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„Ein vielschichtiges Buch über die schillerndste Tochter Thomas Manns.“ Brigitte Glaser.
New York, 1936: Erika hofft darauf, mit ihrem politischen Kabarett die Amerikaner für den Kampf gegen Hitler zu gewinnen. Dann lernt sie im Kreis der europäischen Exil-Künstler einen Mann kennen, der ihr mehr bedeutet, als sie jemals für möglich gehalten hätte – den Arzt und Lyriker Martin Gumpert, der fasziniert ist von ihrer Stärke und Unabhängigkeit. Bald muss sie sich entscheiden: Ergreift sie die Chance, sich als Kämpferin für Frieden und Freiheit zu etablieren, oder setzt sie ihr persönliches Glück an erste Stelle?
Die bislang unbekannte Liebesgeschichte einer großen Frau, die sich in einer düsteren Epoche behaupten muss.
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Seitenzahl: 532
»Ein vielschichtiges Buch über die schillerndste Tochter Thomas Manns.« Brigitte Glaser
New York, 1936: Erika hofft darauf, mit ihrem politischen Kabarett die Amerikaner für den Kampf gegen Hitler zu gewinnen. Dann lernt sie im Kreis der europäischen Exil-Künstler einen Mann kennen, der ihr mehr bedeutet, als sie jemals für möglich gehalten hätte – den Arzt und Lyriker Martin Gumpert, der fasziniert ist von ihrer Stärke und Unabhängigkeit. Bald muss sie sich entscheiden: Ergreift sie die Chance, sich als Kämpferin für Frieden und Freiheit zu etablieren, oder setzt sie ihr persönliches Glück an erste Stelle?
Die bislang unbekannte Liebesgeschichte einer großen Frau, die sich in einer düsteren Epoche behaupten muss
Über Heidi Rehn
Heidi Rehn, geboren 1966, wuchs im Mittelrheintal auf und kam zum Studium der Germanistik und Geschichte nach München. Seit vielen Jahren widmet sie sich hauptberuflich dem Schreiben. 2014 erhielt sie den »Goldenen Homer« für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Aktuelle Infos dazu auf www.heidi-rehn.de
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Heidi Rehn
Die Tochter des Zauberers
Erika Mann und ihre Flucht ins Leben
Roman
Inhaltsübersicht
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Nachwort
Literaturauswahl
Weiterführende Literatur
Zitate
Impressum
»Es gibt nichts in meinem Leben, was ich nicht bereitwillig erzählt hätte; nichts, was ich aus irgendeinem Grund verheimlichen müsste.«
Erika Mann
München, Anfang April 1933
Geschafft! Erika kann es kaum fassen. Tatsächlich hat sie unbemerkt von den draußen patrouillierenden SA-Wachen das rettende Dachgeschoss erreicht. Sie zittert am ganzen Leib. Es gelingt ihr gerade noch, die Tür hinter sich zu schließen. Erschöpft zwingt sie sich, tief durchzuatmen. Allmählich normalisiert sich ihr Herzschlag. Das dicke Manuskriptbündel wie ein Schutzschild vor die Brust gepresst, gleitet sie in Zeitlupe am Türblatt hinunter zu Boden. Bleibt dort mit angezogenen Knien reglos sitzen.
Tiefe Dunkelheit umfängt sie. Im restlichen Haus rührt sich nichts. Nicht einmal der Familienchauffeur, der blonde, blauäugige Hans, ist in seinem Zimmer. Auch sonst scheinen die früheren Hausangestellten alle ausgeflogen. Sie hat genau den richtigen Zeitpunkt erwischt, um herzukommen. Behutsam bettet sie das Papierbündel neben sich auf den Holzboden, legt Hut und Brille obenauf und fährt mit den Händen übers glühende Gesicht, lässt sie einen Moment darauf liegen. Was gäbe sie jetzt für eine Zigarette! Doch es wäre Wahnsinn, dem Verlangen nachzugeben. Der Rauch würde sie sofort verraten.
Sie ist noch immer erschüttert. Niemandem ist mehr zu trauen, am allerwenigsten denen, bei denen sie sich früher sicher gefühlt hat. Wie etwa ihrem Chauffeur. Vor gut drei Wochen, als sie nach der Machtergreifung mit ihrem Lieblingsbruder, dem ein Jahr jüngeren Klaus, nach München zurückgekehrt ist, hat Hans sie zwar gewarnt, es könne gefährlich sein, an der Isar zu bleiben, vor allem für sie, das »Fräulein Erika«. Inzwischen aber hat sich herausgestellt, warum er so gut informiert gewesen ist: weil er seit Jahren die gesamte Familie als heimlicher Parteigänger Hitlers für die Gestapo ausspioniert hat!
Als er sie mit dem Familien-Buick am Bahnhof abholte, hat er ihr trotzdem ins Ohr geraunt: »Achtung, Fräulein, sie sind hinter Ihnen her. Sie wissen schon, die vom Braunen Haus!« Wenigstens dieses eine Mal noch hat die Loyalität gegenüber seinen langjährigen Arbeitgebern über das Pflichtgefühl den neuen Machthabern gegenüber gesiegt.
Beim Gedanken, sich ab sofort nicht mehr in der vertrauten bayerischen Heimat, sondern in Feindesland zu befinden, wird ihr speiübel. Die Eltern haben letztens noch bezweifelt, ob es wirklich schon so schlimm sei, und wären am liebsten ins geliebte München zurückgekehrt. Mit Engelszungen haben Erika und Klaus in einem nervenzehrend langen Telefonat auf sie eingeredet, um sie im letzten Moment davon abzubringen. Allein die Tatsache, dass sie nun wie ein gemeiner Dieb mit Hut, dunkler Brille und langem Regenmantel getarnt mitten in der Nacht in ihr eigenes Zuhause einbrechen muss, um ihr rechtmäßiges Eigentum zu holen, spricht Bände, wie es neuerdings um Deutschland bestellt ist.
Wie aber soll es weitergehen? Wie will sie nicht nur das Joseph-Manuskript ihres Vaters, sondern auch die Freunde und Kollegen von der neu gegründeten Kabaretttruppe Die Pfeffermühle schnellstmöglich in Sicherheit bringen? Wo können sie künftig auftreten? Wie sich Gehör verschaffen? Wovon werden sie im Exil ihren Lebensunterhalt bestreiten?
Manchmal ist ihr das alles zu groß. Warum erwartet alle Welt, allen voran ihr Vater, sie solle alles für alle in Ordnung bringen? Natürlich hat sie das bislang gern getan, aber wird ihr das auch künftig gelingen? Verzweifelt schüttelt sie den Kopf.
Die Situation ist mehr als bedrohlich: In den Liedern und Texten ihres ersten, sehr erfolgreichen Kabarettprogramms Anfang des Jahres haben sie und ihre Mitstreiter sich mit ihrer Kritik an den Zuständen in Deutschland weit aus dem Fenster gelehnt. Dabei haben sie zwar weder Namen noch Begebenheiten konkret benannt, stattdessen mit Märchen, Anspielungen und Persiflagen jongliert. Trotzdem hat es nicht erst der Warnung von Chauffeur Hans bedurft, um ihr die daraus resultierende Gefahr drastisch vor Augen zu führen. Gleich nach dem Reichstagsbrand in Berlin Ende Februar sind einige ihrer Freunde verhaftet worden. In Hitlers Lieblingsstadt München hat es erstaunlicherweise zwar noch bis kurz nach den Wahlen Anfang März gedauert, bis die Nazis endgültig an die Macht gelangt sind. Dafür toben sie sich nun umso unerbittlicher aus. Seit einigen Tagen existiert in Dachau, nur wenige Kilometer nordwestlich von München, ein sogenanntes Konzentrationslager. Es kursieren Gerüchte, dass dort Regimegegner und solche, die in den Augen der NSDAP »missliebige Objekte« darstellen, brutal misshandelt werden.
Für Erika beweist das, wie sicher sich Hitler und seine Schergen ihrer Sache bereits sind. Dass es sich bei ihnen nicht bloß um einen bald vorübergehenden Spuk, sondern um einen langen, bösen Alptraum handelt. Umso wichtiger, lautstark Partei gegen sie zu ergreifen und potente Mitstreiter dafür zu gewinnen. Jetzt, da die Kritiker in Deutschland nicht nur mundtot gemacht werden, sondern gar um ihr Leben fürchten, muss das umso entschiedener in Europa und am besten sogar in den USA geschehen.
Panik erfasst sie. Die Vorstellung, welche Konsequenzen damit verbunden sind, lässt sie schaudern. Ihre Eltern und die jüngeren Geschwister befinden sich zwar bereits in der rettenden Schweiz. Als Literaturnobelpreisträger wird ihr Vater auch dort ungehindert schreiben und veröffentlichen können. Seine Stimme ist zu wichtig, um überhört zu werden oder gar vollends zu verstummen. Deshalb muss sie ihn dazu bringen, sich explizit für den Kampf gegen Hitler einzusetzen. Eine schwierige Aufgabe. In puncto Politik ist er ein unmündiges Kind. Sie muss ihn buchstäblich an die Hand nehmen, damit er die richtige Position bezieht.
Je länger sie ins Finstere starrt, desto mehr lichtet sich die Schwärze um sie her. Durch einen Spalt zwischen den Fenstervorhängen fällt ein Streifen Mondlicht, die Umrisse der Möbelstücke zeichnen sich ab. Bett, Tisch, Kommode – das alles nicht nur vor sich zu sehen, sondern auch berühren zu können, ist unwirklich wie ein Traum und dennoch wahr. Rührung überkommt sie. Kaum drei Wochen nachdem sie gemeint hat, ihre Heimat für immer hinter sich lassen zu müssen, sitzt sie tatsächlich noch einmal in ihrem Zimmer. Und kann sich einbilden, es wäre nichts geschehen. Alles wäre wie früher. Gleich käme Klaus von nebenan herüber, und sie würden es sich im Bett unter der Decke gemütlich machen, um Schulter an Schulter in den Werken seiner großen Vorbilder Jean Cocteau oder André Gide zu lesen.
