so jung wie Sie, dann würde ich auf mein Höheres-Tochter-Dasein pfeifen und mich schnellstmöglich um eine Lehrstelle im Buchhandel bemühen.«

»Das ist unsere Chance! Die müssen wir ergreifen.« Nach einer letzten, schwungvollen Pirouette um die eigene Achse hüpfte Elly zu Henni zurück, schlang sich den Schal enger um den Hals und hakte sich bei ihr unter.

Henni hatte die Veranstaltung heimlich besucht. Ellys Mutter hatte es ihrer Tochter selbstredend erlaubt, Hennis Vater aber missbilligte den Frauenverein, und ihre Mutter wagte nicht, gegen ihn aufzubegehren. Damit Hennis Eltern nichts von ihrem Besuch erfuhren, übernachtete sie unter dem Vorwand, Elly und ihrer Mutter beim Waschtag zu helfen, bei ihnen in der Wohnung nahe am Englischen Garten.

Ellys verwitwete Mutter Dita hatte anderes im Sinn, als sich zu sorgen, was Elly tat, während sie sich abends oder vielmehr nachts vergnügte. Und erst recht anderes, als darüber zu grübeln, was Elly mit ihrem Leben langfristig anfing, außer sich eine aus ihrer Sicht gute, sprich: reiche Partie zu angeln, die ihr ein amüsantes Dasein garantierte.

»Marie Lesser spricht mir aus der Seele«, bekräftigte Elly, während sie und Henni Arm in Arm Richtung Odeonsplatz stapften. »Wir müssen Buchhändlerinnen werden. Das ist der Beruf für uns. Eine Schande, dass wir nicht längst selbst darauf gekommen sind. Gleich morgen in der Früh gehen wir zu Theres und Ruth und fragen, ob wir bei ihnen anfangen können. Um sieben sperren sie die Buchhandlung auf. Wenn wir dann schon vor der Tür stehen, erwischen wir sie noch allein, um ungestört mit ihnen zu reden.«

»Dich nehmen sie bestimmt sofort. Warum sonst haben sie dir von dem Vortrag heute Abend erzählt? Außerdem hast du die Höhere-Töchterschule besucht, stammst aus gutbürgerlichen Kreisen. Ich dagegen habe nur acht Jahre Volksschule, bin in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und …«

»Unsinn!«, unterbrach Elly sie. »Du bist klug und wissbegierig. Du liest viel mehr als ich. Und außerdem hast du ein Faible für aufregende Geschichten. Das wissen die Lämmles. Sie kennen uns, seit wir mit fünf oder sechs Jahren angefangen haben, bei ihnen in den Büchern zu stöbern. Dank ihnen haben wir beide uns doch überhaupt erst kennengelernt. Deinen Vater wollten sie sogar überreden, dich auf eine bessere Schule …«

»Was er mir trotzdem verboten hat, weil ein Mädchen seiner Ansicht nach ohnehin heiratet. Lass, Elly. Ich schaffe das auch so. Die Stelle als Ladenhilfe im Tabakgeschäft von Frau Hippmann ist ganz passabel. Bei ihr erlebe ich fast jeden Tag etwas, was ich für meine Geschichten gebrauchen kann. In vier Jahren bin ich großjährig, dann gehe ich sowieso von hier weg.«

»Du darfst nicht weggehen!« Abrupt blieb Elly stehen, zwang Henni, sie anzusehen. »Du darfst mich nicht allein lassen. Du bist meine beste Freundin. Der einzige Mensch, dem wirklich etwas an mir liegt. Was soll ich nur ohne dich tun?«

»Eben noch hast du selbst gesagt, die Lehre als Buchhändlerin wäre deine große Chance, um selbstständig zu werden, auf eigenen Füßen zu stehen. Dabei tust du das eigentlich jetzt schon. Mich brauchst du nicht dazu.«

»Dich brauche ich immer! Unser ganzes, hoffentlich langes Leben lang …«

Elly stellte sich auf die Fußspitzen, schlang der zwei Handbreit größeren und ein Jahr älteren Henni die Arme um den Hals und presste sich fest gegen ihre Brust.

»Noch bin ich ja hier. Vier Jahre mindestens.« Verlegen löste Henni sich aus der Umarmung. »Angenommen, die Lämmles nehmen dich als Lehrling, dann wird deine Mutter trotzdem nicht damit einverstanden sein. Sie hat andere Pläne …«

»Meine Mutter frage ich gar nicht erst.« Elly schob die Hände tief in die Taschen ihres dicken Wollmantels und schlenderte langsam weiter durch die Winternacht. »Letztlich wird sie erleichtert sein. Das Pensionat in der Schweiz kostet ein Vermögen. Eigentlich kann sie sich das gar nicht leisten. Sie hat mich nur angemeldet, weil sie sich einbildet, das sei sie mir schuldig. Mich bringen keine zehn Pferde dahin.«

»Aber der Zug. Das Billett für deine Abreise nächste Woche ist doch schon gelöst.«

»Das kann man zurückgeben. Vielleicht nehmen Dorothea oder Sieglinde es. Die wollen auch nach Neuchâtel gehen. Eine grauenhafte Vorstellung, nach sechs gemeinsamen Jahren mit den eingebildeten Mamsells im Institut von Madame Haustetter noch mindestens zwei weitere Jahre mit ihnen in der Schweiz zu verbringen.« Elly schüttelte sich. »Nie im Leben will ich ein solches Leben wie die beiden führen. Dazu bin ich nicht geschaffen.«

»Aber dafür, regelmäßig morgens ab sieben die Ladenräume auszufegen, Bücherkisten zu schleppen, Pakete mit dem Fahrrad an die Kundschaft auszuliefern oder Lieferantenrechnungen zu kontrollieren?«

Henni warf ihr einen skeptischen Blick zu. Elly verstand, worauf sie anspielte. Sie kannten einander einfach zu gut. Und wussten fast alles voneinander. Zudem war sie im Gegensatz zu Henni äußerst zierlich und keine körperliche Anstrengung gewohnt. Sie hatte noch nie hart arbeiten müssen, Henni aber hatte von klein auf bei der Hausarbeit mithelfen müssen und stand seit ihrem vierzehnten Lebensjahr den ganzen Tag als Ladenhilfe im Tabakgeschäft.

»Das hört sich viel schlimmer an, als es ist«, wiegelte Elly dennoch ab. »Für schwere Arbeiten gibt es bei den Lämmles den Ausgeher Franz sowie die männlichen Gehilfen. Oder hast du Theres jemals vor Anstrengung schwitzen oder gar selbst aufs Radl steigen sehen, um bestellte Bücher auszuliefern? Als Buchhändlerin verbringt man die meisten Stunden am Tag mit der Beratung der Kundschaft. Stell dir vor, wie viele Bücher man dafür zu lesen hat, wie viele Dichter man persönlich kennenlernt, weil man sie zu Lesungen in die Buchhandlung einlädt, und welch kluge Gespräche man über Literatur führen darf!«

»Das kannst du im Mädchenpensionat auch. Obendrein wirst du in Französisch unterrichtet, findest interessante Freundinnen aus anderen Ländern und kommst ein bisschen in der Welt herum.«

»Um am Ende mit einem arroganten, viel zu alten Offizier vom Königlich Bayerischen Infanterie-Leib-Regiment verheiratet zu werden wie meine Mutter? Nein danke!«

»Dafür kann deine Mutter seit dem Tod deines Vaters so leben, wie sie mag.«

»Dann soll ich also in der Hoffnung heiraten, dass mein Angetrauter möglichst bald stirbt, damit ich endlich tun und lassen darf, was ich will?« Elly lachte. »Leider ist die Witwenpension meiner Mutter doch nicht so üppig, als dass sich das wirklich lohnt.«

»Sonderlich unglücklich wirkt sie aber auch nicht. Sieh nur, da vorn ist sie und sieht wieder sehr unternehmungslustig aus.«

Mit dem Kopf wies Henni zur nächsten Straßenecke. Tatsächlich stand Dita dort, flankiert von einer Handvoll Herren in Uniform. Ihr ausladender Hut mit der langen Feder wie auch der pelzverbrämte Mantel waren ebenso unverkennbar wie ihre schlanke Silhouette, die im Licht einer Bogenlaterne vorteilhaft angestrahlt wurde. Es machte den Anschein, als warteten sie und ihre Begleiter noch auf jemanden, bevor sie sich gemeinsam im palastartigen Gebäudekomplex des Café Luitpold in einem der mondänen Tanzsäle oder Restaurants amüsierten.

