Der Sprung aus der Zeit - Franz Jung - E-Book

Der Sprung aus der Zeit E-Book

Franz Jung

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Beschreibung

Franz Jung (1888-1963) ist Revolution und Literatur, Aktivismus und Avantgarde, Dada und Klassenkampf. Ein kompromisslos Suchender, schon zu Lebzeiten so legendär wie rätselhaft. Die Texte in diesem Band, entstanden von 1911 bis 1961, reichen von expressionistischer Prosa und autobiographischen Reflexionen bis zu politischen Kommentaren und Auszügen aus dem theoretischen Hauptwerk »Die Technik des Glücks«. Die Herausgeber*innen der 14-bändigen Werkausgabe, die in einer grandiosen Ost-West-Gemeinschaftsarbeit über vierzehn Jahre hinweg entstand (abgeschlossen 1996), haben diesen Band kuratiert, der die außergewöhnliche Figur Franz Jung in all ihren Facetten und Wirkungsbereichen zeigt und sein Werk neu zugänglich macht.

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FRANZ JUNG, geboren 1888 in Neiße/Oberschlesien, gestorben 1963 in Stuttgart, war Börsenjournalist, Bohémien, Expressionist, Wirtschaftsanalytiker und revolutionärer Aktivist. Er war Mitarbeiter der Zeitschrift »Die Aktion« von Franz Pfemfert und des Malik-Verlags; Autor von expressionistischen und sozialkritischen Romanen und Erzählungen, schrieb für Piscator Theaterstücke und war Mitinitiator der Dada-Bewegung. Teilnahme an den revolutionären Kämpfen nach 1918 und an der Entführung eines Schiffes nach Russland. In der frühen Sowjetunion als Organisator der Hungerhilfe sowie im Wirtschaftssektor tätig. Nach 1933 von den Nazis verhaftet, illegale Tätigkeit in Genf, Wien und Budapest. 1944 Flucht nach Italien. 1947 Emigration in die USA, Wirtschaftsjournalist in New York und San Francisco. Ende der 1950er Jahre Rückkehr nach Europa. In der Edition Nautilus erschien von 1981 bis 1996 die vierzehnbändige Werkausgabe sowie mehrere Einzelbände, darunter die Autobiographie Der Weg nach unten.

WOLFGANG BORTLIK, geboren 1952 in München, lebt in der Nähe von Basel in der Schweiz. Nach endlosen Studien der Geschichte war er Buchhändler, Musiker und Verleger, danach Autor, Kritiker und Übersetzer. Er schreibt Krimis, allerhand populäre Gebrauchstexte und studiert gerade an einem großen Alterswerk herum. Er hat zehn Romane sowie diverse CDs mit Wort und Musik (auch über Fußball) veröffentlicht.

HANNA MITTELSTÄDT, geboren 1951 in Hamburg, Mitgründerin und 45 Jahre lang Mitleiterin der Edition Nautilus. Lektorin, Herausgeberin, Co-Übersetzerin aus dem Französischen, Autorin zahlreicher Bücher. Seit dem Ausscheiden aus der Edition Nautilus 2016 diverse Projekte im Umfeld des Verlags (Franz Jung, Arthur Cravan, Francis Picabia, Emma Goldman).

FRANZ JUNG

DER SPRUNG AUS DER ZEIT

AVANTGARDE • AGITPROP • AUTOBIOGRAPHISCHES

Herausgegeben von

Wolfgang Bortlik und Hanna Mittelstädt

Mit einem Vorwort von Wolfgang Bortlik

und einem Nachwort von Walter Fähnders

und Helga Karrenbrock

Der Verlag dankt der Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg-Stiftung

für den Druckkostenzuschuss.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49a

D -22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2024

Erstausgabe September 2024

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert

www.majabechert.de

Alle Bilder © Hanna Mittelstädt

und Lutz Schulenburg-Stiftung

1. Auflage

ISBN EPUB 978-3-96054-353-4

Im Gedenken an

Cläre Jung, Peter Jung, Fritz Mierau, Lutz Schulenburg

Franz Jung, Ende der zwanziger Jahre (aus einem Fotoalbum von Peter Jung)

INHALT

Franz Jung, Rhythmusgitarre oder: Nichts geht verloren!

PROLOG

Der Torpedokäfer

1. »MIT MIR SELBST IM ZWEIFEL« Autobiographisches

Heimwärts

Gnadenreiche, unsere Königin

Das Erbe

Dagny

Akzente III

2. »SICH ERLEBEN, DAS GLÜCK« Avantgarde bis Agitprop

Zur Erinnerung

Puppenspiel Szene

Trottel Eine programmatische Einleitung

Die Telepathen Eine Novelle

Amerikanische Parade

Babek Eine Erzählung

Proletarische Erzählungskunst

Zwei unterm Torbogen

Floyd David

Über meine literarischen Arbeiten

3. »MITHELFEN AN DER LÖSUNG UND GESTALTUNG« Klassenkampf und Revolution

Selbstkritik

Morenga

ARBEITSLOS – ARBEITER-LOS!

Einzug der Franzosen in Berlin

Asien als Träger der Weltrevolution

Stiller als Wasser und niedriger als Gras

Proletarier Erzählung

Für Max Hölz

Romantische Aufenthalte … am laufenden Band …

Die Zeit steht still

Ausblicke in die Zeit

Die Parteien sterben – Wir wollen leben

Morengas Erbe Nachwort zu einer Kurzgeschichte

4. »JEDER WIDERSPRUCH ENTHÄLT EIN GLÜCKSGEFÜHL« Revolte gegen die Lebensangst, Technik des Glücks

Von der Not des Widerspruchs

Vertrustung des Geistes Eine Ankündigung

Die Technik des Glücks

Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht!

Die Albigenser Revolte gegen die Lebensangst

5. »ETWAS IST ZU ENDE GEGANGEN …« Porträts von Zeitgenossen

Zur Klärung

Der bekannte Kriminalprofessor Hans Groß in Graz

Franz Pfemfert – 70 Jahre

Ernst Fuhrmann – 70 Jahre

Das tragische Schicksal des Dr. Wilhelm Reich

Raoul Hausmann: Dada kommt in die Jahre

Pin oder Dada, der Letzte

EPILOG

Der Reisebericht

Das Wiederauftauchen von Franz Jung

TEXTNACHWEISE

Franz Jung, Rhythmusgitarre oder: Nichts geht verloren!

Franz Jung erschien mir vor gut 50 Jahren in der staubigen Hölle einer Universitätsbibliothek, kein guter Ort für ihn – und auch für mich nicht, wie sich später herausstellen sollte. Er grüßte aus Murmansk, wohin er mit einem Genossen 1920 ein Schiff entführt hatte, um mit Lenin über die oppositionelle Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands zu verhandeln. Eine große Sache, dachte ich, direkte Aktion im Dienste der Weltrevolution. Später sah ich das berühmte Foto, auf dem die Sozialdämmerkraten Ebert und Noske 1919 in schlabbrigen Badehosen an der Ostsee im knietiefen Wasser stehen, und verstand, warum es mit der deutschen Revolution niemals klappen konnte. Franz Jung sah in Badehosen besser aus.