Unbändige Sehnsucht erfasst sie. Über zwanzig Jahre ist die Villa in der Poschinger Straße ihr Zuhause gewesen. Rettender Anker in den wilden Jahren ihrer Jugend, Zufluchtsort nach all den Stürmen, die ihr Leben bisher heimgesucht haben, seien es die ausbleibenden Erfolge auf Reinhardts Theaterbühne in Berlin nach dem Abitur, die krude Episode ihrer kurzen Ehe mit dem ehrgeizigen Hamburger Bühnenkollegen Gustaf Gründgens, der sich längst den neuen Machthabern an den Hals geworfen hat, oder die bittere Zeit nach dem Selbstmord ihres Kindheitsfreundes Ricki Hallgarten, den zu retten sie sich vergebens gewünscht hat. Tränen schießen ihr in die Augen. Um nicht laut aufzuschluchzen, beißt sie die Lippen aufeinander, schluckt einige Male heftig und wischt sich mit dem Handrücken das nasse Gesicht.
Von Neuem wandern ihre Augen durch das dämmrige Zimmer. Was hat sie hier oben unterm Dach in der von ihr heiß geliebten »Poschi« nicht schon alles erlebt! Und was alles mit Klaus und den anderen Freunden aus der berüchtigten Herzogpark-Bande in ihrer verrückten Backfischzeit ausgeheckt, während die vier jüngeren Geschwister wie die Eltern ein Stockwerk tiefer ahnungslos geschlafen haben. Die Erinnerungen an die unerhörten Telefonstreiche bei verdienten Mitbürgern oder die kühnen Diebestouren durch Münchner Feinkostläden bringen sie abermals zum Weinen.
Was ist ihr geblieben? Jetzt hat sie, den schwarzen Herrenhut tief ins Gesicht gezogen, die dunkle Brille schützend vor den Augen, den Mantelkragen hochgeschlagen, bei anbrechender Dunkelheit einen günstigen Moment abpassen müssen, um unbemerkt von den Nazi-Wachen das Gartentor aufzusperren und sich zwischen Büschen und Sträuchern quer über die Wiese ans Haus heranzupirschen, klopfenden Herzens die Stufen zur Tür hinaufzusprinten und ins Elternhaus einzudringen.
Wie gut, dass sie jede einzelne knarrende Stelle im Parkett kennt, von jeder Stolperfalle auf der Treppe weiß und sich in sämtlichen Räumen blind zurechtfindet. Selbst im eigentlich verbotenen, hochheiligen Arbeitszimmer ihres Vaters. Auf Anhieb ist ihr das Husarenstück gelungen, die wertvollen Seiten seines Joseph-Manuskripts mit einem einzigen gezielten Griff in die richtige Schublade an sich zu bringen.
Jetzt sitzt sie ungeduldig wartend da und will erst einige Stunden verstreichen lassen, bevor sie sich wieder aus dem Haus stiehlt. Eins aber steht fest: Die Poschi mag zwar verloren sein, die Kraft wird sie sich aber nicht nehmen lassen, die sie aus diesem Ort und dieser kurzzeitigen Rückkehr schöpft. Wenn sie es schafft, unbehelligt mit dem Manuskript zu entkommen, wird sie in den nächsten Jahren auch die weiteren Herausforderungen des Exils bewältigen.
Irgendwann, als der Mond am Himmel hinter dichten Wolken verschwunden und völlige Dunkelheit eingekehrt ist, scheint es ihr sicher genug, das Haus zu verlassen. Dieses Mal endgültig, wie ihr im selben Moment bewusst wird. Schweren Herzens verzichtet sie darauf, einen Abschiedsrundgang durch die vermeintlich unberührten Räume zu unternehmen, sich aus dem Vorratskeller die ein oder andere Lieblingsleckerei der fleißigen Köchin als Wegzehrung zu stibitzen oder sonst ein Andenken einzustecken. Stattdessen schlägt sie das Manuskriptbündel notdürftig in Zeitungspapier ein und schleicht so verstohlen, wie sie vor Stunden eingedrungen ist, hinaus.
Erst als sie nach einigen Minuten Laufens durch die stockfinstere Straße den Herkomerplatz erreicht, wagt sie aufzuatmen. Suchend sieht sie sich nach einem Taxi um. Die Tram fährt um diese Stunde nicht mehr.
»Da können S’ lang warten, Fräulein!«, ruft ihr ein mittelalter Mann mit Tirolerhut, Trachtenjanker und Rauhaardackel zu und erschreckt sie damit fast zu Tode. Sobald sie begreift, dass er ihr tatsächlich nur helfen will, kann sie ihn einigermaßen unschuldig ansehen.
»Unten in der Stadt ham s’ einen gewaltigen Aufmarsch. Irgendein riesiges Fest von den Braunen«, erklärt er. »Sie wissen schon: so was mit mächtig viel Fackeln und Uniformen und Fahnen, wie sie’s jetzt allweil gern veranstalten, seit der Führer uns zeigt, wo’s langgeht mit uns in München und Deutschland und demnächst wohl auch dem Rest der Welt. Bis in die Früh wird kein Taxi hier herausfahren. Gehen S’ besser gleich vor zum Max-Weber-Platz. Mit ein bisserl Glück werden S’ da vielleicht noch eins finden.«
Das »bisserl Glück« hat sie tatsächlich, allerdings schon in Höhe der Villa des vor knapp fünf Jahren verstorbenen Jugendstil-Malerfürsten Franz von Stuck und damit nur wenige Hundert Meter von Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz entfernt. Erleichtert sinkt sie in das Lederpolster im Fond des dunklen Mercedes.
Der Taxichauffeur scheint sich nicht zu wundern, warum sie mitten in der Nacht zum Biergarten von St. Emmeram gebracht werden will. In Höhe des beliebten Ausflugsziels am nördlichen Ende des Herzogparks hat sie ihren »Humpel-Ford«, das beim Fahren oft stotternde, nicht eben komfortable, aber sehr zuverlässige Auto, abgestellt. Es ist ihr zu riskant gewesen, mit dem im Viertel wohlbekannten Wagen zu nah ans Haus heranzufahren.
Mehr als nur ein bisserl Glück hat sie auch auf der Fahrt von München quer durchs Allgäu bis zum Bodensee. Um diese ungewöhnliche Tageszeit sind die Straßen gähnend leer. Ihre Rallyeerfahrung hilft ihr, der aufsteigenden Müdigkeit zu trotzen und ohne längere Pause rasant gen Westen zu brausen. In den frühen Morgenstunden erreicht sie die Grenze zu Österreich, eine knappe Stunde später die zur Schweiz.
Beim Anblick der Zöllner in ihren strengen, dunklen Uniformen wird ihr allerdings erneut bang. Das dicke Joseph-Manuskript ihres Vaters weiß sie zwar sicher zwischen den öligen Werkzeugen unter dem Sitz verborgen, dennoch fürchtet sie den Moment, in dem man Genaueres von ihr wissen will, was sie als junge Frau gegen sieben Uhr morgens mutterseelenallein auf der Straße verloren hat.
Einmal mehr in ihrem Leben rettet sie ihre Kühnheit. Und ihr schauspielerisches Talent. In breitem Bairisch antwortet sie, eine Tour in die Berge geplant zu haben. Dank der burschikosen Kleidung wie auch der Selbstverständlichkeit, mit der sie das sagt und dabei dem Grenzbeamten direkt in die hellgrauen Augen sieht, hebt sich der Schlagbaum tatsächlich ohne weitere Kontrolle, und der Zöllner tippt sich grüßend an die Stirn.
Am liebsten würde sie laut jubeln. Vor Freude. Vor Stolz. Vor Unglauben. Das schier Unmögliche ist ihr gelungen: Sie hat das kostbare Joseph-Manuskript ihres Vaters aus den Fängen der Nazis gerettet und ist aus dem tiefbraunen München mit den blutroten Hakenkreuzfahnen in die rettende Schweiz zurückgelangt!
»Mein Wotan-Kind!« wird er gerührt sagen, wenn sie es ihm ins Hotel nach Arosa bringt, und ihr anerkennend auf die Schulter klopfen, bevor er sich überglücklich mit den Seiten in sein provisorisches Arbeitszimmer zurückzieht. In aller Ruhe wird er es durchgehen, Wiedersehen mit seinen umfangreichen Notizen und Materialien feiern, an der ein oder anderen ungelenken Formulierung feilen und die Vollständigkeit des Ganzen prüfen. Unterdessen wird sie mit Mutter Katia, den beiden jüngsten Geschwistern sowie hoffentlich auch der geliebten Therese im schönsten Frühlingssonnenschein auf der Terrasse frühstücken.
Schon malt sie sich aus, wie fasziniert die fünfzehnjährige Elisabeth und der vierzehnjährige Michael an ihren Lippen hängen, wenn sie ihnen den Einbruch in der Poschi en détail schildert. Ihre Mutter aber wird über ihre Fabulierlust missbilligend den Kopf schütteln und Therese amüsiert schmunzeln. Insgeheim wird sie daraus schon eine lebhafte Szene für das nächste Programm der Pfeffermühle entwerfen.
