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Eine mutige Heldin – ein dunkles Geheimnis: Der mitreißende historische Roman »Gold und Stein« von Heidi Rehn jetzt als eBook bei dotbooks. Anno Domini 1455 in Preußen: Die pflichtbewusste Agnes führt an der Seite ihrer Mutter ein angesehenes Leben als Bierbrauerin. Seit ihr Stiefvater starb, betreiben die beiden Frauen die Schankwirtschaft alleine. Doch so gut sie sich in der Schänke ergänzen, so deutlich spürt Agnes, dass ihre Mutter die wahren Hintergründe um ihre Geburt und ihren leiblichen Vater vor ihr verbirgt. Als schließlich Deutschordensritter ihre Stadt belagern, muss Agnes nach Königsberg fliehen. Hier begegnet sie dem geheimnisvollen Caspar, zu dem sie sich sofort hingezogen fühlt – und der das gleiche Feuermal trägt wie sie. Agnes schwört sich, ihrer rätselhaften Verbindung auf den Grund zu gehen – und kommt so einem streng gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur … »Für alle Fans von Heidi Rehn ein absolutes Muss!« buchwelt.de Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die opulente historische Familiensaga »Gold und Stein« von Bestseller-Autorin Heidi Rehn – Fans von Rebecca Gablé und Sabine Ebert werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 933
Über dieses Buch:
Anno Domini 1455 in Preußen: Die pflichtbewusste Agnes führt an der Seite ihrer Mutter ein angesehenes Leben als Bierbrauerin. Seit ihr Stiefvater starb, betreiben die beiden Frauen die Schankwirtschaft alleine. Doch so gut sie sich in der Schänke ergänzen, so deutlich spürt Agnes, dass ihre Mutter die wahren Hintergründe um ihre Geburt und ihren leiblichen Vater vor ihr verbirgt. Als schließlich Deutschordensritter ihre Stadt belagern, muss Agnes nach Königsberg fliehen. Hier begegnet sie dem geheimnisvollen Caspar, zu dem sie sich sofort hingezogen fühlt – und der das gleiche Feuermal trägt wie sie. Agnes schwört sich, ihrer rätselhaften Verbindung auf den Grund zu gehen – und kommt so einem streng gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur …
Über die Autorin:
Heidi Rehn, geboren 1966 in Koblenz/Rhein, steht mit ihren mitreißenden historischen Romanen regelmäßig auf den deutschen Bestsellerlisten. Nach einem Studium der Germanistik und Geschichte arbeitete sie als Dozentin und als PR-Beraterin, bevor sie sich als Texterin, Journalistin und Autorin selbständig machte. 2014 erhielt sie den »Goldenen Homer« für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Für Interessierte bietet sie Romanspaziergänge durch die Münchner Innenstadt an, bei denen sich die realen Schauplätze und eindrucksvollen Hintergründe ihrer Romane hautnah miterleben lassen.
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin die historischen Krimis »Mord am Marienplatz«, »Tod im Englischen Garten« und »Die Tote am Fluss«; die zwei erstgenannten Bücher sind auch in dem Sammelband »Mord in München« erhältlich.
Außerdem erscheint bei dotbooks ihre große historische Saga um die Wundärztin Magdalena: »Die Wundärztin«, »Hexengold« und »Bernsteinerbe«, die im Sammelband »Die Wundärztin-Saga« zusammengefasst ist. »Die Wundärztin« und »Bernsteinerbe« sind auch bei SAGA Egmont als Hörbuch erhältlich.
Die Website der Autorin: www.heidi-rehn.de
Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/HeidiRehnAutorin
Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/Heidi_Rehn
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
Copyright © der Originalausgabe 2012 Knaur Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/vinap, AcantStudio, Deckorator, RODINA OLENA
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)
ISBN 978-3-98952-495-8
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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!
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Heidi Rehn
Gold und Stein
Die große Königsberg-Saga
dotbooks.
Für Brinja und Milian
Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind,
sondern wir sehen sie, wie wir sind.
Talmud
LÖBENICHT (KÖNIGSBERG)
9. Mai 1438
Es war da! Erschöpft fiel Gunda auf das Bett zurück.
Nach dem ersten kraftvollen Schrei des Neugeborenen überrollte sie ein nie zuvor empfundenes Gefühl von Zärtlichkeit. Sie streckte die Arme aus, um das schleimverschmierte Bündel aus den Händen der Hebamme entgegenzunehmen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Was, wenn sich beim Anblick des Kindes die Alpträume der letzten Monate bewahrheiteten? Eine neuerliche Schmerzwelle erfasste ihren Leib. Jäh bäumte sie sich auf und stieß einen fürchterlichen Schrei aus. Im nächsten Moment krümmte es sie nach vorn. Sie meinte, von innen heraus zu zerreißen.
»Heilige Margareta, steh uns bei!« Hastig übergab die Hebamme Gerda Selege das Kind an Gundas Mutter Lore und eilte zurück zum Bett. Aufmerksam glitt ihr Blick über Gundas weiterhin stark aufgedunsenen Leib. Wesentlich unsanfter als beim ersten Mal zerrte sie die Achtzehnjährige auf den Gebärstuhl zurück, tastete sie ab, schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist noch nicht vorbei. Da kommt noch eins.«
Gunda begriff nicht. Warum fand dieser Alptraum kein Ende, seit so vielen Monaten nicht? Verwirrt strich sie sich das schweißnasse Haar aus der Stirn, schloss die Lider. Das Kind war da, das reichte. Jetzt wollte sie sich ausruhen, bevor sie der Wahrheit ins Auge sah.
Von neuem erfüllte ein eigenartiges Ziehen ihren Unterleib. Bald schon ging es wieder in jene kaum auszuhaltende Pein über, die binnen weniger Atemzüge den gesamten Körper erfasste. Ihr schwanden die Sinne. Eine schallende Maulschelle brachte sie ins Bewusstsein zurück.
»Hiergeblieben!«, knurrte Gerda. »Was du dir eingebrockt hast, badest du gefälligst auch aus.«
Sie setzte ihr einen Becher an die Lippen, schob mit den Fingerkuppen einige Körner zwischen Gundas Zähnen hindurch und nötigte sie anschließend zum Trinken. Der Sud schmeckte mindestens so bitter wie die Körner. Angeekelt verzog Gunda das Gesicht. Gerda zeigte kein Erbarmen, kippte ihr den Rest des widerwärtigen Gebräus in den Mund. Kaum hatte Gunda den letzten Schluck hinuntergewürgt, machte sich die Hebamme bereits an ihrem Unterleib zu schaffen. Ein seifiger, zugleich würziger Geruch nach Koriander durchzog den Raum. Voller Entsetzen spürte Gunda, wie Gerda mit dem Kraut an ihren Schamlippen entlangrieb, mit den Fingern den Muttermund bearbeitete. Sie begann, sich zu wehren, presste die Schenkel zusammen. Die erfahrene Geburtshelferin war stärker als sie und spreizte ihr energisch die Beine auseinander. Gunda erstarrte.
Nicht!, wollte sie rufen, brachte jedoch keinen Ton heraus. Ein dunkelbärtiges Gesicht schob sich ihr vor Augen. Sie meinte, würgen zu müssen, so deutlich hatte sie den sauren Atem ihres Peinigers in der Nase, spürte das garstige Reiben seines Lederwamses auf der Haut, hörte sein widerliches Keuchen in den Ohren. Wie damals fuhr ihr auch jetzt wieder ein stechender Schmerz von unten her in den Leib. Die Qual nahm kein Ende. Heilige Mutter Gottes, flehte sie, hab Erbarmen mit mir armer Sünderin! Von neuem verlor sie die Besinnung. Dieses Mal klatschte Gerda ihr einen Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht. »So leicht machst du dich nicht davon!«
Wieder erfasste die Woge Gundas Leib. Ein zweites Mal wollte sie sich vor der Hebamme keine Blöße geben. Sie biss sich auf die Lippen, drückte und presste, wie Gerda sie geheißen hatte. Ihre Beine zitterten. Der Rand des hölzernen Gebärstuhls bohrte sich in ihr Gesäß. Feucht klebte ihr das Leinenhemd auf der Brust. Sie fror und schwitzte gleichzeitig. Die Augen zu schließen, wagte sie nicht mehr. Die bärtige Fratze sollte nicht zurückkehren.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen, bis das Auf und Ab der Schmerzen nachließ. Wie ein Pfropfen aus dem Weinschlauch entlud sich endlich die schwere Last aus Gundas Bauch. Nass rann es ihr die Innenseiten der Schenkel hinab. Ein letzter, schmerzvoller Schub folgte, eine blutige Masse klatschte zu Boden. Dann war es vorbei.
Kaum nahm Gunda den empörten Aufschrei wahr, mit dem auch das zweite Kind seinen Schreck über die Ankunft in der kalten Welt zum Besten gab. Das zärtliche Gefühl in ihrem Busen blieb allerdings aus. Ein wenig zu eilig übergab die Hebamme das Kleine der wartenden Magd. Lore half ihr, es hinter dem Vorhang zu baden und zu wickeln. Das Nächste, was Gunda wahrnahm, war, wie Lore ihr sanft über den Kopf strich. Aufmunternd lächelte sie, wiegte ein Kind auf ihrem Arm. »Ist das nicht schön? Von jeder Sorte eins: ein Mädchen und ein Junge.«
Verwirrt starrte Gunda sie an. Wie konnte die Mutter sich freuen? Hatte sie vergessen, was geschehen war? Trug Lore nicht selbst entsetzlich schwer an den Folgen jenes schrecklichen Überfalls? Gundas Blick streifte die Narbe, die das vertraute Antlitz der Mutter seither am Kinn verunstaltete. Für alle Ewigkeit hatten die wüsten Peiniger sich damit in ihre Erinnerung eingeschrieben. Übelkeit stieg in Gundas Kehle auf.