Lehre Nummer eins: Es wird das gemacht, was gerade gemacht werden muss. Jung war überall, wo es einen gefährlichen und unangenehmen Schritt zu tun gab, auch wenn es von vornherein vergebene Liebesmüh war, etwa das Verhandeln mit Lenin.

Dann erschien mir Franz Jung immer öfter. Als Schriftsteller, der den literarischen Expressionismus auf dem Boden der zwischenmenschlichen Beziehungen festnagelte. Später sagte er: »Ich habe den Ehrgeiz überwunden, als Schriftsteller anerkannt zu werden, als Geschäftsmann, als Liebhaber …«

Bei mir hieß das Liebeskummer und die Unmöglichkeit, zueinander zu kommen. Auch die schemenhafte Liebe zum Proletariat war vor allem Enttäuschung.

Lehre Nummer zwei: Lass dich trotzdem von deiner Gefühlswucht treiben.

Die erste Revolte ist selbstverständlich die gegen den Vater. Franz Jung senior, ein respektabler, bekannter Bürger der oberschlesischen Stadt Neisse, muss den völlig betrunkenen Sohn vor allen Leuten nach Hause schleppen. Was für eine Schande, was für eine Scham!

Lehre Nummer drei: Am Anfang ist der Sprung hinaus aus der Langeweile, aus dem Behausten, aus der Gehemmtheit. Der Alkohol, der Rausch allgemein, hilft dabei.

Seit dem engeren Kontakt mit Franz Jung verwende ich das Wort »Revolution« nicht mehr, sondern sage »Revolte gegen die Lebensangst«. Und wenn Jung dann mit der »Technik des Glücks« kommt, dann möchte ich angesichts seines Lebens fast mit einer »Technik des Unglücks« kontern. Er war viermal verheiratet und größtenteils ein lausiger Vater. »Mein Vater war ein Zerstörer«, sagt Peter Jung, Sohn von Franz Jung und seiner dritten Frau Harriet Scherret, in seinen Erinnerungen Ein Koffer aus Eselshaut.

Lehre Nummer vier: Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht!

Ein Freund schrieb einst einen Artikel, in dem er Franz Jung zum Mann des Jahrhunderts ernannte, das war 1980. Wir waren alle der Meinung, dass Jung ein Punk war, noch bevor er bei Dada mitmischte. Und wenn er schon Punk war, dann war er auch in einer Band und spielte die Rhythmusgitarre. Denn der Rhythmus war seine Sache, sonst hasste Franz Jung Musik: »Verwechseln Sie nicht Musik mit Rhythmus. Der Rhythmus steckt in den Knochen, im Blut, im Organismus, in der Lebenserwartung und im Zusammenbruch dieser Erwartung«, schreibt Jung in seiner Autobiographie Der Weg nach unten.

Lehre Nummer fünf: Nichts geht verloren! Aber alles Schwindel von Anfang an! Das sagt Franz Jung immer wieder. Sein Werk hat mehr mit Erahnen als mit Verstehen zu tun. Man muss sein Fan sein, nicht Adept, nicht Jünger, nicht Schüler.

Peter Jung erzählt auch, dass sein Vater lebenslanger Anhänger des Berliner Fussballvereins Minerva 93 war. Der hatte in den 1930er Jahren seine besten Zeiten.

Mit dem politisierenden Marxismus hatte Franz Jung nicht viel am Hut, aber er mochte laut seinem Sohn Peter die Marx Brothers (echte Brüder namens Groucho, Chico, Harpo) und ihre anarchistischen Klamaukfilme, etwa die Kriegssatire Duck Soup.

Lehre Nummer sechs: Man muss einen Menschen erst einmal in seiner spielerischen Begeisterung sehen, bevor man ihn mögen kann und sich ihm ausliefert.

Franz Jung war ein Mann, der zweifelhafte Geschäfte in und mit einer verrotteten Welt machte. Er brachte in der frühen Sowjetunion Fabriken wieder zum Produzieren und arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg, aus dem KZ entlassen, in Italien als Bäcker. Der Schweizer Dichter und Philosoph Adrien Turel, Mitarbeiter bei Jungs Zeitschrift Der Gegner und in den frühen 1930er Jahren kurzfristig bei Jungs zweiter Frau Cläre wohnend, meinte, dass Franz Jung ein begabter Nationalökonom, aber viel zu nervös gewesen sei. Cläre Jung war übrigens diejenige, die den Laden zusammenhielt. Sie war in Berlin das emotionale, pragmatische und informelle Zentrum des Jung-Clans.

Lehre Nummer sieben: Wer möchte heute jemandem den Geschäftemacher vorwerfen, da dies völlig normal geworden ist.

Ganz am Ende seiner Autobiographie erzählt Franz Jung von frühmittelalterlichen Ketzern in Südfrankreich, den Albigensern, die ihre Alltagssorgen auf einen Rosenstrauch an der Rückseite ihres Hauses übertragen hätten: die Wünsche, die Ängste, Krankheiten, alles das, wovon sie nicht verstehen konnten, dass es sie traf. Täglich hätten sie im Anblick des Rosenstrauchs verweilt, bis die Magie der Wachstumskraft und des Blühens auf sie übergegangen seien.

Nun, ich habe vor meinem Küchenfenster sogar zwei Rosensträucher.

Wer keinen solchen am Haus hat, lese einfach Franz Jung. Das hilft auch.

Letzte Lehre: Befolge keine Lehren!

Wolfgang Bortlik

P.S.: 1980 begannen wir mit dem bis heute aufwändigsten Projekt der Verlagsgeschichte, der Franz-Jung-Werkausgabe. Wir wussten nicht, auf was wir uns einließen, was Umfang, Finanzierung, Beschaffung der Manuskripte etc. betraf. Wir waren »Fans« der Autobiographie Franz Jungs, und es schien uns eine Selbstverständlichkeit, uns mit aller Kraft für sein Werk einzusetzen. »Die Technik des Glücks« würde es richten. Wir, das waren die Edition Nautilus, insbesondere Lutz Schulenburg und ich, als Verlagsgründer und formell Verantwortliche, und ein Umfeld aus Franz-Jung-Forschern in Ost- und Westdeutschland. Dazu gehörten ganz zentral Sieglinde und Fritz Mierau in Berlin, Hauptstadt der DDR, aus dem engsten Kreis um Franz Jungs Frau Cläre Jung und ihr sorgsam gehütetes Archiv. Helga Karrenbrock und Walter Fähnders, die bereits herausgeberisch am Werk Franz Jungs in Westdeutschland arbeiteten, trugen uns die Idee einer Werkausgabe an, die sie sorgfältig mitbetreuten. Über diese wichtigsten Beiträger zur Werkausgabe hinaus gab es viele einsatzfreudige Hilfskräfte, ohne die diese Ausgabe mit ihren 6.000 Buchseiten und 14 Einzelbänden kaum hätte zustande kommen können. Es war die erklärte Absicht aller Herausgebenden, dass es eine Gemeinschaftsarbeit sein sollte.

