Wir träumten vom Sommer - Heidi Rehn - E-Book
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Wir träumten vom Sommer E-Book

Heidi Rehn

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Beschreibung

Sommer 1972: Nach zwei Jahren im Ausland kehrt Amrei nach München zurück, um ihr Studium zu beenden – die Stadt, in der sie während der Studentenproteste 1968 kühne Träume für die Zukunft gesponnen hat. Hin- und hergerissen zwischen zwei Männern, dem Polizisten Wastl und dem Linken David, ist sie damals überstürzt aus der Stadt geflohen. Verblüfft stellt sie fest, dass aus den einstigen Rivalen nun Freunde geworden sind. Doch die Idylle trügt. Entsetzt sieht Amrei sich gezwungen, mit anzusehen, wie sich ihre Freunde vor der Kulisse der Olympischen Spiele radikalisieren und sie zwischen die Fronten gerät. Plötzlich muss auch sie sich entscheiden, welchen Preis sie für ihre Träume zu bereit ist zu zahlen...

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Wir träumten vom Sommer

Die Autorin

HEIDI REHN, in Koblenz am Rhein geboren, arbeitet seit vielen Jahren als freie Journalistin und Autorin. Vor allem mit ihren München-Romanen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie sich einen Namen gemacht. 2014 erhielt sie den Goldenen Homer für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Sie veranstaltet regelmäßig literarische Spaziergänge durch München.

Das Buch

In einer einheitlichen Front reihten sich die Studenten aneinander, stampften auf den Boden, skandierten »Oh-ne-sorg! Oh-ne-sorg!« und schauten auf eine ebenso einheitliche Menge schwarzer Würdenträger und Festgäste unten im Saal. Voller Unverständnis schüttelten die ihre Köpfe. Amrei fühlte sich mitgerissen, ehe sie begriffen hatte, was genau geschah. Und ehe sie entschieden hatte, was sie davon halten wollte. Geschweige denn, wie sie sich dazu verhalten sollte und wollte. David strahlte, als sie endlich seinen Arm nahm. Ihr wurde warm. Eng zog er sie an seine Seite. Durch den dünnen Stoff seines Hemdes meinte sie das Pochen seines Herzens zu spüren. Sie wagte nicht mehr, sich zu regen. Jetzt gehörte sie dazu.

Heidi Rehn

Wir träumten vom Sommer

Roman

Ullstein

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List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbHISBN: 978-3-471-36056-9© 2023 by Heidi Rehn© 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, MünchenUmschlagabbildung: www.buerosued.de, Tom Kelley Archive / Retrofi le RF / Getty ImagesFoto der Autorin: © Susie KnollE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN: 978-3-8437-2919-2

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1972

1972

1967

1972

1967

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968

1972

1968/1969

1972

1969

1972

Zum Schluss

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1972

Motto

»Das Private ist politisch.«

Carol Hanisch, US-amerikanische Feministin

1972

Florenz, Anfang April

Einmal genügte nicht. Amrei musste den Brief ein zweites, nein, besser gleich ein drittes Mal lesen, bevor sie endlich glaubte, was dort stand: Es hatte doch noch geklappt! Sie hatte einen der begehrten Hostessenjobs bei den Olympischen Spielen in München ergattert. Quasi in allerletzter Minute. Sofern sie ihn tatsächlich noch haben wollte.

Langsam ließ Amrei das Schreiben sinken, klemmte sich eine Strähne des nackenlangen dunkelblonden Haars hinters Ohr und blinzelte ins Sonnenlicht, versank in ihren Überlegungen.

Vor zwei Jahren hatte man die Hostessen für Olympia 72 ausgewählt. Sie hatte damals eine Absage erhalten. Was sie nicht einmal sonderlich bedauert hatte. Zu sehr war sie zu jener Zeit mit einem spannenden Job in einem der großen Pariser Warenhäuser beschäftigt gewesen. Ohnehin hatte sie die Bewerbung wenige Wochen zuvor nur halbherzig abgeschickt, um sich später keine Vorwürfe über verpatzte Chancen zu machen und es wenigstens versucht zu haben. Nachdem inzwischen wohl einige der ursprünglich ausgewählten Kandidatinnen abgesprungen waren, bot man ihr nun an nachzurücken, kein halbes Jahr bevor die Spiele in München begannen. So schmeichelhaft das war und so gelegen es ihr gerade auch kommen mochte, fragte sie sich dennoch, ob sie das wirklich wollte.

Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie sich vor allem überrumpelt fühlte. Damit hatte sie nicht gerechnet. Nicht mehr. Sie saß in einem Straßencafé an der Piazza della Signoria in Florenz. Zu Frühlingsbeginn. Vor einer malerischen Kulisse. Verschwenderisch ergossen sich die Sonnenstrahlen über die Zinnen des Palazzo Vecchio, tauchten die zahlreichen Skulpturen und Standbilder sowie die prächtigen Renaissancefassaden ringsum in goldenes Licht, kitzelten Touristen wie Einheimische vorwitzig an den Nasenspitzen. Undenkbar, das gegen München einzutauschen. Vor allem gegen das München, wie sie es in Erinnerung hatte: laut, schmutzig und chaotisch. Die gesamte Stadt war damals zu einer gigantischen Baustelle mutiert, um sich für Olympia 72 modern zu machen. Was mittlerweile angeblich auch bestens gelungen war. Zumindest behaupteten das ihre Freundinnen Chris und Biggi in den Briefen, die sie ihr in immer größeren Abständen schickten, um sie über alles, was »daheim« passierte, einigermaßen auf dem Laufenden zu halten. Vielleicht sollte sie sich also doch eines Besseren belehren und von diesem modernen München überraschen lassen.

»Prego, Signorina!« Schwungvoll stellte der Kellner das Silbertablett mit dem Espresso und einem Wasserglas vor ihr ab und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Automatisch lächelte sie, obwohl er bereits zum nächsten Tisch weitergeeilt war.

Gedankenverloren sah sie ihm nach, rührte Zucker in den Kaffee. Das Angebot aus München trudelte eigentlich im passenden Moment ein. Am Tag zuvor hatte sie erfahren, dass sie in der Florentiner Spedition, in der sie als Übersetzerin für die Korrespondenz mit der deutschen Kundschaft arbeitete, ab sofort nicht mehr gebraucht wurde. Die Tochter des Chefs hatte ihr Studium in Heidelberg beendet und sollte künftig ihre Aufgaben übernehmen. Damit blieb alles in der Familie. Und Amrei musste sich etwas Neues suchen. Wieder einmal. Als Ausländerin mit beschränkter Arbeitserlaubnis und ohne abgeschlossenes Studium war das alles andere als einfach. Insbesondere, wenn sie tatsächlich etwas dazulernen oder gar etwas Anspruchsvolleres tun und nicht nur die schlecht bezahlten, anspruchslosen Tätigkeiten übernehmen wollte. In einem Zug stürzte sie den Espresso hinunter. Seit ziemlich genau drei Jahren hangelte sie sich so von Job zu Job, von Stadt zu Stadt und Land zu Land. Erst in Frankreich, dann in England und seit einem Dreivierteljahr in Italien. Um die Sprachen besser zu lernen. Land und Leute zu studieren. Erfahrungen zu sammeln. Frei und unabhängig zu bleiben. Und natürlich Spaß zu haben. Sich immer wieder leicht zu verlieben. In das jeweilige Land wie in die zugehörige Sprache. Und in die Leute. Besonders in die Männer.

Wie zuletzt in Giuseppe. Amrei seufzte. Sie mochte ihn. Sehr sogar. Auch das Zusammensein mit ihm. In den vergangenen Wochen hatten sie viel Spaß miteinander gehabt. Und viel voneinander gelernt. Sogar das Pastakochen hatte er ihr beibringen wollen. Vergebene Liebesmüh! Fürs Kochen besaß sie leider kein Talent. Und seine Pasta war einfach zu perfekt. Wie auch er einfach zu perfekt war. Ein Bilderbuchitaliener eben. Mit Frau und Kindern, wie sie gestern zufällig erfahren hatte. Deshalb war es nun mit ihnen vorbei. Wieder einmal war sie diejenige, die ging. Auch wenn es ihr dieses Mal schwerer fiel als sonst. Doch mit verheirateten Familienvätern ließ sie sich nicht ein. Grundsätzlich nicht. Eine Träne rann ihr über die Wange, tropfte auf den Brief in ihrer Hand, wuchs sich dort zu einem dicken feuchten Fleck aus, der in wenigen Minuten von der Sonne getrocknet sein würde. Auch um die Enttäuschung mit Giuseppe zu verdauen, kam das Angebot aus München also genau im richtigen Moment.

Noch einmal überflog sie die Zeilen, blieb an dem doppelt unterstrichenen Termin hängen, bis zu dem sie antworten sollte. Viel Zeit, sich zu entscheiden, blieb nicht. Falls sie zusagte, sollte sie außerdem exakt ankündigen, wann sie in München einträfe, um für die verpflichtenden Vorbereitungskurse eingeteilt zu werden. Sie wischte sich über die feuchte Wange. Die pralle Sonne brannte auf ihrer hellen Haut.