Nein, unterbricht sie jäh ihre Gedanken. Bei aller Gefährlichkeit des gerade Überstandenen ist die Geschichte viel zu harmlos fürs Kabarett. Sie eignet sich mehr als launige Plauderei auf einer Party oder als beiläufig eingeflochtene Anekdote für ein Zeitungsinterview. Für die Pfeffermühle brauchen sie mehr Salz in der Suppe, mehr Biss in den Texten, mehr politische Direktheit, um die gigantische Gefahr, die nach Hitlers Machtergreifung für alle Welt am Horizont heraufzieht, darzustellen. Mit ihren Liedern, Satiren und Märchen allein haben sie es nicht geschafft, den Leuten die Augen zu öffnen und Hitlers wachsenden Einfluss zu verhindern. Zu viele haben sich dennoch von seiner vermeintlichen Harmlosigkeit blenden und über seine wahren Absichten täuschen lassen, Deutschland letztlich für einen neuen Krieg zu rüsten. Künftig müssen sie zu drastischeren Mitteln greifen, um das Publikum zu überzeugen, sich Hitler aktiv entgegenzustellen.
Sie steht an einem Wendepunkt. Mit ihrer Flucht aus München ist endgültig ein Lebensabschnitt vorbei. Doch das Ende des einen ist immer auch der Anfang für etwas anderes, Neues, womöglich Besseres. Die nächsten Monate und vielleicht Jahre werden zeigen, wohin es sie führt, bis die Barbarei besiegt ist. Dass das eines Tages gelingen wird, daran will sie nun, da ihr die für unmöglich gehaltene Fahrt nach München wie auch die Rückkehr in die rettende Schweiz gelungen sind, erst recht glauben. Sie, die Tochter des Zauberers und sein Wotan-Kind, hat damit bewiesen, was möglich ist, wenn man es nur will. Man darf sich nur nie davon abbringen lassen, sich für seine Ziele einzusetzen. Sie jedenfalls weiß nun, dass sie es schaffen wird. Und wird auch ihren Vater davon überzeugen, es zu probieren. Und noch so manch anderen mehr. Wenn es sein muss, die ganze Welt dies- und jenseits des Großen Teichs.
New York, Ende September 1936
Erika konnte sich kaum sattsehen an dem, was hinter dem Seitenfenster des Taxis an ihr vorbeirauschte. Nach neun Jahren waren Klaus und sie wieder in New York! Im Unterschied zu damals, als sie aus einer plötzlichen Laune heraus zu einer Weltreise gestartet waren, verbanden sie mit ihrem jetzigen Aufenthalt konkrete Pläne, um sich im »Land der tausend Möglichkeiten«, wie sie die Staaten unter sich nannten, eine Zukunft aufzubauen, im Idealfall sogar auf Dauer einzurichten.
Neugierig versuchte sie, alles, was da gerade an ihr vorbeizog, in sich aufzusaugen. Auf den ersten Blick hatte sich verblüffend wenig Neues getan – und zugleich so viel: Die Häuser waren noch mehr in die Höhe geschossen, die Menschenmassen auf den Trottoirs wie der Autoverkehr in den Straßen hatten sich vervielfacht. Ebenso der Lärm, den sie erzeugten. Die Straßenschluchten waren so eng, dass die Sonnenstrahlen kaum bis nach unten fielen und der blaue Himmel nur eine Ahnung in weit entfernten Sphären blieb. Die für Ende September selbst für New York noch erstaunliche Hitze drang durch sämtliche Poren. Erika lockerte den nächsten Knopf an ihrer Bluse, wischte sich mit der Hand über den schweißnassen Nacken.
»Wow, sieh nur, das Empire State Building!« Aufgeregt wies Klaus mit dem Finger auf einen gigantischen Gebäudekomplex, dessen oberste Etagen buchstäblich an den hohen Wolken kratzten.
»Was ein Koloss! Vor neun Jahren hat es den noch nicht gegeben. Da muss ich unbedingt rauf.« Er verrenkte den Kopf, um die Spitze mit dem Blick erfassen zu können. Vergebens!
Noch ehe Erika das Empire State Building ebenfalls in seinen gigantischen Ausmaßen bewundern konnte, waren sie schon daran vorbei. Nur um zwei Blocks weiter in einer wild hupenden Automasse festzustecken. Der dunkelhäutige Taxifahrer fluchte.
»Natürlich musst du da rauf«, erklärte sie und lehnte sich an das klebrige Lederpolster des Rücksitzes. »Schon allein, um dir einen Überblick zu verschaffen, was sich hier alles verändert hat.«
Ein Anflug von Wehmut erfasste sie. Nicht nur New York mit den vielen neuen Wolkenkratzern, die der Stadt ein komplett anderes Aussehen gaben, auch Klaus und sie sowie vor allem ihr Leben hatten sich in den letzten neun Jahren fundamental verändert. Und genau deswegen waren sie jetzt wieder hier.
Seit ihrer Flucht aus Deutschland vor dreieinhalb Jahren fühlten sie sich ihrer Wurzeln beraubt. Nicht mehr nur in Hitlerdeutschland, sondern auch im restlichen Europa besaßen sie – wie so viele andere Künstler – keine Perspektive mehr. Mit ihrem politischen Kabarett Die Pfeffermühle wollte Erika den Amerikanern auf unterhaltsame Art die Augen vor der Gefahr für den Weltfrieden durch Hitler öffnen und sie für den gemeinsamen Kampf gegen sein Unrechtsregime gewinnen.
Klaus und sie bildeten die Vorhut des Ensembles. Der Rest, allen voran Erikas Herzensdame Therese, würde, wenn alles nach Plan verlief, in wenigen Wochen ebenfalls in die Staaten übersetzen, um hier eine sichere Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis zu finden. Bis dahin musste Erika die nötigen Formalitäten mit den Behörden geklärt, Geld für Hotel und Unterhalt der ganzen Truppe besorgt sowie Probe- und Auftrittsmöglichkeiten arrangiert haben.
Ihr Vater hatte sie mit reichlich Empfehlungsschreiben ausgestattet. Sein internationales Renommee bescherte ihm Kontakte bis in die höchsten Kreise. Was ihr nun sogar eine Einladung ins Weiße Haus eingebracht hatte.
»Was hältst du davon, übermorgen mit nach Washington zu kommen?«, schlug sie Klaus vor.
»Was soll ich da?« Verwundert wandte er sich zu ihr um. »Mr. President nebst Gattin wohlerzogen Händchen geben? Das würde nur in einer Katastrophe enden. Mit deinem Talent, als daughter of the famous German writer Thomas Mann einflussreiche Leute und Millionäre um den Finger zu wickeln, kann ich leider nicht mithalten. Das lasse ich besser gleich bleiben, sonst verderbe ich dir nur die Chance, die Roosevelts und ihre Freunde für deine Mission zu gewinnen.«
»Feigling!« Sie hätte es sich denken können. Das lästige Klinkenputzen blieb mal wieder an ihr allein hängen. Zwar war auch er auf das Wohlwollen anderer angewiesen, wollte aber, wie so oft, am liebsten gar nichts dafür tun. Wie sollte das nur funktionieren?
Natürlich musste sie sich auch um die Visa kümmern. Sie besaßen bislang nur vorläufige. Dauerhafte wären ideal, am besten sogar gleich für die gesamte Pfeffermühlen-Truppe, damit sich der ganze Aufwand überhaupt lohnte. Dafür benötigte sie einflussreiche Fürsprecher, die sie erst einmal von ihnen allen und ihrer Mission überzeugen musste.
Endlich ging die Fahrt durch die engen Straßenschluchten weiter. Es wurde gehupt, geflucht, gebremst und wieder angefahren. Erika schenkte dem weniger Beachtung, ging lieber im Kopf ihre Liste durch. Immerhin hatte sie vor der Abreise aus Europa mit ihrem britischen Ehemann, dem Schriftsteller Wystan Hugh Auden, fleißig an der Übersetzung eines Großteils der deutschen Pfeffermühlen-Texte gefeilt. Bei der Erinnerung an die vielen Stunden, in denen sie während ihres London-Aufenthalts um die besten Worte für Erich Mühsams Gedicht Lampenputzer oder Erikas Song Kälte gerungen hatten, musste sie lächeln. Unerbittlich hatte Wysti darum gekämpft, ihr den störenden deutschen Akzent auszutreiben. Dank seiner Ausdauer sprach sie inzwischen nahezu fließend und sicherlich weitaus weniger deutsch Englisch als die meisten anderen Exilanten.
»Sage noch einer, wir hätten nur geheiratet, damit ich einen britischen Pass bekomme. So, wie du dich für mich ins Zeug legst, muss mehr dahinterstecken«, hatte sie ihn geneckt.
Dabei war das tatsächlich zunächst der einzige Grund gewesen. Vor der Trauung waren sie sich nicht einmal persönlich begegnet. Sobald sie jetzt an die vertraute Arbeit mit ihm dachte, wurde ihr warm ums Herz. In den letzten Monaten hatten sie sich längst nicht mehr nur aus Not aneinander gebunden, sondern waren enge Freunde geworden und freuten sich daran, denselben Humor miteinander zu teilen.