Dieses große Gemeinschaftsprojekt haben wir in einer Zeitspanne von 16 Jahren so gut wie ohne institutionelle Förderung verwirklicht. 1995 tauchte bei einer Franz-Jung-Konferenz mitsamt einem Aufführungsmarathon sämtlicher Jungscher Theaterstücke, organisiert von den Freien Kammerspielen in Magdeburg und dem Landestheater in Tübingen, auch Franz Jungs Sohn Peter auf, der uns die bis dahin nur provisorisch geklärten Autorenrechte am Werk seines Vaters übertrug. Mit ihm zusammen hat Annett Gröschner nach Abschluss der Werkausgabe die Vater-Sohn-Beziehung aufgeschrieben, die bei Edition Nautilus unter dem Titel Ein Koffer aus Eselshaut erschien. Und Fritz Mierau hat die Jahrzehnte seiner Beschäftigung mit Franz Jung in der großartigen Biographie Das Verschwinden von Franz Jung zusammengefasst.

Ein wenig soll von dieser »Fan«-Gemeinschaft auch in diesem Sammelband spürbar sein. So haben wir alle damaligen Mitherausgeber gefragt, ob sie einen Lieblingstext haben, den wir aufnehmen wollten. Die Kapitel haben also jeweils einen der Wunschtexte als Motto, auch Prolog und Epilog sind solche: von Peter Ludewig (Heimwärts), Hanna Mittelstädt (Der Torpedokäfer), Helga Karrenbrock (Zur Erinnerung), Walter Fähnders (Selbstkritik), Wolfgang Storch (Von der Not des Widerspruchs), Wolfgang Bortlik (Zur Klärung), Sieglinde Mierau (Der Reisebericht). Helga Karrenbrock und Walter Fähnders konnten wir für ein Nachwort gewinnen.

Ansonsten ist die Auswahl, die wir als Anregung verstehen, sich mit diesem wichtigen Autor und Analysten seiner Zeit auseinanderzusetzen, in fünf Aspekte seines Werkes gegliedert. Innerhalb jeden Kapitels sind die Texte, bis auf das Motto, chronologisch geordnet.

Wir hoffen, dass der »Sprung aus der Zeit« auch als ein Sprung in die Jetztzeit gelesen werden kann, ein Sprung in ein Abenteuer, ein Lese- und Erkenntnisabenteuer. Und dass die Lektüre dieses Buches der Beweis für Franz Jungs Vorstellung ist, dass nichts verloren geht und dass irgendwann vielleicht doch »die Mauern bersten vor Glück«.

Hanna Mittelstädt und Wolfgang Bortlik, Mai 2024

PROLOG

Wandlitzsee bei Berlin 1924. Oben (v. l. n. r.): Margot Jung und Sohn Franz; Mitte: Dagny Jung, Lieschen Kolata, Emmy Otto (Cläre Jungs Mutter), Franz Jung; vorn: Adolf Kolata (Freund aus der Revolutionszeit)

Der Torpedokäfer

Der Torpedokäfer ist wissenschaftlich nicht genügend beschrieben, um in seiner Art für die Einordnung in einem fachlich zuständigen Nachschlagewerk reif zu sein.

Der Käfer hat etwa die Länge einer Gewehrpatrone, auch die Form. Zu beiden Seiten des Körpers sind die Platten, hart wie Panzerplatten, zum Schutz gegen Feinde am Boden. Die Platten decken die Flügel, die nach innen gefaltet sind. Sie klappen nach unten, wenn die Flügel auseinanderschwingen, zugleich der Stabilisierung des Fluges dienend, als Tragfläche. Der Kopf ist eingehüllt in einen Kranz kleinerer und zugespitzter Platten, die sich nach vorn schieben, sobald der Käfer dem Flugziel sich nähert, Kanzel des Piloten, in die hinein sich die Fühler einziehen – diese sind nicht zu lang, eher kurz; sie tasten nicht so sehr das Ungewisse einer Richtung, sie halten das Gleichgewicht, sie steuern. Die Beine sind im Flug in die Bauchseite hochgefaltet, in die Tragflächen geborgen. Der Rücken ist mit weichem Pelz bedeckt.

Das Besondere an diesem Käfer ist die Kraft, mit der er das Ziel anfliegt, vorwärtsgetrieben wird, wie ein Torpedo. Der Antrieb dieser Kraft ist am Körper selbst nicht zu finden, im koordinierenden System der Nerven vielleicht, in der Ausscheidung von Wärmetropfen in den Gelenken. Der Käfer hebt sich vom Boden, scheints schwerfällig und ungeschickt und beinahe, würde man sagen, mit einigem Widerwillen. Und dann setzt die Triebkraft ein. Der Käfer kommt in Fahrt, schnellt nach vorwärts, ständig akzelerierend dem Ziel entgegen.

Die Flugkraft wird zu einer selbständigen Wesenheit, vibrierend mit eigenen Empfindungen von Lust und Widerspruch, Angst, und der Triumph über Enge und Weite … ich erinnere mich, dass es weh tut, selbst im Jubel der Ungewissheit, wie das so im Leben ist und sein wird.

Ablauf der Zeit in einer panikgeladenen Spannung, die Augen geschlossen.

Stoß gegen den Widerstand – und dann der Sturz. Das Ziel ist groß genug. Das Ziel ist geradezu drohend, in abschreckender Klarheit, überdimensionale Präzision. Es wird sein, dass mehr Anziehungskraft ausgeht von diesem Ziel, als in dem motorisierten Antrieb des Fluges sich umsetzen ließe …

Ein sehr schmaler Eingang, der Durchgang zum Ziel, der verdeckt ist und sich wahrscheinlich verschiebt, in der Blitzsekunde des Anpralls; daher der Sturz. Dieser Sturz wird sich wiederholen. Es ist die biologische Eigenschaft des Torpedokäfers, dass er das Ziel anfliegt und stürzt.

Einmal am Boden, ist dann alle Kraft gewichen. Es ist Schaden entstanden. Der weiche Rücken ist im Sturz verletzt. Die Platten sind angeschlagen, später auch gebrochen. Am Boden klaubt sich der Käfer zusammen, bewegt, was sich noch bewegen lässt, schleppt sich zurück und kriecht – für den Beobachter steht es bereits fest: der Käfer wird es nicht schaffen. Aber er schafft es. Wieder zurück zu dem Punkt, von wo aus er startete.

Der Start muss warten. Die Verletzungen müssen heilen, die Schäden auswachsen. Leben schwingt bereits wieder in vorbestimmtem Rhythmus. Der Körper pulst und wird sich weiter straffen. Der flaumig weiche, der ungeschützte Rücken, würde jemand die Hand darüber streichen lassen, ist warm – und würden aus dieser Liebkosung Worte sich bilden können, so wären sie voller Zutrauen und Zuversicht.