Sich auf etwas strikt festzulegen, das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Ohne hinzusehen, griff sie nach dem kleinen Wasserglas und trank es in einem Zug aus. Es hatte ihr gefallen, völlig ungebunden zu leben. Ohne feste Zu- und Absagen, nichts und niemandem verpflichtet außer sich selbst. Genauso hatte sie das gewollt, als sie vor drei Jahren aus München weggegangen war und einen Schlussstrich unter alles, was sie dort erlebt hatte, gezogen hatte. Aus gutem Grund. Doch war es nicht an der Zeit, das Vergangene endgültig vergangen sein zu lassen und wieder an die Isar zurückzukehren? Der Brief erschien ihr fast als Zeichen, auch wenn sie an so etwas eigentlich nicht glaubte. Auf einmal reizte es sie sehr, das Angebot anzunehmen. Wenigstens für eine Weile auszuprobieren, wie es war, irgendwo wieder mehr dazuzugehören und nicht mehr immer nur die Fremde aus dem Ausland zu sein, die man rasch vor die Tür setzen konnte, wenn sie plötzlich störte oder nicht mehr gebraucht wurde.

Von Neuem ließ sie den Brief sinken, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genoss einige Atemzüge lang die Wärme auf dem Gesicht, ließ die nasse Haut trocknen.

Ginge sie nach München zurück, wäre das nicht nur das – zumindest vorläufige – Ende ihres unsteten Nomadentums und die Chance, ein wenig sesshafter zu werden. Mit ihren mittlerweile vierundzwanzig Jahren war sie auch genau im richtigen Alter dafür. Vor allem könnte sie dann aber auch wieder bei Annamirl wohnen. Die Aussicht hob ihre Stimmung sofort. Gewiss konnte sie wieder ihr früheres Zimmer in der Wohnung der Großtante beziehen. Mehrfach schon hatte Annamirl ihr das in den wenigen Briefen, die sie einander ab und an schrieben, und den noch selteneren Telefonaten, die sie sich gelegentlich leisteten, angeboten. Die Großtante vermisste sie sehr. Mit ihr war sie immer bestens ausgekommen. Trotz des großen Altersunterschieds zwischen ihnen. Und ihrer gegensätzlichen Lebenswelten. Annamirl war stets für sie da gewesen, wenn sie sie gebraucht hatte, ohne sich je ungefragt in ihr Leben einzumischen. Bei ihr hatte sie sich rundum heimisch gefühlt.

Reflexartig kramte sie ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und zündete sich eine an. Zu Ehren Annamirls. Und der vielen Gelegenheiten, bei denen sie freitagabends bei einer Zigarette am Küchentisch über fast alles miteinander hatten reden können. Sollte sie den Job annehmen, konnte sie für Annamirl da sein. Für die nächsten Monate zumindest. Inzwischen war die Großtante vierundachtzig. Da war es gut, jemanden um sich zu haben, dem sie sich nahe fühlte.

Kaum malte sie sich das Wiederaufleben der gemütlichen Zweisamkeit bei Annamirl aus, keimte eine weitere Idee in ihr. Für den Hostessenjob waren zwar verschiedene Einführungskurse angesetzt, wie es in dem Brief hieß. Bis die Spiele begännen, könnte sie parallel dazu allerdings gut wieder zur Uni gehen, um ihr abgebrochenes Studium zu beenden und das erste Staatsexamen abzulegen. Just im Mai begann praktischerweise das neue Semester. Ein weiteres deutliches Zeichen. Nahtlos könnte sie wieder in die Vorlesungen und Seminare einsteigen. Und langfristig an die interessanteren und anspruchsvolleren Jobs gelangen, in München wie im Ausland. Dann würde sie nicht mehr so einfach als günstige Aushilfe verheizt und bei erstbester Gelegenheit vor die Tür gesetzt werden.

Genüsslich blies sie den Zigarettenrauch beiseite, ließ den Blick über die Piazza schweifen, saugte das quirlige Treiben der Einheimischen und der Touristen in sich auf und bestellte bei dem vorbeiflitzenden Kellner einen weiteren Espresso. Wenn sie gleich begann, alles für die Abreise zu organisieren, würde sie in zwei bis spätestens drei Tagen in München sein. Voller Vorfreude trank sie auch den zweiten Espresso in einem Zug aus, legte das Geld auf den Tisch und erhob sich.

Im Weggehen registrierte sie, dass der Kellner ihr bewundernd hinterhersah. Ihr nordeuropäischer, groß gewachsener Typ mit dem hellen, am Hinterkopf auftoupierten Haar und den langen Beinen fiel im Süden auf. Lässig winkte sie ihm über die Schulter hinweg zu und schlenderte auf den hohen Plateausandalen elegant über das unebene Straßenpflaster davon.

1972

München, Anfang Mai

Sobald die schwere Haustür hinter Amrei ins Schloss fiel, atmete sie auf. Im Gegensatz zu draußen in der Stadt war im Haus wenigstens alles beim Alten. Jeder Blick fiel auf ein vertrautes Detail: die flackernde Glühbirne an der Decke, das schummrige Licht im Stiegenhaus, die braun getünchten Wände, der stumpfe Steinboden, die ausgetretenen Holzstufen, der muffige Geruch nach Bohnerwachs, Schmierseife und – genau! – der verführerische Duft nach Reiberdatschi. Sie schmunzelte. Kein Zweifel. Sie war wieder daheim. Bei Großtante Annamirl. Im Münchner Schlachthofviertel. Und das schon seit fast drei Wochen. Und es war Freitag. Freitags buk Annamirl Reiberdatschi. Heute wie vor drei und vor vier Jahren. Und wie wahrscheinlich alle Jahre, viele Jahre, die sie bereits in der Tumblingerstraße wohnte. Allein. Oder mit Amrei. Oder mit sonst wem, über den sie nie sprach.

Amrei knurrte der Magen. Ausgehungert nach den endlosen Vorlesungsstunden in der Uni, müde von den ewig gleichen Gesprächen mit Kommilitonen und erschöpft von den verwirrenden Eindrücken in der für die Olympischen Spiele inzwischen völlig umgekrempelten Stadt, schleppte sie sich nach oben, interpretierte das Knarzen der hölzernen Treppenstiege als Willkommensmelodie, knarrte jede einzelne Stufe doch anders als die andere und vermischte sich insgesamt zu einem vertrauten Klang.

Im zweiten Stock angekommen, bemerkte sie im Augenwinkel, wie sich die benachbarte Wohnungstür einen Spalt öffnete und ein Paar Augen neugierig herausspähte. Die Doblerin! Unbedingt musste sie wieder wissen, wer zu Annamirl wollte. Auch das war wie vor drei und vier Jahren und wie wahrscheinlich all die Jahre zuvor, die die Großtante und ihre Nachbarin Gerda Dobler schon Wand an Wand lebten.

Um die alte Frau nicht zu erschrecken, verkniff Amrei es sich, laut zu grüßen, und sperrte stattdessen die Tür auf.

In der Wohnung hing der Reiberdatschigeruch noch intensiver als im Stiegenhaus. Voller Vorfreude eilte sie in die Küche. Dort war der Kochdunst so dicht, dass sie mehr ahnte als sah, wie die Großtante in ihrer hoch aufgeschossenen Gestalt vor dem Kohleherd stand, trotz ihrer fast vierundachtzig Jahre bewundernswert aufrecht, und mit dem Pfannenwender in der einen und der Pfanne in der anderen Hand geschickt hantierte. Ohne sich zu ihr umzudrehen, verkündete sie mit ihrer rauen Stimme, die klang, als malträtierte sie freitags nicht nur die Kartoffeln auf dem Reibeisen: »Essen ist fertig.«

»Gut riecht’s wieder«, stellte Amrei fest. Sie holte Gläser, Teller und Besteck aus dem Küchenbüfett und deckte den Tisch für sie beide.

»Schmeckt’s?«, erkundigte sich Annamirl für ihre Verhältnisse überraschend fürsorglich nach dem dritten, perfekt goldbraun ausgebackenen Reiberdatschi, den Amrei voller Appetit verdrückt hatte, klatschte ihr ungefragt weitere drei auf den Teller und schob ihr die Glasschüssel mit dem Apfelmus hin.

Obwohl sie es nie offen zugäbe, wusste Amrei, wie gern sie darauf »Noch besser als daheim« von ihr als Antwort hörte. Ebenso gern sagte sie es ehrlich überzeugt und strahlte Annamirl an. Die lächelte zurück. Und lud sich ebenfalls die nächste Portion auf den Teller. Für ihr Alter und ihre schmale Figur war sie mit einem blendenden Appetit gesegnet.

Schweigend saßen sie sich gegenüber, jede mit ihren Reiberdatschi und ihren Gedanken beschäftigt. Zum x-ten Mal ging Amrei wieder durch den Kopf, wie oft sie sich in den vergangenen Jahren im Ausland nach diesem Beieinandersein mit der Großtante gesehnt hatte. Und wie gut es gewesen war, dass sie so schnell den Entschluss gefasst hatte, den angebotenen Hostessenjob anzunehmen und zur Großtante nach München zurückzukehren. Sie beide verband etwas ganz Besonderes. Von ihrer ersten Begegnung an. Zugleich verdankte Amrei Annamirl viel. Viel mehr, als manch einer ahnte. Ohne sie wäre sie nicht die, die sie jetzt war. Und ohne sie hätte sie nicht das erreicht, was sie bislang erreicht hatte. Vor allem nicht ihren mehrjährigen Aufenthalt im Ausland. Sie tastete nach Annamirls Hand, drückte sie. Die Großtante nickte kaum merklich. Und begriff.

