Der Sprengmeister - Henning Mankell - E-Book
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Der Sprengmeister E-Book

Henning Mankell

4,5

Beschreibung

Als junger Mann wird der Sprengmeister Oskar Johansson bei einer fehlgeleiteten Zündung schwer verletzt. Seine Freundin bricht ihm die Treue, und er heiratet ihre Schwester Elvira. Die beiden führen ein bescheidenes, entbehrungsreiches Leben, damit der knappe Lohn auch für drei Kinder reicht. Trotz seiner Verwundungen kehrt Oskar zurück in seinen Beruf. Er wird politisch aktiv und glaubt an eine Revolution, die nie kommt. Als sein Wohnblock abgerissen wird, kauft er auf einer Schäre ein Saunahäuschen, wo er im Sommer leben kann. Henning Mankells erster Roman erzählt ein Arbeiterleben in der aufblühenden Industrie in Schweden und gibt den Benachteiligten eine unverwechselbare, eindrucksvolle Stimme.

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»Oskar. Ein lustiger Alter, der in einer alten Militärsauna wohnt. Er winkt immer, wenn man vorbeifährt. Er hat nur eine Hand und ein Auge.« Als junger Mann wird der Sprengmeister Oskar Johansson bei einer Fehlzündung schwer verletzt. Seine Freundin Elly bricht ihm die Treue, und er heiratet ihre Schwester Elvira, die bis zu ihrem frühen Tod bei ihm bleibt. Trotz seiner Verwundungen kehrt Oskar zurück in seinen Beruf als Sprengmeister. Die beiden führen ein bescheidenes, entbehrungsreiches Leben, damit der knappe Lohn auch für drei Kinder reicht. Oskar wird politisch aktiv und glaubt an eine Revolution, die aber nie kommt. Als sein Wohnblock abgerissen und er zwangsumgesiedelt wird, kauft er auf einer Schäre ein Saunahäuschen, wo er im Sommer leben kann. Schon in seinem ersten Buch gab Henning Mankell den Benachteiligten eine unverwechselbare, eindrucksvolle Stimme.

»Manche Bücher machen glücklich. Nicht, weil sie besonders lustig sind, sondern weil sie im Gegenteil so ernst sind. Henning Mankells Sprengmeister ist so ein Buch. Man fühlt sich auf gewisse Weise innerlich erleuchtet von dieser wahrhaftigen Menschlichkeit, die die Hauptperson, der Sprengmeister Oskar Johansson, ausstrahlt.« Aftonbladet

Zsolnay E-Book

Henning Mankell

Der Sprengmeister

Roman

Aus dem Schwedischen von Verena Reichel und Annika Ernst

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

Die Meldung

1962

1911

Die Insel

Die Schwestern

Der Ruderschlag

Oskar Johansson

Der Unfall

Schlüsselsätze

Elly

Oskar Johannes Johansson

Magnus Nilsson

Elvira, Ellys Schwester

Das Parteimitglied

Der Eisberg

Der Pensionär

Oskar Johansson, 44 Jahre

Das Plakat

Wie man Fotografien entwickelt

Bei einer einzigen Sprengung. Und Grüße von mir

Der Sommer 1968

Die Erinnerungen

Der Sommerstock

Oskar Johansson 1888–1969

Danach

Nachwort aus dem Jahr 1997

Die Meldung

»Warum zum Teufel knallt es nicht?«

Norström stampfte wütend mit dem linken Fuß auf. Er hatte sich in dem Stahldrahtknäuel verheddert, das unbedacht zwischen die Sprengsteine geworfen worden war. Er stampfte mit dem linken Fuß auf, und der Stahldraht schnürte den groben Stiefel bis zum Bein ein. Leicht hätte er sich bücken und mit einem einzigen Ruck das Drahtknäuel vom Fuß reißen können. Doch Norström bückte sich nicht. Stattdessen fuhr er wütend fort, mit dem Fuß aufzustampfen. Er schwitzte. Das graue Flanellhemd, das bis zu seinem fetten Bauch aufgeknöpft war, saugte den Schweiß auf, der ätzend und nach schmutziger Haut roch.