Ich habe den Flug unzählige Male in mir selbst erlebt, bei Tag und bei Nacht. Das Ende ist immer das gleiche gewesen: Anprall, Sturz, Kriechen am Boden, sich zurückzubewegen zum Ausgangspunkt, zum Startplatz – mit Mühe und jedesmal unter größeren Anstrengungen.

Die Wand, gegen die der Käfer anfliegt, ist solide gebaut. Generationen von Menschheit stehen dahinter. Möglicherweise ist die schmale Öffnung, die angepeilt wird und die noch von Zeit zu Zeit aufleuchtet, vorher wie nachher, nur ein Trugbild und sie besteht in Wirklichkeit nicht. In der Folge von Generationen wird sie erst geschaffen, in Opfern herausgemeißelt und aufgesprengt werden –

Es ist nicht die Frage der Zweckmäßigkeit, der besseren Vorbereitung, der Erfahrung, aus der etwas zu lernen wäre – es ist das Ziel, und das Ziel wird immer das Gleiche sein: nichts zu verbessern, nichts zu lernen.

Ich habe oft den Käfer dann in der Hand gehalten. Er bewegte sich in einem engen Kreis und war noch nicht fähig, ein Ziel anzunehmen. Er war stark angeschlagen. Dazu kam die Panik, dass alles noch einmal begonnen werden muss und dass es weitergeht. Ich habe die Wärme des Körpers gespürt, der entspannt gewesen ist, das Weiche dieser Hülle von Pelz, etwas von einem Zutrauen zwischen mir und einem Etwas, das nicht mehr zu den Menschen ringsum gehört.

Die Misserfolge sind leichter zu tragen. Es gibt die Hoffnung: eines Tages wird es dem Käfer nicht mehr möglich sein, sich wieder zusammenzuklauben und zurückzukriechen.

Trotzdem wird dann die Sonne weiter über den Horizont ziehen.

(1961)

1. »MIT MIR SELBST IM ZWEIFEL« Autobiographisches

Franz, Peter und Harriet Jung, Ferien an der Ostsee 1936

Heimwärts

Wer mit sich selbst im Gespräch ist, muss vor allem ein guter Zuhörer sein, mit ausreichender Geduld. Er muss ein gelernter Zuhörer sein, beobachten, wägen, urteilen, standhaft bleiben und – in der Distanz. Die Schriftsteller, die bei solcher Gelegenheit leicht in das Autobiographische abrutschen, haben einen rührenden Zug, sie balzen um die Existenz ihres Ego wie ein Auerhahn – bald liegen sie sich in den Armen, denn sie lieben sich sehr.

Wer sich selbst auf seine Fehler und Unzulänglichkeiten anspricht, hat eine schwere Hürde zu nehmen, die der eigenen Verteidigung, allerdings mit einem Argument von durchschlagender Beweiskraft: dass er lebt, oder wenn die Umstände danach sind, dass er noch lebt – merkwürdig, wie wenig dem gegenüber Erfolge und Vorzüge in Betracht kommen. Wer sich verteidigt hat Recht; das Gespräch verflüchtigt sich in sentimentale Erinnerungen.

Wer im Unrecht ist, der darf sich nicht selbst lieben, und um stolz darauf zu sein, muss man sich vorbeigehen lassen und untertauchen im Strom der Passanten, die deine Straße entlangwandern, die einen nach rechts hinauf, die andern nach links hinunter – (es wäre gut zu sagen, dass heute alle im Unrecht sind).

Ich verteidige mich nicht. Ich liebe mich nicht, es wäre vielleicht zu literarisch zu behaupten, ich bin meiner selbst überdrüssig, einfach: ich bin an mir uninteressiert; es ist nur so, ich schleppe eine Bürde mit mir herum, die ich mit jedem Schritt und mit der Präzision einer Maschine abschleifen muss. Inmitten eines Dschungels von Gesetzen und Verordnungen, Grundsätzen der Erziehung, zurechtgestutzt nach gesellschaftlichen Konventionen habe ich jeweils irgendwann in meinem Leben, wahrscheinlich zeitgerecht, mich gegen alles das aufgelehnt; aber etwas kann nicht gestimmt haben, trotzdem zu früh oder zu spät, im Zweifel, und vielleicht zu wenig überzeugend, selbstüberzeugend – ich lebe noch, ich bin noch mitten drin; das ist bitter.

Es ist bestimmt das Bequemste nach dem Gesetz zu leben, zum Zeitvertreib. Dazu kommen noch die eigenen Gesetze, die zu allen Zeiten und Gelegenheiten der Mensch sich selbst gibt, und mit denen es schwieriger ist zu akkordieren. Gleichgültig ob man ihnen folgt oder nicht – sie spießen einen an die Wand, sie nageln dich fest.

Mich interessiert das nicht, ob ich in der oder jener Phase meines Lebens, bei der Interpretation von dem, was ich gelernt habe und mir vorstelle, ob ich einer Erkenntnis, System oder Idee die mich begeisterte, hätte folgen sollen oder einem Freunde, der mir wohlgesinnt war – interessiert mich nicht, ob ich recht oder unrecht gehabt habe, um darüber mich auszulassen. Ich weiß, dass ich im Unrecht bin. Und ich bin stolz darauf.

Es muss mir daher erlaubt sein, über viele Einzelheiten hinwegzugehen, aus denen sich so ein Lebensablauf zusammensetzt. Familie Kindheit Erziehung – das Übliche; was mir auf der Schule eingetrichtert worden ist, was ich auf Universitäten gesucht und natürlich versäumt habe – immer im Strom, im Strom der breiten Herde, die ihre eigene Sprache spricht. Die Etappen der Auflehnung sind nicht nach diesen äußeren Zeitabschnitten festzulegen. Eher vergleichbar einem musikalischen Thema, Fuge, Synkopen gegen die Führung einer banalen Melodie – die ein wenig wehmütige Melodie bleibt im Ohr, ein Leben lang. Es war – ich schäme mich nicht es zu sagen gegen allen Widerspruch, doch sehr schön.

Mit der Zeit, mit den Jahren bekommt man einen besonderen Blick für die Dinge der Umwelt, einen schon starren und stechenden Blick. Den kann man nicht lernen und später etwa dirigieren wie einen Scheinwerfer, er wächst mit den Jahren mit. Alles – die Wahrnehmungen wie die toten Gegenstände, die Lebewesen ringsum erhalten davon ihre besondere Stellung, die Konturen und das Licht. Ich bemühe mich oft diesen Blick zu lockern, wechseln, ein wenig zu drehen, mit mir selbst im Zweifel, das heißt, ich bemühe mich nicht mal besonders, es überfällt mich, entfaltet sich vor mir, wie manches dennoch anders ist, anders sein könnte. Kleine Blüte am Straßenrand, niedergetretener Rasen, der wieder aufstehen wird, das welke Blatt am Zweig, es schwingt noch hin und her, es freut sich – da ist ein Vogel, der sich wenig kümmert und absolut nichts weiß, ein Hund trottet über den Weg und zieht dich an, Menschen gehen vorbei, die einen dahin, die andern dorthin, von einer Erfüllung getragen, einer Erfüllung entgegen, einfach; einfacher als ich es mir gedacht habe. Lass sie doch gehen, lasst sie doch glücklich sein.