Um ihr nicht in die Arme zu laufen, wollte Elly die Straßenseite wechseln. Im selben Moment trat ihnen aus dem Vorgarten der »Roten Burg«, wie das Wittelsbacher Palais seiner sandsteinroten Farbe wegen von den Münchnern genannt wurde, ein auffallend blonder, groß gewachsener Uniformierter mit markanten blauen Augen entgegen.

»Fräulein Elly, wie schön, Sie zu sehen!«, begrüßte er sie.

Zu ihrem Verdruss wurden Dita und ihre Kavaliere auf sie aufmerksam und kamen zu ihnen herüber.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Herr von Hauenstein«, erwiderte sie bemüht höflich. In Wahrheit konnte sie den inzwischen zum Leutnant aufgestiegenen früheren Burschen ihres verstorbenen Vaters nicht ausstehen. Er war ihr eine Spur zu attraktiv, zu wohlerzogen und zu galant. Und eindeutig zu aufdringlich. Ständig scharwenzelte er um Dita herum. Wahrscheinlich weniger, weil er bei ihr ernste Absichten verfolgte. Mit Mitte dreißig war sie eindeutig zehn Jahre zu alt für ihn. Elly vermutete eher, er wollte über den Umweg mit Dita sie für sich gewinnen. Nach dem mysteriösen Jagdunfall ihres Vaters vor fünf Jahren tat Hauenstein so, als hätte der ihm noch auf dem Sterbebett die Fürsorge um Frau und vor allem Tochter angetragen. Sobald sie im heiratsfähigen Alter wäre, würde er ihr gewiss einen Antrag machen. Dita schien einer solchen Verbindung nicht einmal abgeneigt, wie ihre Andeutungen belegten, was Elly fast noch grauenhafter fand.

»So spät noch unterwegs? Am besten bringe ich Sie sofort …«, setzte er an. Elly winkte ab. »Nicht nötig. Wie Sie sehen, ist meine Freundin Henni da. Sie übernachtet bei mir.«

Das quittierte er mit einem abfälligen Stirnrunzeln. Ihre Freundschaft mit Henni war in seinen Augen indiskutabel.

»Die beiden waren bei einem Vortrag des Vereins für Fraueninteressen«, mischte Dita sich ein, um zu erklären, warum ihre halbwüchsige Tochter spätabends noch draußen unterwegs war.

»Verein für Fraueninteressen?« Um Hauensteins Mundwinkel zuckte es geringschätzig. Das schien für ihn wohl noch schlimmer, als mit jemandem wie Henni befreundet zu sein.

»Es gab einen Vortrag über Frauen im Buchhandel.« Seine Reaktion animierte Elly, sich ausführlicher darüber auszulassen. »Meine Freundin und ich haben uns entschieden, eine Ausbildung zur Buchhändlerin zu beginnen.«

»Eine Ausbildung im Buchhandel? Wozu? Nächste Woche machen Sie sich doch auf den Weg ins Pensionat in der Schweiz.«

Sichtlich belustigt suchte er Ditas Blick.

Für einen kurzen Moment zauderte Dita. Allerdings wäre sie nicht die Offizierswitwe Dita Grafenstetter, geborene Gräfin zu Hengsdorff, hätte sie sich nicht sofort wieder im Griff. Betont munter zwinkerte sie erst ihm, dann Elly zu, bevor sie sich auch halb an die Runde ihrer weiteren Begleiter wandte: »Faszinierend, nicht? Meine Tochter ist immer für eine Überraschung gut. Und ganz auf der Höhe der Zeit. Außerdem liest sie leidenschaftlich gern. Da liegt eine Beschäftigung im Buchhandel auf der Hand. Heutzutage ist es nur von Vorteil, wenn ein junges Mädchen etwas für den eigenen Kopf tut. Langfristig wirkt sich das positiv auf ihre Persönlichkeit aus. So lernt sie, sich sinnvoll zu beschäftigen.«

»Da haben Sie recht. Eine sinnvolle Beschäftigung ist natürlich besser als Langeweile, gerade für ein junges Fräulein. Nicht dass sie …«

»Auf dumme Ideen kommt?«, fiel Elly ihm ins Wort. »Keine Sorge. Wir Frauen profitieren von so manchem unrühmlichen männlichen Vorbild aus der Vergangenheit, das aus purer Langeweile und mangels vernünftiger Beschäftigung Dummheiten wie etwa ein Duell begangen hat. Da wissen wir unsere kostbare Lebenszeit gescheiter zu nutzen.«

Täuschte sie sich, oder erschrak Hauenstein für den Bruchteil einer Sekunde über ihre Worte? Im nächsten Moment schmunzelte er süffisant.

»Bei Ihnen bin ich mir da ohnehin nicht bang. Sie langweilen sich nie.«

»Es geht mir nicht nur darum, mich nicht zu langweilen, sondern bewusst meinen eigenen Weg zu gehen.«

»Der Sie früher oder später dennoch an das Ziel führt, das allen jungen Frauen aus Ihren Kreisen bestimmt ist.«

»Ich fürchte, wir sprechen da von ganz unterschiedlichen Zielen.«

»Darauf würde ich nicht wetten.«

»Warum nicht?«

»Weil Ihnen als Frau in unseren Kreisen keine andere Wahl bleibt.«

»Als was? Als zu heiraten und still an der Seite eines Mannes dahinzuvegetieren? Darauf würde wiederum ich nicht wetten.«

»Wetten doch?«

Er streckte ihr die Hand entgegen. Dita schnaubte verächtlich, Henni sog hörbar die Luft ein.

»Nur zu gern.«

Elly schlug ein.

1

München, Mitte Oktober 1913

Fast hätte es die eindrucksvollen, aufwendig gestalteten Kunstbände an der rückwärtigen Wand auf einen Schlag erwischt und sie wären umgekippt wie Dominosteine. Flink überstieg Elly die schweinslederne Prachtausgabe von Meyers Konversationslexikon, verlor dabei erneut das Gleichgewicht und ruderte wild mit den Armen durch die Luft, um nicht rücklings auf den Reiseführern zu landen. Gerade als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte, begann der Band zur italienischen Renaissance-Architektur zu wanken. Sie fing ihn auf und platzierte ihn in einer Reihe mit den Büchern über antike griechische Philosophie.

Sieben Uhr war eindeutig zu früh am Tag, um sich bereits unter Kontrolle zu haben. Sieben Uhr in der Früh und damit pünktlich zur Ladenöffnung war allerdings die einzige Zeit am Tag, zu der sie die Schaufenster noch weitgehend ungestört von der mittlerweile ausgebleichten Dekoration zum fünfundsiebzigjährigen Bestehen der Buchhandlung Lämmle befreien konnte. Zwischen der Riege Ehrfurcht einflößender Klassiker mit Goldprägung sowie den auffallend modern im verschlungenen Jugendstil gestalteten Neuerscheinungen der letzten Monate sollten endlich auch wieder die Werke Münchner Autorinnen und Autoren zur Geltung gelangen. Dafür war die einst von Isaak Lämmle in der Altstadt gegründete und vor über dreißig Jahren von seinem Sohn Isidor in die Amalienstraße verlegte Buchhandlung stadtweit bekannt, darauf hatten sich dessen Tochter Theres und ihre Cousine Ruth bei der Übernahme des Geschäfts vor acht Jahren spezialisiert.

Hoppla! Fast wäre Elly beim Umdrehen in dem schmalen Raum zwischen Schaufensterscheibe und Sperrholzrückwand das nächste Missgeschick passiert. Sie musste aufpassen, beim Abhängen der von bunten Girlanden umrankten Festtafel mit der goldenen 75 nicht die limitierte Sonderedition des von Literaturnobelpreisträger Paul Heyse mitverfassten Münchner Dichterbuchs vom Sockel zu stoßen, die die Lämmles anlässlich des Buchhandlungsjubiläums in ihrem hauseigenen Kleinverlag mit kunstvollen Illustrationen einer jungen Münchner Malerin veröffentlicht hatten. Dies sollte natürlich auf dem kleinen Podest in der Mitte der Auslage stehen bleiben, bis alle Exemplare verkauft waren.