Gerda brachte ihr den zweiten Säugling ans Bett. Ihre Miene war abweisend. »Zwillinge sind es. Du weißt, was das heißt. Noch ist Zeit. Dein Mann muss nichts erfahren. Soll ich mich um eins von ihnen kümmern? Mir kannst du trauen. Ich werde rasch jemanden finden, der sich um das arme Würmchen kümmert. Am besten nehme ich wohl das Mädchen.«
Knapp nickte sie zu dem Bündel, das Lore in Armen hielt. Ängstlich drückte die das Mädchen enger gegen die Brust. Gerda reichte den Jungen an Gunda, half ihr, den gierig schnappenden Mund des Kleinen um die Brustwarze zu schließen. Trotz der Nähe vermisste Gunda das Aufflammen von Wärme in ihrem Leib. Sollte eine Mutter nicht etwas empfinden, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal am Busen nährte? Während der Kleine zu saugen begann, besah sie sich mit Bangen sein rotes Gesichtchen. Einen kurzen Moment öffnete er die Augen. Gunda meinte, das Herz zerspringe ihr, so vorwurfsvoll erschien ihr der Blick. Die Nase des Jungen war winzig. Dennoch hatte sie bereits einen eindeutigen Höcker gleich unterhalb der Wurzel. Die Kerbe am Kinn und die Form der Augen bewiesen Gunda jedoch rasch etwas, was sie kaum zu hoffen gewagt hatte. Behutsam drehte sie das Köpfchen, besah sich den Nacken. Ein längliches Feuermal zog sich dort entlang. Genau wie bei Gernot! Mit einem befreiten Aufschluchzen sank sie ins Kissen, kostete endlich das glucksende Saugen des Kleinen an ihrer Brust aus. Das dunkelbärtige Ungeheuer löste sich in Nebel auf.
»Überlässt du mir also das Mädchen?« Gerdas Frage riss sie in die Wirklichkeit zurück. Da war noch ein Kind! Wie gern hätte sie das nun, da mit dem Jungen alles klar war, vergessen. Die Hebamme hatte recht. Ein Kind war genug. Die Zwillingsgeburt warf nur neue Schwierigkeiten auf. Widerwillig schob sie sich in den Kissen hoch. Gerda machte sich bereits an Lores Armen zu schaffen. Die Mutter aber wollte ihr das Bündel nicht geben.
»Gunda, Kind!«, flehte sie. »Sag doch etwas! Mach dich nicht unglücklich! Auch das hier ist dein Kind. Wir finden schon einen Weg, Kelletat alles zu erklären.«
Lores Hinweis versetzte Gunda einen Stich. An ihren Gemahl wollte sie jetzt nicht denken. Vielleicht blieb ihr das Glück hold, und er merkte nichts von der Ähnlichkeit des Jungen mit Gernot. So gut kannte der Böttchermeister aus dem Löbenicht den Kaufmannssohn aus der Altstadt glücklicherweise nicht. Außerdem hieß es, Männer schauten sich Kinder selten genauer an. Die Nachricht, einen Sohn zu haben, würde ihn in einen Freudentaumel versetzen.
Leider aber war da noch das Mädchen. Bei ihm drohte von neuem die Gefahr, dass der Alptraum wahr wurde und der Samen des stinkenden Hundes ihren Leib befruchtet hatte. Immerhin hatte das Mädchen zuerst das Licht der Welt erblickt, wie auch ihre grausame Schändung vor der verbotenen Nacht mit Gernot gelegen hatte. Seltsam, dass sie vorhin ausgerechnet für dieses Kind die ungeahnte Zärtlichkeit empfunden hatte. Ein Schauer überfiel sie. Gerdas Angebot war verlockend. Noch war es leicht, das erste Kind zu vergessen.
Nie würde jemand erfahren, dass sie an diesem Tag mehr als einen Jungen geboren hatte. Die Vorstellung gefiel ihr. Doch da war noch etwas, eine eigenartige Unruhe, ein beklemmendes Gefühl. Immer würde es da sein, wenn der Kleine an ihr saugte, wenn ein Mädchen ihren Weg kreuzte. Für einen Moment schloss sie die Augen, horchte in sich hinein. Es half nichts. Sie musste den Blick wagen, auch wenn damit alles zu spät sein würde.
»Lass es mich sehen«, bat sie mit zitternder Stimme und streckte den freien Arm nach der Mutter aus. Dem Kind an ihrem Busen entfuhr ein schwacher Seufzer. Sacht entglitt ihm die Brustwarze aus den Lippen, und es schlief ein. Lore trottete mit dem kostbaren zweiten Bündel ans Bett, behielt Gerda allerdings argwöhnisch im Auge.
»Nehmt den Jungen und legt ihn in die Wiege«, wies Gunda die Hebamme an. Erst als das geschehen war, bettete Lore ihr das Mädchen behutsam in die Armbeuge.
Von neuem überflutete Gunda bei seinem Anblick eine Woge der Zärtlichkeit. Noch ehe sie das Köpfchen gedreht und den Nacken des Kindes begutachtet hatte, wusste sie, was sie tun musste. Nie und nimmer würde sie Gerda das Kind freiwillig überlassen, selbst wenn das ihr Verderben war! Kaum nahm sie wahr, dass sich im Nacken der Kleinen dasselbe Feuermal wie bei Gernot und seinem Sohn abzeichnete. Glücklich hauchte sie einen Kuss auf das winzige, haarlose Köpfchen, drückte das Bündel eng an ihre Brust.
»Und?« Gerda machte aus ihrer Ungeduld keinen Hehl, ahnte doch auch sie bereits, was das Zaudern bedeutete. »Du weißt, was die Leute reden, wenn eine Frau zwei Kinder zugleich gebiert. Sind es wie bei dir ein Mädchen und ein Junge, ist die Sache eindeutig: Du hast nicht nur mit deinem Gemahl das Lager geteilt.«
»Was fällt Euch ein, so mit meiner Tochter zu reden?« Zitternd vor Wut hob Lore die Hand. Die Geste hatte etwas Verzweifeltes. Lore war einen guten Kopf kleiner und weitaus zierlicher als Gerda. Unbeeindruckt zuckte die Wehmutter mit den Achseln und sah wieder zu Gunda.
Unten in der Werkstatt schlug der Hund an, die Katze fauchte. Jemand stieß gegen eines der Fässer, Metall polterte zu Boden. Erschreckt sahen die Frauen einander an. Ein Fremder musste im Haus sein. Um der Gebärenden die nötige Ruhe zu verschaffen, hatte sich der Löbenichter Böttchermeister Rudolf Kelletat bereits am frühen Morgen mit seinem Knecht zur Altstadt aufgemacht. Mit ängstlichem Gesicht schlurfte die bucklige alte Magd vom Herdfeuer zur Bettstatt in der Mitte der geräumigen Wohnstube herüber.
Die Angst der Frauen erwies sich als unbegründet. Leichtfüßig sprang Gerdas zehnjähriger Sohn Laurenz die Stufen hinauf. »Hier steckst du, Mutter! Du wirst gesucht. Oh, was gibt es denn hier?«, unterbrach er sich selbst. Blitzschnell erfassten seine wachen Augen die Lage. Ohne der Mutter zu erklären, wer sie suchte, lief er erst zur Wiege, dann zum Bett, betrachtete beide Kinder mit einem verzückten Lächeln. »Zwei auf einmal!«, stieß er verwundert zwischen den Lippen hervor.
Schon beugte er sich zu Gunda herunter und streichelte dem Mädchen mit seinen feingliedrigen Fingern sacht über die Wange. Gerührt beobachtete Gunda ihn. Als sie seiner Augen gewahr wurde, schauderte sie. Laurenz hatte ein grünes und ein blaues Auge! Sie wandte sich zu Gerda. Der erschrockene Ausdruck auf dem Antlitz der Hebamme genügte. Gerda war klar, dass Gunda die Besonderheit entdeckt hatte. Widerstrebend rang sie sich ein Lächeln ab. Gunda erwiderte es zaghaft. Wenn Gerda es gelungen war, ihren Sohn trotz dieses Makels vor bösem Gerede zu bewahren, würde sie mit den Zwillingen ebenfalls zurechtkommen.
»Oh!«, entschlüpfte es Laurenz. Über der Berührung an der Wange hatte der Säugling den Kopf gedreht. Dabei wurde das Mal sichtbar. Feuerrot zog es sich vom ersten, zarten Haarflaum bis in den Nacken hinunter. Laurenz betrachtete es eine Weile. Schweigend ging er zur Wiege, besah sich den Jungen und legte unwillkürlich den rechten Zeigefinger an seinen Nasenflügel.
»Wer sucht nach mir?«, fragte Gerda unwirsch.
Der schlaksige Zehnjährige zuckte zusammen, hob den Blick. »Ich h-h-hab’s v-v-vergessen«, stotterte er.
»Dann verschwinde wieder!« Gerda stupste ihn zur Treppe. »In einer Wöchnerinnenstube hast du nichts verloren.«
Eilig sprang Laurenz die Treppe hinunter. Unter dem Gepolter ging das neuerliche Anschlagen des Hundes beinahe unter.