Ich kann es im Blick nicht halten. Vielleicht sehe ich alles dunkel, zum mindesten verschwommen und in Nebel getaucht; (ich bin schließlich im November geboren.) Und das Licht – das Licht ist für mich irgendwie künstlich konstruiert, drohend und unerbittlich, ein kaltes Licht. So sehe ich eine Landschaft, vermutlich im Süden, ein gelber Pfad führt seitwärts auf eine Anhöhe hinauf, die zu einer Schlucht abfällt, in der Schlucht fließt ein Bach, der Bach verbreitert sich zu einer Bucht, dahinter das Meer. Auf dem Bach sind Kähne mit festlich geputzten Menschen. Zu mir hin, diesseits des Baches ist ein Fahrweg, Wagen, wogende Menge von Spaziergängern, wahrscheinlich ist es mal wieder ein Feiertag, ich höre sie geradezu schwatzen und lachen. Auf der Anhöhe ziehen sich in einer Reihe gegen einen fahlen Horizont Cypressen, hohe Cypressen, dazwischen und mehr gegen den Hintergrund Häuser mit rotem Dach, eines steht vorn auf einer Klippe für sich allein. Dieses Bild hat sich mir ins Hirn geritzt, es sticht mich nachts im Traum; dass ich schweißgebadet aufwache. Es hat mich jahrelang verfolgt, bis ich erkannt habe, dass es für mich eine Warnung bedeutet, das Menetekel: in dieser Gegend, habe ich diese quälende Landschaft vor Augen, steht mein Ende bevor, Schluss mit den Irrfahrten, der Kreislauf ist beendet. Manchmal bin ich unterwegs auf der Suche und oft habe ich den Eindruck, ich mache große Umwege. Es hat mir große Mühe gemacht mich zu erinnern, dass dieses Bild an der Wand über meiner Wiege gehängt war, es muss der erste Blick aus dem Bewusstsein gewesen sein. Seitdem quält es mich weniger, aber die Gewissheit seiner Bedeutung ist vollkommen geworden. Sicherlich habe ich mich lächerlich gemacht, dass ich gewissen Gegenden aus dem Wege gegangen bin. Zum Schluss, als ich nur mehr hin- und hergezogen wurde, auf der Flucht, im Gefängnis, in den Polizeidurchgangslagern, die Drohung des Transportes über mir, weiter nach Süden, immer weiter nach Süden, hätte ich mich wehren mögen; lächerlich, es hätte nichts geholfen. Ich habe die Landschaft gesehen, durchschritten, habe lange gestanden und kleine Abweichungen festgestellt, der Zweifel wird mir noch einen kleinen Aufschub geben. Aber es ist Zeit – heimwärts!

Man darf glauben, ich bin vorher genügend bereit gewesen nach einer Kompensation zu suchen, noch bevor ich die eigentliche Bedeutung erkannt hatte. Ich habe damit gerechnet das Augenlicht zu verlieren (verständlicherweise auch heute noch). Ich sehe die Dinge um mich mit dem letzten Blick, aufsparend und zum Abschied. Ich beginne auch das Wahrnehmungsvermögen für diesen Fall zu schulen und unter Kontrolle zu bringen, ich probe ein wenig … Das hat mit Symptomen nichts zu tun; vorerst sind keine Symptome vorhanden. Aber wenn die Zeit fällig ist, wenn mir dieser Ausweg noch bleiben sollte – dann werden sich auch die Symptome einstellen.

Es ist nicht unbedingt, dass das eine oder andere in der Verwirrung, wie ich es sehe, eintrifft. Es kann sich hinter einer anderen Vorstellungsreihe verbergen, die ich noch nicht sehe – ich will nur sagen, ich beklage mich nicht. Ich habe es auch nicht anders erwartet.

Gern hätte ich mich vervollkommnet. Ich bin eitel genug zuzugestehen, dass es nicht angenehm ist, als geistiger Krüppel herumzulaufen. Oremus …

Ihr sollt nichts mitnehmen auf euren Wegen – steht in dem Entwurf der Ordensregel des Heiligen von Assisi! Der Entwurf wurde nicht genehmigt, die Brüder, noch zu Lebzeiten ihres Heiligen, haben sich nicht daran gehalten. Es scheint mir von wesentlicher Bedeutung, immer wieder von neuem anzufangen, keine Reserven anzulegen, sich nicht auf eine Reserve zu stützen, nicht mit Gepäck anzutreten an Verdiensten und gutem Willen, wenn der Kampf beginnt, der Kampf gegen die Schutzhülle; ich ziehe es vor, von vornherein ohne Schutzhülle anzutreten. Muss ich erst beweisen, dass ich im Recht, dass ich den Anspruch habe, geachtet gehört oder vielleicht sogar geduldet zu werden, dann habe ich nicht die Kraft eingesetzt, die notwendig ist, um die Spannung der inneren Entwicklung über mich hinaus auf dem Wege zur Vervollkommnung, in erster Linie mein eigenes Gesetz, aber auch das der andern und aller, zu halten. Die Feststellung meiner Schwäche, mit dem Fehlen geeigneter Schutzhüllen begründet, trifft mich nicht, der Grad der Stärke wird nach einem Übereinkommen gemessen – der andern.

Es hätte mich jemand an die Hand nehmen müssen, mich führen (aha), befehlen eine Weltanschauung, die stark genug ist sich nicht zersetzen zu lassen, an Leute gebunden wie ich und meinesgleichen und irgendwelche, in denen man zu leicht das Böse sieht, die Schwächen, den Betrug – es fehlt (heraus damit!) der Glaube (na also). Anstatt, dass man dann einen vorschiebt, dass man von mir erwartet, dass ich führe befehle und alles das.

Gewiss – man kann sich, dem auszuweichen, konservieren, sehr sehr lange halten, aber in Angst. In der Angst von Abenteuer zu Abenteuer sich steigernd, verzweifelnd und in ausschweifender Überheblichkeit – wie langweilig und ohne Nutzen; denn in Wirklichkeit bin ich nicht zur Angst berufen, ich provoziere lieber.

Gehen Sie mit mir ein paar Schritte, und dann noch einen Schritt weiter und dann – dann hat einer die Geduld verloren, derjenige, der dem andern bereits in die Fresse geschlagen hat, jeweils einer von uns beiden. Eben, man kann sich darüber lustig machen, man kann in Schwermut schaukeln, aber eins ist sicher, es stimmt etwas nicht.