»Die Annamirl ist eine ganz Spezielle«, hatte es bei ihrer Familie in Eggling früher zwar immer geheißen, wenn – was selten genug der Fall gewesen war – die Rede auf die mysteriöse Großtante im fernen München gekommen war. Doch gerade dieses »ganz Spezielle« liebte Amrei an ihr ganz besonders.

Vermutlich wäre sie nie aus der Oberpfalz in die Stadt gezogen, wäre Oma Babette vor fünf Jahren nicht unerwartet gestorben und Annamirl auf der Beerdigung ihrer jüngeren Schwester aufgetaucht. Ebenso unerwartet. Und völlig anders, als Amrei sich die ältere Schwester ihrer Oma vorgestellt hatte.

»Da schaut ihr, was?«, hatte Annamirl gesagt, sobald die vor Staunen aufgerissenen Münder sich wieder geschlossen hatten und eifrig Erde auf Babettes schweren Eichensarg geschaufelt worden war.

»Sie scheint ja doch ein Herz im Leib zu haben«, hatte die Mutter gemurmelt. Darauf hatte Annamirl nichts erwidert, sich nur verschämt die Augenwinkel gewischt, was offenbar nur Amrei bemerkt hatte, und war so selbstverständlich zum Leichenschmaus im Jägerwirt vorausgegangen, als hätte sie ihn zum Gedenken an ihre jüngere Schwester arrangiert. Amrei war es gelungen, neben ihr zu sitzen.

»Hast es wohl ganz eilig, von hier wegzukommen, was?«, war die Großtante sofort auf den Punkt gekommen, nachdem sie sich beiläufig eine Zigarette angezündet und zu rauchen begonnen hatte, während Amrei ihr von ihren Zukunftsplänen erzählt hatte. Sie war die Erste und bislang Einzige in der Familie, die studieren wollte, aber gewiss nicht im nahen Regensburg, wie vom Vater vorgesehen. Dazu war die restliche Welt zu verlockend, Regensburg zu nah am heimischen Eggling gelegen und damit die Gefahr zu groß, dass sie so nie wirklich herauskam aus dem allzu Vertrauten, Immergleichen.

»Ging mir genauso«, hatte Annamirl nach einer längeren Pause hinzugefügt und dabei eine Sekunde länger als nötig erst zu den Eltern, dann zu Alfons geblickt. Obwohl Amrei ihm klipp und klar gesagt hatte, dass sie erst in Ruhe studieren würde, bevor sie sich entschied, wie es mit ihnen beiden weiterging, hatte er sich zu ihrem Verdruss der Großtante dennoch als ihr Verlobter vorgestellt. Auch wenn er der Erste gewesen war, mit dem sie im Dunkeln im Gebüsch hinter dem Sportplatz mehr als nur verstohlen Händchen gehalten hatte und mit dem sie sich durchaus vorstellen konnte, eines Tages größere Pläne fürs Leben zu schmieden, war ihr das dann doch zu weit gegangen. So schnell hatte sie sich noch nicht festlegen wollen. Direkt nach dem Abitur sowieso nicht. Da hatte sich für sie die Tür fort aus Eggling doch gerade erst einen Spaltbreit geöffnet. Bei Oma Babettes Beerdigung war sie noch nicht einundzwanzig gewesen, also noch nicht einmal großjährig, und hatte theoretisch das ganze Leben vor sich, das sie sich nicht schon bei der ersten Gelegenheit mit fester Beziehung, Kindern und Eigenheim hatte verbauen wollen.

»Es ist anders, als du denkst«, hatte sie Annamirl zwar hastig erwidert, sich in derselben Sekunde jedoch bereits bestens verstanden gefühlt. Annamirl hatte nicht nachgefragt. Bis heute. Stattdessen war ein Lächeln über ihr faltiges Gesicht gehuscht. Kommentarlos hatte sie ihr die blaue Zigarettenpackung hingeschoben und genickt, als Amrei sich, ohne mit der Wimper zu zucken, ebenfalls eine Gauloise herausgenommen und zwischen die Lippen gesteckt hatte. Wie durch ein Wunder war es ihr gelungen, die starke französische Zigarette ohne peinliche Hustenattacke zu rauchen. Dabei hatte sie bis dahin nie geraucht.

»Ist mir auch recht«, hatte Annamirl nur gesagt, bevor sie ihr einige Zigarettenzüge später mit einem schelmischen Lächeln versichert hatte: »Kannst bei mir wohnen.«

Genüsslich hatte sie dann den Rauch ausgestoßen und sich in eine weiße Wolke gehüllt, aus der heraus sie Amrei mit ihren wachen braunen Augen triumphierend angefunkelt und nachgesetzt hatte: »Vorerst.«

Später hatte die Großtante so überzeugend auf Amreis Eltern eingeredet, dass sie im folgenden Herbst tatsächlich nach München statt nach Regensburg zum Studieren hatte gehen dürfen. Die erste Station auf einem langen, wichtigen Weg. Hätte der Vater zu jenem Zeitpunkt schon geahnt, wie es vier Semester später mit ihr weiterging, wäre seine Entscheidung vermutlich anders ausgefallen. Ebenso hätte die Mutter es wohl niemals zugelassen, wäre ihr in dem Moment klar gewesen, dass München für Amrei nur den ersten Schritt darstellen und es sie kaum anderthalb Jahre später bereits nach Paris, London und Florenz verschlagen würde. Nur Annamirl hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie Amreis Weg von Anfang an befürwortete. Trotz allem, was danach geschehen war.

»Schick bist du geworden im Ausland«, stellte sie nun mit einem anerkennenden Schmunzeln fest. »Das Kleidchen steht dir. Bringt deine Figur und die langen Beine fein zur Geltung. Die Burschen werden sich die Hälse nach dir verrenken. Auch wenn mir von dem verwirrenden Muster und dem knalligen Orange ganz schwindelig wird im Hirn.«

Sobald der letzte Reiberdatschi verdrückt und die Schüssel mit dem Apfelmus blank ausgeputzt war, kam Leben in sie. Vergnügt zwinkerte sie Amrei zu.

»In dem Aufzug wirst du auch den Burschen bei euch daheim in Eggling den Kopf verdrehen. Der Alfons wartet doch gewiss noch auf dich.«

Sie schob den leeren Teller weg, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und holte die blaue Zigarettenpackung nebst einer zerfledderten Streichholzschachtel aus der Seitentasche ihrer Kittelschürze. Gemächlich steckte sie sich eine Gauloise zwischen die Lippen, zündete sie mit dem Streichholz an und wedelte die Flamme aus. Dabei ließ sie den Blick auf Amrei ruhen.

»Der hat doch schon lang eine andere!«, stellte Amrei amüsiert klar. »Und außerdem ist auch Eggling schon lange nicht mehr mein ›Daheim‹. Falls es das überhaupt je war.«

Auch sie stellte den Teller beiseite und angelte sich, ohne zu fragen, eine Zigarette aus der Packung, hielt geduldig ein Zündholz daran, blies es aus und rauchte einige Züge.

»Bis ich zu den Eltern fahre, wird’s noch eine Weile dauern. Vorerst steht anderes an. Das Semester hat erst begonnen und ich will schnell wieder reinkommen.«

»Und wegen deinem Hostessenjob bei den Olympischen Spielen kommst du auch nicht so einfach hier weg«, ergänzte Annamirl. »Wann geht’s eigentlich los damit? In der Zeitung hat’s geheißen, die Dirndl wären fertig und die Lehrgänge würden bald beginnen. Wissen müsst ihr schließlich, was ihr den Fremden über die Stadt erzählen sollt, wenn sie von Gott weiß woher nach München kommen. Ausgerechnet hierher, wo früher die braunen … Ach, die alten Geschichten lassen wir besser. Die sind vorbei. Zum Glück. Höchste Zeit war’s.«

Amrei beugte sich vor, drückte ihr beruhigend die Hand. Annamirl nickte dankbar.

Eine Weile rauchten sie schweigend.

»Ganz so schnell geht’s allerdings nicht mit den Dirndln und dem ganzen Zeug, das wir für den Hostessenjob noch lernen müssen.«

Versonnen sah Amrei den Rauchkringeln nach, die sich mit denen von Annamirl in der Luft verbanden. Auch eine Art olympischer Ringe. Verdammt! Jetzt sah sie schon in allem etwas, das mit den Spielen zusammenhing. So wie die ganze Stadt völlig von Olympia besessen schien. Selbst Annamirl. Auch wenn sie das stets bestritt und sämtliche Veränderungen, die die Spiele mit sich brachten, vehement ablehnte. Doch sie war nicht die Einzige, die sich derart schizophren verhielt.