Norström war der Chef der Sprengmeistertruppe. An diesem Samstagnachmittag Mitte Juni flirrte die Hitze, und die Sonne brannte auf den ungeschützten Arbeitsplatz. Unter Norströms Kommando sollten drei Tunnel für die Eisenbahn gesprengt werden, damit sie zweispurig verkehren konnte. Jetzt war man mit dem mittleren beschäftigt, der auch der längste und schwierigste war. Gerade hatten sie mit der Öffnung in der Felswand begonnen. Die scharfkantige Oberfläche des grauen Granits war bereits von der dünnen Erdschicht befreit und reflektierte das Sonnenlicht. Der Felsen ragte ungefähr dreißig Meter fast senkrecht in die Höhe. Dabei war es nur ein kleiner Felsen mit lediglich ein paar Hundert Metern Durchmesser, und direkt durch ihn hindurch sollten der Tunnel und die Eisenbahngleise führen.

Norström mochte Tunnelsprengungen nicht. »Entweder man sprengt den ganzen Felsen, oder man lässt es bleiben. Ein Loch mitten hindurch zu bohren ist Drecksarbeit. Früher oder später stürzt alles ein.« Das war seine Meinung. Bisher war es ihm in den knapp vierzig Jahren seines Berufslebens erspart geblieben, häufiger als etwa alle fünf Jahre einen Tunnel zu sprengen, aber nun waren es drei Stück auf einmal.

»Kann mich vielleicht mal einer von diesem Teufelszeug befreien?«

Wütend starrte Norström seine Arbeiter an, die sich auf ihre Brechstangen gestützt hatten, froh über die unerwartete Pause. Der Sprengsatz war nicht explodiert, und Norström hatte sich mit dem Fuß im Stahldraht verheddert. Sie lehnten an ihren Brechstangen, kehrten der Sonne den Rücken zu und warteten.

»Los, hilf du ihm.«

Oskar Johansson tippte den Jüngsten in der Sprengmannschaft mit der Zehenspitze an. Es war ein kleiner, magerer Junge von vierzehn Jahren. Der reagierte sofort und lief über den Sandplatz zu Norström, bückte sich und begann, an dem Stahldraht zu zerren.

»Sei vorsichtig, Junge, zieh nicht so fest daran.«

Norström wurde immer wütender. Er blinzelte in die Sonne, drehte dann den Kopf zur Felswand hin, warf einen Blick zu dem Jungen hinunter, der jetzt behutsam an dem Stahldrahtknäuel herumnestelte, und starrte danach die Sprengmeister an, die weiterhin unbewegt dastanden.

»Warum knallt es nicht?«

Jetzt brüllte Norström. Oskar Johansson richtete sich auf.

»Ich werde nachsehen.«

In dem Moment löste sich der Stahldraht an Norströms Fuß. Die Pause war zu Ende, jetzt musste die missglückte Sprengung untersucht werden. Und dies war Oskar Johanssons Aufgabe, weil er die Ladung angebracht hatte. Jede Sprengung hatte einen persönlichen Bezug. Das Dynamit war stets dasselbe, unberechenbar und tückisch, aber für jede Sprengung gab es einen Zuständigen, einen Verantwortlichen.

Die zunehmende Industrialisierung verlangte nach einer verbesserten Infrastruktur, daher sollte die Eisenbahn ausgebaut werden. Das Gleisnetz wuchs, es fuhren immer mehr Züge, und die Sprengungen hallten durch das Land.

Die sommerliche Hitze, die seit Ende Mai herrschte, verbrannte das Gras und trocknete den Boden aus. Es knisterte unter den Füßen der Sprengmeister, wenn sie in den Schatten der Birken gingen, um kurz Pause zu machen.

Oskar Johansson wischte sich die Stirn ab und betrachtete seinen Handrücken. Der war blank von Schweiß, und er wischte die Hand an der Hose ab. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war Oskar der Jüngste in der Sprengmannschaft, da der Handlanger nicht zählte. Mittlerweile arbeitete er schon seit sieben Jahren in der Sprengmannschaft, und es gefiel ihm. Oskar war groß, gut gebaut und von der frühen Sommersonne gebräunt. Das helle, gekräuselte Haar fiel ihm in die Stirn, und auf seinem runden, offenen Gesicht lag meist ein Lächeln. Er trug ein grauweißes Hemd, dunkelblaue Baumwollhosen und war barfuß.