»Ich werde mir größte Mühe geben, dich als Mrs. Auden in Amerika nicht zu blamieren, weder mit meinem Akzent noch mit meinem Benehmen«, hatte sie ihm beim Abschied am Hafenpier augenzwinkernd versprochen, woraufhin er ihr ebenso amüsiert versichert hatte: »Solange du am wundervollen britischen Englisch festhältst und es ansonsten weder in der Kunst noch in der Liebe zu doll treibst, werde ich mir wirklich keine Sorgen machen.«
Nun also waren Klaus und sie in den Staaten. Bei der Suche nach der passenden Unterkunft hatten sie sich einvernehmlich für das Bedford in Murray Hill unweit des Grand Central Terminal entschieden. Das Astor, wo sie bei ihrem ersten Besuch abgestiegen waren, war für einen längeren Aufenthalt unerschwinglich geworden. Schon damals hatten sie im Bedford gelegentlich geluncht, Freunde getroffen und es schätzen gelernt. Inzwischen war es zu dem Treffpunkt der deutschen Exilliteraten und Künstler avanciert. Der ebenfalls aus Deutschland stammende Hotelmanager Anton Nägel tat alles, um den unfreiwillig heimatlos Gewordenen in der Fremde ein behagliches Zuhause einzurichten. Erika konnte es kaum mehr erwarten, dort nach den rastlosen letzten Wochen in Europa wieder zur Ruhe zu kommen. Trotz der vielen anstehenden Aufgaben und Verpflichtungen.
Endlich erreichten sie ihr Ziel. Auf den ersten Blick sah das Bedford noch genauso aus wie vor neun Jahren. War die Zeit stehengeblieben? Wie schön wäre es, zu glauben, sie hätte all das, was seither geschehen war, nur geträumt und erwachte jetzt in ihrem vertrauten Bett im geliebten Münchner Elternhaus.
Unter dem roten Baldachin vor dem Eingang blieb Erika einige Sekunden stehen. Ihre Augen wanderten über den schmalen Klinkerbau, dessen klar strukturierte Fassade typisch für diesen Teil von Manhattan war. Je weiter sie den Kopf in den Nacken legte, um die siebzehn Stockwerke nach oben zu blicken, desto blümeranter wurde ihr.
Die einwöchige Überfahrt mit dem Schiff forderte ihren Tribut. Obwohl der niederländische Dampfer Statendam äußerst luxuriös war, die Liegestühle an Deck und erst recht die Betten in den geräumigen First-Class-Kabinen allen denkbaren Komfort geboten hatten, hatte ihr die stetig auf und ab wogende See dennoch zu schaffen gemacht. Ihre Knie fühlten sich immer noch an, als seien sie weich wie Pudding, und sie hatte das Gefühl, unablässig Karussell zu fahren. Umso schöner, dass sie sich gleich in einem der Hotelzimmer unter die Dusche stellen und die salzige Meeresluft von der Haut brausen konnte. Vielleicht konnte sie sich damit auch für einen kurzen Moment die Erinnerung an das stetig finsterer werdende Europa von der Seele waschen. Nach den Erlebnissen der vergangenen Monate schien ihr das dringender denn je.
»Kommst du?« Klaus war schon vorgegangen und blickte nun ungeduldig zu ihr herüber. Die Zipfel seines offenen, hellen Staubmantels umflatterten seine Beine. Sein Gesicht war kaum zu erkennen, weil er den Filzhut tief in die Stirn gezogen hatte, um seine empfindlichen Augen vor dem grellen Sonnenlicht zu schützen. Die abgegriffene Reisetasche mit den Manuskripten und Notizbüchern hielt er mit einer Hand so fest vor der Brust umklammert, als fürchtete er, jemand könnte sie ihm entreißen. Mit der anderen führte er hektisch die halb gerauchte Zigarette zum Mund.
Sie seufzte, bückte sich nach ihrem schmalen Handköfferchen und folgte ihm durch die Schwingtür nach drinnen.
Auch im Innern des Bedford sah auf den ersten Blick alles genauso aus wie vor Jahren: der weiße Marmorboden mit der von schwarzen Fliesen durchbrochenen Rosette exakt unter dem viel zu imposanten Kristallleuchter, die rotbraune Wandvertäfelung und am Ende der lang gestreckten Lobby der brusthohe Empfangstresen, hinter dem ein geschäftiger Portier mittleren Alters thronte und die dunkelhäutigen Pagen in den goldbetressten Uniformen und die mit weißen Schürzen versehenen, ebenfalls dunkelhäutigen Zimmermädchen bei ihrem dienstbeflissenen Gebaren streng im Blick behielt.
Noch ehe sie die Rezeption erreichten, schallten bereits fröhliche Willkommensrufe durch die Lobby. Neugierig drehten sie sich um. An einen großen runden Tisch saß eine bunt gemischte Gruppe bestens gelaunter Menschen, Männer wie Frauen, Junge und Alte, gut angezogene wie leicht abgerissene Gestalten. Jäh sprangen sie aus den Lederfauteuils und eilten auf sie zu, um sie mit Umarmungen und Schulterklopfen herzlich zu begrüßen. Überrascht ließ Erika es geschehen, während Klaus, wie so oft, Distanz wahrte.
Die meisten von ihnen kannte sie bislang lediglich vom Hörensagen oder durch Briefe. Umso spannender fand sie es, ihnen nun persönlich zu begegnen. Beinah die gesamte deutsche Kultur-Bohème schien hier versammelt.
Etwas steif, aber dennoch sichtlich erfreut stellte sich ihr als Erster Prinz Hubertus Friedrich von Löwenstein vor, der im Bedford die American Guild for German Cultural Freedom als Anlaufstelle für deutsche Exilanten wie für die Vermittlung deutscher Kultur in Amerika gegründet hatte, wie er ihr hastig erklärte. Das schüttere, seidige Haar und die rosige Gesichtshaut schienen der Inbegriff seiner blaublütigen Abkunft, die er in jeder Geste bewusst oder unbewusst betonte. Weitaus lockerer dagegen gab sich der Journalist Rolf Nürnberg. Sein jugendlich-albernes Kichern und das auffällige Händereiben, mit dem er jede Bemerkung abschloss, waren Erika schon von früheren Begegnungen in Berlin vertraut. Verblüfft stellte sie fest, dass er mehr als ein Dutzend Jahre später zwar deutlich an Haaren, aber nichts von diesen Eigenheiten eingebüßt hatte. Sobald er Klaus flüchtig umarmt hatte, hörte er gar nicht mehr auf damit. Zu groß war seine Freude, den einstigen Kollegen vom Zwölf-Uhr-Blatt endlich wiederzusehen.
Den umtriebigen Drehbuchautor Billy Wilder traf Erika dagegen zum ersten Mal, dennoch hätte sie ihn auf Anhieb erkannt. Sein wacher Blick wie auch der spöttische Zug um den Mund passten hervorragend zu den amüsanten Feuilletontexten, die sie von ihm gelesen hatte. Unschwer zu erraten, dass der etwas größere Mann mit der breiten Stirn und dem schütteren dunklen Haar neben ihm der Journalist Curt Riess sein musste. Er galt als enger Freund von Wilder und Nürnberg, was sie angesichts der Penetranz, mit der er sich nach vorn drängte, sowie seinem angestrengten Bemühen um lustige Bemerkungen etwas befremdete. Wahrscheinlich war sie gerade schlichtweg zu müde von der langen Reise, um ihn fair einzuschätzen. Klaus jedenfalls verwickelte er verblüffend schnell in ein angeregtes Gespräch. Sie schnappte die Namen Jean Cocteau und Paris Soir auf. Damit hätte Riess Klaus’ Aufmerksamkeit gewiss die nächsten Stunden für sich gewonnen, wäre nicht die zierliche ältere Dame energisch dazwischengegangen, die sich als seine amerikanische Agentin Sarah Brandes-Bralans entpuppte. Sie hatte ihm bereits erste Vortragstermine in Clubs, Schulen und Gemeinden sowie Aufträge für Zeitungsartikel an Land gezogen, wie sie triumphierend mitten in Curt Riess’ Geplapper hinein verkündete. Am liebsten hätte sie Klaus wohl auch sofort an die Schreibmaschine gesetzt, damit er mit dem von ihr vorgeschlagenen Essay unter dem vielversprechenden Titel My father and his work begänne, in dem er die schriftstellerische Tätigkeit seines berühmten Vaters aus Sohnessicht beleuchten sollte.
»Den werden sie uns aus den Händen reißen, vertrauen Sie mir! Ganz New York wartet auf Ihren Bericht. Dafür kann ich eine hübsche Summe herausschlagen«, versprach sie.
»Vergessen Sie es!«, schaltete sich Emil Ludwig ein. »Solange Erika in der Nähe ist, um Geld aufzutreiben, können Sie Klaus nur schwer mit einem dicken Scheck überzeugen.«
»Müssen Sie gleich aus dem Nähkästchen plaudern?«, protestierte Erika lachend. »Nur weil Sie wissen, wie die Aufgaben bei uns in der Familie verteilt sind, sollten Sie das nicht jedem gleich direkt auf die Nase binden.«
»Wetten, spätestens morgen früh weiß sowieso jeder in New York Bescheid? Die Mann-Geschwister sind immer eine Sensation«, konterte er und schüttelte ihr erfreut die Hand. »Wie schön, dass Sie endlich hier sind. Sie wurden bereits sehnsüchtig erwartet.«
»Das zu hören tut wirklich gut. Allerdings muss ich gestehen, mit Ihnen hier am wenigsten gerechnet zu haben.«
»Obwohl ich seit einigen Jahren einen Schweizer Pass besitze, heißt das nicht, dass ich mich in Ascona noch wirklich sicher fühle. Sie haben es ja am eigenen Leib erfahren, als man Ihre Auftritte in Zürich gestört hat: Die Arme der Nazis reichen leider längst bis zu den Eidgenossen.«
»Aber zum Glück immer noch nicht bis über den Großen Teich!«, ließ sich eine muntere Stimme hinter ihr vernehmen. Vicki Baum! Von Neuem komplett überrascht fuhr Erika herum. Da stand tatsächlich die längst auch in Amerika für ihren legendären Roman Menschen im Hotel gefeierte Schriftstellerin.