Auf dem karmesinroten Filz davor fächerte Elly Thomas Manns Buddenbrooks, ein großer Liebling der Kundschaft, Ricarda Huchs Brieferzählung Der letzte Sommer, Heinrich Manns Professor Unrat sowie Annette Kolbs soeben mit dem Fontane-Preis prämierten Debütroman Das Exemplar auf. Ebenso fand sie noch Platz für Hans Carossas neuesten Roman Doktor Bürgers Ende und Lena Christs Lausdirndl-Geschichten. Eine gewagte Mischung. Durch die gemeinsame Präsentation bewährter älterer Titel mit noch weniger gut eingeführten Neuerscheinungen hoffte sie, den unbekannteren Büchern und Autoren mehr Aufmerksamkeit auch in solchen Leserkreisen zu verschaffen, die sonst gern auf das Bewährte setzten und sich nur sehr zögerlich von anderem überzeugen ließen. In ihrer Stammkundschaft gab es sehr, sehr viele von dieser Spezies.

Flink raffte sie die Röcke und tänzelte auf Zehenspitzen zwischen den Büchern umher, bückte sich, um einen einzelnen Titel gefälliger auszurichten oder einen anderen weiter nach vorn zu rücken, schob mit spitzen Fingern die akkurat geschriebenen Preistäfelchen zwischen die Seiten und reichte endlich die staubige Jubiläumstafel mitsamt den bunten Girlanden zu Henni aus dem Schaufenster.

Durch einen Spalt zwischen den Leintüchern, mit denen die Glasscheibe zur Straßenseite abgehängt war, erhaschte sie einen flüchtigen Blick nach draußen. In den Fenstern des schräg gegenüberliegenden Café Stefanie spiegelten sich die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen.

Ein junger Mann, nur wenig älter als sie, in hellem Anzug und dunklem Hut auf dem kastanienbraunen Haar drückte sich dort auffällig unauffällig herum, sah abwechselnd zwischen Uhr und Buchhandlung hin und her. Was hatte er im Sinn? Warum kam er nicht einfach herüber und kaufte sich auf dem Weg zur Arbeit ein Buch, wenn ihn danach verlangte? Dabei sah er eigentlich nicht so aus, als gehörte er zu denen, die in einem der umliegenden Büros, Kanzleien oder gar Ministerien beschäftigt waren. Ebenso wenig schien er ein Student, Künstler oder gar einer der typischen Bohemiens aus Schwabing, das nördlich an die Maxvorstadt angrenzte, in der sich die Buchhandlung Lämmle befand. Die waren um diese Zeit ohnehin eher nicht auf dem Weg zur Arbeit als vielmehr nach einer durchzechten Nacht auf dem Weg nach Hause.

An der nahen Ludwigskirche schlug es halb acht. Elly riss sich vom Anblick des Unbekannten los. Die Dekoration musste fertig sein, bevor die ersten Kunden auftauchten. Eine Fliege brummte vor ihrem Gesicht herum. Sie wedelte sie weg, begutachtete das Ergebnis ihrer Mühen.

»Es geht nicht um die Befriedigung unserer Bedürfnisse, sondern um die der Kundschaft. Hauptkriterium für die Auswahl darf nicht unser eigener Geschmack sein, sondern ausschließlich das, was das Interesse unserer Kunden weckt und sie zum Betreten unserer Buchhandlung sowie im besten Fall zum Kauf eines Buches animiert«, pflegte Theres, die ältere ihrer beiden Chefinnen, zu mahnen, wenn Elly die Bücher für die Auslage bereitlegte.

»Und es geht natürlich auch darum, neugierig zu machen, wofür unsere Buchhandlung seit mehr als drei Generationen steht: Münchner Literatur. Und das heißt in zunehmendem Maß Literatur von Frauen für Frauen«, ergänzte Ruth gern verschmitzt lächelnd.

Anscheinend gelang es Elly immer besser, diese Anforderungen zu erfüllen. Mittlerweile ließen die Lämmles ihr fast freie Hand bei der Dekoration.

»Dein Gespür für das, was die Kundschaft anlockt, ist wirklich hervorragend«, lobte Ruth, und auch Theres erkannte das an. »Mit dir als Gehilfin haben wir einen echten Glücksgriff getan.«

Elly bereute es bislang keine Sekunde, sich vor dreieinhalb Jahren den Plänen ihrer Mutter mit dem Schweizer Pensionat verweigert und sich stattdessen für die Ausbildung als Buchhändlerin entschieden zu haben. Vor einigen Monaten hatten die Lämmles sie als ausgelernte Gehilfin in den Kreis der fest Beschäftigten aufgenommen. Zu gern hätte Elly das dem hochnäsigen Rolf von Hauenstein als triumphalen Sieg ihrer Wette von vor drei Jahren verkündet, der aber war fast ebenso lang schon in die Garnison nach Ingolstadt versetzt.

Ihre Freundin Henni war seinerzeit zwar nicht wie erhofft ebenfalls Buchhandelslehrling bei den Lämmles geworden, dafür hatten sie sie vor knapp zwei Jahren als angelernte Büro- und Ladenhilfe angestellt und erlaubten ihr, bei nahezu sämtlichen Tätigkeiten außer der direkten Kundenberatung einzuspringen. So ging sie Elly auch an diesem Morgen zur Hand und reichte ihr die Bücher durch die Öffnung in der Rückwand.

Nach einem letzten Blick auf ihr Arrangement entfernte Elly den Sichtschutz von der Scheibe. Davor tummelten sich bereits die ersten Neugierigen. Eine Handvoll Studenten, wie an den Mützen und den jungenhaft-vorwitzigen Gesichtern zu erkennen war. Ob ihr Interesse allein den frisch dekorierten Büchern in der Auslage galt oder nicht doch eher der Hoffnung entsprang, durch das grob gewirkte Leintuch schemenhaft Ellys Umrisse zu erahnen, vielleicht sogar einen Blick auf ihre in dünnen weißen Strümpfen steckenden Füße und Fesseln zu erhaschen, war nicht eindeutig zu sagen. Am liebsten hätte Elly ihnen die Zunge herausgestreckt. Das aber war undenkbar. Einige von ihnen gehörten zur Stammkundschaft. Falls sie mehr gesehen hatten als beabsichtigt, war es ohnehin zu spät, sich darüber zu ärgern. Mit einem verächtlichen Blick auf die Studentenmützen knüllte sie das Tuch zusammen, stopfte es sich unter den Arm und wandte sich nach hinten, um aus dem Schaufenster zu klettern.

»Beim nächsten Mal stellen wir ausschließlich Titel von Frauen aus, dann haben die Studenten erst recht viel zu glotzen«, verkündete sie Henni, als sie durch die schmale Luke in der Rückwand in den Laden zurückkehrte.

Noch waren sie allein in den verwinkelten Räumen mit den deckenhohen, unter der Last der dicken, dünnen, schöngeistigen, wissenschaftlichen, unterhaltsamen, anspruchsvollen, lehrreichen, bebilderten oder textlastigen Titel durchgebogenen Regalen und den ebenfalls mit Büchern, Zeitschriften und Broschüren überfrachteten Schautischen. Durch die Hintertür hatten sie vorhin zwar schon den Ausgeher Franz und den Lehrling Johann hereingelassen, die aber waren beide im Lager mit dem Aus- und Umpacken der Lieferung des Barsortiments beschäftigt, damit so bald wie möglich die Regale aufgefüllt sowie die Bestellungen an die Kunden ausgeliefert werden konnten. Wahrscheinlich waren mittlerweile auch die beiden älteren Gehilfen, Albert Rosendorf und Mathias Kirchner, eingetroffen und hatten damit begonnen, die Bestell- und Lieferlisten abzugleichen. Ebenso dürften Buchhalterin Vroni Eversbusch und die zweite Gehilfin, Rahel Sonneberg, inzwischen da sein.

Elly unterdrückte ein Niesen. Die staubgeschwängerte, trockene Luft kitzelte in der Nase. Sie liebte den unverwechselbaren Geruch, der durchaus auch einen Anflug von Moder aufwies, wie ihre Mutter gern lästerte. Das aber scherte sie wenig. Prüfend schlenderte sie durch die Ladenräume, vergewisserte sich, ob die neuesten Ausgaben der Tageszeitungen auf dem Tresen vor den Regalen an der rechten Längswand lagen, rückte die Stühle vor den Tischen zurecht, auf denen der Kundschaft die gewünschten Werke zur Ansicht präsentiert wurden, und schaltete die Leselampen ein.