Bei Amreis Weggang vor drei Jahren hatte das noch anders ausgesehen. Damals war ganz München eine einzige Zumutung gewesen. An jeder Ecke hatte eine metertiefe Baugrube geklafft, überall war es schlammig, staubig oder dreckig gewesen. Und voller Lärm obendrein. Fast jeder hatte nur noch von den explodierenden Kosten geredet und dem angeblich verloren gegangenen Charme des Millionendorfs hinterhergeweint. Auf eins der Plakate an den Bauzäunen, die stadtweit »München wird moderner« verheißen hatten, hatte jemand »In diesem Jahrhundert gewiss nimmer« geschrieben. Ebenso hatte man den Slogan von der »Weltstadt mit Herz« angesichts des allerorten herrschenden Durcheinanders gern in »Weltstadt mit Herzinfarkt« umgemünzt.

Inzwischen waren die meisten Münchner jedoch euphorisch gestimmt. Die versprochene Moderne war anscheinend tatsächlich angebrochen. Mit der U-Bahn sauste man unterirdisch problemlos durch die oberirdisch heillos mit Autos und Besuchern aus aller Herren Länder vollgestopften Stadt, in der brandneuen Fußgängerzone zwischen Marienplatz und Stachus flanierte man an den weltstädtisch aufpolierten Warenhäusern und Geschäften vorbei, graue Fassaden waren frisch gestrichen, marode Häuser schicken Neubauten gewichen und viele Altbauwohnungen durch praktische Badeinbauten aufgewertet worden. Selbst die ewig grantelnden Einheimischen gaben sich neuerdings Fremden gegenüber zuvorkommend, um die ganze Welt an der Isar willkommen zu heißen, wie Amrei mehr als einmal verwundert miterlebt hatte.

Auch die Olympiahostessen sollten schick, charmant, sympathisch und weltmännisch erscheinen. Amrei fand die türkisfarbenen Dirndl und was noch an farblich exakt darauf abgestimmten Accessoires dazugehörte zwar ein wenig übertrieben, aber Spaß haben würde sie bei den Spielen ganz gewiss. Und gut bezahlt werden obendrein. Zweitausend Mark erhielt sie für knapp zwei Monate. Viel Geld für eine Studentin, selbst wenn sie das Durcharbeiten der Unterlagen, die Wochenendkurse und die Schulungswoche kurz vor dem Start der Spiele Ende August als Arbeitsaufwand mit einrechnete.

Abwechslungsreich versprach die Tätigkeit ohnehin zu werden. Als Hostess erhielt sie zu sämtlichen Trainings-, Wohn- und Freizeitstätten der Teilnehmer freien Zugang, würde sich mit interessanten Gästen und den Athleten verschiedenster Nationen austauschen und ihre Sprachkenntnisse überall anwenden können. Überhaupt würde sie bei den als »heiter«, »jung« und »ungezwungen« geplanten Spielen eine Menge erleben, davon war sie überzeugt. Zweifellos hatte es sich gelohnt, nach München zurückzukehren. In Florenz hätte sie so schnell keinen auch nur annähernd vergleichbaren Job gefunden.

An der Uni hatte sie sich leichter wieder eingelebt als gedacht. Manche der früheren Freunde, allen voran Gaby, die Vertraute aus ihren ersten Monaten an der LMU – der Ludwig-Maximilians-Universität –, vermisste sie zwar. Inzwischen lebte Gaby in Hamburg, wo Amrei sie nach den Spielen besuchen wollte. Anderen Freunden aus ihrem früheren Studentenleben ging sie dagegen bewusst aus dem Weg, hoffte, das gelänge ihr noch eine geraume Weile. Und trotzdem fuhr sie jeden Tag gern in die Vorlesungen und Seminare und freute sich daran, endlich wieder etwas Sinnvolles für ihren Kopf zu tun.

»Wann kriegst du jetzt dein Hostessendirndl?«, fragte Annamirl mitten in ihre Gedanken hinein. »Gespannt bin ich, wie du ausschaust darin. Fesch hat’s gewirkt auf dem Foto in der Zeitung. Das Türkis müsste gut zu deinen braunen Augen passen. Auffallen wirst du damit, schon von Weitem. So groß, wie du bist, ragst du ja aus allen heraus.«

»Das in der Zeitung waren nur die ersten Muster. Drei Dirndl bekomme ich als Grundausstattung, dazu eine wetterfeste Jacke, mehrere Paar Kniestrümpfe und Blusen zum Wechseln. Über 240.000 Kleidungsstücke brauchen sie insgesamt für alle, die rund um die Spiele beschäftigt sind.«

»Der helle Wahnsinn.« Annamirl nahm einen langen Zug an ihrer filterlosen Zigarette, atmete aus und sah der Rauchwolke nach. »Und lernen musst du auch noch so viel, bis es Ende August losgeht. Abfragen werden sie euch, wie früher in der Schule.«

»So ähnlich.«

Amrei drückte den Zigarettenstummel in der angeschlagenen Untertasse aus, die die Großtante ihr hinschob. Die roten Rosen auf dem Ton waren nur mehr eine blasse Erinnerung, begraben unter einer dicken Schicht alter Kippen.

»Demnächst geht’s erst einmal mit Benimm- und Schminkunterricht los, die Prüfungen kommen später. Bis dahin muss ich mir merken, wie groß das Zeltdach im Olympiagelände ist und was man von der mittelalterlichen Befestigung in der Stadt noch sehen kann. Und natürlich, wie schnell man mit der neuen U-Bahn zum Marienplatz kommt. Zum Glück kenne ich mich noch einigermaßen aus, obwohl ich die letzten drei Jahre fort gewesen bin. Es hat sich so viel verändert.«

»Meinetwegen hättest du nicht fortgehen brauchen.«

Ohne sie anzusehen, drückte Annamirl ihre Zigarette ebenfalls aus und fegte mit einer schwungvollen Bewegung die letzten Ascheteilchen vom wächsernen Tischtuch.

»Ein Mann oder meinetwegen auch zwei Männer sind es nie wert, dass man sich abbringen lässt von dem, was man vorhat in seinem Leben. Du weißt doch: Das Einzige, was zählt, ist, dass man weiß, wovon man träumt …«

» … und was man bereit ist, dafür zu tun, damit es kein Traum bleibt«, ergänzte Amrei.

Darauf lachten sie beide. Das hatte die Großtante ihr früher schon mit auf den Weg gegeben.

Umständlich erhob Annamirl sich von ihrem Stuhl, verfluchte das Alter und die damit verbundene Unbeweglichkeit und begann, den Tisch abzuräumen. Amrei half ihr.

»Angerufen hat wer für dich. Kurz bevor du heimgekommen bist«, sagte Annamirl beiläufig.

Geräuschvoll stapelte sie das Geschirr im Spülstein. Die Gläser klirrten, die Teller schlugen gegeneinander. Achtlos ließ sie das Besteck darauf fallen, was abermals für reichlich Lärm sorgte. Amrei durchschaute die Taktik: So verhinderte die Großtante, weiterreden zu müssen. Und Amrei konnte ihr später nicht vorwerfen, den Anruf nicht erwähnt zu haben. Das ließ nur zwei Interpretationen zu: Entweder stammte der Anruf aus der WG in der Amalienstraße, also von Chris, Biggi oder David, oder Wastl hatte versucht, sie zu erreichen. Schon immer hatte sich Annamirl mit ihren Freunden schwergetan, wenn auch bei jedem der vier aus einem anderen Grund.

Gegen ihren Willen beschleunigte sich Amreis Herzschlag. Obwohl sie ahnte, wer angerufen hatte, weil sie in den letzten Jahren nur mit Chris und Biggi Kontakt gehalten und seit ihrer Rückkehr jede Gelegenheit, David und Wastl zu begegnen, gemieden hatte, konnte natürlich auch einer der beiden Freunde Wind von ihrer Rückkehr bekommen haben. Das aber wollte sie – noch – nicht.

»Wer war’s denn?«

Amrei zwang sich, ebenso beiläufig wie Annamirl zu klingen. Bedächtig stellte sie den Zwiebeltopf zurück in die Speisekammer, rückte die Konservendosen auf dem Regalbrett zurecht und füllte den Wasserkessel am Hahn, bevor sie ihn auf den Kohleherd stellte.

»Wie?«, brummte Annamirl.

Lautes Klingeln hielt sie erneut davon ab, zu antworten.

»Das werden sie sein«, murmelte sie.

Ehe Amrei nachhaken konnte, wen die Großtante mit »sie« meinte, schlurfte die in den Flur und wischte sich noch im Gehen die Finger an der Kittelschürze trocken, so eilig hatte sie es auf einmal.

Schon bevor die Freundinnen die Küche betraten, erkannte Amrei ihre Stimmen.

»Schämt euch! Ihr wolltet uns nicht beim Essen dabeihaben, damit ihr die Reiberdatschi für euch allein habt.« Wie ein Naturereignis rauschte Chris herein und sog den Geruch ein, der noch vom Ausbacken in der Küche hing.

»Da du immer Massen davon verschlingst, will dich keiner dazu einladen.« Biggi folgte ihr dicht hinterher.