»Kinder, was sagt ihr? Der Coup ist mir gelungen«, triumphierte sie. »Schon dafür hat es sich gelohnt, extra aus Hollywood herzufliegen, um unsere berühmten Mann-Geschwister persönlich in den Staaten zu begrüßen. Erika, Sie schauen gerade mindestens so groß wie die Autos, die Sie sonst so gern fahren, wie es heißt.«
»Das kommt nur daher, dass ich hier im Bedford nicht mit Ihnen gerechnet habe«, gab Erika freimütig zu.
»Bin ich schon so als Luxuslady verschrien, dass Sie mir nicht mehr zutrauen, auf einen Drink bei lieben Freunden vorbeizuschauen?«
Vicki tat beleidigt, lächelte aber weiter. Fasziniert musterte Erika sie und fand, sie wirkte mit dem frisch toupierten, blondierten Haar und ihrer Art, sich zu bewegen und zu sprechen, längst mehr wie eine waschechte Amerikanerin denn wie eine Europäerin.
»Allerdings haben Sie recht. Im St. Moritz fühle ich mich durchaus wohler. Die Matratzen sind einfach besser. Kommen Sie mal in mein Alter, Erika, dann verstehen Sie, was ich meine.«
Mit einem übertriebenen Seufzen stemmte sie die Hände in die Lendenwirbel. Sie war zwar knapp zwanzig Jahre älter, dank ihres Boxtrainings, mit dem sie schon in ihren Berliner Jahren begonnen hatte, jedoch mindestens so gut in Form wie Erika, die seit frühester Jugend ebenfalls regelmäßig Sport trieb.
»Spaß beiseite.« Sie hakte sich bei Erika ein, um sie in eine ruhigere Ecke zu ziehen. »Ich bin hier, um mein Möglichstes dazu beizutragen, damit Ihre Pfeffermühle in den Staaten ein bombastischer Erfolg wird. Haben Sie eigentlich schon die Texte übersetzt? Ich helfe Ihnen gern.«
»Das ist sehr großzügig, aber vor meiner Abreise aus Europa habe ich bereits mit meinem britischen Ehemann …«
»Sorry, ich vergaß«, unterbrach Vicki sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Mittlerweile sind Sie ja nicht nur britische Staatsbürgerin, sondern noch dazu mit einem ausgezeichneten Lyriker verheiratet. Denken Sie eigentlich schon darüber nach, künftig auf Englisch zu schreiben?«
»Darüber haben Klaus und ich bereits diskutiert. Wie es aussieht, werden wir wohl lange in Amerika bleiben. Da scheint es sinnvoll, die Sprache zu wechseln. In der Übersetzung geht leider doch immer einiges an Witz und Direktheit verloren. Allerdings sehen das nicht alle aus dem Ensemble so.«
»Verstehe.« Vicki wurde nachdenklich. »Für Schauspieler ist es natürlich schwieriger. Schon der geringste Akzent kann bei ihnen zum entscheidenden Makel werden.«
»Genau deshalb hadert Therese damit, hierherzukommen. Leider.«
Erika biss sich auf die Lippen. Gewaltige Sehnsucht nach der Geliebten erfasste sie. Seltsamerweise sogar nach der Sturheit und Bockigkeit, mit der sie sich lange dem Entschluss widersetzt hatte, das deutschsprachige Europa zu verlassen, um in Amerika den Neubeginn zu wagen. Daran konnte man sich reiben, darüber ärgern, wütend die Haare raufen und sich hinterher umso leidenschaftlicher miteinander versöhnen.
»Ich freue mich jedenfalls, dass Sie und Ihr Bruder es nach New York geschafft haben«, bekannte Vicki, die ihre Traurigkeit zu spüren schien. »Das lässt hoffen, dass Ihre Familie, vor allem natürlich Ihre Eltern, bald Ihrem Beispiel folgt. Sie alle gehören hierher. Gerade jetzt, da sich Ihr Vater endlich öffentlich gegen das NS-Regime ausgesprochen hat. Damit setzt er für die vielen Kollegen, die in den letzten Jahren hier gestrandet sind, ein wichtiges Zeichen der Solidarität.«
In einer nonchalanten Bewegung führte sie ihre lange Zigarettenspitze zum Mund. Allein für diese Geste wollte Erika sie küssen. Darin steckte genau jene Weltläufigkeit, für die sie Vicki bewunderte.
Ihr Blick glitt über Vickis jugendliche Gestalt. Die hohen Temperaturen schienen ihr nichts auszumachen. Kein Schweißtropfen perlte an Schläfe oder Oberlippe, weder Rouge noch Make-up oder Wimperntusche hatte gelitten. Auch die Frisur saß perfekt. Das maßgeschneiderte Nachmittagskostüm wie der breitkrempige Hut und der salopp um den Hals geschlungene Seidenschal unterstrichen ihre Jugendlichkeit und Eleganz nur noch. Kein Zweifel: Mit jeder einzelnen Faser strahlte sie den Erfolg aus, der vor einigen Jahren mit der amerikanischen Verfilmung ihres Bestsellers Menschen im Hotel begonnen hatte und seither mit vielen weiteren Triumphen untermauert worden war.
»Oh, ich glaube, ich habe Sie lange genug in Beschlag genommen. Da werden einige schon ungeduldig.«
Verschmitzt wies Vicki auf den inzwischen noch größer gewordenen Kreis Kollegen, die aus einigen Schritten Entfernung immer öfter zu ihnen herübersahen.
»Gehen Sie lieber hin, sonst wird es in den nächsten Monaten im Bedford sehr ungemütlich für Sie, weil sich einige zu Unrecht vernachlässigt fühlen. Wir sehen uns später.«
Mit zwei flüchtigen Wangenküssen verabschiedete sie sich.
Die nächste halbe Stunde verbrachte Erika mit Händeschütteln und dem Austausch vager Zustandsbekundungen wie »gerade noch rechtzeitig die Koffer gepackt«, »inzwischen gut eingelebt«, »in Paris sind alle wohlauf« oder »Amsterdam quillt über vor deutschen Exilanten« und »Prag ist leider auch keine dauerhafte Alternative mehr«. Kaum konnte sie die vielen Fragen, Neuigkeiten und Willkommensgrüße den einzelnen Gesichtern zuordnen. Ebenso wenig gelang es ihr, aus den strahlenden Mienen die wahre Lage der Einzelnen abzulesen. Ob sie alle Anlass zur Fröhlichkeit hatten, wagte sie zu bezweifeln. Darüber würde in den nächsten Tagen ausführlicher zu reden sein.
Statt unter der ersehnten Dusche oben in einem der Zimmer landete sie unten in der Lobby in einem der ausladenden Sessel um den großen runden Tisch. Das kitschige Gemälde einer erschreckend leeren, sehr weiten texanischen Landschaft in warmen Gelb-, erdigen Ocker- und glühenden Orangerottönen verströmte seltsamerweise eine heimelige Atmosphäre. Matt lehnte sie sich in dem knarzenden Leder zurück, schlug die Beine übereinander.
Irgendjemand reichte ihr eine Zigarette und ein Glas Whiskey. Allein das Klirren der Eiswürfel erschien ihr wie wohltuende Musik. Als sie sich zum aufblitzenden Feuerzeug beugte, bemerkte sie die nahezu schwarzen Augen, mit denen der Jemand sie über die Flamme hinweg betrachtete. Sie sprühten vor Leidenschaft. Erika schluckte. Das Nächste, was ihr auffiel, war der überraschend kleine, eigentlich fast schon weiblich wirkende Mund in einem auf Anhieb sympathischen Gesicht.
Der Unbekannte registrierte ihren Blick und verzog die Lippen zu einem einnehmenden Lächeln. Tief in ihrem Innern wurde ihr angenehm warm. Auf einmal fühlte sie sich wirklich angekommen.
»Gestatten, dass ich mich vorstelle, auch wenn ich nicht weiß, ob Ihnen mein Name etwas sagt. Ich bin Martin Gumpert, Arzt und Schriftsteller aus Berlin, seit April in New York und in wenigen Wochen hoffentlich mit eigener Praxis an der Park Avenue.«
Natürlich sagte ihr der Name etwas! Erfreut nickte sie. Ihr Vater hatte ihn und seine Biographie über den Homöopathen Hahnemann einige Male anerkennend erwähnt. Vor anderthalb Jahren waren sie sich wohl in Italien und kurz darauf in Küsnacht persönlich begegnet. Welch Zufall, Gumpert nun in New York gegenüberzusitzen. Nein, eigentlich war es kein Zufall. Im Bedford landeten früher oder später alle gewaltsam aus der Heimat Vertriebenen. Zumindest die deutschsprachigen, die etwas zu sagen hatten.
»Gratuliere! Das mit der Praxis in der Park Avenue klingt, als hätten Sie es geschafft. Und das in so kurzer Zeit.« Erika streckte Gumpert die Hand entgegen.
Als er nicht einschlug, neigte sie sich vor, um die Zigarette in dem schweren Bleikristallaschenbecher auf dem kniehohen Beistelltisch auszudrücken. Dabei traf sie ein unerwartet trauriger Blick, bevor er ihr eine neue Zigarette reichte und sich selbst eine weitere anzündete.
»Das klingt einfach nur besser, als es in Wahrheit ist«, erwiderte er und rutschte auf die Sesselkante vor, blieb, die Unterarme lässig auf die Knie gestützt, nah neben ihr sitzen und rauchte schweigend.