Mit seinen klarblauen Augen blinzelte er zur Felswand hinüber.

»Willst du nachsehen?«

Norström hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte Oskar auffordernd an. Der Chef mochte keine misslungenen Sprengungen, weil sie unberechenbar waren und die Arbeit verzögerten. Schließlich trug Norström die Verantwortung dafür, dass der Zeitplan eingehalten wurde, und dieser Tunnel würde ohnehin schwierig werden, das wusste er. Außerdem war er verkatert. Am Tag zuvor war er fünfundfünfzig geworden und hatte gefeiert. Er hatte Branntwein getrunken, bis er gegen zwei Uhr nachts ins Bett gefallen war. Und er hatte sich lange und ausgiebig erbrochen, als er zwei Stunden später aufstand, um zur Arbeit zu fahren. Beinahe bereute er es, dass er sich nicht gestattet hatte, für seinen Geburtstag einen Tag freizunehmen. Das wäre ihm erlaubt gewesen, da er seit 1881 regelmäßig beim Bau der Eisenbahn tätig gewesen war. Außerdem war er bekannt für seine Pünktlichkeit und seinen Arbeitseifer. Daher hatte er auch von seinen Sprengmeistern den Spitznamen »Ehre der Arbeit« erhalten. Sie benutzten ihn nie, wenn Norström in der Nähe war, aber wenn die Sprengmeister abends zu Hause oder in den Pausen über ihn sprachen, nannten sie ihn so. Als Norström doch von dem Spitznamen erfahren hatte, war er wütend geworden, hatte ihn dann aber als Hinweis darauf genommen, dass die Arbeiter ihn fürchteten, was ihm gefiel.

Mittlerweile kam es oft vor, dass er diesen Namen selbst benutzte, wenn er seinen Freunden seine Arbeit erklärte. Erst gestern hatte er lang und breit darüber gesprochen, wie gefürchtet er bei seinen Arbeitern sei. Bei seiner Geburtstagsfeier hatte er neben seinem Schwager gesessen und ihm ausführlich von seiner Arbeit berichtet.

Es war kurz vor drei, und um sechs würde die Arbeitswoche beendet sein. Dann käme der freie Tag, und Norström würde im Bett liegen bleiben, die Fliegen erschlagen, den Kindern sagen, sie sollten still sein, und dann allmählich die Arbeit der kommenden Woche planen. Gemäß den Berechnungen, die er letzten Sonntag angestellt hatte, hätten sie in dieser Woche weiter kommen müssen, als es der Fall war. Und es gab nichts, was ihn mehr störte, als wenn seine Planung nicht aufging. Das verdarb ihm den Sonntag. Er würde nicht ruhen, sondern sich grämen.

»Habt ihr das Zündkabel herausgezogen?«

Von dem einen oder anderen Sprengmeister kam ein schwach gemurmeltes »Nein«.

»Seid ihr verrückt? Warum nicht?«

Erstaunt nahm Norström zur Kenntnis, dass diese Selbstverständlichkeit nicht erledigt worden war. Er hatte kein Verständnis dafür, dass die Arbeiter in der Hitze eine kurze Pause eingelegt hatten.

»Dann heb jetzt deinen Hintern und zieh das Kabel ab!«

Der Handlanger bekam einen Tritt von Norström. Hastig lief der Junge zu dem kleinen Holzkasten, der ein Stück weit von ihnen entfernt stand, und riss ein Kabel heraus, das mit einer Stahlklemme an der Rückseite befestigt war.

Oskar lehnte das Brecheisen an einen großen Sprengstein und ging auf die Felswand zu. Er bewegte sich so langsam, als wollte er das Dynamit nicht aufwecken. Dabei verzog er in der Hitze das Gesicht und wischte sich salzigen Schweiß aus den Augen.