»Warum hast du eigentlich kein Buch von Carry Brachvogel fürs Fenster ausgewählt?«, erkundigte sich Henni und begann, die Regale abzustauben. »Den abendlichen Abrechnungen zufolge gehören ihre Titel zu den meistverkauften.«

»Oh!«, war alles, was Elly zunächst dazu einfiel. Wie hatte ihr das passieren können? Carry Brachvogel war tatsächlich nicht nur eine der derzeit erfolgreichsten Münchner Schriftstellerinnen, sondern außerdem eine der engsten Freundinnen von Theres. Seit Jahren waren sie gemeinsam im Verein für Fraueninteressen aktiv. Ein solcher Fauxpas war unentschuldbar.

»Besser spät als nie«, rief sie und beeilte sich, Brachvogels Roman Der Kampf um den Mann aus dem Regal zu holen, den sie stets in mehreren Exemplaren vorrätig hatten, weil er so oft verlangt wurde. Rasch lief sie damit zurück zum Schaufenster.

Ein Hauch von Rosenduft zog durch den Laden, durchmischt von herbem Tabakgeruch und einer kühlen Brise, die von der rückwärtigen Tür in die Buchhandlung wehte. Die Lämmle-Cousinen waren aus ihrer gemeinsamen Wohnung im zweiten Geschoss des Hauses nach unten gekommen.

»Guten Morgen«, rief Theres munter. Ruth folgte wenige Schritte hinter ihr, mit dem skandalösen Hosenrock und der karierten Mütze auf dem nackenkurzen Haar bereits perfekt zum Radeln gekleidet. Bei ihrem beneidenswert guten Anblick wünschte Elly sich wieder einmal, sie würde sich trauen, solche Sachen zu tragen.

»Wo ist der Rest?«, erkundigte Ruth sich, nachdem sie die kleine runde Brille geputzt und auf die lange schmale Nase gesetzt hatte.

»Rosendorf und Kirchner sind hinten im Lager und Rahel und Vroni im Büro«, erwiderte Elly.

»Dann ist die Tasche mit den Büchern für Professor Bruck hoffentlich schon gepackt. Auf meiner heutigen Tour ins Isartal radele ich bei ihm vorbei und bringe sie ihm selbst.«

Unternehmungslustig knöpfte sie sich die blousonartige Jacke zu, hauchte ihrer Cousine einen Kuss auf die Wange und verschwand wieder nach hinten. Kopfschüttelnd sah Theres ihr nach. Einmal mehr wunderte sich Elly, wie gut die beiden trotz ihrer offenkundigen Unterschiede miteinander auskamen.

Es blieb nicht viel Zeit, länger darüber zu grübeln. Schon kündigte die Ladenglocke den ersten Kunden an: Ministerialrat Schöffel. Elly biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu lachen. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Jeden Morgen kam er, um im gemütlichen Lesekabinett der Lämmles in der Beletage die aktuellen Ausgaben der Münchner Neuesten Nachrichten, der Münchner Zeitung sowie der Bayerischen Zeitung zu studieren.

Theres gab Henni ein Zeichen, ihm nach oben zu folgen und ihm wie gewohnt eine Tasse Kaffee sowie eine Zigarre anzubieten.

»Den Tag möchte ich erleben, an dem der feine Herr aus dem Innenministerium sich mit dem Kauf eines einzigen Buches für diese Sonderbehandlung erkenntlich zeigt«, moserte Kirchner, der im selben Moment mit einem Stapel Bücher auf den Armen aus dem Lager kam und Schöffel stirnrunzelnd hinterhersah.

»Den Tag werden wir nicht mehr erleben. Trotzdem freuen wir uns über seinen täglichen Besuch, denn es schadet nie, jemanden wie ihn besonders gut zu behandeln«, erwiderte Theres.

Gerade wollte Elly etwas hinzufügen, da ertönte die Ladenglocke erneut.

So ging es den gesamten Vormittag weiter. Bis Mittag waren alle Gehilfen und Theres vollauf mit der Kundschaft beschäftigt. Henni und Lehrling Johann assistierten eifrig, besorgten fehlende Bücher aus dem Lager oder brachten die entsprechenden Verlagskataloge, damit die Gehilfen sie direkt bestellen konnten.

Elly genoss den Trubel, auch wenn ihr kaum Zeit zum Luftholen blieb. Während sie Rahel an der Kasse zur Hand ging und den Kunden die frisch erworbenen Bücher in Packpapier einschlug, lauschte sie den Gesprächen. Ein Kunde verlangte von Kirchner einen Reiseführer für Paris, »aber bitte mit verlässlichen Tipps zu den besten Restaurants und vor allem den einschlägigen Vergnügungsstätten«, wie er anzüglich schmunzelnd hinzufügte, eine Kundin von Theres entpuppte sich als Philosophiestudentin und bedurfte ausgiebiger Beratung bei der Suche nach einer kommentierten Ausgabe zu Immanuel Kants Schriften. Eine andere Dame fragte Rosendorf nach einem Bildband über antike Plastiken, der nächste Herr wollte von Theres Wanderführer fürs Allgäu, und ein Jurastudent benötigte für sein Seminar die neueste Fassung des Arbeitsrechts, die Johann auf Kirchners Anweisung aus dem ersten Stock holte. Elly freute sich, nach einer Weile endlich hinter dem Tresen hervorzukommen und die Professorenwitwe Dreher, eine ältere Dame mit sympathischem Vollmondgesicht und schlohweißem dichten Haar, auf der Suche nach anspruchsvoller, unterhaltsamer Lektüre für eine Zugreise zu beraten.

»Kennen Sie die ›Roten Ullstein-Bücher‹ zu einer Mark?«, erkundigte sie sich. »Das ist eine Reihe zeitgenössischer Romane. Sie umfasst eine breite Auswahl unterschiedlichster Sujets, von Frauen wie von Männern geschrieben, mit Frauen wie Männern als Hauptfiguren. Dank der festen Pappbände eignen sich die Bücher besonders für unterwegs. Da ist für jeden Geschmack etwas dabei.«

Sie führte die Witwe Dreher zu dem Regal mit den Broschurbänden. Zielstrebig stellte sie ihr eine Auswahl zusammen und legte sie ihr auf einem Tisch zur Ansicht hin. Während sich die Professorenwitwe darin vertiefte, ließ Elly ihren Blick umherschweifen und meinte für den Bruchteil einer Sekunde, durch das Schaufenster wieder den jungen Mann zu sehen, der sich am frühen Morgen vor dem Café Stefanie herumgedrückt hatte.

»Das ist genau das, was ich gesucht habe, junges Fräulein«, riss die Professorenwitwe Dreher sie aus ihren Gedanken und reichte ihr gleich fünf Bücher. »Sie ahnen schon, was einem gefallen könnte, lange bevor man es selbst weiß.«

»Das kann ich nur bestätigen«, stimmte eine andere Dame zu. Elly erinnerte sich dunkel, sie ebenfalls schon häufiger beraten zu haben. »Durch sie habe ich die Romane von Gabriele Reuter entdeckt. Was für ein Genuss! Trotz ihrer Jugend haben Sie das richtige Gespür, um Bücher und Leserinnen zusammenzubringen. Ein Kompliment an Ihre Lehrmeisterin.«

Sie nickte Theres zu, während Elly fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. Rasch murmelte sie »Danke!« und tat, als müsste sie die Kunstpostkarten auf dem Ständer neben der Ladentheke auffüllen.

»Sei stolz auf dich«, raunte Rahel ihr im Vorbeigehen zu. »Deswegen sind wir doch Buchhändlerinnen geworden.«

Wenig später wurde Elly das noch ein weiteres Mal von einem älteren Herrn mit weißem Haarkranz bestätigt. Explizit verlangte er, von ihr bedient zu werden, weil sie ihn in der Woche zuvor schon »kenntnisreich beraten« habe, wie er so laut verkündete, dass sämtliche Kunden und Kollegen aufhorchten. Verlegen und stolz zugleich bat sie ihn an einen der Lesetische, um ihm die gewünschten Monografien über die österreichische Kaiserin Maria Theresia zu präsentieren.