Was für eine Stimme! Überhaupt dieses Auftreten! Weder machte er viel Wesen um seine unleugbaren Erfolge, noch missbrauchte er die Zurückhaltung als Attitüde, um sich besonders hervorzutun. Erika war hingerissen. Nur zu gern sank sie tiefer in den Sessel und lauschte ihm, wie er in wenigen Worten die markantesten Stationen seines Lebens zusammenfasste. Erst auf ihr explizites Nachfragen räumte er ein, welch entscheidende Arbeit er im Bereich der Dermatologie und Geschlechtskrankheiten geleistet und welch wegweisende Publikation er nach der Hahnemann-Biographie über fünf weitere bedeutende medizinische Forscher veröffentlicht hatte. Auch für diese Erfolge wollte er nicht beglückwünscht werden.
»Derzeit sitze ich an einem Roman über Henry Dunant, den Schweizer Gründer des Roten Kreuzes«, beendete er seinen Bericht. »Daneben verfasse ich gelegentlich Lyrik und hoffe, bald irgendwie genug Geld beisammenzuhaben, um meine neunjährige Tochter aus Europa zu mir zu holen.«
»Sie haben eine Tochter?«, echote Erika und ertappte sich dabei, wie sie seine rechte Hand nach einem Ehering absuchte. Kaum merklich zuckte sie zusammen, als sie den tatsächlich entdeckte. Lag ihr nach einer knappen halben Stunde schon derart viel an ihm? Das war doch sonst nicht ihre Art! Erst recht nicht in Bezug auf Männer.
»Sie heißt Nina und lebt bei ihrer Großmutter in Berlin.« Aus seiner Stimme klang Vaterstolz. »Seit dem Tod meiner Frau vor drei Jahren kümmert sich meine Schwiegermutter um sie. Sobald meine Existenz in New York annähernd gesichert ist, hole ich Nina zu mir. Ich hoffe sehr, dass mir das bald möglich ist.«
Ziellos blickte er in das von dichten Rauchschwaden durchwaberte Foyer, rauchte weiter, trank, schwieg von Neuem.
Aufmerksam betrachtete Erika sein Profil. Es war von sanften Linien um Mund und Augen, buschigen Augenbrauen sowie schütterem, straff nach hinten frisiertem Haar beherrscht. Anzug, Hemd und Krawatte saßen trotz Hitze einwandfrei, ebenso zeugten die akribisch polierten Schuhe und die gepflegten Hände davon, wie viel Wert er auf seine äußere Erscheinung legte, ohne eitel zu erscheinen. Welch Juwel von Mensch saß da vor ihr? Und welch Glück, ihn gleich am Tag ihrer Ankunft im Trubel der deutschen Insel im Bedford Hotel aufgelesen zu haben.
Viel Zeit, die Begegnung mit Gumpert zu vertiefen, blieb Erika nicht. Gleich am ersten Abend nach ihrer Ankunft waren Klaus und sie zu einem Abendessen im Waldorf-Astoria eingeladen, das der amerikanische Verleger ihres Vaters, Alfred A.Knopf, und seine Frau Blanche für sie ausrichteten. Davon erhoffte Erika sich lohnende Kontakte zu potenziellen Geldgebern für den Neubeginn der Pfeffermühle, Klaus liebäugelte mit einem Buchvertrag für seinen neuen Roman bei Knopf, was er natürlich nie offen zugeben würde. Vicki Baum, die ebenfalls dabei sein würde, hatte bereits zugesichert, ihnen tatkräftig zur Seite zu stehen.
»Zu dritt werden wir die Geldbörsen schon öffnen«, hatte sie zuversichtlich erklärt, bevor sie sich aus dem Bedford verabschiedet hatte, um sich für den Abend frisch zu machen.
»Lassen Sie die Perlenkette aber lieber im Hotelsafe«, hatte sie Erika noch zugeflüstert. »Natürlich kleidet eine Nerzstola Sie hervorragend. Dennoch sollten Sie sich bei dem Dinner der Knopfs bescheiden geben. Etwas Schlichtes, Unaufdringliches und vor allem möglichst wenig Schmuck wären ideal. Am besten nur ein prägnantes Stück aus der Schatulle Ihrer Mutter oder Großmutter, zu dem Sie eine rührende Geschichte erzählen können. Das lieben die Damen hier. Und was die Damen lieben, ebnet bei deren Ehemännern umso leichter den Zugang zu den Scheckbüchern.«
Erika bewunderte ihren Pragmatismus.
»Unter einer europäischen Intellektuellen stellen sich die Yankees von der Upper East Side nun einmal lieber eine zurückhaltend gekleidete Maus denn eine elegante Dame wie Sie vor«, hatte Vicki hinzugefügt. »Gerade, wenn sie davon ausgehen, dass Sie und Ihr Bruder im letzten Moment Hitlers brutalen Schergen entronnen sind. Ihre betörende Klugheit und Ihr Charme kommen ohnehin besser zum Ausdruck, wenn keine Äußerlichkeiten davon ablenken.«
»Eins zu null für dich. Das ist wohl exakt die richtige Mischung aus Sack und Asche und Upper-East-Side-Eleganz, die die Herrschaften im Waldorf-Astoria erwarten«, begrüßte Klaus sie, als sie ihm auf dem Flur im siebten Stock des Bedford entgegenschlenderte.
»Schick, charmant, elegant! Therese würde sich auf der Stelle noch einmal in dich verlieben.«
»Nicht nur sie«, gab sie keck zurück. Die Clutch in der einen und das Cape in der anderen Hand drehte sie sich mit ausgestreckten Armen einmal um die eigene Achse.
Sie wusste, wie gut sie aussah. Statt einer Dusche hatte sie sich ein ausgiebiges Bad gegönnt, um zu etwas Ruhe zu finden. Zum Glück waren die sanitären Einrichtungen im Bedford, anders als die Zimmer selbst, erstaunlich großzügig bemessen. Im Bad fehlte es an nichts. Das Zimmermädchen hatte die Koffer bereits ausgepackt, als sie aus der Lobby nach oben gekommen war, und sogar daran gedacht, ihre geliebte Rosenessenz auf dem Wannenrand bereitzustellen.
Sanft umspült von dem duftenden, angenehm warmen Wasser in der Wanne hatte Erika sich eine Weile ganz der Träumerei hingegeben und das Gespräch mit Gumpert Revue passieren lassen. Der leidenschaftliche Ausdruck seiner Augen, der so gar nicht zu seiner sonstigen Zurückhaltung passte, hatte sie nicht losgelassen. Zugleich hatte sie sich plötzlich wieder sehr nach Therese, ihrem wunderbar grantelnden Münchnerisch und vor allem ihrem unendlich weichen, warmen Körper gesehnt.
»Bei deinem Anblick werden die Herrschaften freudig für den guten Zweck spenden«, spottete Klaus jetzt. »Wo hast du nur dieses wunderschöne tannengrüne Kleid her? Es passt hervorragend zu deinen rehbraunen Augen und dem brünetten Haar. Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt so etwas Fesches, Weibliches besitzt. Hast du dich vor unserer Abreise etwa doch noch heimlich in Paris eingekleidet?«
In dem bodentiefen Spiegel neben der Aufzugtür erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf sich. Ganz bewusst hatte sie sich für das auf Figur geschnittene, ärmellose Kleid mit dem weit schwingenden Tellerrock entschieden, das auf jedes überflüssige Detail verzichtete und genau damit die gewünschte Wirkung erzielte. Dreißig Jahre war sie inzwischen alt. Das Haar trug sie seit Langem männlich kurz, frisierte es bis auf eine kecke Locke am linken Ohr streng nach hinten, um sich einen androgynen Touch zu geben. Die Lippen dezent geschminkt, die Augenbrauen zu akkuraten feinen Bogen gezupft, besaß ihr Antlitz etwas Aristokratisches. Die Nase war einen Tick zu lang, das Erbe der Manns, aber zum Glück schmal, das Erbe der Pringsheims, so dass sie als charaktervoll durchging, was bestens mit ihrem prägnanten Kinn harmonierte. Der Hals und das leicht gebräunte Dekolleté kamen dank des vorteilhaften Ausschnitts ebenfalls gut zur Geltung. Der frische Teint und die schmale Taille ließen erkennen, wie gern sie sich an der frischen Luft bewegte.
Ihre Augen streiften über ihren Bruder. Zum Glück hatte sie ihn während der einwöchigen Schiffspassage dazu überreden können, viel Zeit neben ihr an Deck in den Liegestühlen zu verbringen. Das hatte ihm ebenfalls eine gesunde Gesichtsfarbe beschert und die chronische Entzündung in den Augen gelindert. Längst ähnelten sie einander zwar nicht mehr wie Zwillinge, als die sie sich vor neun Jahren noch in den Staaten ausgegeben hatten. Dennoch ließ sich ihre verwandtschaftliche Beziehung nicht leugnen.
»Jetzt bin ich auf die Geschichte gespannt, die du nachher zu dieser Brosche auspackst.« Mit der Zigarette zwischen den Fingern, die Augen zusammengekniffen, deutete er auf ihre linke Brust. Dort hatte sie als einziges Schmuckstück einen silbern gefassten, ovalen Lapislazuli festgesteckt.
»Um geschichtsträchtigen Familienschmuck handelt es sich wohl kaum«, bemerkte er. »Dazu ist das blaue Stück viel zu modern. Außerdem habe ich weder an Mama noch an Großmama je etwas in der Art gesehen.«
»Kannst du auch nicht. Die hat Wysti mir kurz vor unserer Abreise geschenkt. Eine Art Talisman, damit ich hier für die Zukunft der Pfeffermühle einen soliden Grundstein legen kann. Passt doch bestens. Eine entsprechende Geschichte wird mir dazu schon einfallen. Du kennst mich.«
»Ich bin gespannt, Schwesterherz«, entgegnete er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Sie konnte das prägnante Aftershave riechen, das sie so an ihm mochte.