»Wo seid ihr alle?« Eine aufgeregte Frauenstimme drang nach oben, übertönte das aufgeregter werdende Bellen. Ehe die Magd nach dem Rechten sehen konnte, kam wieder jemand die Treppen heraufgerannt. Ein wirrer, blonder Haarschopf wurde sichtbar. Kurz darauf stand eine junge, erstaunlich kräftige Frau im dämmrigen Wohnraum des Obergeschosses.
»Hermine, du?« Überrascht starrte Gerda sie an. Das breite Gesicht der jungen Frau war gerötet, ihr Atem ging heftig. Aufgeregt raufte sie sich mit den Fingern das offene Haar. In der Eile hatte sie vergessen, eine Haube aufzusetzen.
»Die Fischartin, Gerda, schnell, Ihr müsst mir helfen! Es ist entsetzlich. Der Junge ist tot zur Welt gekommen. Sie will es nicht wahrhaben, droht und zetert, ist wie von Sinnen. Was soll ich nur machen? Helft mir, sonst tut sie sich ein Leid an!«
»In dem Zustand hast du sie allein gelassen?«
»Ihre Magd ist bei ihr. Ich habe gesagt, ich hole Euch. Bitte, kommt sofort mit!«
»Langsam, langsam.« Gerda musterte Hermine von oben bis unten. Bis vor kurzem war sie noch ihre Gehilfin gewesen. »Schlimm, dass dir das gleich bei einer deiner ersten Geburten passiert. Vielleicht hättest du doch noch ein Jahr länger bei mir bleiben sollen? Auf alle Fälle musst du jetzt ruhig bleiben. So einfach kann ich hier nicht weg. Sag mir, was bei der Fischartin genau passiert ist. Vielleicht fällt mir etwas ein, was ihr hilft.«
»Hier ist Eure Arbeit doch längst getan! Den Rest erledigen die Frauen allein.« Verzweifelt schüttelte Hermine den Kopf, stellte sich an die Wiege und besah sich den darin schlafenden Jungen. Mit einem Mal senkte sich eine eigenartige Ruhe über sie. Andächtig faltete sie die Hände.
»Der ist ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten!« Sie fuhr herum, blickte zur Wöchnerin. Als sie an deren Busen ein zweites Kind entdeckte, weiteten sich ihre Augen vor Staunen. »Zwillinge? Und dann sieht auch noch das eine aus wie das drüben bei den Fischarts. Heilige Margareta, steh uns bei! Das ist ein Zeichen.« Sie bekreuzigte sich.
»Was redest du für einen Unsinn?« Gerda trat zu ihr, rüttelte sie an den Schultern. »Warum soll der Junge aussehen wie der von der Fischartin? Wie soll das gehen?«
»Fragt nicht mich, fragt lieber die Kelle...«
Weiter kam sie nicht. Gerda Selege gebot ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung zu schweigen. Ein Leuchten huschte über ihr Gesicht.
»Kelletatin, ich weiß, wie dein Mann ist«, begann sie in überaus mildem Ton und trat vors Bett. »Schon bei seiner ersten Frau war ich als Wehmutter hier im Haus. Glaub mir, ein Mädchen ist ihm ebenso willkommen wie ein Junge. Hauptsache, Mutter und Kind sind wohlauf. Das Beste ist, du überlässt uns also doch den Jungen. Hermine, nimm ihn, schnell. Bring ihn rüber in die Altstadt und leg ihn der Fischartin an die Brust. Je eher sie das Kind am Busen spürt, desto leichter nimmt sie es als das ihre an. Solange einer wie der andere aussieht, wird sie am Ende rasch vergessen, was in Wahrheit geschehen ist. Und du, Kelletatin, bist die Sorge los, wie du deinem Mann die beiden Kinder erklärst.«
»Was soll sie mir zu den beiden Kindern erklären?« Von den Frauen unbemerkt war der Böttchermeister Rudolf Kelletat in die Stube getreten. Seine stattliche Gestalt füllte den niedrigen Raum sogleich aus, die dunkle Stimme dröhnte durch das Haus. »Von hier wird kein Kind genommen und irgendwohin gebracht! Alles bleibt, wie es ist. In meinem Haus entscheide ich. Ist das klar?«
Die beiden Hebammen duckten sich erschrocken, die Magd verschanzte sich beim Herdfeuer. Lore aber stellte sich schutzspendend an das Kopfende des Betts zu ihrer Tochter. Gunda blieb keine Wahl. Bebend vor Angst zwang sie sich, ihrem Gemahl direkt ins Gesicht zu sehen.
»Sieh nur, mein lieber Rudolf, die heilige Margareta war gütig zu uns und hat uns gleich zwei Kinder beschert: einen Jungen, wie du ihn dir gewünscht hast, und ein Mädchen, wie ich es seit Wochen schon so lieblich unter meinem Herzen gespürt habe.« Umständlich reckte sie das Bündel aus ihren Armen in die Höhe, lud Kelletat ein, den neuen Erdenbürger näher zu betrachten.
Der Böttchermeister reagierte verlegen. Vorsichtig nahm er die Mütze vom Kopf, fuhr sich mit den klobigen Fingern übers glattrasierte Kinn. Seine hellen Augen schimmerten feucht. Endlich gab er sich einen Ruck, ging zu Gundas Bett, kniete nieder und fasste nach ihrer freien Hand. Er hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. »Liebste, du bist wohlauf! Gott im Himmel sei Dank!«
Rudolfs sanftes Gebaren entlockte Gunda ein Lächeln. Vielleicht ging die Geschichte doch gut aus. Die rehbraunen Augen starr auf sein breites Antlitz gerichtet, drehte sie das winzige Mädchen zu ihm hin. Lore huschte zur Kiste. Umsichtig nahm sie den Jungen heraus, legte auch ihn zu Gunda ins Bett, so dass Rudolf ihn ebenfalls genauer betrachten konnte. Die beiden Hebammen rührten sich noch immer nicht. Auch die Magd schien die Luft anzuhalten. Lore verharrte neben dem Bett, jederzeit bereit, der Tochter beizustehen. Der breitschultrige Böttchermeister ließ sich Zeit.
Das Knistern des Herdfeuers füllte die Stube aus. Aufmerksam beobachtete Gunda Keiletats Mienenspiel. Er roch nach milder Frühlingsluft, Harz, Rauch und Fisch. Der zarte Milchduft der Säuglinge verschwand darüber ganz. Dicht beugte Kelletat sich über die Kinder, musterte sie genau. Gundas Herz klopfte bis zum Hals, als sie zu erkennen meinte, wie er die linke Augenbraue hochzog, die Stirn kaum merklich runzelte. Im nächsten Augenblick war nichts mehr davon zu sehen. Scheinbar ausdruckslos sah er mehrmals zwischen den beiden Säuglingen hin und her, hob schließlich die riesige Hand und stippte mit dem Zeigefinger auf die winzige Nase des Jungen. Sacht fuhr er den markanten Schwung des Nasenrückens nach.
Jetzt war es so weit! Gunda stockte der Atem. Der wahre Vater der Kinder war ihm klar. Keiletats Lippen verzogen sich zu einem wissenden Schmunzeln, seine Augen funkelten.
»Wie schön die beiden sind«, sagte er. »Zwei unverkennbare Keiletats! Wenn Gott, der Allmächtige, am Tag der Himmelfahrt seines Sohnes, Jesu Christi, ausgerechnet uns dieses außergewöhnliche Geschenk macht, wird er sich dabei etwas gedacht haben. Am besten nennen wir sie nach meiner verstorbenen ersten Frau und meinem toten Sohn. Agnes und Caspar, das klingt doch sehr gut für zwei am selben Tag geborene Geschwister. Mir wird es großen Trost spenden.«
Er sah Gunda an. Sie schluckte, unfähig, seinem Blick auszuweichen. Was ging in dem Mann vor, dass er sie so deutlich an seinen Kummer erinnern musste? Vor vier Jahren war seine erste Gemahlin Agnes im Kindbett gestorben. Der kleine Caspar hatte seine Mutter nur wenige Tage überlebt. Kaum ein Tag verging, an dem Rudolf nicht ihrer armen Seelen gedachte. Fortan würde Gunda bei jedem Atemzug des kleinen Mädchens an Rudolfs treue, aufopferungsvolle erste Gemahlin, bei jedem Schreien des winzigen Knaben an die Unschuld seines Erstgeborenen denken. Beschämt und verzweifelt zugleich rang sie mit den Tränen und nickte, ohne ein Wort zu sagen.
»Dann ist es also beschlossen.« Rudolf beugte sich vor und verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. Das geschah so zärtlich und ehrlich, dass Gunda ein weiteres Mal völlig überrumpelt war. Flink richtete er sich auf und sah voller Stolz in die Runde. »Ihr habt es gehört. Meine liebe Frau und ich haben uns entschieden, unsere beiden Kinder Caspar und Agnes zu nennen. In demütiger Dankbarkeit und mit höchster Freude nehmen wir das ungewöhnlich großzügige Geschenk Gottes an.«
Gerda schnaubte, Hermine schlug sich die Hand vor den Mund. Die Magd dagegen schüttelte den Kopf und stieß ein »Allmächtiger!« aus. Kelletat musste das gehört haben, scherte sich aber nicht im Geringsten darum. Strahlend wandte er sich wieder Gunda zu und griff nach ihrer Hand.