Wenn eine Sprengladung nicht explodierte, verbreitete sich Missmut in der ganzen Mannschaft. Das Dynamit war gefährlich. Man wusste nie, was es anstellen würde. Aber bei jeder Fehlzündung musste jemand den Sprengsatz kontrollieren, und es gab keinen anderen Schutz als Vorsicht.

Oskar blieb drei Meter von der Felswand entfernt stehen, biss sich auf die Unterlippe und musterte das Loch im Felsen, in das sich das Zündkabel hineinschlängelte. Dann drehte er sich um und fragte die anderen mit leiser Stimme: »Ist das Zündkabel gezogen?«

Entgegen seiner Gewohnheit stiefelte Norström nun selbst zu dem Holzkasten, warf einen Blick darauf und rief dann laut: »Es ist gezogen. Du kannst ruhig hingehen.«

Oskar nickte, mehr für sich selbst als zu Norström hinüber. Er nickte für sich selbst, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.

Dann dreht er sich um, blinzelt zu dem Bohrloch und beginnt langsam, mit kurzen, schleichenden Schritten darauf zuzugehen. Dabei lässt er das Loch nicht aus den Augen. Er beißt sich auf die Lippe, der Schweiß läuft ihm vom Haaransatz über das Gesicht, und er blinzelt, um besser zu sehen. Als er nur noch einen halben Meter von dem Felsen entfernt ist, bleibt er stehen und beugt sich vorsichtig vor. Konzentriert und angespannt streckt er langsam den rechten Arm vor, bis die Hand genau über dem Loch schwebt. Dann holt er tief Luft und beginnt vorsichtig, das Sprengkabel aus dem Loch zu ziehen. Hinter sich hört er das schwache Klirren einer Brechstange, die an einen Stein gelehnt wird. Seine Fingerspitzen halten das Sprengkabel umfasst.

Im nächsten Moment explodiert der Fels. Norström wird noch viele Jahre erzählen, dass bei der Arbeit an dem mittleren der drei Eisenbahntunnel das Unglaubliche geschah und einer seiner Sprengmeister eine Detonation in nächster Nähe überlebte. Der Sprengmeister hieß Oskar Johansson, und der Handlanger, ein Junge von nur vierzehn Jahren, fiel in Ohnmacht, als sie Oskars rechte Hand später in einem Busch in etwa siebzig Metern Entfernung fanden. Sie entdeckten sie, weil sich die Fliegen bereits auf ihr versammelt hatten. Sie lag mit ausgestreckten Fingern zwischen dem Löwenzahn.

Und Norström konnte berichten, dass Oskar Johansson nicht nur überlebt hatte, sondern weiterhin als Sprengmeister arbeitete, nachdem er endlich genesen war.

An diesem Samstagnachmittag im Juni 1911 verlor Oskar Johansson alle seine blonden Haare. Das linke Auge wurde durch die Druckwelle aus der Höhle gerissen. Die rechte Hand direkt am Handgelenk vom Arm getrennt. Ein Splitter schnitt die Hand mit nahezu chirurgischer Präzision ab. Ein weiterer Splitter schoss wie ein glühender Pfeil direkt durch Oskars Unterleib, beschädigte das Glied und drang durch die Leiste, die Niere und die Urinblase wieder aus dem Körper heraus.

Aber Oskar Johansson überlebte und blieb Sprenger, bis er in Rente ging, und er verstarb erst am 9. April 1969.

Am Montag stand in den Lokalblättern, dass ein junger Sprengmeister bei einem grausigen und tragischen Unfall umgekommen sei. Niemand habe die Tragödie verhindern können, das Dynamit sei unberechenbar gewesen. Glück im Unglück sei jedoch, dass keine weiteren Personen verletzt worden seien und der Verunglückte keine Familie gehabt habe, die jetzt auf sich allein gestellt wäre. Diese Meldung wurde nie dementiert.

1962

Der Wecker klingelt laut und unerbittlich. Es ist Viertel nach drei Uhr in dieser Nacht Mitte Mai. Im Zimmer ist es kühl und feucht, der Ölofen ist kalt. Das Meer draußen liegt blau-schwarz und still da. Darüber hängt ein schwerer grauweißer Nebel. Das matte Licht gießt karge Bilder, und die Äste der Eichen ragen wie Ruinen daraus hervor.