»Sie schlägt allweil zu wie eine halbe Fußballmannschaft«, beschwerte sich Annamirl. »Eine alte Frau wie ich aber kann doch nimmer zentnerweise Kartoffeln reiben, um so viel Reiberdatschi zu backen.«

»Gib einfach Bescheid, dann stehen wir nächsten Freitag auf der Matte, um zu helfen«, versprach Biggi. »Für deine Reiberdatschi tue ich alles.«

»Wollt ihr jetzt etwa jeden Freitag kommen?« Annamirl tat übertrieben entsetzt, stürzte zum Tisch und brachte ihr Päckchen Gauloises in Sicherheit.

»Und ich dachte schon, ihr kommt, um mich zu sehen.« Amüsiert verfolgte Amrei das Geschehen.

»Da ist sie ja!« Mit einem schrillen Aufschrei stürzte sich Biggi auf sie und fiel ihr um den Hals.

»Jetzt tut doch nicht so, als hättet ihr euch Jahre nicht gesehen. Wenn ich euch erinnern darf, haben wir die verlorene Tochter an Silvester in Florenz besucht.« Chris blieb betont entspannt.

»Und Paris und London haben wir auch schon mit ihr unsicher gemacht.« Biggi lachte, obwohl sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen musste, nachdem sie Amrei wieder losgelassen hatte.

»So oft habt ihr euch in den letzten Monaten getroffen? Und mich hat kein Mensch nicht gefragt, ob ich mitkommen will, sie zu besuchen.« Unerwartet offen zeigte Annamirl Gefühl.

»Aber jetzt bin ich doch wieder bei dir.«

Behutsam nahm Amrei sie in den Arm. Obwohl sie wusste, wie beharrlich die Großtante Zärtlichkeiten aus dem Weg ging, erst recht vor Dritten, küsste sie sie auf ihre Altfrauenwange. Und registrierte erstaunt, wie ergriffen Annamirl sie dabei an sich drückte. Nur um sie ebenso jäh wieder von sich zu schieben.

»Höchste Zeit wird’s, dass ihr drei loszieht. Auch wenn München sich neuerdings Weltstadt schimpft, gibt’s allweil um eins in der Nacht noch die Sperrstunde für die meisten Lokale. Schaut, dass ihr bis dahin was erlebt!«

»Da, wo wir hinwollen, bleibt’s länger offen.« Chris triumphierte, und Biggi ergänzte: »Ist euch etwa nicht aufgefallen, dass wir uns zur Feier des Abends extra in Schale geschmissen haben?«

Mit erhobenen Armen drehte sie sich einmal um die eigene Achse. Ihre langen blonden Haare flogen durch die Luft, das zitronengelbe Minikleid wirbelte um ihre schlanken Oberschenkel. Außer Puste schmiegte sie sich schließlich an die gut einen Kopf kleinere Chris, die trotz ihrer kräftigen, kurzen Beine ebenfalls nie auf einen Mini verzichtete und die fehlende Körpergröße mit hohen Absätzen wettzumachen versuchte.

»Was habt ihr vor?«

Noch während Amrei fragte, überlegte sie bereits fieberhaft, was sie anziehen sollte, um mit den beiden mitzuhalten. Chris war wieder einmal perfekt geschminkt. Das schimmernde schwarze Haar, das sie in einem nackenkurzen, geschickt toupierten Bob trug, verlieh ihr zusammen mit ihrem dunklen Teint einen exotischen Touch. Schon oft war sie für eine Perserin oder Inderin gehalten worden, ein Trugschluss, den sie nur zu gern unterstützte.

»Lass dich überraschen, Schätzchen«, erwiderte Chris und hakte sie unter. »Wir richten dich noch ein bisschen her, und dann geht’s los.«

Dafür brauchten sie und Biggi nur wenige Minuten. Amreis blassem Teint verlieh Chris mit getönter Tagescreme dezent Farbe, widmete sich dann ihren Augen, um sie mit dickem schwarzem Lidstrich, verschwenderisch viel Mascara und goldglänzendem Lidschatten zu betonen. Die fein geschwungenen Lippen zog sie mit kirschrotem Lippenstift nach und bestäubte die hohen Wangenknochen mit reichlich Rouge, was ihre ovale Gesichtsform geschickt hervorhob. Unterdessen toupierte Biggi ihr den Bob am Hinterkopf auf und besprühte das Haar großzügig mit Taft, damit es hielt. Zuletzt zog sie eine lange Haarsträhne gekonnt zufällig schräg über die Stirn zum Ohr hinüber und klemmte sie fest.

Während die beiden Hand anlegten, fühlte Amrei sich in vergangene Zeiten zurückversetzt, als die einige Jahre älteren Freundinnen sie, das naive Landei aus der Oberpfalz, auch gern großstädtisch herausgeputzt hatten. Damals wie heute fürchtete sie sich allerdings davor, im falschen Moment in den Dialekt ihrer provinziellen Heimat zurückzufallen. Das, was sie bis zu ihrer Übersiedlung nach München vor viereinhalb Jahren für verständliches Sprechen gehalten hatte, hörte sich für die meisten Münchner wie unartikuliertes, dumpfes Bellen an, wie sie damals peinlich berührt festgestellt hatte.

»Du ahnst nicht, was sich hier in den letzten Jahren getan hat«, begann Chris, kaum dass sie sich am Goetheplatz zu dritt auf die Rückbank eines Taxis gequetscht hatten, um sich nach Schwabing chauffieren zu lassen. Ohne Punkt und Komma zählte sie auf, wer wann mit wem in letzter Zeit aufs Land gegangen, zu einem Selbstfindungstrip in die weite Welt aufgebrochen oder bei welcher Kommune oder WG in welchem Viertel eingezogen war.

»Und Jürgen wohnt auch nicht mehr bei uns«, beendete sie ihren Bericht.

»Dass sich in unserem Millionendorf einmal so viel tut, hättest du nie gedacht. Irre, oder?«, schob Biggi dazwischen.

Amrei holte tief Luft. Irre fand sie eher, dass sie ein sündhaft teures Taxi statt der U-Bahn genommen hatten.

»Ein paar unserer alten Kumpels sind aber natürlich immer noch da«, beruhigte Chris sie.

»Die Frage ist nur, ob das diejenigen sind, die Amrei wiedersehen will.«

Fürsorglich fasste Biggi sie an der Hand. Anscheinend wirkte sie desorientiert wie ein verlorenes Schaf.

»Heute Abend kann uns das wurscht sein. Erst einmal lassen wir es ordentlich krachen, weil Amrei wieder bei uns ist.«

Chris hakte sich auf ihrer anderen Seite ein.

Wie eine weibliche Version der drei Musketiere stolzierten sie ins Yellow Submarine. Amrei staunte. Auch das war irre. Der Club war zwar erst im vergangenen Jahr eröffnet worden, galt aber längst als eine der nobelsten Adressen der Stadt. Früher hätten Chris und Biggi freiwillig keinen Fuß in ein solches Etablissement gesetzt, doch während Amreis Abwesenheit schien sich tatsächlich einiges grundlegend verändert zu haben. Selbst Hippies und überzeugte Emanzen verschlug es neuerdings in die Schwabinger Schickimickitreffs. Generös bezahlte Chris für sie die sechs Mark Eintritt mit einem Zwanzigmarkschein und wies ebenso großzügig das Wechselgeld zurück.

Sie hatte auf die richtige Strategie gesetzt. Noch ehe sie die Wendeltreppe erreichten, die die drei Stockwerke zu einem neun Meter hohen, offenen Raum verband, erhielten sie die erste Einladung von einem der Kavaliere, die auf dem Weg zur Tanzfläche Spalier standen, um die neu eingetroffenen Frauen wie bei einer Fleischbeschau zu begutachten. Wahnsinn! Vor drei Jahren noch hätte Chris das als Verletzung der Menschenrechte angeprangert.

»Wie wär’s mit einer Runde Schampus für uns alle?«, flötete der etwa Dreißigjährige in weißem Seidenanzug mit obligatorisch bis zum Bauchnabel aufgeknöpftem lila Hemd. »Ich bin übrigens der Tscharlie.«

»Wer sonst?«, gab Chris zurück.

Biggi kicherte. Ob über Chris’ Anspielung, weil sich aktuell geschätzt jeder zweite Mann in München unterhalb des Rentenalters Tscharlie nannte, oder in Vorfreude auf den Champagner, den er mit dem lässigen Wedeln eines Fünfzigmarkscheins Richtung Bar orderte, blieb Amrei verborgen. Der Barkeeper verdrehte nur die Augen.

»Wollen wir tanzen?«, wandte sich Tscharlie an Amrei.

»Erst gehe ich die Haifische zählen. Ich muss wissen, ob da wirklich sechsunddreißig im Becken schwimmen, wie behauptet wird«, erwiderte sie und nutzte den Moment, in dem er sie verblüfft anstarrte, um über die Treppe nach unten zu fliehen. Die Bullaugen, die entlang der runden Wände Einblicke in das überdimensionale Aquarium mit den Raubfischen und Riesenschildkröten gewährten, beachtete sie dabei jedoch mit keinem Blick.

Biggi folgte ihr und lästerte: »Chris spielt mal wieder die Mutter der Nation und erbarmt sich der Armen und Verlassenen.«

»Arm kam mir Tscharlie nicht vor. Also sorgt Chris eher dafür, dass wir gleich noch mehr als einen Drink spendiert bekommen.«

»Ob Tscharlie uns auch auf eine Haifischflossensuppe oder gegrillten Hai einlädt? Probieren würde ich das zu gern einmal.« Biggi lächelte.