»Wollen Sie vielleicht lieber einen historischen Roman über sie lesen?«, wagte sie sich vor, sobald ihr auffiel, dass er unzufrieden die Stirn runzelte, als er die Bücher durchblätterte. »Romane bieten zwar eine weitaus subjektivere Sicht auf eine historische Persönlichkeit als ein Sachbuch, aber das macht sie meiner Meinung nach so interessant.«

»Das klingt, als hätten Sie bereits einen konkreten Roman über Maria Theresia im Sinn.«

»Den von Carry Brachvogel natürlich. Der ist vor zwei Jahren erschienen.«

Schon griff sie nach dem Buch, das nur wenige Meter entfernt in einem anderen Regal stand.

»Von einer Frau?«

Auf den ersten Blick wirkte er wenig begeistert, überflog dennoch einige Seiten. Elly biss sich auf die Lippen. Hatte sie sich verschätzt? Dabei war sie sicher gewesen, ihn für Brachvogels Roman begeistern zu können. Anscheinend besaß er bereits eine so konkrete Vorstellung von Maria Theresia, dass ihn ein weiteres Sachbuch nur enttäuschen würde. Ein Roman dagegen, noch dazu von einer Frau über eine Frau verfasst, eröffnete ihm gewiss neue Perspektiven.

»Warum nicht?« Schwungvoll klappte er das Buch zu. »Sie haben recht, junge Dame. Für einen verknöcherten alten Geschichtslehrer wie mich wird es Zeit, einmal mit den Augen einer modernen, klugen Frau auf Maria Theresia zu blicken.«

»Das freut mich.« Zufrieden begleitete sie ihn zur Kasse.

»Elly?«, hörte sie eine junge weibliche Stimme rufen. Die kam ihr bekannt vor, allerdings hatte sie sie noch nie in der Buchhandlung vernommen. Erstaunt fuhr sie herum. Tatsächlich, beim Tisch mit den frisch eingetroffenen Novitäten standen Dorothea und Sieglinde, ihre beiden ehemaligen Mitschülerinnen aus dem Mädcheninstitut Haustetter.

»Du arbeitest hier?«, fragte Sieglinde überflüssigerweise und maß mit einem abschätzigen Blick ihre schlichte Aufmachung mit weißer Bluse und grauem Rock, die Elly wie die anderen weiblichen Angestellten anhatte. Die männlichen Gehilfen und Lehrling Johann trugen graue Anzüge und sie alle – Theres und Ruth eingeschlossen – eine schwarz-weiße Papierrosette links an der Brust, in deren Mitte der jeweilige Name stand, um sie für die Kundschaft als Personal kenntlich zu machen.

»Sucht ihr ein bestimmtes Buch?«, fragte Elly betont munter und ebenso überflüssig zurück. Dass die beiden nicht arbeiteten, war ihnen sofort anzusehen. Ihre Kleidung war zu unpraktisch, die Frisur wie der Zustand ihrer Hände zu tadellos, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht, wenn sie das Wort ›arbeiten‹ aussprachen, überheblich. Elly musste daran denken, wie haarscharf sie vor dreieinhalb Jahren dem Schicksal entronnen war, gemeinsam mit ihnen das Schweizer Pensionat für höhere Töchter zu besuchen. Ihr blasiertes Gebaren führte ihr eindrucksvoll vor Augen, was aus ihr geworden wäre, hätte sie Ditas Wunsch befolgt.

Obwohl schon im Institut, wie sicherlich später auch im Pensionat, großer Wert auf literarische Bildung gelegt worden war, brachte ihre Frage nach dem gewünschten Buch die beiden in sichtliche Verlegenheit. Schon lag Elly die Bemerkung auf der Zunge, dass sie sich anscheinend im Laden geirrt hätten, da fasste Dorothea sich ein Herz.

»Habt ihr das neue Buch von dieser Gräfin?«

»Du meinst Herrn Dames Aufzeichnungen von Fanny Gräfin zu Reventlow?«

Ihre prompte Erwiderung verblüffte die zwei. Voller Genugtuung steuerte Elly den Tisch mit den Münchner Schriftstellerinnen an. Der schmale Band mit dem auffälligen, schwarz-weiß gemusterten Umschlag und der Rötelzeichnung, die ein Hausdach mit einem großen Atelierfenster sowie einen weiteren Hausgiebel in dem für Schwabing und die Maxvorstadt typischen Stil zeigte, lag auf einem beeindruckend hohen Stapel. Längst war der Band Stadtgespräch. In den einschlägigen Künstler- wie Bohemezirkeln gehörte es zum guten Ton, ihn gelesen zu haben. Triumphierend hielt Elly ihn Sieglinde und Dorothea hin.

Als keine von ihnen danach griff, fragte sie: »Oder wollt ihr für jede von euch eins? Es sind noch genügend Exemplare da, wie ihr seht.«

»Danke«, erwiderte Dorothea und nahm das Buch, presste es mit dem Titel nach vorn gegen ihren Leib, sodass man nicht erkennen konnte, um welches Buch es sich handelte.

»Es ist nicht verboten«, beruhigte Elly sie.

»Aber die Reventlow schildert die Dinge recht freizügig«, mischte Sieglinde sich ein.

»Du hast es schon gelesen?« Elly verkniff sich die nächste Frage, was sie unter »die Dinge« verstand. Sieglindes gerötete Wangen erklärten es auch so.

»Würden wir es dann noch kaufen?« Herausfordernd funkelte Dorothea sie an.

»Woher wisst ihr dann schon, was drinsteht?«

»Weil die Reventlow das Buch geschrieben hat und es bekannt ist, welche Freiheiten sie sich herausnimmt. Nicht umsonst wird sie die ›Skandalgräfin‹ genannt. Mit zwei Männern gleichzeitig hat sie zusammengelebt«, erklärte Sieglinde atemlos.

»Und niemandem sagt sie, wer der Vater ihres Sohnes ist«, ergänzte Dorothea. »Oder weiß deine Mutter Bescheid?«

»Warum sollte sie?«

»Sie ist doch ganz eng mit ihr.« Sieglindes Wangen glühten noch stärker. »Als die Reventlow noch in München gelebt hat, hat man sie fast jeden Tag zusammen im Café Stefanie oder sonst wo in Schwabing gesehen.«

»Das Stefanie befindet sich wie unsere Buchhandlung in der Maxvorstadt, gleich hier gegenüber«, berichtigte Elly.

»Trotzdem heißt es in dem Buch, es handele sich um ›Wahnmoching‹, ein klarer Hinweis auf Schwabing«, stellte Dorothea fest. »Alle Welt redet ja auch von der ›Schwabinger Boheme‹.«

»Und?« Sieglinde rückte näher an Elly heran, sah sie sensationslüstern an. »Kommt deine Mutter auch in dem Buch vor? Als wer?«

»Hat sie dir überhaupt schon verraten, wer sich hinter welcher Figur verbirgt?« Dorothea kam ebenfalls zu Elly. »Bestimmt weiß sie genau Bescheid.«

»Lest es selbst«, schlug Elly vor. »Es würde euch nur halb so viel Spaß machen, wenn ich alles verrate. Darf ich euch zur Kasse begleiten?«

Sie badete noch in der Genugtuung, die ihr Dorotheas und Sieglindes beleidigtes Davonrauschen verschafft hatte, als Johann neben ihr auftauchte und »Eingebildete Zicken!« zischte.

»Wenn’s ihnen gefällt.« Achtlos zuckte Elly mit den Schultern und wandte sich ab.

»Mit den neugierigen Fräulein haben Sie sich wacker geschlagen«, sprach sie jemand von der anderen Seite an. »So habe ich jetzt die ersten Auskünfte über die feinen Unterschiede zwischen Schwabing und der Maxvorstadt erhalten.«

Sie fuhr herum. Der junge Herr in dem hellen Anzug und mit dem dunklen Hut auf dem kastanienbraunen Haar! Sie erschrak. Von Nahem hatte er einen ungewöhnlich durchdringenden Blick. Der irritierte sie mehr, als ihr lieb war.

»Was kann ich für Sie tun?«

Um das Zittern zu verbergen, verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken.

»Mein Name ist Leo Kleefisch. Ich möchte zu den Lämmles. Wir sind verabredet.«

Was für ein ungewöhnlicher Name. Noch dazu war er mit Theres und Ruth »verabredet«. Sie horchte auf. Natürlich waren die ihr keine Rechenschaft über ihre Verabredungen schuldig, aber trotzdem machte es sie stutzig.

»Derzeit ist nur eine der beiden Chefinnen anwesend. Kommen Sie mit.«

Sie führte Leo Kleefisch zu Theres ins Büro im Obergeschoss.