Eine unerwartete Ruhe überkam sie. Wie hatte sie nur an ihm zweifeln können? Seinem rauhen Auftreten zum Trotz war der Böttchermeister nicht der Mann, der die ihm angetraute Gemahlin in aller Öffentlichkeit im Stich ließ, erst recht nicht auf das törichte Geschwätz zweier übellauniger Hebammen hin. Damit hatte er bewiesen, was sie sich von ihrem einstigen Verlobten Gernot sehnlichst gewünscht hätte: zu ihr zu stehen, ihre Hand zu nehmen, ganz gleich, was die anderen über sie dachten oder sagten. Entschlossen zog sie Kelletat noch einmal zu sich herunter. »Danke«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Ohne ein weiteres Wort erhob er sich und ging zum Tisch in der Nähe des Herdfeuers, wo die Magd ihm von der Suppe schöpfte. Hermine nutzte die Gelegenheit und trat noch einmal zum Bett, stierte auf den Jungen in Gundas Armen. Leise murmelte sie: »Kelletat kann sagen, was er will. Ich weiß, wessen Kind das ist.«
Gunda wollte sie zurechtweisen, doch Gerda kam ihr zuvor. Fest packte sie die jüngere Hebamme am Arm und zischte ihr warnend ins Ohr: »Nimm dich in Acht! Meister Kelletat hat es eben laut und deutlich verkündet: Die beiden Kinder sind ein Geschenk Gottes. Sie sollen ihn darüber hinwegtrösten, dass er seine erste Frau und den Sohn so früh verloren hat. Deshalb tragen sie auch deren Namen.«
»Und wenn Ihr mir das noch zehn Mal sagt, ändert das nichts an der Wahrheit«, erwiderte Hermine trotzig. »Keine Frau gebiert an einem Tag zwei Kinder vom selben Mann, vor allem nicht zwei so unterschiedliche wie dieses Mädchen und diesen Jungen.«
Gerda hob die Hand, um ihr eine Maulschelle zu verpassen, doch Hermine war schneller. Flink schlüpfte sie unter dem Arm hindurch und eilte die Stiege hinunter.
»Pass gut auf, Kelletatin.« Kopfschüttelnd ließ Gerda die Hand sinken. »Vor der musst du dich in Acht nehmen. Gerade jetzt, da du zwei Kinder gleichzeitig an der Brust zu nähren hast, ist das wichtig. Noch ist es nicht überstanden.«
»Solange ich der Herr im Haus bin, gibt es nichts weiter zu überstehen.« Wieder war Kelletat unbemerkt ans Bett zurückgekehrt und stampfte zur Unterstreichung seiner Worte kräftig mit dem Fuß auf den Boden. Davon schreckten die Kinder auf und begannen gleichzeitig zu weinen. Hilflos versuchte Gunda, sie zu beruhigen. Wen von beiden aber sollte sie zuerst an sich drücken? Während sie grübelte, legte sich ein großer Schatten über ihr Bett.
»Verzeih«, murmelte Kelletat und nahm eines der beiden Kinder auf den Arm. Dankbar lächelte sie ihn an. Mit einem Mal wusste sie: Alles war überstanden. Mit ihm an der Seite konnte ihr und den Kindern nichts geschehen.
WEHLAU UND KÖNIGSBERG
Frühjahr 1455
Fortune rota volvitur:
descendo minoratus;
alter in altum tollitur;
nimis exaltatus
Das Glücksrad reißt in raschem Lauf
Fallende ins Dunkel,
einen andern trägt’s hinauf:
hell im Lichtgefunkel.
CARMINA BURANA 16,3
An diesem Vormittag herrschte reges Treiben in der Fröbelschen Schankwirtschaft. Seit den frühen Morgenstunden zogen Händler mit ihren Waren den steinigen Weg vom Ufer der Alle zum Tor an der Westseite der Stadtumfriedung hinauf. Ihr Ziel war der Wehlauer Markt auf dem weiten Platz vor der mehr als einhundert Jahre alten Jakobikirche. Nach Ostern war er besonders gut besucht, galt es doch, die Erzeugnisse des langen Winters wie Felle, Wolle, Web- und Tonarbeiten, Schnitzereien oder Korbgeflechte anzupreisen. Auch zahlreiches Gut zweifelhafter Herkunft fand sich darunter. Nach den unerwartet raschen Siegen des Preußischen Bundes über die Deutschordensritter im Vorjahr riss der Strom der Söldner nicht ab, die die Beutestücke aus den Kreuzherrenpalästen in klingende Münze umzuwandeln suchten. Den meisten Männern bescherte die warme Frühlingssonne einen guten Vorwand, zunächst eine kurze Rast im Silbernen Hirschen gleich hinter dem Stadttor einzulegen. Bis weit ins Samland und Nadrauen hinein war das Bier der braven Wirtin Gunda Fröbel bekannt. Selbst ehemalige Kriegsgegner aus den versprengten Söldner- und Deutschordenstruppen rückten auf den Bänken eng zusammen, um sich den köstlichen Gerstensaft schmecken zu lassen. Kaum kam die siebzehnjährige Wirtstochter Agnes mit dem Einschenken nach, so gierig gossen sich die Männer das erfrischende Nass in die Kehlen.
Agnes stand trotz des Andrangs allein mit der Magd Griet in der Gaststube. Großmutter Lore war zum Markt gegangen, um frischen Fisch zu erstehen, und Mutter Gunda mischte im rückwärtigen Bau an der Sudpfanne Hopfen unter die Würze. Seit dem Tod ihres Gemahls, des Brauers und Gastwirts Zacharias Fröbel, ging sie dieser Tätigkeit am liebsten für sich nach.
Kurz hielt Agnes beim Einschenken inne und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Schon die Vorstellung, wie heiß es im Sudhaus am Feuer sein musste, brachte sie ins Schwitzen.
Sie lehnte sich gegen die Wand, schüttelte das offene, kupferbraune Haar nach hinten und ließ den Blick ihrer rehbraunen Augen über die Gesichter der Händler, Kaufleute, Söldner, Gaukler und Spielleute gleiten. Gedankenverloren lockerte sie das helle Tuch um ihren Hals, das sie sommers wie winters trug. Ein Gesicht schien ihr so ausdruckslos wie das andere. Kaum nahm sie die verschieden stark gekrümmten Nasen, die hohlen oder feisten Wangen, die weit hervorquellenden oder tief in die Höhlen versunkenen Augen wahr. Erst an dem Antlitz eines Schwarzbärtigen ein Stück abseits von den Karten- und Würfelspielern blieb sie hängen. Bald konnte sie den Blick nicht mehr von dem Fremden lassen, sog jede Einzelheit in sich auf.
Er merkte nichts davon. Leicht vornübergebeugt hockte er da, steckte die auffällig große, an der Spitze leicht nach oben gebogene Nase tief in ein abgegriffenes Büchlein. Den rechten Zeigefinger an den Nasenflügel gepresst, verfolgte er Zeile für Zeile auf den Buchseiten. Eine Strähne des welligen, ordentlich auf Kinnlänge gestutzten braunen Haares verdeckte Stirn und Augenpartie nahezu vollständig. Dafür sprang das Kinn umso deutlicher hervor. Die vollen, gleichmäßig geschwungenen Lippen bewegten sich lautlos, als spräche er ein Gebet. Um einen Mönch mit seinem Brevier handelte es sich wohl trotzdem nicht. Dafür fiel seine Kleidung zu bunt und modisch aus. Für einen Deutschordensmann, der sich angesichts der Niederlage still und heimlich davonstehlen wollte, hielt Agnes ihn allerdings ebenso wenig. Auch ein fahrender Geselle kam nicht in Frage. Die schmalen, feingliedrigen Hände, die eifrig in den Seiten des Büchleins blätterten, sprachen dem zuwider. Für einen Kaufmann indes erschien er Agnes zu still. Der musste den Austausch mit anderen suchen, jede Gelegenheit nutzen, um neue Verbindungen zu knüpfen. Was also tat der Mann? In Agnes’ Kopf wirbelten die abenteuerlichsten Vorstellungen durcheinander. Sie wollte, nein, sie musste sein Geheimnis ergründen. Ihr Herz klopfte schneller. Wieder studierte sie jede Regung des Fremden. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, also gut zehn Jahre älter als sie.
»Was ist, Mädchen? Starrst du Löcher in die Luft? Das wird meinen Durst nicht lindern. Schenk mir endlich nach!« Wütend knallte ein grobschlächtiger Mann den Krug auf die Tischplatte.
»Bin sofort da!«, rief Agnes. Missmutig sah er ihr entgegen, trommelte ungeduldig mit den dicken Fingern. Die kleinen Augen schwammen in milchigem Sud, die dicke Nase glühte. Aufgeregt wie ein Fisch im brakigen Wasser schnappten seine blutleeren Lippen nach Luft. Dabei stieß er sauren Atem aus. Wie Agnes solche Leute hasste! Ohne ihn anzusehen, goss sie ihm Bier nach.
»Bist heute wohl nicht so recht mit den Gedanken dabei, was?« Der Mann kniff sie in die Wange. Erschrocken wich sie zurück. »Keine Angst, mein Täubchen, ich geh dir nicht unter die Röcke.« Blitzschnell fasste er nach ihr und hielt sie am Handgelenk fest.
»Lasst mich!« Durch eine abrupte Drehung versuchte sie sich zu befreien. Er aber ließ nicht los. Bei dem Gerangel verrutschte ihr Halstuch. Hastig versuchte sie es zu richten. Ihr Geheimnis musste gewahrt bleiben. Verzweiflung überfiel sie. Wenn sie wenigstens männlichen Beistand hätte! Seit Fröbels Tod im letzten Jahr wirtschaftete sie mit Mutter und Großmutter allein im Silbernen Hirschen. Nicht einmal Brauknecht Ulrich, der einzige Mann im Haus, war da, um ihr zu helfen. Sie äugte umher. Der Schwarzbärtige vom Nachbartisch sah sie an. Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals, nestelte von neuem am Tuch. Hatte er das hässliche Feuermal entdeckt?