»Wenn du ihm zwei-, dreimal über die Wange streichelst und ihm fünf Minuten lang ins Ohr säuselst, wie toll du ihn findest, macht er das bestimmt.« Von der letzten Treppenstufe steuerte Amrei die erstbeste Lücke auf der Tanzfläche an.

Die Anfangstakte von »Aquarius« erklangen. Genau das, was sie jetzt brauchte. Mit geschlossenen Augen fand sie rasch ihren Rhythmus, spürte der Melodie nach und explodierte zum Refrain lauthals singend mit den anderen Tanzenden.

Ihre Begeisterung hielt auch bei den nächsten Titeln an. Wie alle jubelte sie, als schließlich die ersten Töne von »Rocket Man« zu hören waren.

»Auch ein großer Fan von Elton John?« Plötzlich tauchte Tscharlie neben ihr auf. Am liebsten hätte sie sich fortgedreht, doch er versperrte ihr den Weg.

Sein Aftershave roch aufdringlich männlich, sein spärliches Brusthaar kräuselte sich verschwitzt auf der nackten Brust, die dank des weit aufgeknöpften Hemds ausgiebig zu bewundern war. Provokant tanzte er sie an und legte ihr besitzergreifend einen Arm um die Hüfte.

»Deine Freundinnen sind auf meinem Stammplatz im blauen Gewölbe bestens versorgt. Es bleibt uns beiden Hübschen also ausreichend Zeit, um uns allein zu vergnügen.«

»Ich liebe das blaue Gewölbe!«, log Amrei. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was das sein sollte. In jedem Fall aber war es die beste Chance, gleich der drohenden Zweisamkeit mit Tscharlie zu entrinnen.

»Seit vorhin vermisse ich einen Hai. Lass uns schauen, ob der Bursche im blauen Gewölbe steckt, sonst geht heute gar nichts mehr bei mir.« Sie überwand sich und fasste Tscharlie an der Hand, damit er sie zu den anderen brachte.

Widerstrebend führte er sie durch das Gedränge bis in eine schummrige Ecke auf der oberen Etage. Tatsächlich hatten es sich Chris und Biggi dort in Gesellschaft weiterer Schickimickihengste gemütlich gemacht. Sie fläzten in Ledersesseln, die um einen runden Tisch ausgerichtet waren, flankiert von den Gastgebern, als wollten die um jeden Preis verhindern, dass Chris und Biggi ihnen zu rasch entwichen. Dafür waren die Verzehrpreise im Submarine zu hoch und ihre Spendierfreudigkeit eindeutig an die Erfüllung gewisser Erwartungen geknüpft.

Wie erhofft war Biggi an die Haifischflossensuppe gelangt und lavierte angestrengt, aber sichtlich vergnügt auf dem niedrigen Sitz vor dem Teller, um ihn auszulöffeln, und Chris fütterte kichernd einen der Seidenanzugträger mit einem Bissen Haifischsteak. Ausgerechnet sie, die früher nächtelang aus dem Stegreif über die verkorksten patriarchalen Strukturen der Gesellschaft hatte referieren können.

»Durst?« Tscharlie schnappte sich die Schampusflasche aus dem Eiskübel, goss die feinperlige Flüssigkeit schwungvoll in eine Kristallschale und reichte Amrei das Glas.

»Ich glaube, ich sehe nicht recht! Abtanzen bei Champagner und sündhaft teuren Häppchen im edelsten Schuppen der Stadt – und das auf Einladung eines der geldigsten Junggesellen weit und breit. Das nenne ich mal eine Karriere für ein Mädchen vom Dorf.«

Die Stimme kannte sie. Sollte sie sich jetzt freuen, obwohl sie ahnte, damit in der nächsten Bredouille zu landen? Langsam drehte sie sich um. Und sah wie vermutet in das grinsende Gesicht von Jürgen Baumann, dem einstigen WG-Mitbewohner von Chris, Biggi und David.

»Du bist also wieder da.« Ohne Rücksicht auf seine Brille umarmte Jürgen sie stürmisch. Zu stürmisch, wie sich zeigte. Schon verzog Tscharlie das Gesicht, weil Amrei sich nicht dagegen wehrte. Trotzig hielt sie Jürgen einen Moment länger als nötig fest. Was er sofort zu seinen Gunsten interpretierte.

»Eigentlich sollte ich beleidigt sein, weil Chris und Biggi mir verschwiegen haben, dass du aus der großen weiten Welt zurück bist.«

Er schob die Brille auf der Nase nach oben.

»Aber natürlich wollten die zwei dich erst einmal für sich allein haben. Egoistisch waren sie ja schon immer.«

In seiner selbstgefälligen Art störte er sich nicht im Geringsten an Tscharlies deutlich anschwellendem Ärger. Typisch! Zum ersten Mal war Jürgen Amrei sympathisch. Vor Kurzem noch hatte sie über ihn gelästert. Chris hatte erzählt, dass er sein erstes juristisches Staatsexamen bestanden und als Rechtsreferendar im Justizministerium angefangen hatte. Ein Wunder, angesichts seines politischen Engagements während der Studentenunruhen vor fast vier Jahren. Wahrscheinlich hatte sein Vater bei den Parteifreunden in der Regierung ein mehr als gutes Wort für ihn eingelegt, damit er nicht noch weiter vom rechten Weg abkäme und seine Zukunft als Jurist riskierte.

»Nichts für ungut, aber du störst.« Unmissverständlich schob Tscharlie Jürgen ein Stück beiseite. »Die Damen sind heute Abend meine Gäste. Ganz unter uns wollen wir ein paar schöne Stunden miteinander verbringen. Männer sind wir bereits mehr als genug, wie du siehst.«

Breitbeinig stellte er sich vor Jürgen auf, verschränkte die Arme vor der behaarten Brust und setzte eine bedrohliche Miene auf.

Amrei schmunzelte. Wenn die zwei dicht voreinander standen, wirkten sie in ihren hellen Anzügen mit der inzwischen bei jedem Bankangestellten beliebten Beatnikfrisur und dem leicht arroganten Auftreten wie Brüder. Wahrscheinlich war Tscharlie ebenfalls Jurist.

»Jürgen, das musst du probieren! Das ist sensationell.« Chris’ spitzer Schrei aus den Untiefen der verknautschten Ledergarnitur schreckte sie auf.

Jürgen fuhr herum, ebenso Tscharlie. Mit dem ausgestreckten Arm hielt Chris Jürgen die Gabel mit einem aufgespießten Stück Haifischfleisch hin. Auf ihrem runden Gesicht breitete sich ein dämlich anmutendes Lächeln aus.

»Auch die Suppe ist köstlich. Kann ich nur empfehlen.« Mit dem gefüllten Löffel in der Hand sprang Biggi hoch, rempelte den Vollbärtigen neben sich an und kleckste ihm von der fettigen Brühe aufs sündhaft teure Designerhemd.

»Trampel!«, fluchte der. Hektisch begann er, an dem Stoff zu reiben. Was das Malheur nur verschlimmerte. Und ihn noch mehr verärgerte.

»Achtung, die Stimmung kippt.« Amrei hakte sich bei Jürgen unter und winkte den Freundinnen mitzukommen.

»Wird eh Zeit, das Lokal zu wechseln«, stellte sie auf der Wendeltreppe nach unten fest. »Ich sehne mich sowieso nach den alten Zeiten im PN und der schrägen Musik von Amon Düül.«

»Bist du sicher?«

Draußen auf der Leopoldstraße stellte Chris sich ihr in den Weg. Amrei ahnte, worauf sie hinauswollte: Im PN bestand die Gefahr, David in die Arme zu laufen. Wenn er ausging, dann am liebsten dorthin. Daran hatte sich also nichts geändert.

Eine Sekunde zögerte sie. Dann holte sie tief Luft und erklärte: »Früher oder später muss es sowieso sein.«

1967

München, Ende November

Als Amrei sah, wie es vor dem Eingang der Großen Aula zuging, wurde ihr mulmig. Ausschließlich teuer gekleidete, würdig wirkende ältere Herrschaften warteten dort auf Einlass. War sie hier richtig? Mit einem scheuen Blick auf die Einladung, Büttenpapier mit Goldprägung, vergewisserte sie sich, ob sie nicht doch am falschen Ort gelandet war.

Eingeschüchtert reihte sie sich in die Schlange ein und hoffte, von niemandem angesprochen zu werden. Bereits ihre unverkennbar provinzielle Kleidung entlarvte sie, von ihrem schlecht zu kaschierenden Dialekt ganz zu schweigen.

Noch immer konnte Amrei es nicht fassen, als frisch in die Stadt gekommene Hinterwäldlerin zur »festlichen Rektoratsübergabe« an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität eingeladen zu sein. Fast hätte sie vor dem streng blickenden Türsteher wie ein artiges kleines Mädchen einen Knicks gemacht, dabei überragte sie ihn fast um einen Kopf.

Dazu kam sie jedoch gar nicht. Ohne auf ihre Karte zu blicken, verweigerte er ihr den Zutritt.