Als sie nach unten zurückkehrte, wollte Henni wissen: »Wer war das?« Ihr war der Unbekannte auch gleich aufgefallen. Ebenso sahen Rahel, Kirchner und Johann neugierig herüber. Rosendorf scheuchte sie jedoch hinter den Ladentisch zurück.

Die geschäftige Mittagsstunde brach an. Elly liebte diese Tageszeit. Auf dem Weg zur wohlverdienten Pause erkundigten sich die einen nach den nächsten Lesungen oder Vorträgen, die am dritten Donnerstag im Monat in der Beletage stattfanden, und zettelten dabei bereits gern eine lebhafte Diskussion über das angekündigte Thema oder Buch an. Andere stöberten im Modernen Antiquariat und berichteten beiläufig von wertvollen Autographen oder Erstausgaben, die sie unlängst anderswo entdeckt hatten, und wieder andere entfachten beim Zeitungslesen im Lesekabinett einen heftigen Disput über die aktuelle Politik in Berlin.

Eine erstaunlich große Gruppe Kundschaft, die um diese Zeit in der Buchhandlung einfiel, zählte jedoch zu denjenigen, für die sich der Tag dann noch nicht in einen Vor- und Nachmittag teilte, sondern überhaupt erst startete.

»Ungepflegte Künstlergestalten«, mokierte sich Kirchner über die zumeist abgerissenen Figuren.

»Sie sind nur neidisch, weil Sie sich in der Früh mit den Hühnern aus den Federn erheben und den ganzen Tag im Laden stehen müssen, statt schräg gegenüber im Stefanie erst mittags mit einer Mélange und einer Hefeschnecke den Tag gemütlich zu beginnen«, spottete Rahel, während Vroni beim Anblick der Maler mit den unordentlichen Löwenmähnen oder der stets etwas übernächtigten Dichter lapidar anmerkte: »Lieber hab ich weniger Zeit für endlosen Müßiggang und dafür regelmäßig Geld in der Tasche, um anständig zu leben.«

Natürlich hatten die meisten dieser Kaffeehausstammgäste kein Geld, um Bücher zu kaufen, wie Elly wusste. Dennoch suchten sie die Buchhandlung Lämmle gern auf. Manche, um sich zu vergewissern, ob das eigene neue Werk bereits auf dem Novitätentisch auslag, andere, um sich für eine Lesung ins Gespräch zu bringen, wieder andere, um sich über die schreibende Konkurrenz zu echauffieren. Der klägliche Rest kam aus purem Interesse, um sich zu informieren, was man alles lesen könnte, käme man angesichts der vielen weltanschaulichen, philosophischen oder politischen Streitgespräche, die man mittags im Café Stefanie begann, im Lauf des Tages in den Torggelstuben am Platzl fortführte und später im Simplicissimus in der Türkenstraße oder wiederum im Stefanie bis drei Uhr in der Früh auf die Spitze trieb, überhaupt noch zum Lesen.

Viele dieser Lebens- und sonstigen Künstler waren Elly als gute Freunde ihrer Mutter vertraut. Dorothea und Sieglinde hatten recht: Über die Künstler- und Bohemekreise von Reventlows »Wahnmoching« und ihre kleinen Geheimnisse wusste Dita bestens Bescheid.

»Ist er schon da?«

Plötzlich stürmte Ruth zur Ladentür herein. Ihr Gesicht war gerötet, sie holte hektisch Luft. Im Gehen riss sie sich die Schirmmütze vom Kopf, zupfte sich die Handschuhe von den Fingern und drückte beides Johann gegen die Brust. »Ich bin viel zu spät. Bring mein Rad in den Hof.«

Schon hastete sie ohne weitere Erklärung die Stufen in den ersten Stock hinauf.

Irritiert sahen Elly und die Kollegen ihr nach. Zum Glück waren nur noch wenige Kunden im Laden, die sich über den seltsamen Auftritt hätten wundern können.

»Mittagspause«, verkündete Rosendorf, sobald der letzte von ihnen die Buchhandlung verlassen hatte. Erleichtert atmete Elly auf. Kirchner sperrte die Vordertür zu. Elly, Henni und Rahel räumten noch schnell die herumliegenden Bücher in die Regale, legten Zeitungen und Zeitschriften zusammen, schoben die Stühle an die Tische und schalteten die Leselampen aus, bevor sie in den Hinterhof gingen. Bei schönem Wetter machten sie dort gemeinsam mit den anderen Brotzeit.

»Was ist denn jetzt mit diesem Leo Kleefisch?«, platzte es aus Johann in seinem sechzehnjährigen Leichtsinn heraus, nachdem er sein Wurstbrot verschlungen hatte.

Rahel bedeutete ihm, leiser zu reden. Das Fenster des Büros im ersten Stock stand offen. Doch es war ohnehin zu spät. Theres und Ruth betraten zusammen mit Leo Kleefisch den Hof.

»Schön, dass Sie alle hier sind.« Theres lächelte.

»Wir haben Neuigkeiten«, schaltete sich Ruth ein. »Ab nächsten Montag fängt Leo Kleefisch als Gehilfe bei uns an.«

»Er wurde uns von unserer Freundin und Kollegin Marie Lesser aus Berlin empfohlen«, ergänzte Theres.

»Und die empfiehlt Ihnen ausgerechnet einen männlichen Gehilfen?«, sprach Johann unvermittelt aus, was sich Elly im selben Moment fragte. Ein Blick zu Henni bestätigte ihr, dass es der ähnlich ging. Auch Rahel wirkte verblüfft.

»Warum nicht?«, meldete sich Kirchner dagegen zu Wort. »Wenn man unsere beiden Chefinnen mitzählt, sind wir männlichen Gehilfen seit längerem schon in der Unterzahl. Selbst ein Gleichstand der Geschlechter wäre eher ungewöhnlich, wie man an den anderen Buchhandlungen in der Stadt sieht. Unsere männliche Kundschaft lässt sich aber nun einmal lieber von ihresgleichen bedienen.«

»Dafür ist der Anteil der Kundinnen im Bereich der schöngeistigen Literatur umso höher«, entgegnete Elly.

»Frauen sind generell aufgeschlossener als Männer«, mischte sich Rahel ein. »Das sieht man schon allein daran, dass sie seit Jahrhunderten auch die größtenteils von Männern geschriebenen Bücher lesen, während Männer sich nur auf ihre Geschlechtsgenossen konzentrieren. Höchste Zeit, dass wir anfangen, dagegen aktiv …«

»Wir wollten eigentlich keine Grundsatzdiskussion über Frauen und Männer im Buchhandel vom Zaun brechen«, unterbrach Theres sie amüsiert.

»Wir waren lediglich der Ansicht, wir könnten in unserem eingeschworenen Münchner Kreis noch jemanden von auswärts vertragen.« Ruth schmunzelte.

»Da hat es sich ausgezeichnet getroffen, dass uns Marie von Leo Kleefisch erzählt hat, der außer in Berlin auch schon in Leipzig gearbeitet hat.«

»Ich freue mich sehr, ab sofort mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Die ›Kunststadt‹ München besitzt natürlich eine ganz besondere Strahlkraft für einen Preußen wie mich.« Leo verbeugte sich artig vor den Angestellten.

Nacheinander reichten sie ihm die Hand. Elly wunderte sich, wie lasch er zufasste.

»Irgendetwas stimmt mit dem nicht«, behauptete Henni, als Elly sich abends nach Geschäftsschluss um halb acht mit ihr auf den Weg zur Ludwigstraße machte. Zwar hätte Henni eigentlich in die entgegengesetzte Richtung zur Türkenstraße gemusst, ab und an gönnten sie sich allerdings eine abendliche Trambahnfahrt mit der Ringlinie, die an der Ecke Theresien- zur Ludwigstraße abfuhr und die Innenstadt umkreiste. Dass sie später nach Hause kam, begründete Henni ihren Eltern meist mit einer längeren Schicht beim Kassenabschluss. Im Zweifelsfall würde Vroni das bestätigen. Die verwitwete Mutter zweier Söhne hatte einen Narren an ihrer tüchtigen Bürohilfe gefressen. Elly beneidete Henni darum, dass ihre Eltern trotz ihrer Strenge auf sie warteten. Dita war es einerlei, wann sie in der für sie beide viel zu großen Wohnung in der Schönfeldstraße auftauchte.