Es ist leicht gewesen gegen mich vorzugehen; mich mit einem Fußtritt in die Ecke zu werfen. Ja mein Lieber, sagt man, Sie hätten mehr Ellbogen gebrauchen müssen; um recht zu haben, muss man mit den Ellbogen sich vorwärtsstoßen und auch Seite und Rückwand nicht vergessen, Schlag und Beinarbeit. Aber ich habe keine Ellbogen, und wenn sie mir gewachsen wären, hätte ich sie abgeschraubt. Trieb und Bewusstsein sich zu vervollkommnen bilden die Kraft, von der noch immer jeder Einzelne ausgegangen ist und von der er sein Leben lang zehrt, konstruktiver als die Schutzhülle, jener allgemein gültigen Eintrittskarte zur menschlichen Gesellschaft. Natürlich hängt sich alles dran, was mit offenem Munde herumläuft, sind zu Tisch geladen und sie zehren mit, jeder nach seinem Geschmack und nach seinem Hunger, wer ungesättigt aufsteht, schimpft.

Bestimmt – ich habe die Welt nicht erschaffen, nicht mal in der Phantasie. Ich bin wie alle anderen nur hineingestellt in diesen technischen Umtrieb. Ich kann die Sache auch nicht besser machen, ich kann mich ein wenig bemühen über meine eigenen engen Grenzen hinauszukommen und zwar, damit ich schärfer sehe, klarer erkenne und empfindsamer höre, worin es fehlt, was falsch ist und was es mit der Unzulänglichkeit auf sich hat, an der jeder, ob als Einzelgänger oder in der Allgemeinheit zerbricht. Das Weinen in der Welt ist eine schlechte Musik.

An irgendeiner Stelle des Lebensablaufs ist jedes Wesen scheints bestimmt das Verbundensein zu fühlen mit allem was zu wenig, was unrecht ist und lastend in Leid, dazu bestimmt mitzuleiden und mitzutun, Gutes und Böses; früher oder später, der eine nimmts nur im Vorüberhuschen, der andere trägts länger; wenige stellen die Erkenntnis ihres geistigen Tagewerks darauf ein: wer schreit, der hat sich schon geholfen; geh mit deiner Hilfe, dem Zwang zu schenken, dich zu verschenken, zu den Stillen, die sich abseits halten, die sich wegdrehen, die vielleicht, sofern du sie anfasst, explodieren vor Bosheit und Wut – dort liegen die Gesetze deiner Anziehungskraft. Heute sind es noch wenige, die in solcher Hilfe unterwegs sind, bald werden es mehr sein, und einmal ja einmal in der Zukunft, die uns trägt, werden es alle sein. Soll man sie rufen? Sie auf den Kopf schlagen, dass sie aufschrecken aus der Erstarrung, im Recht zu sein, damit sie hören was ansonsten in der Welt vorgeht, dass das Leben unerträglich schwer ist, während wir aneinander herumknappern, hoch und niedrig, reich und arm, alle an allen – und so etwas nennt sich Menschlichkeit und Bereitschaft, Hilfsbereitschaft. Warum rege ich mich auf? – ich, meine Herren, lebe ja noch, während andere schon verfaulen (verfaulen wir miteinander?)

Soll ich bitten, um Hilfe bitten, weil durch die schmetternden Fanfaren der Selbstsucht und Wohlerzogenheit, des Unantastbaren an Macht, Betrug und Dummheit in ewig währender Gerechtigkeit die Klagen und Seufzer und das Weinen noch hindurchklingen, obendrein dieserselben Menschen selbst, die ich vor mir, neben mir und gegen mich sehe, im Chor mit den Unglücklichen, Niedergetretenen, den Ausgehöhlten und Leergefressenen aus Vergangenheit und Gegenwart – ein ohrenbetäubender Lärm, der den Atem nimmt und gleich einer ungeheuren Woge über einem zusammenschlägt.

– Wen frage ich, wen?!

Mich? und in eigener Sache? – ich … ich meine, ich pfeife darauf. Lasst uns beten …

Denn es kann ja sein, ich habe mich in diesem Trubel bereits selbst weggegeben. Erinnerungen gewinnen Gestalt und ordnen sich, wie sie sich früher nie geordnet haben, als ich noch hätte einen Nutzen davon gewinnen können – die Luft ist zum Ersticken, Schweißperlen auf der Stirn, entsetzliche Kälte im Leib, jemand hat gegen das Hirn einen Bohrer angesetzt; in dieser Verfassung wach zu liegen, im Schlaf wird das nur ein wenig in die Distanz gezogen, ist nicht einfach. Waren es Abenteuer oder Verbrechen? – soll ich mich schämen (was kann ich damit erreichen, will sagen, ungeschehen machen?) oder das Glas mit diesem bitteren Zeug hinunterkippen, das nächste bitte …

Nicht aus artistischem Spiel, das Unästhetische zu glorifizieren, in Geständnissen zu brillieren, muss ich mich damit beschäftigen, sondern aus lebensnotwendigem Zwang, einfach die Form des Kassenzettels, ich muss zahlen. Es steht Ihnen frei darüber hinwegzulesen: Bis zur Bewusstlosigkeit betrunken im Abfallgraben oder durch die Straßen der Stadt geschleift, in der Vater sich von unten herauf Ansehen und Ehren erarbeitet hatte; der Mutter den Lebensabend vergiftet. Als ich als Kriegsverweigerer verfolgt, als Deserteur eingesperrt war (während alle anderen so sehr für den Krieg begeistert waren) ihr Ausspruch: hoffentlich lassen sie ihn nie mehr raus; wäre er doch draußen gefallen wie alle anständigen Menschen … ich muss mich zu Tode schämen, die Leute in der Stadt zeigen mit Fingern auf mich … qualvoll ist sie zu Grunde gegangen. (Ich bin am Leben geblieben). Jede Aussicht auf eine Stellung zerstört, jede Möglichkeit nach Eignung und Kenntnissen selbst zerstört, immer kurz vor der Aufmunterung der Beteiligten sich einzuspielen. Oh ja – da war auch die Sehnsucht nicht allein zu sein, sich umzusehen, mehr zu geben als man hat. Kameraden, die große Masse, die so leicht eine Heimat vortäuschen kann, Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit, Risiko und Opfer, Gefängnisse, Flucht, überall herausgeworfen, den Herauswurf provoziert, nein: herausgedrängt, herausgedemütigt – das ist es, überspitzt und übertrieben. Nicht als Kämpfer, Prediger, Bekenner, sondern als einfacher Zuhörer, Mitläufer, Gläubiger auf Prozente, mit der eigenen Musik im Ohr – Kämpfe interessieren mich nicht, auch wenn ich mitten drin bin, ich laufe nicht weg, aber ich habe alle Erwartungen enttäuscht. Vielleicht ist das mein eigentlicher Beruf, ich kann Erwartungen zerstäuben, in die Luft blasen, mich selbst daran vergiften. (Ich wundere mich immer, dass sie mich noch nicht totgeschlagen haben – obwohl schon Steine geworfen worden sind, und zwar recht anständige Brocken.)

Was suchst du Ruhe, wenn du zur Unruhe geboren bist – Thomas von Kempen konnte das schreiben von seiner Klosterzelle aus, mit dem Abschreiben von Bibeln beschäftigt. Ich hätte gern daraus meine Devise gemacht, aber für mich sieht es anders aus. Oh ja – ich habe auch mit Frauen gelebt, vier Frauen habe ich zu Grunde gerichtet, das heißt, sie leben sicherlich wohl und in verhältnismäßiger Ausgeglichenheit, ich will sagen, ich hätte sie zu Grunde gerichtet, wenn ich bei ihnen geblieben wäre.