»Nehmt Eure dreckigen Finger von dem Fräulein! Oder wollt Ihr Ärger?« Mit einem Satz war der Schwarzbärtige aufgesprungen und entriss sie den Fängen des Betrunkenen.
»Halt ein, du naseweiser Speichellecker!« Angriffslustig hob der Grobian die geballten Hände.
Das Gemurmel ringsumher verstummte. Agnes meinte, die Männer atmen zu hören, so still wurde es.
»Überleg dir lieber zweimal, was du sagst!« Der Schwarzbärtige brachte sich ebenfalls in Positur. Ein Anflug von Abscheu huschte über sein freundliches Antlitz. Er überragte den Grobschlächtigen um Haupteslänge. Trotz der breiten Schultern und kräftigen Arme wirkte er nicht wie jemand, der sich sonderlich gern in einen Faustkampf stürzte. Sein Aufzug mit dem eng anliegenden Rock aus englischem Tuch und den modischen zweifarbigen Strumpfhosen sprach dagegen. Die feinen Gesichtszüge und der wache Blick verrieten ihn als einen, der eher mit Worten denn mit gezielten Schlägen zu streiten verstand. Damit aber geriet er bei seinem Widerpart an den Falschen. Das abgerissene Hemd, die flickenübersäte Hose sowie die zahlreichen Narben auf Gesicht und Händen entlarvten seine Lust zu balgen. Wirr stand ihm das Haar vom Schädel ab, schon riss er den Mund zu einem wüsten Geheul auf. Agnes wurde bang um ihren vornehmen Verteidiger.
»Leg los, wenn du ein Kerl bist, du geleckter Zungenkläffer!«
Die Faust des Grobians schoss nach vorn. Im letzten Moment duckte sich der Schwarzbärtige weg. Von dem Schlag ins Leere geriet der Angreifer aus dem Gleichgewicht. Behende streckte der Schwarzbärtige ihm die Hand entgegen und bewahrte ihn vor dem Hinfallen. »Mit Trunkenbolden wie dir halte ich mich für gewöhnlich nicht lang auf.«
Schwungvoll schob er ihn auf die Bank zurück. Agnes atmete auf. Völlig verdutzt ob der ungeahnten Kraftleistung seines Gegners plumpste der Grobian hart auf den Hintern. Die Männer an den übrigen Tischen lachten schadenfroh.
»Pass auf, du gieriger Buchstabenfresser!« Vor Wut verengte der Grobian die glasigen Trinkeraugen und machte Anstalten, sich wieder zu erheben. Die Beine aber wollten ihm nicht gehorchen. Nach Halt suchend umklammerte er die Tischkante, schwankte allerdings immer noch.
»Was ist hier los?« Wie aus dem Nichts tauchte der einäugige Brauknecht Ulrich auf. Erleichtert nickte Agnes ihm zu. Ulrich stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich breitbeinig in Positur. »Die Wirtin duldet keine Schlägerei in ihrem Gasthaus.«
»Setzt diesen Rüpel vor die Tür, dann herrscht sofort wieder Ruhe. Er hat zu viel getrunken und kann seine Finger nicht da lassen, wo sie hingehören.« Der Schwarzbärtige zupfte sich den Stoff seiner Ärmel zurecht und trat einen Schritt beiseite, um Ulrich den Weg zu seinem Widersacher freizugeben.
»Der Rüpel bist ja wohl du, du elendiger Buchstabenfresser! Dir werde ich zeigen, wohin meine Finger gehören.«
Erneut wollte sich der Grobian auf ihn stürzen. Ulrich bekam ihn an den Schultern zu fassen und hielt ihn zurück. Schmunzelnd sah der Schwarzbärtige zu, wie Ulrich den Rüpel lahmlegte. Voller Bewunderung betrachtete Agnes sein Antlitz, stutzte, sah genauer hin.
Zunächst meinte sie, das Licht wäre schuld an der Täuschung. Als sie den Blickwinkel änderte, erkannte sie, dass dem nicht so war. Der Mann hatte tatsächlich verschiedenfarbige Augen! Das rechte war blau, das linke grün. Er war gezeichnet wie sie selbst! Das nahm Agnes vollends für ihn ein.
»Beruhigt Euch! Oder soll ich mit Euch nach draußen gehen?«, mahnte Ulrich den Grobian. Ihm schien der Makel des Schwarzbärtigen ebenso wenig aufzufallen wie den anderen Männern in der Wirtsstube.
»Nein, nein«, beeilte sich der Trunkenbold kleinlaut zu versichern und trat einen Schritt zurück. Zögernd sah er zu Ulrich. Die stämmige Statur des Knechts flößte ihm Respekt ein. Im nächsten Moment aber wechselte der Ausdruck auf seinem Gesicht von Achtung zu Abscheu. Da, wo das linke Auge sein sollte, klaffte bei Ulrich eine wulstige Narbe. Die zog sich die gesamte Wange hinunter und war blutunterlaufen. Als der Rüpel das Ausmaß der Hässlichkeit erfasst hatte, grinste er dreist. »Muss ja eine feine Wirtschaft sein, wenn Krüppel wie du hier den Beschützer spielen.«
Dieses Mal war es an Ulrich, mit der Faust zum Schlag auszuholen. Der Schwarzbärtige war jedoch schneller und schnappte flink nach seiner Hand. »Lasst gut sein! Das ist der Tölpel nicht wert.«
Offen sah er ihm ins Gesicht. Ihn schien die Narbe nicht im Geringsten zu schrecken, wahrscheinlich, weil er selbst mit einem Makel gezeichnet war. Agnes atmete auf.
Trotz des entstellten Gesichts war Ulrich mit seinen knapp dreißig Jahren ein ansehnlicher Bursche. Das blonde Haar reichte ihm bis zum Kinn, die Wangen waren glattrasiert. Auf die Sauberkeit seines Kittels legte er trotz der schweren Arbeit im Sud- und Gasthaus großen Wert, ebenso war er auf überlegtes Auftreten bedacht.
»Mir ist ein ehrlicher Einäugiger als Beschützer lieber als ein ungehobelter Gast«, wandte Agnes sich an den Grobschlächtigen. »Wenn Ihr ausgetrunken habt, verlasst Ihr bitte die Gaststube und lasst Euch nie mehr hier sehen. Fortan bleibt unser Bierfass für Euch leer.«
Ulrich begleitete ihre Worte mit einem aufgebrachten Schnauben, der Schwarzbärtige nickte zustimmend.
»Gut gesagt! Solche wie den dulden wir nicht. In letzter Zeit werden es einfach zu viele, die denken, nur weil sie einmal tapfer gegen die Ordensritter gekämpft haben, könnten sie sich ab sofort alles herausnehmen«, pflichtete ein Gast bei.
»Recht hast du, fort mit dem stinkenden Narrenesel!«, rief sein Nachbar. »Genau. Weg mit dem Lump!«, stimmte ein Dritter zu. »Dat gespuis moet verdwijnen!«, verlangte auch ein flämischer Gast, woraufhin ein Schwede den Becher hob und forderte: »Sluta nu. Lata oss vidga dricka!« Auch die übrigen Gäste taten ihre Zustimmung kund. »Das gute Bier der Fröbelin soll nicht an solche Lumpen verschwendet werden!«
»Drum schenk mir noch einmal kräftig nach, liebes Kind. Ich lass dich auch in Frieden deine Arbeit tun.« Ein Rotbärtiger zwinkerte Agnes zu.
Während sie seiner Bitte nachkam, beobachtete sie aus den Augenwinkeln Ulrich. Die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, wartete er, bis der Raufbold aufreizend langsam seinen Krug geleert und die Münzen für die Zeche auf den Tisch gezählt hatte. Erst dann griff der ungebetene Gast sich seine löchrige Mütze, setzte sie auf und marschierte ohne weiteren Gruß aus der Gaststube. Zufrieden schlurfte Ulrich zu einem der nächsten Tische und begann ein Gespräch. Ein Gast packte die Würfel aus, ein zweiter legte einen Stapel Karten auf den Tisch. Bald setzte emsiges Spielen ein.
Vorsichtig spähte Agnes zu dem Schwarzbärtigen. Die ganze Zeit hatte er neben dem Tisch des Grobians ausgeharrt. Anders als Ulrich mied er nach dessen Weggang die Gesellschaft der Männer und zog sich wieder in seinen stillen Winkel zurück. Bevor er sein kleines Büchlein aufblätterte und von neuem darin zu lesen begann, hob er den Kopf. Sein Blick traf den von Agnes. Aus den schönsten grünen und blauen Augen, die ihr je begegnet waren, zwinkerte er ihr zu. Ihr Herz machte einen Sprung, ihre Wangen glühten. Beschwingt kehrte sie zum Schanktisch zurück.
Um für die nächste Bestellung gerüstet zu sein, füllte Agnes die Kanne am Bierfass auf. Während der goldgelbe Gerstensaft in das blecherne Gefäß schäumte, kreisten ihre Gedanken um den Schwarzbärtigen. Was las er so andächtig? Was führte ihn überhaupt nach Wehlau, in das Gasthaus zum Silbernen Hirschen? Der Markt schien es nicht zu sein, sonst wäre er längst aufgebrochen oder hätte in der Gaststube die Nähe zu den Kaufleuten gesucht. Wer mochte er sein? Nie zuvor hatte sie ihn in der Stadt gesehen.