»Was soll an Leo nicht stimmen, außer dass er ein wenig übereifrig wirkt?«, hakte sie nun nach, sobald sie auf einer der harten Holzbänke im Innern des weiß-blauen Waggons der Elektrischen Platz genommen hatten. Die Billetts hatte sie wie gewohnt für sie beide bezahlt.

»Er klingt nicht wie jemand aus Berlin oder Leipzig. Er muss von woanders stammen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er nicht gern darüber redet.«

»Wie kommst du darauf? Lass ihn doch erst einmal richtig hier ankommen und sich ein wenig bei uns eingewöhnen. Oder geht da schon gleich deine Fantasie mit dir durch und du steckst mitten in einer deiner Geschichten?«

»Wenn er mich zu einer guten Geschichte animiert, wäre es nicht das Schlechteste. Mal sehen, was wir noch mit ihm erleben.«

2

November 1913

Die ersten Wochen schien es Henni, als würde sie wenig aufregende Geschichten mit dem neuen Gehilfen erleben. Das lag vor allem daran, dass sie kaum etwas von ihm mitbekam, weil er ihre Mithilfe vorn in den Laderäumen nahezu überflüssig machte. Das traf sie mehr, als sie zugeben wollte.

»Dieser Leo liefert noch nicht einmal Stoff für eine langweilige Geschichte, selbst wenn er in Wahrheit vom Mond stammte und nur deshalb nicht darüber spricht, damit ihm niemand dorthin folgt«, raunte sie Elly zu, als sie sich im schmalen Gang zwischen Büro im Hinterzimmer und Ladenraum vorn begegneten. Elly schilderte ihr entrüstet, wie verzückt sich die Kundin, die sie vor einiger Zeit für Gabriele Reuters Frauenromane begeistert hatte, jetzt von Leo Theodor Fontanes Bücher empfehlen ließ. Das seien auch hervorragende und sehr lesenswerte Romane über die Situation der Frau in der Gesellschaft des Kaiserreichs, habe sie ihn sagen hören.

»Aber eben von einem Mann geschrieben, noch dazu von einem aus dem letzten Jahrhundert!«, ereiferte sich Elly. »Leo hat einfach nicht kapiert, worum es uns bei den Lämmles geht: Literatur von Frauen endlich die Geltung zu verschaffen, die ihnen zusteht. Es sind die Frauen, die die aufregenden Geschichten schreiben. Sie werden das zwanzigste Jahrhundert prägen!«

Trotz Ellys Einwänden bewies Leo beste Absichten, sich möglichst rasch in die Abläufe und Gepflogenheiten bei den Lämmles einzuarbeiten. Das musste Henni zugeben, obwohl er zu ihrem Leidwesen freiwillig einen Großteil der Hilfstätigkeiten übernahm, die sie sonst erledigte, da sie ihr die Gelegenheit boten, sich vorn in der Buchhandlung statt hinten im Büro aufzuhalten und die Beratungsgespräche mit der Kundschaft mitzuverfolgen. Nun aber holte er an ihrer statt Bücher aus dem Lager, half, Regale und Auslagetische umzusortieren, räumte die Exemplare, die den Kunden zur Ansicht vorgelegt worden waren, zurück an den ihnen Platz und staubte sogar freiwillig ab.

»Wenn ich irgendwann einmal jedes einzelne Buch im Laden in der Hand gehabt habe, lerne ich am schnellsten, es auf Anhieb wiederzufinden, wenn es später wieder verlangt wird«, meinte Leo in der Mittagspause zu Kirchner. Längst verbrachten sie die angesichts des herbstlich kühlen Novembers nicht mehr draußen im Hinterhof, sondern im Lagerraum. Kaum hatten sie zwischen den Bücherkisten Platz genommen, hatte Kirchner Leo darauf hingewiesen, dass das Abstauben Aufgabe des Lehrlings oder der Ladenhilfe sei. Natürlich warf Kirchner Henni dabei einen besonders abfälligen Blick zu. Es war ein offenes Geheimnis, wie sehr ihm ihre Sonderstellung missfiel, die natürlich weit über das Übliche einer ungelernten Hilfskraft hinausging.

»Zum Abstauben sollte man sich auch als Gehilfe nie zu fein sein«, sprang Rahel dagegen dem neuen Kollegen und letztlich auch Henni bei. »Wir lieben doch alle Bücher, einerlei, ob es sich um eine anspruchsvolle Ausgabe von Aristoteles’ Dramentheorie, einen luxuriös aufgemachten Kunstband oder um einen der seichten Liebesromane von Eugenie Marlitt handelt. Sie alle wollen wir gut behandeln und dazu gehört auch, sie regelmäßig vom Staub zu befreien.«

Zwar war sich Henni bewusst, dass Rahel Kirchner grundsätzlich gern widersprach, dennoch rechnete sie es ihr hoch an, ihn seines Dünkels wegen in die Schranken gewiesen zu haben.

An diesem Abend nach Ladenschluss verkündete sie Elly auf dem Weg zur Tram: »Im nächsten Leben werde ich höhere Tochter und nicht nur die Tochter eines kleinen Beamten. Dann habe ich auch Chancen auf eine bessere Schule und eine richtige Ausbildung.«

»Bis dahin gibt es hoffentlich keine ›höheren Töchter‹, sondern überhaupt nur noch Frauen, die unabhängig von ihrer Herkunft tun und lassen können, was sie wollen. Und vor allem ihr Leben selbst in die Hand nehmen«, erwiderte Elly.

»Und zwar von vorn bis hinten! Die zeigen dann den Männern, wo’s langgeht, und sitzen gleich mit in der Regierung.«

»Bis zum nächsten Leben sollten wir Frauen damit lieber nicht warten, sonst haben wir nichts mehr davon.«

»Stimmt. Wir sind jung und stark genug, das schon in diesem Leben anzupacken.«

»Eins aber musst du mir fest versprechen«, wurde Elly ernst, fasste nach Hennis Hand und drückte sie fest.

Die Wärme Ellys Haut zu spüren, durchzuckte Henni wie ein Blitzstrahl. Kaum wagte sie zu atmen, um den besonderen Moment voll und ganz auszukosten.

»So wichtig der Kampf von uns Frauen ist, du darfst trotzdem nie aufhören, dir deine wundervollen Geschichten auszudenken.«

»Da musst du dir keine Sorgen machen. Dazu mag ich meine Geschichtenerfinderei selbst viel zu sehr.« Henni lachte glücklich. »Sofort erzähle ich dir eine neue über zwei unerschrockene Frauen, die die Macht an sich reißen. Darf ich sie dir vorstellen? Eine ist eine Tochter aus gutem Haus, die andere stammt aus einer Handwerkerfamilie. Sie beschließen, einen anderen Weg einzuschlagen als den, den ihre Familien für sie vorgesehen haben …«

Beschwingt vom Leuchten in Ellys Augen nutzte sie die restliche Trambahnfahrt, um ihr zu schildern, wie die unerschrockenen Frauen gemeinsam nach Berlin gingen, um sich fern von zu Hause in einer Umgebung zu behaupten, in der allein zählte, was sie konnten und wollten. Nach einigen verwickelten Stationen landeten sie schließlich im Büro eines Reichstagsabgeordneten und übernahmen es für ihn, Reden und Briefe zu schreiben, Artikel für Zeitungen zu verfassen, weil sie das viel gewitzter und letztlich erfolgreicher konnten als er, wie er rasch begriff. Bis sie bei der nächsten Wahl an seiner Stelle als Männer verkleidet antraten.

»Es wäre so schön, wenn das eines Tages auch ohne Verkleidung möglich wäre«, seufzte Elly.

Wie so oft, wenn Henni erzählte, versank sie ganz in ihren Worten und schmiegte sich eng an ihre Seite. Das wiederum beflügelte Henni, länger und ausführlicher zu fabulieren, sodass sie an diesem Abend zweimal mit der Tram um die Innenstadt fuhren.

»Ob die Lämmles je auf die Idee kommen, dir deine Extrastunden ordentlich zu bezahlen? Allmählich hättest du damit fast einen Monatslohn zusammen«, empfing der Vater sie verärgert, als sie noch später als sonst zu Hause eintraf. Sie erschrak. Offenbar hatte sie zu oft eine Extraschicht in der Buchhandlung vorgeschützt. Künftig sollte sie sich eine andere Ausrede einfallen lassen, sonst sprach ihr Vater demnächst tatsächlich bei den Lämmles vor und verlangte das Geld für ihre angeblichen Überstunden. Dann flöge der ganze Schwindel auf.