Interessiert das? Ich glaube nicht.

Wichtiger ist die Bilanz, die Abrechnung, der große Kassensturz. In den klassischen Zeiten ihrer Schaukelpolitik pflegen die Staaten ihre Haushaltspläne auszugleichen, das Defizit verschwindet in den kommenden Steuern. Der Einzelne kann das nicht und bleibt mit seiner Rechnung unausgeglichen. Er kann nicht von einer Substanz schöpfen, die er schon aufgefressen hat. Und das muss ich sagen auf die Frage, was hast du ausgegeben, ich habe ein schlechtes Geschäft gemacht, meine Herren, ich habe überhaupt nichts eingenommen; sehr schlecht.

Also erzählen Sie mir nichts – der Ton in der Membrane der Selbstunterhaltung ist schon ein wenig unsicher geworden, reichlich hart – ich will nicht wissen, wie sich jemand in Land und Ländern herumgetrieben hat, Abenteuer zählen hier nichts, eigentlich auch nicht Verbrechen – zur Destillation von Schuldgefühlen, mit denen einer noch weiter jonglieren kann, besonders wenn sie erzählt werden, breitgetreten und stilisiert. Gehen Sie nach Hause –

Mit den Einnahmen stimmt etwas nicht. Ist es das, dass auch die Ausgaben gefälscht sind? Das wäre!

– Ich muss noch einmal von vorn anfangen. Es ist nur noch künstliches Licht für diese Abrechnung. Die Sicht ist schlecht. Ich komme nach Hause mit leeren Händen. Die Illusion, dass ich allein bin, ist Wirklichkeit geworden.

Es ist natürlich verlockend an die Brust zu schlagen und sich aufs Podium zu stellen: Ich habe nichts! Auf dem Heimwege muss man sich ruhiger verhalten. Der Vogel, der dir über den Weg pfeift, hört dir zu. Das Pflaster, auf dem du trittst, ist nachdenklich geworden. Das Schweigen ringsum sieht durch dich hindurch. Es ist notwendig sich vor diesem Schweigen zu verbeugen, damit es dir antwortet. Es spricht die Sprache derjenigen, an denen du vorbeigegangen bist, was du hättest tun sollen und nicht getan hast, in der Überheblichkeit der Demut. Darum, heißt es, bist du zurückgekommen, weil deine Rechnung nicht aufgegangen ist. Du kannst nicht entlastet werden. Was du verschleudert haben willst, das interessiert nicht, aber was du nicht eingebracht hast an Güte und Liebe, Erlösung von dem Übel und Dichtung der menschlichen Gemeinschaft – das lastet auf deinem Konto und dafür …

… ich fange von neuem an zu rechnen, zu analysieren, mich abseits zu halten …

Gut. Meinetwegen. Also werde ich verdammt. Ich marschiere geradenwegs in die Hölle. Es kann mir gleichgültig sein, ob mir recht geschieht oder nicht. Es geht nach Hause. Sicherlich ist das der mir bestimmte Arbeitsplatz. Ich fürchte mich nicht davor. Es sind eine Menge Leute hinter mir oder besser vor mir, denen ich nur zu folgen brauche – Leute wie ich mit ausgefransten Hosen, schon reichlich angeschlagen; die hatten es nicht nötig den Mund aufzureißen, es ist auch nichts besonderes geschehen, geboren – hat man sie laufen gelehrt, ihnen ein Werkzeug in die Hand gegeben, damit sie arbeiten, das Brot verdienen; ob Licht ist, ob es regnet oder friert, allerhand technische Errungenschaften gaukeln herum – alles das steht im Arbeitskontrakt; vielleicht haben sie sich mit einer Frau zusammengetan, Kinder aufwachsen sehen; alles geht vorüber, ohne Diskussion; der Rücken wird krumm.

Aufstehen, du fauler Hund! – es geht weiter. Marschieren wir – geradenwegs – immer nach Vordermann –

Ich werde in der Hölle zu demonstrieren haben für Verständnis und Liebe zwischen den Menschen, für die Kameradschaft und für die Erlösung vom Übel (wenn das gestattet ist).

(1948)

Gnadenreiche, unsere Königin

Tanzten schwarze Ringe.

Durch das Zittern in der Luft, dass alle Bäume sich hinaufrecken und die Knospen springen, geht die Frau. Verwachsen mit dem dampfenden Boden, ein flimmernder Kelch. Die Sonne treibt vorwärts, die Trambahn hält. Eigentlich hat sie gesagt, sie wird bald zurückkommen. Die Trambahn fährt. Die Frau trägt Bücher im Arm. Auch Briefe: Ich denke immer an dich, ich bin hineingewachsen – schrieb sie vor Jahren. Ihre Briefe. Aber der andere wartet. Auch der eine. Sie fröstelt. Sie rückt hin und her. Sie schaut über die goldenen Häuser auf die Wipfel, die sich im weiten Blau schaukeln. Morgen werd ich’s ihm sagen. Er wird sie durchdringend ansehen. Sie ist als Kind die Straße hastig auf und ab gegangen. Der andere fürchtet sich sehr. Er schweigt, wenn sie nur den Namen nennt. Er wird traurig, sieht sie hilflos an. Er fragt, weiß er denn, dass du bei mir bist? Aber es ist etwas an ihm, das sich schnell verkriechen möchte. Sie kann ihm nicht antworten. Oder sie muss lügen. Sie wird ihn allmählich aufblättern. Er soll alle Wärme und Schönheit haben, dass er zu ihm und ihr hinauf gedeihen mag. Er trägt seine hohe Stirn gegen das Gesindel. Vielleicht, dass er noch gegen diese Welt streitet. Und siegen wird, ohne sich umzusehen. Ihm ein Kamerad werden. Sie hob mit einem Ruck ihren Kopf. Sie wurde rot. Wollte sich umwenden. Befreit aufatmen. Vielleicht laut sprechen. Aber sie merkte, dass alle Leute sie hassten. Umso besser.