»Was ist heute nur los?« Schnaufend baute sich Griet neben ihr auf. Die pausbäckige Magd stemmte sich die feuchten Hände in die Hüften und musterte die Männer in der Schankstube. Dabei pustete sie eine vorwitzige Strähne ihres hellen, fast weißen Haares aus der Stirn. »Müsste ich nicht drüben am Suppenkessel aufpassen, würde ich die Burschen hier an den Tischen keinen Moment aus den Augen lassen. Die ungewohnte Frühlingshitze ist ihnen wohl zu Kopf gestiegen! Kaum lugt die Sonne hinter den letzten Winterwolken hervor, werden sie übermütig. Noch bevor sie auf dem Markt ein einziges Geschäft getätigt haben, zechen sie hier bei uns, als gäbe es einen besonders guten Handel zu feiern. Dabei dürfte keiner von denen im Winter Reichtümer gehortet haben. Ganz zu schweigen davon, dass die hier Heldentaten im Kampf gegen die Ordensritter vorzuweisen hätten. Schau dir die Spitzbuben doch an! Wahrscheinlich sind sie beim Ausmisten ihrer Ställe von den Strohhalmen zu kräftig in den Hintern gestochen worden. Allesamt sind das törichte Bauerntölpel mit nichts als Unsinn im Kopf!«
Agnes ließ sich von Griets Murren nicht beeindrucken. Trubel und Zwist gab es im Silbernen Hirschen jeden Tag. Gerade an Markttagen kamen übermütige Sprücheklopfer und wagemutige Raufbolde zuhauf in die Stadt. Außerdem durchschaute sie die Magd, die nur zu gern jede Gelegenheit nutzte, sich die Anwesenden genauer anzusehen. Offenbar suchte sie jemand ganz Bestimmten. Agnes stutzte. Es war ihr, als stierte die Magd in die Ecke, wo der Schwarzbärtige saß! Endlich wanderte Griets Blick weiter, und Agnes atmete auf. Als Griet zum Herd zurückging, folgte ihr Agnes.
So nah beim Feuer war es unerträglich heiß. Wieder lockerte Agnes das Tuch an ihrem Hals, warf das glatte braune Haar zurück. Wie all die Stunden zuvor rührte Griet in dem Suppenkessel. Ihr Gesicht schimmerte rot und feucht, eine Strähne des weißblonden Haares klebte auf der hohen Stirn.
Seit dem Weggang der alten Käth vor mehreren Monaten kochte Griet im Silbernen Hirschen. Die rege Nachfrage nach ihrer kräftigen Brühe bewies, wie gut ihr das gelang. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte die schön geschwungenen Lippen der Fünfundzwanzigjährigen. Wie gern würde Agnes ihr in den Kopf schauen, um zu erfahren, an wen sie beim emsigen Rühren dachte. Dass es derjenige sein musste, den sie eben in der Gaststube gesucht hatte, daran zweifelte Agnes nicht. In letzter Zeit verging kaum ein Tag, an dem Griet nicht vom Heiraten sprach. Dabei strahlten ihre grünblauen Augen hell wie die Mittagssonne. Zeit wurde es, betonten Mutter Gunda und Großmutter Lore in seltener Einmütigkeit. Auch wenn sie damit ihre Magd verlieren würde, hatte Mutter Gunda sich erboten, für die Einrichtung des ersten Hausstands zu sorgen, sollte es zur Hochzeit kommen.
Unter lautem Getöse lehnte Griet den Rührlöffel an die Wand des Kessels, nahm eine Möhre und schnippelte sie in die Suppe. Rasch folgten eine Zwiebel und eine weitere Möhre. Mit jedem Schnitz, der in der kräftig duftenden Suppe landete, verklärte sich ihr Lächeln weiter. Agnes seufzte. Griet musste es tatsächlich ums baldige Heiraten zu tun sein! Aber wen? Sie meinte, vor Neugier zu platzen.
Lächelnd wandte sie sich wieder dem Fass zu. Während sie eine zweite Kanne mit Bier befüllte, spähte sie abermals vorsichtig in Richtung des Schwarzbärtigen. Wie ritterlich er ihr beigestanden hatte! Sah er nicht gerade unauffällig zu ihr herüber? Unsinn! Was sollte ein Mann seines Alters an einer unbedarften Siebzehnjährigen finden? Sein Verhalten entsprach einzig seiner noblen Art. Ein Mann dieses Auftretens stand Bedürftigen bei, ohne sich viel dabei zu denken. Tapfer kämpfte sie gegen die Tränen bitterer Enttäuschung an. Griets ständiges Gerede über die Liebe musste an ihren wirren Gefühlen schuld sein. Mit zittrigen Fingern setzte sie die Kanne ab, sah wieder zu Griet, die noch immer verträumt im Suppenkessel rührte. Die Vorstellung, ebenfalls einmal so verliebt zu sein, befremdete Agnes. Mit ihren siebzehn Jahren fühlte sie sich zu jung für die Liebe.
Es zischte. Die Flammen um den Kessel züngelten hoch. Griet fluchte. Sie hatte den Löffel halb auf dem Rand des Kessels abgelegt und einige Kräuter in die Suppe gestreut. Offenbar hatte sie nicht nur eine Prise zu viel von den gerebelten Blättern über den Rand gegeben, sondern auch von der fettigen Brühe vom Löffel ins Feuer tropfen lassen. Agnes unterdrückte ein Lachen, als sie das schuldbewusste Gesicht der Magd bemerkte.
»Ist noch ausreichend Bier in Eurem Fass?«, kam eine dunkle Männerstimme von der Seite. Erschrocken zuckte Agnes zusammen und stieß dabei gegen die Kanne auf dem Tisch. Das kostbare Nass spritzte auf, als sie sie im letzten Moment vor dem Umkippen bewahrte, und benetzte ihre von Sommersprossen übersäten Hände.
»Verzeiht«, entschuldigte sich der Schwarzbärtige mit einer tiefen Verbeugung. »Ich wollte Euch nicht erschrecken.«
Behutsam schob er seinen leeren Becher auf den Schanktisch. Das Lächeln, das er Agnes zuwarf, ließ sie den erlittenen Schrecken vergessen.
»Natürlich, gern«, krächzte sie heiser und schenkte ihm ein. Aus Richtung des Herds war ein Glucksen zu hören. Agnes warf Griet einen wütenden Blick zu, woraufhin sich die Magd belustigt wieder dem Suppenkessel zuwandte.
Fieberhaft überlegte Agnes, was sie sagen konnte. Zu gern wollte sie noch seiner schönen Stimme lauschen. Dabei wagte sie nicht einmal, ihn direkt anzusehen. Er sollte nicht denken, seine seltsamen Augen verwirrten sie.
»Euer Bier ist das Beste, was ich seit langem getrunken habe.« Er wischte sich mit dem Handrücken den Schaum aus Mundwinkel und Barthaaren. »Ich komme viel herum. Seit langem habe ich keine so gute Erfrischung genossen. Ein Kompliment an den Brauer!«
»Die Brauerin«, verbesserte Agnes.
»Oh, eine Frau? Habt Ihr etwa selbst ...«
»Nein, nein«, beeilte sie sich zu versichern. »Ich gebe Euer Lob gern an meine Mutter weiter. Sie steht hinten im Sudhaus.« Verlegen spielten ihre Finger mit den Falten ihres hellen Leinenrocks.
»Was bin ich für ein Narr! Ich hätte es mir denken können. So ausgewogen versteht nur eine Frau zu würzen. Sicher werdet Ihr Euch gelegentlich ebenfalls an der Zubereitung des Bieres versuchen. Ihr habt gewiss auch ein gutes Gespür für den richtigen Geschmack.«
»Nein, nein«, wehrte sie ab. »Das habe ich noch nie probiert. So etwas liegt mir nicht.«
Sie schnappte sich ein Wischtuch und begann den Tisch abzuwischen, um ihn nicht ständig anzuschauen.
»Schade«, entfuhr ihm. »Was bin ich Euch schuldig?«
Zu ihrem Bedauern zückte er sofort die lederne Börse. Sie nannte ihm den Preis für zwei Becher Bier. Viel zu schnell zählte er die Münzen auf den Tisch. Dabei stachen ihr die zwei mittleren Finger seiner rechten Hand ins Auge. Sie waren nicht nur steif, sondern seltsam krumm aneinander gezwängt. Geschickt gelang es ihm durch eine Handbewegung, diese Behinderung zu überspielen. Hastig strich sie das Geld ein und verstaute es in der kleinen Holzkiste auf dem Wandbord.
»Darf ich Euch fragen, warum Ihr trotz des warmen Wetters ein Halstuch tragt? Es kleidet Euch sehr gut. Dennoch frage ich mich, ob Euch nicht wohl ist, liebes Fräulein?«
Verlegen fasste sie sich wieder an den Hals.
»Gestattet.« Er neigte den Kopf ein wenig näher zu ihr. Überrascht sog sie den leicht erdigen Geruch ein, der in seiner Kleidung und seinen Haaren hing. »Mir war, als hättet Ihr dort hinten am Hals ein Mal.«
Er wies mit dem Zeigefinger exakt an die Stelle zwischen Haaransatz und Nacken, wo sie das Mal verbarg.
»Verzeiht meine Offenheit. Es erinnert mich nur an eine alte Geschichte.«
Auf einmal hatte er es doch nicht mehr eilig. Geruhsam schloss er die Börse und verstaute sie an seinem Gürtel. Wieder stachen ihr dabei seine Hände ins Auge. Die Haut war hell und gepflegt, selbst die Fingernägel waren ungewöhnlich sauber.