»Sie können hier nicht rein.«

»Aber ich bin eingeladen.« Jetzt war es passiert! Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Nicht nur ihre Art zu reden war peinlich. Ihre Stimme piepste obendrein. In einem mutigen Anflug von Trotz warf sie die offenen schulterlangen Haare in den Nacken und schob nach: »Genau wie die anderen.«

Hinter ihr in der Schlange wurde es unruhig. Sie hielt die geladenen Gäste auf. In deren Augen absolut unnötigerweise.

»Studenten nur dahinten«, knurrte der Ordner und fegte sie mit dem Arm beiseite, um dem nächsten, sichtlich erwünschteren Gast – wie seine ehrfürchtige Verbeugung verriet – Einlass zu gewähren.

Nachzufragen, wo sich das »Nur dahinten« für Studenten befand, traute Amrei sich nicht mehr.

»Kommen Sie mit«, hörte sie eine raue Frauenstimme. Sie wurde am Handgelenk gepackt und durch das Gedränge zu einer schmalen Tür geschleift. Auch dort wachte ein Ordner, allerdings weitaus ungezwungener, fast schon fröhlich. Vermutlich, weil hier nur Studenten anstanden, wie an den jungen Gesichtern und der Kleidung der Wartenden zu erkennen war.

»Erstsemester, was?«, erkundigte sich die Frauenstimme, die zu einer stämmigen dunkelhaarigen Person mit südländischem Teint gehörte. Gemeinsam postierten sie sich am Ende der Reihe.

Amrei nickte.

»Neu in München?«

Amrei nickte abermals.

»Vom Land?«

Ertappt! Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, um neben der anderen nicht unnötig weit aufzuragen, wenn man ihr die Provinz offensichtlich schon ansah, ehe sie den Mund aufmachte. Wundern brauchte es sie nicht. Allein ihr Äußeres stach auch in dieser Schlange heraus. Niemand sonst trug einen einfallslosen grauen Tweedrock, eine noch einfallslosere weiße Bluse und zur Krönung lächerlich flache schwarze Spangenschuhe. Wie ein Erstkommunionkind sah sie aus! Zwar war sie wenigstens geschminkt, allerdings viel zu zurückhaltend, um als einigermaßen erwachsen durchzugehen, wie sie mit Blick auf die anderen feststellte. Ebenso schien ihr langes Haar, das sie mit Seitenscheitel trug, einigermaßen akzeptabel. Das war aber auch schon alles. Neidisch schielte sie zu ihrer neuen Bekannten, die ihre kräftigen Oberschenkel unter einem atemberaubend kurzen, schlicht geschnittenen, dafür umso auffälliger gemusterten Kleid souverän zur Schau stellte. Dazu trug sie schwarze Stiefel mit goldenen Schnallen, deren Schaft bis zu den Knien reichte. Die Augen hatte sie dick dunkel umrandet, die Lippen knallrot nachgezogen. Goldene Kreolen klirrten an ihren Ohrläppchen, hinter die sie das nackenkurze, schwungvoll auftoupierte schwarze Haar gestrichen hatte.

»Ich bin Chris.« Sie hielt Amrei die Hand hin. »Eigentlich Christine. Außer meinen Eltern nennt mich allerdings kein Mensch so. Ich studiere im siebten Semester Soziologie, Politik und Philosophie.«

»Ich bin Amrei. Gerade habe ich mit Deutsch und Französisch auf Lehramt …« Weiter kam sie nicht. Chris hatte jemanden entdeckt, den sie kannte, und ließ sie mit einem »Bin gleich zurück« stehen.

Enttäuscht sah Amrei ihr nach. Und beobachtete, wie Chris zwei gut aussehenden Typen um den Hals fiel. Der eine mit aschblonder Pilzkopffrisur, schwarz umrandeter Brille und beigem Cordanzug, der andere mit dunklem Lockenkopf, schlichtem weißem Hemd und dunkler Hose mit weitem Schlag. Beide ohne Krawatte, was sie von den anderen Studenten unterschied.

Während Amrei die drei beobachtete, fühlte sie sich noch einsamer als zuvor. Alle schienen einander zu kennen. Die Luft schwirrte vor fröhlichem Lachen. Sie war die Einzige, die sich allein herumdrückte. Was bei ihr besonders auffallen musste, weil sie wie ein Leuchtturm aus der Menge herausstach. Mit vor Scham rot glühendem Kopf. Verlegen zog sie erneut die Schultern hoch.

Nach einer halben Ewigkeit erreichte sie die Tür, zeigte noch einmal ihre Einladung und durfte dieses Mal tatsächlich eintreten. Über eine schmale Treppe stieg sie erleichtert und nervös zugleich zur Galerie hinauf.

Die Pracht der Großen Aula überwältigte sie. An der Stirnseite funkelte ein gold-blau-weißes Mosaik, auf der Bühne darunter saßen schwarz befrackte Orchestermusiker, in den Parkettreihen tummelten sich die festlich-eleganten Herrschaften, denen sie am Haupteingang im Weg gewesen war.

»Amrei, hier!«

Chris’ Stimme übertönte das Stimmengewirr. Amrei erspähte sie vorn an der Brüstung. Sie zwängte sich durch die vollbesetzten Reihen zu ihr. Den zweien neben ihr, die sie unten bereits getroffen hatte, stellte Chris sie als »Amrei, unschuldiges Erstsemester vom Land« vor und bat: »Seid nett zu ihr. Es ist ihr erstes Mal.«

Zunächst ärgerte sich Amrei, so gewissermaßen als »dämlich« abgestempelt zu werden. Sobald sie ins Gesicht des Lockenkopfs sah, schluckte sie ihren Ärger jedoch hinunter. Aus der Nähe sah er noch besser aus. Verlegen senkte sie den Blick.

»Woher?«, wollte der junge Mann im beigen Cordanzug im selben Moment wissen und schob seine Brille auf der Nase nach oben, um sie gründlich zu mustern.

»Eggling.« Sie war stolz, das einigermaßen akzentfrei auszusprechen.

»Egg – was?«

»Eggling. In der Oberpfalz. Bei Cham«, wiederholte sie nun fast ein wenig widerborstig. Der Cordanzugträger schien nur darauf zu warten, sie bloßzustellen.

»Und ich dachte schon, im Riesengebirge. Bei Ihrer Größe.«

Über den Rand seiner Brille schenkte er ihr einen spöttischen Blick.

»Blöde Bemerkung. Am besten gar nicht erst beachten! Jurastudenten wie er müssen dumme Witze reißen. Mehr haben sie selten drauf«, schaltete sich sein Freund im weißen Hemd ein. »Ich bin David.«

Amrei bemerkte den angenehmen Klang seiner Stimme. Und sein charmantes Lächeln. An Chris vorbei hielt er ihr die Hand hin. Spuren bunter Farben zierten die Fingerspitzen. Erfreut ergriff sie seine Hand und spürte gleich darauf seine raue Haut an der ihren.

»Ich studiere Malerei an der Akademie«, erklärte er und blickte auf die Farbspritzer.

Amrei starrte ihn an und spürte, wie sie von Neuem errötete. Verflucht!

Davids Lächeln wurde noch breiter. Ihr zitterten die Knie.

Für einen Atemzug trafen sich ihre Blicke, verhakten sich ineinander. Verstanden sich.

Sie genoss es. Er offenbar auch.

»An der Akademie sind wir längst alle per Du.« Er bemühte sich um einen lockeren Ton, doch Amrei entging sein nervöses Räuspern nicht.

Was sollte sie ihm erwidern? Das war wohl ein klares Angebot.

»Auf dem Dorf duzen sich vermutlich auch alle, was?«

Der angehende Jurist feixte.

»Benimm dich!«, wies Chris ihn zurecht, bevor sie sich an Amrei wandte: »Von mir aus können wir gerne Du sagen. Siezen ist völlig von gestern und sollte abgeschafft werden.«

»Von mir aus auch. Danke.« Amrei freute sich. Sehr sympathisch. An der Uni duzte sie sich bislang noch mit keinem der Kommilitonen. Das war tatsächlich anders als daheim in Eggling. Dort kam kaum einer auf die Idee, sie zu siezen, erst recht kein Gleichaltriger.

»Gleich geht’s los.« Mit dem Kopf wies David zur Bühne. »Ganz besonders festlich soll’s heute werden.«

»Was sagst du zu der Aula? Macht was her, oder?« Chris zeigte zu dem aufwendigen Mosaik über der Bühne. Obwohl Amrei sich eben noch gefreut hatte, von ihr beachtet zu werden, wünschte sie sich jetzt, sie ließe sie in Ruhe, damit sie sich mit David unterhalten konnte. Allein.

»Weißt du überhaupt, was das darstellen soll?« Der Beatnik im hellen Cordanzug duzte sie auf einmal ebenfalls ganz selbstverständlich, ohne zu fragen, ob sie einverstanden war, und wies sie ebenfalls auf die Wandgestaltung hin.

»Apollo mit seinem Sonnenwagen«, erwiderte sie knapp.