»Und ich bin gespannt, was die feinen New Yorker Damen zu dir sagen werden. Du duftest vielversprechend. Da kann frau leicht schwach werden.«
Als sie in der engen Aufzugkabine standen und der Liftboy die Türen geschlossen hatte, glitt ihr Blick weiter über Klaus’ schlanke, hoch aufgeschossene Gestalt. Der dunkle Anzug saß tadellos, Krawatte und Hemd waren exakt darauf abgestimmt. Selbst an das passende Einstecktuch hatte er gedacht. Sie strich ihm das dunkle Haar aus der hohen Stirn, fuhr zärtlich mit den Fingern die Ränder der Geheimratsecken nach, die sich immer deutlicher auf seinem Kopf vorarbeiteten. Kein Zweifel: Spurlos waren die letzten Jahre nicht an ihm vorübergegangen. Sie sollte besser auf ihn aufpassen. Er selbst tat das viel zu wenig.
»Denk nachher bitte auch an die arme Sarah. Händeringend versucht sie, ihren Job als Agentin zu machen und dir eine gut honorierte Vortragstournee für den Winter zusammenzustellen. Sie wird es dir danken, wenn du die ein oder andere finanzkräftige Dame umschmeichelst, damit sie dich in ihren Club einlädt. Und sei bitte etwas zurückhaltender bei deinen Flirts mit jungen Herren. Ich fürchte, hier in Amerika ist man trotz aller sonstigen Freiheiten immer noch prüder als bei uns in Europa – oder vielmehr, als man bei uns in Europa früher einmal gewesen ist, bevor Hitler kam.«
»Tut mir leid, dass ich anders bin. Es kann halt nicht jeder so erfolgreich wie du mit beiderlei Geschlechtern turteln. Und gleichzeitig die Scheckhefte öffnen.«
Verärgert drückte er die Zigarette in dem winzigen Metallaschenbecher an der Liftwand aus und schob beide Hände in die Hosentaschen.
»Warum musst du immer gleich bissig werden? Gönn mir doch einfach das Vergnügen«, beeilte sie sich, ihm munter zu kontern. Dabei war ihr auf einmal gar nicht mehr nach Scherzen zumute. Seine Worte verletzten sie. In seiner Eifersucht war er oft unberechenbar.
Ob es ihnen gefiel oder nicht: Das Exil forderte seinen Tribut. Es stellte nicht nur ihre Art zu leben komplett auf den Kopf, sondern verlangte auch eine gewisse Anpassung ihres Verhaltens, um überhaupt über die Runden zu kommen. Dahinter mussten persönliche Belange und Bedürfnisse öfter, als ihnen lieb war, zurücktreten.
»Du weißt doch, dass du für alle Ewigkeit mein einziger Herzenskönig bleibst, ganz egal, mit wem ich meine Tage oder gar Nächte verbringe«, setzte sie nach und zwickte ihn zärtlich in die Wange. »Das war so, das ist so, und das bleibt so. Für immer und alle Zeit und in Ewigkeit.«
Jetzt war sie es, die ihm einen langen Kuss auf den Mund presste.
Ganz selbstverständlich hängte sie sich bei ihm ein und schmiegte sich beim Verlassen des Lifts im Erdgeschoss eng an seine Seite.
Schon in der opulenten Empfangshalle des traditionsreichen Waldorf-Astoria wurde Erika bewusst, dass sie sich ab sofort in einer anderen Welt befanden. Die siebenundvierzig Stockwerke des mit rosa Marmor und silbergrauem Kalkstein verkleideten Gebäudes mit den beiden markanten Türmen strahlten eine trutzige Erhabenheit aus, die sich im Innern in einer verschwenderischen Ausstattung mit edelsten Hölzern, weiterem Marmor, viel Bronze und reichlich Nickel selbstbewusst fortsetzte. Passenderweise zeigte ein gigantischer Wandteppich mit dem Rad des Lebens das wechselvolle Auf und Ab der Fortuna.
Das Dinner, zu dem das Verlegerehepaar Knopf zu Ehren der Mann-Geschwister eingeladen hatte, fand in einer der English Suites statt, die dank ihrer Lage in den obersten Etagen einen grandiosen Ausblick über die Park Avenue boten. Die Gäste verteilten sich auf mehrere, im gediegenen Stil eingerichtete Salons, die durch weit offen stehende Flügeltüren verbunden waren. Im größten, am Ende der langen Zimmerflucht, war für ein festliches Essen gedeckt. Helle wie dunkle, laute wie leise Stimmen sorgten in den hohen Räumen für einen dicht gewebten Geräuschteppich. Schon der erste Blick auf die Gesellschaft ließ erahnen, dass hier ganz andere Unterhaltungen geführt wurden als am Nachmittag mit den Freunden und Kollegen in der Lobby des Bedford.
Bereits beim Ablegen des Mantels in der Garderobe verdrehte Klaus die Augen.
»Noch luxuriöser wäre es wohl kaum gegangen«, raunte er Erika zu, während er ihr das Cape abnahm, um es der Garderobiere zu geben. Nervös zündete er sich die nächste Zigarette an.
»Dient alles dem guten Zweck, Brüderchen«, erwiderte sie und stibitzte ihm die Zigarette für einen tiefen Zug. Genüsslich formte sie beim Ausatmen kleine Kringel, während sie mit einem letzten kritischen Blick in den Spiegel den Sitz von Frisur und Kleid prüfte und sich dann unternehmungslustig die Lederclutch unter den Arm klemmte.
»Dass du bei diesen Superreichen in deinem Element bist, war zu erwarten«, brummte er.
»Wieso genießt du das hier nicht einfach? Nach der unbequemen Schiffspassage haben wir uns durchaus ein wenig Luxus verdient. Wetten, dass du binnen fünf Minuten von mindestens einem Dutzend begeisterter Damen umringt sein wirst, die es kaum abwarten können, deine Bekanntschaft zu machen? Auf einen so attraktiven Schriftsteller wie dich haben die alle nur gewartet. Tu einfach so, als fändest du sie auch interessant. Das wird bestimmt ein großer Spaß für dich. Und wenn du lachst, bist du noch mal so attraktiv.«
Aufmunternd klopfte sie ihm auf die Schulter, steckte ihm die halb gerauchte Zigarette zwischen die Lippen und hakte sich bei ihm ein, um mit ihm zum Salon hinüberzugehen.
»Welch große Freude, Sie hier zu haben!« Mit weit ausgebreiteten Armen kam ihnen die Verlegergattin Blanche Knopf entgegen und drückte erst Erika, dann Klaus mütterlich an ihre Brust, dabei war sie kaum mehr als zehn Jahre älter als sie.
Auf Anhieb war Erika die Frau mit den streng nach hinten pomadisierten, kurzen Haaren sympathisch. Die zu hohen schmalen Bogen gezupften Augenbrauen verliehen ihr einen wachen, aufgeweckten Zug. Auf übertriebene Zurschaustellung weiblicher Reize legte sie offenkundig keinen Wert. Das bedeutete jedoch keinesfalls den Verzicht auf eine gewisse Eleganz, wie das schlichte und dafür umso erlesenere schwarze Chanel-Kleid und die schmale Perlenkette bewiesen.
Auch ihr Ehemann Alfred wirkte unkompliziert. Sein dicker Schnauzer wippte bei jeder Silbe, die dunklen runden Augen unter den buschigen Brauen sprühten vor Lebensfreude. Dass er die fünfzig bereits überschritten hatte, war ihm kaum anzumerken. Seinem Auftreten wohnte eine unbekümmerte Jugendlichkeit inne. Durch geschickte Fragen ließen er und Blanche sich von Erika und Klaus bei einem ersten Glas Champagner auf den aktuellen Stand der Entwicklungen in Europa bringen, bevor sie sie den anderen Gästen vorstellten.
Die entsprachen auch aus der Nähe überwiegend den Upper-East-Side-Yankees, die Vicki als Dinnergäste prophezeit hatte. Es glitzerte, funkelte und brillierte an den Damenhälsen, dass einem die Sinne schwirrten. Dazu wurden Roben aus den besten Modehäusern getragen. Die Herren präsentierten dicke Siegelringe an den Fingern, zwischen denen sie ebenso dicke Zigarren vor ihre dicken Bäuche hielten.
Bereits in den ersten Sätzen machten sie keinen Hehl daraus, wie wenig das Geschehen in Hitlerdeutschland sie eigentlich berührte. Selbst die, die im Großen Krieg »drüben« gewesen waren und sich voller Überzeugung in den Kampf für die Demokratie gestürzt hatten, schienen dem unaufhaltsamen Vormarsch des Faschismus keine größere Beachtung zu schenken.
Worauf diese Leute dagegen regelrecht brannten, war, die beiden ältesten Kinder des berühmten deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann aus nächster Nähe zu erleben. Sie feierten sie wie Sieger eines sportlichen Wettkampfs, weil sie sich als Erste und bislang Einzige aus der berühmten Familie ins sichere Amerika hatten retten können. Ob sie alle die Buddenbrooks, den Zauberberg oder überhaupt je ein Buch des Zauberers gelesen hatten oder auch nur ansatzweise ahnten, was er schrieb, bezweifelte Erika. Wenigstens verbanden sie etwas mit seinem Namen. Das allein zählte in diesen Kreisen, wie sie rasch begriff.