»Wie Ihr seht, bin ich selbst mit einem deutlichen Makel ausgestattet. Deshalb denke ich, dass das Schicksal nur besondere Menschen mit solchen Zeichen versieht.« Mit dem rechten Zeigefinger tippte er erst auf das linke, dann auf das rechte Auge und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Erlaubt mir, mich kurz vorzustellen. Mein Name ist Laurenz Selege, Werkmeister aus Königsberg. Ein Auftrag führt mich in Eure Stadt. Meine Mutter war in meiner Heimatstadt Löbenicht Hebamme. Vor etwa siebzehn Jahren hat sie einer jungen Frau bei der Geburt von Zwillingen geholfen, ein Mädchen und ein Junge. Die beiden Kinder trugen ein ebensolches Feuermal im Nacken wie Ihr. Ich weiß das so gut, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Auch wenn ich damals noch ein vorlauter Lausbub von kaum zehn Jahren gewesen bin, der sich für vieles, nur nicht für anderer Leute Säuglinge interessiert hat: Diese beiden vom Schicksal gezeichneten Kinder sind mir bis heute fest im Gedächtnis geblieben. Zeit meines Lebens lassen sie mich nicht mehr los.«
Nachdenklich glitt sein Blick in die Ferne.
»Warum?«, fragte sie. »Warum denkt Ihr, die Kinder seien vom Schicksal besonders gezeichnet gewesen? Ist ihnen später etwas so Außergewöhnliches widerfahren?«
»In gewisser Weise schon«, erwiderte er zögernd. »Viel weiß ich darüber allerdings nicht. Sowohl die Kinder wie auch die Mutter sind bald schon aus dem Löbenicht verschwunden. Kurz nach der Geburt ist der Vater eines tragischen Todes gestorben. Ich bin im Übrigen nicht der Einzige, der die Familie nicht vergessen hat. Meine Mutter hat ihr trauriges Los ebenfalls zeitlebens beschäftigt. Dabei hat sie unzählige Kinder auf die Welt geholt und mehr als zwei Generationen Löbenichter Frauen während der Geburt betreut. Bis aufs Sterbebett aber hat sie immer wieder von diesen Zwillingen und ihrem schweren Los gesprochen.«
Von neuem legte er eine Pause ein, horchte den eigenen Worten nach. »Ihr müsst dasselbe Alter haben wie diese Kinder. Und nun habt Ihr ebendieses Mal wie sie.«
Damit warf er wieder einen forschenden Blick auf ihren Hals. Längst war sie sicher, dass das Tuch das Feuermal ausreichend verdeckte. Niemand konnte ahnen, wie deutlich es sich vom Haaransatz bis hinunter in den Nacken zog. Umso verwirrender, dass er es so genau zu beschreiben wusste.
»Ich habe keinen Bruder«, erwiderte sie schroff und erschrak über sich selbst. Sanfter fügte sie hinzu: »Ich habe gar keine Geschwister, und mein Vater, Zacharias Fröbel, Gott sei seiner armen Seele gnädig, ist erst letztes Jahr gestorben. Sein Todestag jährt sich an Georgi zum ersten Mal.«
»Oh, verzeiht, das tut mir sehr leid ...«
»Schon gut«, wiegelte sie ab. »Außerdem sind wir hier in Wehlau, wie Euch aufgefallen sein dürfte, und nicht in Königsberg.«
»Ich bitte Euch nochmals um Verzeihung.« Er deutete eine Verbeugung an und setzte sich das schwarze Barett aufs wellige Haar. »Nichts lag mir ferner, als Euch zu nahe zu treten. Es fiel mir eben nur so ein, welch eigentümliche Zufälle es gibt. Kaum zu glauben, dass mehrere Menschen desselben Alters an derselben Stelle mit demselben Mal gezeichnet sind. Aber so muss es wohl sein.«
Sein Lächeln erschien ihr verzerrt. Plötzlich begriff sie. Was war sie für eine Närrin gewesen! Wie hatte sie so töricht sein können zu denken, es wäre ihm um sie zu tun? Allein das widerwärtige Mal an ihrem Hals hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Nur deshalb hatte er sie überhaupt erst beachtet. Ihre Wangen färbten sich rot vor Scham.
»Lebt wohl!«, verabschiedete sie sich heiser und tat, als müsste sie Griet am Herdfeuer mit dem Suppenkessel zur Hand gehen. Er nickte bloß und verließ die Schankstube.
Im Hinterhof des Silbernen Hirschen staute sich die Luft.
Kurz vor Mittag erreichten zwar nur mehr wenige Sonnenstrahlen den festgestampften Boden, trotzdem hatten die Morgenstunden bereits ausgereicht, das ummauerte Geviert aufzuwärmen. Der Frühling nahte mit großen Schritten. An den Büschen sprangen die ersten Knospen auf, am Apfelbaum zeigten sich zaghafte Blütenansätze.
Gunda freute sich über das Ende der trüben Wintertage, zugleich aber beschlich sie Trauer. In wenig mehr als einer Woche stand Georgi vor der Tür. Kaum zu glauben, dass der gute Zacharias Fröbel dann bereits ein Jahr tot war. Sie vermisste den liebevollen, lebensklugen Gefährten noch genauso schmerzlich wie am ersten Tag. Wehmut erfasste sie. Ein weiterer treuer Weggefährte fiel ihr ein: Rudolf Kelletat. Weitaus kürzer als Fröbel, aber nicht minder aufrichtig und am Ende sogar aufopferungsvoll hatte auch er ihr einst in größter Not beigestanden. Für ihn hatte sie ebenso wie für Fröbel zunächst keine große Zuneigung empfunden. Viel zu spät erst war ihr bewusst geworden, was sie ihm und letztlich auch er ihr bedeutet hatte. Ausgerechnet dort, wo anfangs nicht einmal Zuneigung, sondern nur Vernunft gewesen war, war über die Jahre wahre Liebe gewachsen. Dagegen hatte sich da, wo zu Beginn die große, ungestüme Liebe geherrscht hatte, am Ende nur noch bittere Enttäuschung ausgebreitet. Viele Jahre waren seither vergangen. Jahre, in denen sie dank Fröbel gelernt hatte, mit dem unerträglichen Schmerz des Verlustes zu leben. Was geschehen war, war geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. Es galt, nach vorn zu schauen. Nur so ließ sich die nötige Kraft sammeln, um das Künftige sinnvoll zu gestalten.
Auf dem Sterbebett hatte sie Fröbel versprochen, ein Jahr zu warten, bis sie entschied, was sie tun wollte. Jetzt nahte Georgi und damit der Tag der Entscheidung. Ob es als Zeichen zu verstehen war, dass der alte Fröbel ausgerechnet am Tag des tapferen heiligen Drachentöters sein Lebenslicht ausgehaucht hatte? Der heilige Georg schützte auch die Ritter des Deutschordens und galt als Patron der Böttcher, wie Kelletat einer gewesen war. Aus dem offenen Schweinekoben drang empörtes Quieken an ihr Ohr. Sie schreckte auf.
»Hätte ich euch doch fast vergessen!« Viel zu lang schon stand sie mitten im Hof und träumte vor sich hin. Dabei war helllichter Tag, keine Zeit für Müßiggang. Flugs bückte sie sich und hob den Korb mit Hopfenabfällen auf. Als sie auf ihren klappernden Holztrippen zum Pferch ging, streckten die Schweine vorwitzig die Schnauzen über das Gatter. Schwungvoll kippte Gunda die aussortierten Dolden hinein. Da sie nur weibliche Ähren zum Würzen verwendete, gab es immer wieder Ausschuss, mit denen sie die Schweine mästete. Gierig stürzten sich die beiden Tiere darauf und fraßen zufrieden. Voller Argwohn hatten die Hühner das beobachtet. Unter Führung des eitlen Hahns gackerten sie heran und scharrten sich um Gundas Beine. Mit einem sanften Tritt versuchte Gunda, das Federvieh auseinanderzuscheuchen. »Schaut, die Reste auf dem Boden! Seid nicht so faul und pickt sie auf.«
Geschäftig trat sie zum Brunnen auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs. Dankbar entdeckte sie den randvoll mit Wasser gefüllten Eimer auf der Mauer. Silbern glänzte die unberührte Oberfläche, im einfallenden Mittagslicht zum zittrigen Spiegel geworden. Versonnen betrachtete Gunda ihr Abbild. Ihren fünfunddreißig Jahren und dem Witwenstand zum Trotz fand sie sich noch recht ansehnlich: Im kupferbraunen Haar, das unter der hellen Flügelhaube hervorlugte, zeigten sich noch keinerlei Ansätze von Grau. Die hohe Stirn sowie die Partie um die rehbraunen Augen waren beruhigend glatt. In großzügigem Rund hatte sie am Morgen die Bogen ihrer Brauen gezupft und mit Indigo schwarz gefärbt. Auf Brombeersaft und Öl zum Röten der Wangen konnte sie verzichten. Ihr Antlitz schimmerte von allein rosig. Selbst der stete Dampf über der Sudpfanne hatte der Haut ihres ebenmäßigen Gesichts bislang wenig anhaben können. Weder zeigten sich spröde Risse an den voll geschwungenen Lippen, noch wies die Halspartie bis zum dreieckigen Ausschnitt des Kleides Falten auf. Zufrieden schürzte Gunda die Lippen, freute sich an den geraden weißen Zähnen in dem noch vollständigen Gebiss und tauchte die Fingerspitzen in das eiskalte Wasser. Sogleich verzerrte sich ihr Gesicht in dem flüchtigen Spiegel, löste sich in den kreisrunden Wellen auf. Gunda bespritzte ihr Antlitz und trank schließlich einige Schlucke des erfrischenden Nass aus der hohlen Hand.