Als ich dem Pfad folge, der dicht am Strand entlang verläuft, knirscht der von braunem Seetang überzogene Sand wie Eierschalen unter meinen Absätzen. Ein leichtes Kräuseln zieht sich über die Wasseroberfläche. Lautlos rollen sich glättende Wellen heran. Irgendwo weit draußen ist ein Boot vorbeigefahren. Ein Hecht springt, und das Geräusch hallt zwischen den Klippen auf der anderen Seite der Bucht wider.

Die Insel ist nicht groß, in einer halben Stunde hat man sie umrundet. Bis zu der Landzunge, auf der Oskars Haus steht, brauche ich etwa fünfzehn Minuten. Ich folge dem Strand, biege dann zwischen die Eichen ein, wo der Sand in steile Felsen übergeht, gelange wieder zum Strand hinunter und bücke mich unter einem dichten Erlengestrüpp hindurch. Jetzt muss ich nur noch der sanft gekrümmten Bucht bis zu der Landzunge folgen.

Die Tür ist angelehnt. Oskar ist bereits auf. Er sitzt am Tisch und legt Patiencen, eine sehr spezielle Form des »Idioten«. Als ich eintrete, nickt er mir zu, und ich hole die Kaffeekanne, die auf dem Spirituskocher steht. Mit einer blau gepunkteten Tasse setze ich mich auf die Bank. Ich werde jetzt abwarten, bis Oskar der Meinung ist, wir sollten aufbrechen.

Oskar hat die Sauna vor sieben Jahren gekauft, als das Militär seine restlichen Baracken aus den Jahren der Mobilitätsbereitschaft aufgab. Für nur hundertfünfzig Kronen konnte Oskar sie erwerben, unter der Voraussetzung, dass er das Gebäude selbst abtragen würde. Aber Oskar ging zu dem Grundstückseigentümer und erhielt die Erlaubnis, das Haus stehen zu lassen und bis zu seinem Tod darin zu wohnen. Im Jahr darauf half ich ihm, die Saunabänke herauszureißen, die Innenwände mit Holzfaserplatten auszukleiden, einen kleinen Verschlag für das Bett zu errichten und einen Schrank und ein Fenster einzubauen. Dann strichen wir alles weiß und rot. Jedes Jahr Anfang April zieht Oskar nun auf die Insel und bleibt dort, bis die Oktoberkälte hereinbricht.

Die Sauna ist eineinhalb Meter breit und gut drei Meter lang. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, streift mein Kopf die Decke.

Das Bett: eine alte knarzende Offizierspritsche, die er geschenkt bekam, als die große Baracke oben auf dem Hang abgerissen wurde. Eine braune Decke, zwei Garnituren Laken, der Kopfkissenbezug mit der roten Bordüre und den verschnörkelten Initialen

Zwei braune Küchenstühle, der Gartentisch mit der grünen Tischdecke. Der Spirituskocher, die Petroleumlampe, das Transistorradio, das Kartenspiel, die Brille, das Portemonnaie.

Die Becher, die Schüssel, der Kaffee und die Kartoffeln.

Oskar streckt den Zeigefinger der linken Hand aus und drückt eine Taste auf dem Radio. Der Zeigefinger ist dick, kräftiger als zwei gewöhnliche Finger zusammen. An der linken Hand hat er nur noch den Daumen und diesen Zeigefinger, die sich zu einer Klaue entwickelt haben, um die Funktion beider Hände übernehmen zu können. Der Zeigefinger drückt die Taste, und Musik erfüllt den Raum, allerdings viel zu laut. Aber das ist ein Zeichen. Bald werden wir uns erheben und aufbrechen.

Kurz vor halb fünf setzen wir uns in Oskars grasgrünes Ruderboot. Es ist ein leichtes Gefährt mit einem flachen Boden und besteht aus Hartfaserplatten, die an einen einfachen Holzrahmen genagelt wurden. Ich sitze achtern, und Oskar rudert uns vom Strand weg. Das linke Ruder umfasst er mit seinen Fingern, das rechte hält er in der rechten Armbeuge. Als wir an den drei Holzplanken vorbeikommen, die Oskars Steg darstellen, wendet er das Boot, und wir beginnen, die Landzunge zu umrunden.