Die prompte Antwort überrumpelte ihn. Um den unerwarteten Erfolg auszukosten, beeilte sie sich, ihm weiter zu erklären: »Daneben siehst du Hera, Athene, Hermes und Aphrodite. Soll ich dir auch kurz verraten, warum?«

»Das nenne ich humanistische Bildung.« Mit erhobenem Daumen signalisierte David ihr, wie sehr ihm ihre Antwort imponierte.

»Wahrscheinlich hast du das große Latinum und kannst die römischen Kaiser alle im Schlaf herunterbeten.« Auch Chris war anzumerken, dass sie sie beeindruckt hatte.

»Ihr nicht?« Das hörte sich forscher an, als Amrei es gemeint hatte. Doch es erreichte die gewünschte Wirkung, wie sie mit Genugtuung bemerkte.

»Eins zu null für dich.« David applaudierte. »Was sagst du dazu, Jürgen?«

Neckisch tätschelte er dem Jurastudenten die Schulter.

»Um mitzuhalten, wirst du dich anstrengen müssen, mein Lieber.« Genüsslich spitzte Chris den Mund. »Mir ist Amrei gleich aufgefallen. Sie gehört zu den handverlesenen Erstsemestern, die für die Feier eine Einladung bekommen haben.«

»Reiner Proporz, um der Landbevölkerung an der Uni ausreichend Beachtung …«, setzte Jürgen an, um sofort von David unterbrochen zu werden: »Oder schlichtweg die Anerkennung besonderer Leistungen.«

Dankbar lächelte Amrei ihm zu. Wieder lächelte er zurück. Das Glühen auf ihren Wangen intensivierte sich. Er behielt sie im Blick.

»Amrei hat wohl euer Mitleid geweckt«, spottete Jürgen, nahm die Brille ab und putzte sie ausgiebig mit einem gebügelten weißen Taschentuch, das er aus seiner Jackentasche fischte.

»Der Ordner am Haupteingang war furchtbar unfreundlich«, sagte Chris.

»Man fasst es einfach nicht!« Empört schnaubte David. »Uns Studenten verbannen sie auf die billigen oberen Plätze, während unten im Parkett die angeblich Wichtigen sitzen. Präsidenten, Prodekane, Professoren, Politiker …«

»Pfarrer und Prostituierte«, ergänzte Jürgen und grinste süffisant. »Übrigens nur Leute mit P.«

»Einen Blick auf die Prominenz solltest du dir gönnen. Es lohnt sich.« Chris stupste Amrei an und zeigte hinunter in den Saal. »So schnell wirst du nicht wieder so viele einflussreiche Menschen auf einen Schlag von oben herab begaffen können.«

»Im Gegensatz zu dir kann die baumlange Amrei aus der Oberpfalz das jederzeit tun.« Jürgens Grinsen wurde noch süffisanter, nachdem er die Brille wieder aufgesetzt und das Taschentuch ordentlich zusammengefaltet in der Außentasche seines Jacketts verstaut hatte.

»Neidisch?«, spottete David, dann schlug er salomonisch vor: »Lasst uns eine Runde Leute anglotzen.«

Sie lehnten sich über die Brüstung und starrten geradezu angestrengt hinunter. Neugierig ließ Amrei sich erklären, wer die Herren mit den Amtsketten, die mit den besonders wichtigen Gesichtern und die wenigen in Begleitung eleganter Damen waren. Einige der Gesichter kannte sie tatsächlich aus der Zeitung, ansonsten rauschten die Namen und Titel, ohne weiteren Eindruck zu hinterlassen, an ihr vorbei.

Plötzlich setzten sich alle wie auf ein geheimes Zeichen hin, ebenso brachen die Gespräche ab. Alle Blicke richteten sich zur Bühne. Auch Amrei, Chris, David und Jürgen schauten dorthin.

Der Dirigent erklomm das Podest und hob den Taktstock. Ein Marsch setzte ein. Von Mozart, wie der Text auf Amreis Einladungskarte verhieß.

Verspielt anmutende, eher beschwingte denn militärisch straffe Klänge schwebten durch den Saal. Das Publikum lauschte andächtig. Unten wie oben. Bis sich unter der Hauptempore die Flügeltüren öffneten und sich sämtliche Köpfe nach hinten umdrehten.

In wadenlange schwarze Talare gehüllte Männer mit ausladenden weißen Kragen marschierten herein: die Prozession des scheidenden und des neu gewählten Rektors, der Dekane und Professoren – die »Magnifizenzen, Spectabiles und Ordinarien«, wie auf der Einladungskarte in schönstem Latein angekündigt wurde.

Amrei spürte die wachsende Nervosität. Sie sah zu Chris, David und Jürgen, die stur ins Parkett starrten.

Plötzlich sprang auf dem gegenüberliegenden Balkon jemand auf und rief: »Wir begrüßen den närrischen Elferrat!«

Sein Sitznachbar schoss ebenfalls in die Höhe und blies in eine Plastiktrompete. Ein Dritter steckte die Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus.

Ein Tumult brach los. Nicht nur auf der schmalen Galerie gegenüber, auch auf Amreis Seite und auf der Haupttribüne am Saalende sprangen die Studenten von ihren Plätzen, stimmten Sprechchöre mit »Närrischer Elferrat! Närrischer Elferrat!« an, ließen Konfetti auf die Festgäste im Parkett niederregnen, Luftballons zur Decke aufsteigen oder zarte Seifenblasen durch die Luft schweben. Manche schwangen bunte Fähnchen, andere blecherne Rasseln und wieder andere klatschten im Rhythmus der Rufe kräftig in die Hände. David, Jürgen und Chris klapperten mit Holzkastagnetten, die sie offenbar in den Taschen gehabt hatten, tanzten dazu auf der Stelle und kreischten und johlten laut.

Die Studenten entfachten einen ohrenbetäubenden Lärm, der die zahlen- wie statusmäßig überlegenen Honoratioren im Parkett völlig aus dem Takt brachte. Und das Orchester auf der Bühne sowieso. Der Dirigent setzte alles daran, Mozarts Marsch dennoch zu Ende zu bringen.

Am akademischen Festzug prallten die Störmanöver vermeintlich spurlos ab. Mit versteinerten Mienen schritten die Würdenträger gemächlich weiter, ignorierten das Konfetti auf ihren Baretten, die Luftschlangen zu ihren Füßen und die vor ihren Nasen zerplatzenden Seifenblasen. Die Augen strikt nach vorn gerichtet, steuerten sie stur ihre reservierten Plätze in den ersten Reihen an.

Schlagartig war der Spuk vorbei. Die Studenten setzten sich wieder und steckten die Hölleninstrumente ein. David nutzte den Moment, flink mit Chris den Platz zu tauschen. Sobald er neben Amrei saß, zwinkerte er ihr zu, legte mahnend den Finger auf die Lippen und sah nach unten. Amrei tat es ihm nach.

Inzwischen stand der scheidende Rektor am Rednerpult. Verwundert verfolgte Amrei, wie routiniert er mit der Begrüßung der Gäste begann, minutenlang die Wichtigsten der Wichtigen aufzählte, angefangen beim Ministerpräsidenten über den Landtagsvize- und den Senatspräsidenten bis zum Staatsminister, den beiden Oberbürgermeistern, anderen hochrangigen Beamten, Politikern und Kirchenvertretern, um zuletzt unterwürfig »Seine Königliche Hoheit Prinz Franz«, den Repräsentanten des Hauses Wittelsbach, direkt anzusprechen.

Auf der Galerie erhob sich lautes Lachen. Unbeirrt arbeitete der Rektor den Rest seiner Liste ab. In dem von Neuem anschwellenden Lärm hörte Amrei aus seinem Mund nur noch ehrfurchtgebietende Titel wie »Ehrensenator«, »Prorektor«, »Magnifizenz« sowie natürlich immer wieder »Professor« und »Doktor«. Namen nahm sie kaum mehr wahr.

Erst zum Totengedenken wurde es wieder ruhiger. Die Anwesenden erhoben sich. Ebenso die Studenten auf der Empore. Selbst David setzte ein ernstes Gesicht auf.

Bald rasselte der Rektor von Neuem eine schier endlose Reihe Namen hoher Funktionsträger mitsamt ihren respekteinflößenden Titeln herunter. Eine Hierarchieebene nach der anderen ging er durch. Verstorbene Studenten waren nicht darunter. Das wurde Amrei erst bewusst, als auf der Galerie abermals Sprechchöre einsetzten, die »Ohnesorg! Ohnesorg!« skandierten, den Namen des im vergangenen Sommer in Berlin getöteten Benno Ohnesorg. Ein Polizist hatte ihn bei einer Demonstration gegen den persischen Schah erschossen. Amrei erinnerte sich, dass danach in Eggling ausschließlich über die »gschlamperten Studenten« und ihren fehlenden Respekt vor hochrangigen Persönlichkeiten geschimpft worden war. Die ungeheuerliche Tat des Polizisten war dagegen für niemanden ein Thema, der unschuldig Getötete für keinen der Rede wert gewesen. Trotzdem horchte sie jetzt auf.

»Was hat Ohnesorg mit den Toten in München zu tun?«

»Mehr, als du denkst«, erwiderte David. »Und mehr, als unserem verehrten Rektor lieb ist.« Auf einmal zeigte sein Gesicht eine verbissene Entschlossenheit.