»Was tust du da?« Aus der Hintertür kam Lore in den Hof. Die breiten Hüften wiegten im Rhythmus ihrer tapsigen Schritte, über das runzelige Gesicht unter der weißen Flügelhaube huschte ein mattes Lächeln. Wie so oft versetzte Gunda der Anblick der verlebten Schönheit einen Stich. Die dreiundfünfzig Jahre sah man der Mutter inzwischen deutlich an, auch wenn sie durch sorgfältig ausgewählte Kleidung und mühevolle Körperpflege tapfer gegen das Altern ankämpfte. Das Leid des Lebens aber ließ sich weder unter aufwendigen Hauben, gestickten Bändern oder bunten Tüchern verbergen, noch ließ es sich mit duftenden Ölen und feinen Salben fortzaubern. Wie die entstellende Narbe am Kinn, die Lore seit jenem schrecklichen Überfall vor achtzehn Jahren zierte, gruben sich Tag für Tag unerbittlich die Spuren des Daseins auf dem leicht vorgebeugten Leib ein.
»Du weißt doch, Mutter, eine Brauerin muss wissen, wie gut ihr Wasser schmeckt«, erwiderte Gunda munter. »Nur wenn es von bester Qualität ist, wird ihr auch das Bier gelingen.«
»Du warst noch nie um eine Ausrede verlegen.« Schmunzelnd schüttelte Lore das Haupt. Einige dünne weiße Haarsträhnen rutschten unter der Haube heraus. Die im Lauf der Jahre krumm gewordenen Finger klimperten ungeduldig mit dem Schlüsselbund am Gürtel. »Wolltest du nicht zum Markt?«
»Bist du gekommen, um mich daran zu erinnern?« Gunda zwinkerte belustigt. »Dann willst du mich wohl unbedingt loswerden, um das Regiment im Haus zu übernehmen. Meine liebe Tochter aber denkt wohl nicht daran, mich zu begleiten? Dabei haben wir das heute früh besprochen. Es wird Zeit, dass sie Einblick in die Geschäfte jenseits der Sudpfanne gewinnt.«
Kaum hatte sie das gesagt, schob sich die Siebzehnjährige hinter ihrer Großmutter in den Hof. Gunda musterte sie mit Wohlgefallen. Wie am Morgen vereinbart, trug Agnes das rote Leinenkleid mit den weit auslaufenden Ärmeln, dessen Teufelsfenster mit hellrotem, glänzendem Stoff abgesetzt waren. An Ausschnitt und Ärmelaufschlägen war das Kleid mit einem dunkelroten, reich bestickten Band gesäumt. Der Gürtel war von der gleichen Farbe. Das glatte braune Haar hatte Agnes seitlich über den Ohren zu kreisrunden Schnecken aufgedreht. Wie stets trug sie ein leinenweißes Tuch um den schlanken, langen Hals, um das entstellende Feuermal vor neugierigen Blicken zu schützen. Eine Last, die ihrem Vater geschuldet war. Doch das tat dem selbstbewussten Auftreten des Mädchens keinerlei Abbruch. Je älter sie wurde, desto mehr wuchs sie zu einer wahren Schönheit heran. Kaum vermochte Gunda ihren Stolz zu verbergen. Hoffentlich merkte Agnes das nicht. Das Mädchen sollte nicht hoffärtig werden.
»Wartest du auf mich?«, fragte Agnes und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Wange. »Verzeih, aber ich wollte Griet nicht allein in der Schankstube zurücklassen, ohne die Becher der durstigen Gäste noch einmal aufgefüllt zu haben.«
»Gut.« Wie gern hätte Gunda ihr über die Wange gestrichen, sie in den Arm genommen und fest an sich gedrückt. Doch kaum wollte sie die Hand heben, war da wieder diese unermessliche Scheu, die sie in solchen Momenten stets befiel. Verlegen legte sie die Hand an die Stirn und tat, als müsste sie eine Haarsträhne unter die Haube stecken. Fröbel hatte recht behalten: Mit ihrer Klugheit machte Agnes mehr als einen Sohn wett.
»Bis später, Mutter.« Gunda nickte Lore zu und eilte Agnes mit großen Schritten zum Hoftor voraus. In einer dichten Traube hefteten sich die Hühner an ihre Fersen. Als Gunda das Tor erreichte, scharrten sie sich noch enger um sie. Sie holte zu einem sanften Tritt aus, um die gackernden Tiere auseinanderzutreiben. Beleidigt pickte eines der Hühner nach ihrem Zeh, erwischte ihn zielsicher durch den Stoff ihres Schuhs. »Autsch!«, entfuhr es Gunda. Nicht zum ersten Mal verfluchte sie, dass sie keine Schnabelschuhe aus Leder ertrug. Lore nähte ihr eigens welche aus festem Stoff, unter die sie Holztrippen schnallte. Die aber schützten kaum vor dem wütenden Picken eines Huhns. Verärgert stieß sie das Tier in die Seite.
Dicht gefolgt von Agnes trat sie auf die belebte Straße hinaus. Grell schien die Sonne auf das Getümmel. Dank des warmen Frühlingswetters standen an jedem Haus die Fenster und Türen zu den Werkstätten weit offen. Es klopfte, hämmerte und bohrte an Drehscheiben und Werkbänken, selbst die Gewandschneider und Bortensticker hockten in den offenen Stuben, um ihrem Tagwerk nachzugehen und gleichzeitig das Treiben auf der Straße zu verfolgen. Es war die zweite Woche nach Ostern. Unablässig strömten Händler mit hoch beladenen Karren sowie unzählige Bauersweiber mit vollgepackten Kiezen auf dem Rücken vom Alletor in die Stadt. Vereinzelt versuchten Fuhrleute, ihre von Ochsen gezogenen Wagen durch das Gedränge zu lenken. Empörte Aufschreie flogen durch die Luft. Wie im Sog trieb es alle zum Markt. Ein Junge von kaum acht Jahren trieb eine kleine Ziegenherde vor sich her, ein Mädchen von höchstens neun beaufsichtigte ein halbes Dutzend Gänse. Dazwischen grunzten Schweine jedweder Größe, sogar eine Kuh marschierte brav neben ihrem Aufseher zum Markt.
Es stank. Nicht nur die Tiere verströmten einen scharfen Geruch. Garbräter dehnten ihre Buden weit in die Gassen jenseits des Marktes aus. In ihren Kesseln kochten seit Stunden Nieren, Herzen, Mägen und andere Innereien, vermischt mit unzähligen Zutaten, deren Herkunft man besser nicht ergründete. Zwielichtiges Volk scharte sich um die Stände, boten sie das Essen doch zu niedrigen Preisen feil. Die Leute drängelten und feilschten, weil auch die wenigen Pfennige für manchen noch zu viel waren, um sich den knurrenden Magen zu stopfen. »Du nichtsnutziges Rabenaas! Gib mir noch eine Kelle Suppe, sonst schlag ich dir deinen Topf vom Feuer!«, erboste sich ein hinkender Mann darüber, dass seine Schale vom Garbräter nicht gut gefüllt worden war.
»Haub ab, du stinkender Galgenstrick, sonst zieh ich dir die Kelle über den grindigen Schädel!«
Beleidigt stürzte sich der Hinkende auf den Garbräter, ein anderer Mann suchte die beiden Streithähne auseinanderzureißen, was einen Dritten zum Einschreiten verleitete.
Widerwillig wich Gunda den Streithähnen auf die andere Straßenseite aus, musste sich dabei bereits gegen einen Pulk Neugieriger stemmen, die von dem Lärm zur Quelle des Aufruhrs angezogen wurden. Wie sehnte Gunda sich in die Ruhe ihres Sudhauses zurück! Dort gab es weder übelriechende Garküchen noch unzufriedene Kundschaft.
»Worauf wartest du?« Agnes hatte sich bereits einige Schritte von ihr entfernt, bis sie merkte, dass Gunda ihr nicht gefolgt war. Ungeduldig drehte sie sich um.
»Ich komme schon!« Gunda raffte den Rock und eilte weiter.
»Pass auf, du alte Pfennigjungfer!«, herrschte eine Frau sie unflätig an. Ohne Absicht war Gunda gegen sie gestoßen. Aus dem Eimer, den sie auf dem Kopf balancierte, schwappte eisiges Wasser heraus.
»Nimm dich in Acht, frecher Bauerntrampel!« Verärgert funkelte Gunda sie an, strich vorwurfsvoll über den nassen Ärmel ihres dunkelblauen Kleides.
»Verzeiht vielmals«, lenkte die Frau ein, sobald sie sah, wen sie vor sich hatte. »Ich habe nicht gesehen, wer Ihr seid.«
Gunda nickte huldvoll und hastete weiter. Agnes studierte bereits das Angebot einer an der Hauswand kauernden Bauersfrau. In einem großen Korb pries sie die letzten Bündel getrockneter Kräuter vom Winter an, daneben fanden sich die ersten zarten Blumen des Frühlings. Auch Bärlauch hatte sie reichlich feilzubieten. Der Geruch stieg Gunda bereits in die Nase, als sie die Alte noch gar nicht erreicht hatte. Angewidert verzog sie das Gesicht.