Wortlos bewegen wir uns über die Wasseroberfläche. Noch immer ist es kühl, und der Nebel weiterhin grau. Oskar rudert gleichmäßig und im Takt seiner Atemzüge. Hält er inne, hält er auch die Luft an.

Auf der anderen Seite der Landzunge liegen unsere Netze. Ein Barschgarn. Ein Flundergarn. Aber erst die Barsche, dann die Flundern. In derselben Reihenfolge wie immer ziehen wir die Netze heraus, wobei ich achtern in die Hocke gehe und Oskar das Boot sacht rückwärtsrudert. Bei jedem Fisch zählt er laut mit. Eine Ziffer, eine Nummer, ganz einfach.

»Eins.«

»Zwei.«

»Drei.«

»Vier.«

Ein kräftiger Barsch und drei Flundern. Sie zappeln zwischen unseren Füßen am Boden. Die Netze liegen in einem Haufen auf meinen Stiefeln. Oskar wendet das Boot, und wir rudern zurück.

Mai 1962. Wir hören Radio Nord. Oskar lacht gewöhnlich, wenn die Stimme im Radio die Sendefrequenz angibt und dabei von Megahertz spricht.

»Was zum Teufel meinen die? Riesenherzen?«

Er lacht über seinen eigenen Witz und blinzelt mir mit seinem einen Auge zu. Der Zeigefinger trommelt auf das Wachstuch.

Der Nebel ist noch immer genauso dicht, das Meer ebenso unbewegt, aber das Licht wird stärker und schneidet durch den Dunst. Oskar dreht sich auf dem Stuhl herum, packt die Lehne mit seinen zwei Fingern und stemmt sich weit genug hoch, um aus dem Fenster zu sehen. Er wirft einen Blick hinaus, dann sinkt er wieder auf den Stuhl zurück und widmet sich erneut seiner seltenen Variante der Idioten-Patience.

Die Karten sind schmutzig und abgegriffen. Pik Bube hat einen Blutfleck auf einem seiner Gesichter. Kreuz Sieben stammt aus einem anderen Kartenspiel mit verschiedenen Segelschiffen auf der Rückseite. Das zweite Spiel ist weinrot mit einer schmalen weißen Bordüre am Rand.

Radio Nord sendet »Da sprach der alte Häuptling der Indianer« von Little Gerhard.

Der Zeigefinger klopft langsam auf die Tischdecke wie ein herabfallender Schmelzwassertropfen. Die Patience geht nicht auf.

1911

»Ich habe sie ein halbes Jahr vor dem Unfall kennengelernt. Ziemlich genau ein halbes Jahr zuvor. Im Juni funkte es zwischen uns. Wir hatten nicht viel übers Heiraten geredet, aber zu dieser Zeit kam etwas anderes ja nicht infrage. Wenn man sich kennenlernte und anfing, miteinander zu gehen, musste man heiraten. Sie war genauso alt wie ich, uns trennten nur drei Tage. Die war sie älter. Wir trafen uns immer am Samstagabend, da hatte sie vier Stunden frei. Sie arbeitete bei dem Direktor einer Textilwarenfirma und hütete seine drei kleinen Kinder. Einen Jungen und zwei Zwillingsmädchen, und sie schlief hinter dem Kinderzimmer. Sie gehörte zu jener Generation von Arbeitermädchen, die den Großteil ihrer Jugend bei Bürgern in der Kammer neben der Küche oder dem Kinderzimmer wohnte. Dabei konnte sie Kinder nicht leiden, aber sie bekam ja keine andere Arbeit.

Meist machten wir Spaziergänge durch die Stadt. Ich erinnere mich eigentlich nicht daran, worüber wir miteinander sprachen. Wir schlenderten einfach dahin.