Die Ignoranz gegenüber den politischen Vorgängen in Europa erschütterte sie allerdings zutiefst. Sie musste an sich halten, nicht bei der erstbesten Gelegenheit ihrer Empörung Luft zu machen. Stattdessen biss sie die Lippen fest aufeinander, während sie scheinbar wohlerzogen-interessiert einem glatzköpfigen Herrn mit Doppelkinn und seiner dürren Frau zuhörte. In höchsten Tönen lobten die ihre jüngst unternommene, angeblich beeindruckend kultivierte Italienreise, als existierten dort weder der Duce noch seine Schwarzhemden, von deren »Marsch auf Rom« sich Hitler schon 1923 bei seinem Putschversuch in München hatte inspirieren lassen.
Würde sich die Lady mit dem Brillantcollier um ihren faltigen Schwanenhals je eine Vorstellung der Pfeffermühle ansehen?, fragte Erika sich im Stillen. Würde sie, falls ja, den Sinn von Thereses vielschichtiger Germania-Persiflage begreifen oder gar die zartbitteren Nuancen in Sybille Schloss’ Children’s Song heraushören? Ganz zu schweigen von Erikas bösen Anspielungen in der Pierrot-Moderation oder beim Auftritt als burschikose Skilehrerin? Ganz sicher nicht. Den wohlbeleibten New Yorker Gentleman würden dagegen sicherlich die geniale Musik ihres Komponisten Magnus Henning wie auch Lotte Goslars verführerische Ausdruckstänze zu wahren Begeisterungsstürmen hinreißen. Die verstand man auch ohne Worte.
Vielleicht mussten sie genau da beginnen. Wer der Tänze und der Musik wegen in die Pfeffermühle kam, würde das ein oder andere mehr aus den Nummern mitnehmen und zumindest ansatzweise verstehen, dass im fernen Europa etwas Ungeheures vor sich ging, vor dem man nicht länger die Augen verschließen durfte, wollte man weltweite Konsequenzen verhindern.
Unruhe erfasste Erika. Es blieb wenig Zeit. Unaufhaltsam tickte die Uhr, die den nahenden Krieg ankündigte. Höchste Eisenbahn, die Amerikaner wachzurütteln. Und wenn man sie nur mit einer vermeintlich amüsanten show erreichte, dann sollte das eben so sein. Unterm Strich war es allemal besser, als es gar nicht erst zu versuchen.
Aufmerksam verfolgte sie weiter die Schilderungen des älteren Paares, das sich inzwischen über das »ach so geschichtsträchtige Florenz« sowie das »zauberhafte Venedig« entzückte, um den richtigen Moment abzupassen, in die Schwärmerei der beiden einzusteigen. In den schillerndsten Worten malte sie ihnen aus, wie sie selbst vor nicht allzu langer Zeit als tollkühne Fahrerin in ihrem über alles geliebten Ford die Amalfi-Küste entlanggebrettert war, die besondere Stimmung Italiens in sich aufgesaugt und den farbenprächtigen Sonnenuntergang vor Capri genossen hatte. Das alte Europa, seine Kunst und Kultur, das waren die Schlagworte, die man hier hören wollte. Und die sie nur zu gerne lieferte.
»Dieses Erbe zu erhalten, dafür müssen wir zusammen einstehen.« Zur Bekräftigung hob sie ihr Glas und suchte den Blick der beiden. »Dafür können Sie übrigens auch oder gerade hier in den Staaten eine Menge tun.«
Zufrieden registrierte sie, wie das Paar fasziniert aufhorchte, um sich en détail erklären zu lassen, wie ihr Beitrag dazu aussehen konnte.
Nach dem Gespräch schlenderte sie zu Klaus, der die Neugier seiner Person und der Mann-Familie gegenüber mit zunehmender Einsilbigkeit quittierte, immer hektischer rauchte und trank, statt sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Erika ahnte, was in ihm vorging. Nichts hasste er mehr, als auf die Rolle des Sohnes reduziert zu werden. Alles, was er in den letzten Jahren geschrieben und veröffentlicht hatte – und das war eine sehr stattliche Zahl an Romanen, Novellen und flammenden Artikeln gegen Hitler und den in Europa grassierenden Faschismus –, stand im Schatten des übermächtigen Vaters.
Blanche schien das ebenfalls zu spüren und nahm ihn unter ihre Fittiche. Geschickt lotste sie ihn zu einem Kreis gut aussehender Damen und einiger weniger, nicht minder attraktiver Herren etwa in seinem Alter, die eher danach aussahen, ihre Freizeit auf dem Golf- oder Tennisplatz zu verbringen statt lesend in einer Bibliothek. Dennoch wirkten sie sehr darauf erpicht, einen waschechten europäischen Schriftsteller kennenzulernen und von ihm etwas aus erster Hand über die Lage der Intellektuellen in der Alten Welt zu erfahren. Schon bald erzählte ihr Bruder ihnen mit leuchtenden Augen und weit ausholenden Gesten von der Pariser Szene, beschrieb die Atmosphäre in Amsterdam und Prag, während sie ihm buchstäblich an den Lippen hingen. Zweifelsohne war er endlich in seinem Element. Blanches Mission war geglückt. Jetzt konnte Erika sich ganz auf die Rolle als älteste Tochter von Thomas Mann konzentrieren.
Im Gegensatz zu Klaus hatte sie keinerlei Probleme damit, ständig auf den berühmten Vater angesprochen zu werden. Außerdem liebte sie es, mit Identitäten zu spielen. Deswegen war sie einst Schauspielerin geworden und konnte nun den New Yorker Society-Damen und ihren geldigen Gatten eine Kostprobe ihres Könnens geben.
»In seiner hehren Überzeugung von der Kunst als Geisteskraft hat mein Vater viel zu lange daran festgehalten, dass seine Bücher in Nazideutschland gedruckt werden müssen, damit sie weiter seine Leser erreichen und vielleicht sogar eine Wende zum Besseren bewirken«, erklärte sie mit echtem Bedauern. »Was für ein wunderbarer Beweis für seinen unerschütterlichen Glauben an die Macht der Kunst! Klaus und mich hat es unendlich viel Mühe gekostet, ihm die Augen über die inzwischen in Deutschland herrschende Barbarei zu öffnen. Es fällt ihm einfach schwer, das zu akzeptieren, nachdem unsere Nation so große Geister wie Goethe, Schiller, Schopenhauer oder Nietzsche hervorgebracht hat.«
Sie senkte den Blick, spielte gedankenverloren mit der Lapislazuli-Brosche und registrierte voll Genugtuung, wie ihre eigene Enttäuschung über das Verhalten ihres Vaters auch ihre Zuhörer erfasste. Gebannt warteten sie, was sie ihnen noch über den Nobelpreisträger verriet, der ähnlich wie sie nicht so recht glauben wollte, was in Deutschland und letztlich ganz Europa vor sich ging. In leidlich fließendem Englisch und ohne nennenswerten Akzent, wofür sie anerkennenden Beifall fand, setzte sie nach einer längeren Pause schließlich nach:
»Es war ein unschätzbares Glück für meine Eltern, allen voran natürlich meinen Vater, nach dem jäh erzwungenen Weggang aus der Heimat in der Schweiz eine Zuflucht zu finden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr er auf geordnete Verhältnisse angewiesen ist, um sich seiner Arbeit widmen zu können. Sein Tagesablauf ist strikt geregelt. Dafür sorgt unsere Mutter. Bis mittags muss im ganzen Haus absolute Ruhe herrschen. Glauben Sie mir, als Kinder ist es uns alles andere als leichtgefallen, das zu befolgen!«
Mittlerweile war die Gruppe der Zuhörer größer geworden. Erika sah in amüsierte Gesichter. Einige nickten, als erinnerten sie sich an vergleichbare Erlebnisse aus der eigenen Kindheit. Das rückte ihnen den verehrten Literaturnobelpreisträger sympathisch nah ans eigene Leben heran.
»Natürlich haben wir uns stets brav daran gehalten«, versicherte Erika ihnen augenzwinkernd. »Zur Belohnung hat mein Vater uns abends aus seinen Manuskripten vorgelesen. An diesem Brauch hat sich auch im Schweizer Exil nichts geändert. Zum Glück haben wir inzwischen den großen Schreibtisch wie auch sämtliche Figuren, Dosen, Uhren und sonstige Sächelchen, die er beim Schreiben um sich haben muss, und die Gemälde aus seinem Münchner Arbeitszimmer dorthin retten können. Nur das Haus, die von uns allen innig geliebte Poschi, ist wohl für immer an die Nazis verloren.«
Wieder übermannte sie die Trauer über den Verlust. Einen Moment lang sah sie sich außerstande weiterzusprechen. Was gäbe sie jetzt dafür, noch einmal kurz in die vertraute Umgebung ihrer Kindheit abzutauchen, noch einmal jene unbeschwerten Zeiten im Herzogpark zu erleben, in denen Klaus und sie mit ihren Freunden die ganze Umgebung auf Trab gehalten hatten. Nichts war ihnen heilig gewesen. Nicht einmal vor Ladendiebstählen und frechen Lügen waren sie zurückgeschreckt. Aber auch Theater hatten sie gespielt und dafür von ihren berühmten Vätern aufrichtige Kritiken erhalten.
Die Tränen in den Augen waren echt, als Erika mit rauer Stimme hinzufügte: »Ich hatte Glück. Wenige Wochen nachdem wir schon in die Schweiz geflüchtet waren, konnte ich noch einmal nach München zurück. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion habe ich das Joseph-Manuskript meines Vaters gerettet. Wie ein Dieb bin ich dafür in unser Haus eingebrochen. Stellen Sie sich vor: ins eigene Haus!«
Betroffen hielten ihre Zuhörer die Luft an.
»Seither weiß ich, dass ich nie wieder in meinem Leben dorthin zurückkehren werde.«