»Suppe ist keine mehr für dich da«, posaunte ihr jüngster Bruder, der elfjährige Xaver.

Die Mutter schob ihr beschämt ein Käsebrot hin. »Was anderes hab ich leider nicht für dich.«

»Wer nicht kommt zur rechten Zeit …«, triumphierte ihr zweiter Bruder Veit.

Zacherl hingegen, eigentlich Zacharias, der Älteste von ihnen vieren und ihr Lieblingsbruder, steckte ihr augenzwinkernd eine Orange zu. »Die gab’s heute beim Feinkostladen Dallmayr, als mein Schreinerkollege Schorsch und ich einen Türstock in deren Büro repariert haben.«

Erst wollte Henni sie nicht annehmen, doch sie ahnte, wie wichtig es Zacherl war, mit der Geste einen Kontrapunkt gegen Veit und den Vater zu setzen.

»Gestern Abend gab es bei dir zu Hause wohl Ärger«, begrüßte Buchhalterin Vroni sie am nächsten Morgen bei Arbeitsbeginn.

»Woher weißt du …?«

»Dein Vater und dein Bruder Veit sind mir eben auf dem Weg in ihre Schreibstube im Ministerium begegnet. Gleich hat dein Vater mich auf die Sonderlieferungen des Barsortiments gestern Abend angesprochen. Ich glaube, es geht ihm weniger darum, dass du dadurch später heimkommst. Er will nur, dass die Lämmles dir extra was zahlen, was dann natürlich er kassiert.«

»Das fürchte ich auch«, gab Henni beschämt zu.

»Mach dir keine Gedanken«, wiegelte Vroni ab. »Falls er wirklich bei den Lämmles Überstundengeld verlangt, werden die ihm schon zu antworten wissen. Vor den beiden hat er größten Respekt. Obwohl sie Frauen sind. Nachdem er anfangs so dagegen war, dass du in der Buchhandlung arbeitest, hat er inzwischen längst begriffen, dass das eine viel bessere Stelle ist als im Tabakgeschäft von der Hippmann. Letztens hab ich zufällig belauscht, wie er vor einem Kollegen damit angegeben hat, dass seine einzige Tochter in der angesehenen Buchhandlung Lämmle als Buchhalterin arbeitet, in der die berühmten Künstler und Professoren von der Universität ihre Bücher kaufen, und das, obwohl sie doch nur einen einfachen Volksschulabschluss habe.«

»Schön zu hören, dass die Väter unserer Mitarbeiterinnen so stolz auf die Anstellung ihrer Töchter sind«, schaltete Theres sich in die Unterhaltung ein. Lautlos war sie im Hinterzimmer aufgetaucht.

Überrascht wandten Henni und Vroni sich um. Soweit Henni das in den bescheidenen Lichtverhältnissen erkennen konnte, blickte Theres ihnen wohlwollend entgegen. Noch war es draußen dunkel. Durch das nicht sonderlich saubere Fenster zum mauernumgrenzten Hinterhof fiel ohnehin wenig Tageslicht herein, sodass die Decken- und die Schreibtischlampe kaum ausreichten, um den schmalen, ebenfalls von wandhohen Bücherregalen möblierten Raum zu beleuchten. Im Winter herrschte deshalb auch den gesamten Tag über Halbdunkel.

»Um die wenig erfreulichen Zahlen in der Bilanz zu lesen, langt’s«, kommentierte Vroni stets, wenn die Glühbirne angesichts des tagelangen Dauerbetriebs zu flackern begann. »Je heller es hier hinten wäre, desto eher würden wir merken, wie arg es um den Buchhandel bestellt ist. Die Münchner lesen einfach zu wenig und geben lieber Geld fürs Bier und fürs Feiern überhaupt aus. Die opulenten Faschingsfeste! Die Bockbiersaison! Und erst das Oktoberfest! Und das selbst hier in der Maxvorstadt, in der man angesichts der Universität, der Ministerien und Kanzleien sowie der vielen Künstler von einem hohen Bildungsgrad ausgehen muss.«

»Hoffentlich hat dein Vater bei all seinem Stolz nicht vor, uns demnächst um eine Lohnerhöhung für dich zu bitten. Das wäre ein Fiasko, denn wir müssen alles daransetzen, eine so kluge, interessierte und vielseitig einsetzbare junge Frau wie dich unbedingt bei uns zu behalten«, knüpfte Theres an ihre Bemerkung an. Schon fragte sich Henni, wie viel sie von ihrem Gespräch mit Vroni mitgehört hatte, als sie hinzufügte: »Vroni und du habt selbst den besten Einblick in unsere Finanzen. So gern wir euch allen höhere Löhne zahlen würden, gibt unser Umsatz das leider nicht her.«

»Wenigstens zahlen Sie allen Angestellten unabhängig vom Geschlecht den gleichen Lohn«, warf Vroni ein.

»Das ist uns wichtig. Wir sind aktive Mitglieder im Verein für Fraueninteressen, der seit Jahren gleichen Lohn für gleiche Arbeit fordert. Eine Schande, dass ausgerechnet im Buchhandel der Unterschied zu den männlichen Gehilfen nach wie vor so groß ist. Dabei bietet unsere Branche die große Chance für Frauen, materiell unabhängig zu werden.«

»Sonst könnte man euch den hohen Frauenanteil auch so auslegen, als wolltet ihr durch den niedrigeren Lohn für Gehilfinnen Geld sparen«, merkte Henni an. Wie Elly duzte sie die Lämmles seit frühester Kindheit.

»In der Kaufinger Straße hat übrigens ein weiterer alteingesessener Sortimenter geschlossen, der dritte innerhalb der letzten beiden Jahre«, wechselte Theres das Thema. »Abgesehen von der stetig schwindenden Leselust, die in München ohnehin nie sonderlich groß gewesen ist, machen den Kollegen in der Innenstadt die stark expandierenden Buchabteilungen in den großen Warenhäusern zu schaffen. Dank der Buchpreisbindung bleibt zwar der direkte Preiskampf aus, aber die Herren Tietz, Oberpollinger und Hirschvogl nutzen geschickt die Schlupflöcher, um mit Sonder- und Restauflagen sowie einem Großangebot an billigen Taschenbüchern den großen Reibach zu machen. Immer mehr Kunden decken ihr schmales Lektürebedürfnis neuerdings mit dieser Kost.«

»Ganz abgesehen vom Zeitungskiosk am Stachus, der inzwischen auch Taschenbücher führt und natürlich einen der Reclam’schen Bücherautomaten vor der Tür stehen hat. Tag und Nacht kann man aus dem Bücher ziehen«, warf Henni ein.

»Aber nur Reclam-Bücher«, ergänzte Theres.

»Leute, die sich dort etwas zum Lesen ziehen oder die Preisaktionen bei den Kaufhäusern mitnehmen, waren und werden nie unsere Hauptkunden sein«, gab Vroni zu bedenken.

»Allerdings hat sich das Hirschvogl am Rindermarkt im Gegensatz zu den anderen Warenhäusern längst auch mit seinem gut sortierten Angebot an regulären Verlagstiteln und der Leihbibliothek einen Namen gemacht. Damit mausert es sich durchaus zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz für uns.«

»An ihren Salonabenden laden sie neuerdings zu Dichterlesungen ein«, fügte Henni hinzu.

»Die sind wahrscheinlich der größte Angriff auf unser Programm. Wie wir bietet Thea Hirschvogl neuerdings Vorträge zu frauenspezifischen Themen an und veröffentlicht im hauseigenen kostenlosen Kundenmagazin sogar Beiträge des Vereins für Fraueninteressen.«

Theres sank auf den Stuhl auf Hennis Schreibtischseite und begann, mit dem Bleistift zu spielen, der auf dem offenen Rechnungsbuch lag. Henni lehnte sich rücklings ans Regal und betrachtete ihr Profil. Ihren achtunddreißig Jahren zum Trotz besaß sie nach wie vor eine jugendliche Ausstrahlung, was an ihrer hoch aufgeschossenen, schlanken Figur und den fein gezeichneten Gesichtszügen liegen mochte. Anders als ihre drei Jahre jüngere Cousine trug sie das Haar nicht kurz, sondern schwungvoll aufgesteckt und kleidete sich den Konventionen entsprechend feminin.