An eine Sache mit ihr erinnere ich mich aber doch. Es war an einem Donnerstag, ungefähr einen Monat vor dem Unfall. In der Stadt feierten die Studenten, und wir gingen spazieren. Da kamen uns drei Studenten auf dem Bürgersteig entgegen, und sie wichen nicht aus, weshalb das Mädchen und ich einen Stoß in die Seite bekamen. Daran erinnere ich mich ganz deutlich. Solche Sachen vergesse ich nicht. Solche Einzelheiten ohne Bedeutung.«

Elly verlässt das Haus durch die Küchentür. Sie trägt ein weißes Kleid, braune Stiefel und einen schwarzen Schal um die Schultern. Sie ist ziemlich klein und ein bisschen mollig. Ihr Gesicht ist rund, mit einem frischen Teint und grünen Augen. Dazu braune, krause Haare. Sie presst die Lippen aufeinander. Ihre Zähne sind blassgelb, und sie hat schon einen Zahn im Oberkiefer verloren, genau dort, wo für gewöhnlich ihr Lachen endet.

Oskar wartet vor der Gartentür. Er sieht Elly auf dem breiten Kiesweg herankommen, der von der dreistöckigen Villa herabführt. Sie lächelt ein bisschen geniert, als sie am Schloss der Gartentür herumfummelt. Dann stehen sie einander gegenüber, nicken und beginnen, nebeneinander den Bürgersteig entlangzugehen. Dabei schweigen sie. Die Luft ist warm, und sie laufen an hohen Maschendrahtzäunen und Villen hinter weißen Mauern entlang Richtung Stadtzentrum, in ihr eigenes Milieu.

»Wie sieht es nächsten Donnerstag bei dir aus?«, fragt Oskar Elly.

Elly antwortet: »Da habe ich auch frei.«

Eine brandgelbe Straßenbahn rumpelt stadteinwärts vorbei. Sie bleiben stehen, um zu schauen, ob sie in den beiden Wagen ein Gesicht erkennen. Als die Bahn an der nächsten Haltestelle hält, steigt ein Paar mittleren Alters aus und geht langsam in ihre Richtung. Es weht ein leichter Wind. Elly streicht sich mit der Hand über das Gesicht, wendet sich ab und lächelt. Oskar greift nach ihrer Hand. Er hat sich heute besonders gründlich gewaschen, wie jeden Donnerstag.

Einen Monat später liegt seine Hand mit ausgestreckten Fingern zwischen dem Löwenzahn, und mit starren Gesichtern blicken die Sprenger darauf.

Oskar und Elly überqueren den mit Kopfsteinen gepflasterten Markt. Aus der Ferne kommen ihnen drei Studenten entgegen.

»Latein war am schlimmsten. Enoksson hat mich nie gemocht. Er hätte mich durchfallen lassen, wenn er gekonnt hätte.«

Schwarze Lackschuhe, blaue Spazierstöcke mit silbergrauer Spitze. Ein schwarzer Fuß, der in der Luft die Richtung ändert und mit knapper Not einem braunen, klebrigen Kothaufen entgeht.

»Stellt euch vor, in diesem Jahr haben sie sieben Leute durchfallen lassen. Es gab viele schlechte Klassen.«

»Die Emporkömmlinge.«

Lackschuhe, klappernde Schritte.

»Also, schaut euch mal das Mädchen da drüben an. Die in Weiß mit den großen Brüsten. Sie arbeitet bei uns als Magd. Irgendwann werde ich abends zu ihr reingehen und sie anfassen.«

»Wieviel bekommt sie?«

»Zehn Kronen, aber dafür krieg ich alles, was ich will.«

»Hast du es schon mal gemacht?«

»Oh ja. Zweimal.«

»Mit ihr?«

»Mit einer Hübscheren.«

»Wen hat sie da dabei?«

»Weiß nicht.«

»Sollen wir sie anrempeln?«

»Na klar.«

Spitze Lackschuhe. Seidensocken. Graue Wollhosen. Jackett. Die weiße Mütze. Pickel am Kinn, auf dem Rücken, auf den Hinterbacken. Ellbogen, die noch rundlich sind, stoßen Oskar und Elly zur Seite. Ein Gruß, die Zigarre aus dem Mund genommen, die Mütze in der schmalen Hand.

»Guten Abend, Elly.«