Sie war daran, mit dem Blonden ein Nest zu bauen. Und die Kinder werden dann alle miteinander spielen. Sie besucht mit ihm Konzerte. Über alle Stimmen, die sie trafen, hinweg glühte ein Klang, der wuchs, sich wölbte zu einem Dom und sie verschlang. Wie in Zeiten, da alles um die Menschen herum noch stark war, dass sie sich selbst nicht merkten. Er blühte ihr entgegen, aus Chorälen, die sie gemeinsam sangen. Er schwebte vor ihr, wenn sie sich in die Augen sahen. Er strahlte über sie, wenn sie die Straße entlanggingen. Der eine merkte dies alles und wurde unruhig, dass sie nicht zu ihm sprach. Ich fürchte, du wirst alles zerstören, wenn du nicht zu mir sprichst. Er beunruhigte sich. Er sprach hart und abgerissen. Er ging mit ihr dieselbe Straße entlang. Er sprach von Chorälen. Er sprach von dem Klang. Da spuckte sie aus. Sie wies auf Vorübergehende, die sich nach ihr umsahen. Sie schrie: Schweine, Säue und Ähnliches. Die Leute blieben stehen. Sie ballte die Fäuste, sie zitterte. Er merkte, dass sie ihn ganz vergaß. Er redete auf sie ein. Er hielt sie eisern umklammert, als sie einer fremden Frau nachstürzen wollte. Die Augen quollen hervor, dann weinte sie lautlos. Unaufhörlich. Beängstigend. Sie hörte, wie er sagte, zu jeder Reinheit gehört eine Sicherung, sie kann niemals zufällig sein. Er sah, wie sie darüber hinwegglitt. Später hörte sie demütig seinen Entwicklungen zu. Er muss vorher alles wissen, man kann nicht auf seine Kosten leben, Bezahlung schwächt. Er erinnerte sich, dass sie ihn vor einigen Tagen einen Heiligen genannt hatte. Er erinnerte sich, dass sie ihn scheu gestreichelt hatte. Er war still geblieben, die Zähne zusammengebissen. Gestöhnt, warum sagst du mir nichts. Sie fällt wieder zusammen, vermorscht, klagt und muss um Hilfe winseln. Er wird wieder Wärter sein. Eine Glut war über ihm zusammengeschlagen. Er hätte sich quälen mögen, um sie zum Sprechen zu bringen. Er blieb einsam. Und wollte es nicht. Und durfte es nicht. Sie stöhnte zwischendurch, ich bin so dreckig, ich bin ein Hund. Er lauschte. Aber sie sagte nicht: verzeih. Sie schmähte den Blonden. Er widersprach. Er ist schuldlos, du hast ihn genommen. Sieh, dass ein Ende wird. Sie weinte lange. Er sprach viel. Er verteidigte ihn heftiger, aber er schloss immer, der soll sich beweisen … Es war, als ob sie den andern schützen müsste. Er kann sich nicht beweisen, dachte sie. Er ist noch so schwach und klein. Nun gut, hätte er da schließen wollen. Aber sie ging aus seinen Armen und lächelte scheu. Er blieb gebannt stehen. Er brachte keinen Laut hervor. Alles Blut drängte sich zusammen. Er blieb zusammengekauert. Sie war sehr lange aus. Er wühlte sich in die Kissen. Ich hab euch lieb, fühlte er und zuckte.

Es half nichts, dass ihm war, als müsste er ersticken. Dass er verbrannte. Er blieb angeschmiedet und ohne Waffen. Er erinnerte sich, dass sie gestern gewünscht hatte: Eine Stube voll Jungerle. Er erinnerte sich, dass manchmal ihr Gesicht hohl und wie entschwunden war. Hergerichtet zum Schlag und unempfindlich. Er wurde nicht erlöst, das Feuer prasselt. Eine furchtbare Angst war um ihn: ich bin ausgestoßen. Da tauchte eine Tote vor ihm auf, der sein Wesen unaufhaltsam zuströmte. Er dehnte sich beglückt. Er wurde ruhiger. Er merkte, wie sehr er mit einem blassen lustigen Gesicht verbunden war. Er sah dünne goldene Haare, einen flimmernden bleichen Körper. Er musste ein quälendes Gefühl zurückscheuchen, dass er sie bedrückend empfunden hatte. Ihre Nähe war heiß und fiebrig. Auch glitschig. Aber er sah jetzt in eine Werkstatt. Er sah ihre Kräfte an der Arbeit. Ihn schmieden. Dort war sein Leben. Er versank in ein wohliges Träumen. Er kroch ganz in sich zusammen. Er hörte die Schritte der Frau und wühlte sich tiefer ein. Er hätte rufen mögen, jetzt wenigstens lasst mich in Ruh. Da bebte er in Erschütterungen. Wie Nebel über dem Waldhange sich wölbt, zerreißt und sich wieder fängt. Er quälte diese Frau, er drängte ihr ein Leben auf, das in einem dunklen Land verankert war. Vor dem sie zitterte. Sie liebt die Sonne. Sie umspannt das weite graue Feld. Sie ist im quellenden Wasser, in den Katarakten des Stromes. Sie will leuchten und Glück sein … Er versank in ein dumpfes Weh. Und doch merkte er noch, wie er daran ging, sich aus dem Drohenden, Ungeheuren Kräfte zu ziehen. Er sah sich panzern. Die Augen ausschlagen. Sein Weg ging steil und schmal. Er fühlte, jeder Schritt ist gegen die Welt. Gegen das Glück. Gegen alles höchstes Leben. Und doch …

Aber er musste es ablehnen …

Denn er musste es ablehnen, ein Krüppel zu sein.

(1915)

Das Erbe

I.

Manche Leute glauben, dass die kleinen Ereignisse des täglichen Lebens, sofern sie nur auf das breitere Band der Zeitgeschichte versetzt werden, an Umfang und Tiefe des Lebensinhaltes gewinnen. Kleinigkeiten werden dann zum Erlebnis, das zwischen Abenteuer und Wunder dahingleitet. So ist man das gewohnt. Ich gehörte auch zu diesen Leuten.

Im Folgenden werde ich beweisen, dass eine solche Ansicht irrig ist. Nicht der Rahmen gewisser Ereignisse, sondern deren innere Gebundenheit, nicht ihr Ausmaß, ob es nun aus der Entwicklung heraus gegeben oder nur zufällig ist, sondern – aber das werde ich ja später noch zu beweisen haben. Als es mir an einem an und für sich bedeutungslosen Abschnitt meines recht unruhigen Lebens plötzlich klar wurde, dass mein unmittelbares Dazutun peinlich gering war, beschämend wenig das, worauf ich gebaut hatte, um zu werten, dieser Kampf gegen das Gewohnte, das Ungewöhnliche, gegen den Strom – ach, wenn ich nach so vielen Jahren Zwangsschule, sozusagen im letzten Augenblick vor einem vorgeschriebenen Schlusspunkt, den Zweck des Ganzen in Frage stelle, um alles hinzuwerfen, um mich vom breiten Strome des Lebens treiben zu lassen, das dann vielleicht wie ein einziges großes Wunder scheint, vielmehr bitte, Abenteuer –, zeigt es doch nur, dass jene Kraft, die fünfzehn und sechzehn Jahre Schule gehalten und bis zur letzten Schwingung verausgabt war, einfach restlos zu Ende und nichts weiter, und was dann dahinter noch kommt, der Landstreicher und Gelegenheitsarbeiter, der anarchistische Wanderprediger, der ganze Zinnober vom Literaturzigeuner, Spartakus, Desertion im Felde, und das alles mit Gefängnissen und Holzwolle im Kastenbett der Irrenhäuser, Abenteuer über Abenteuer – und alles Quatsch! Sagen wollte ich, als mir das aufging damals, nach ziemlich bitteren Stunden tiefster Niedergeschlagenheit, wurde ich mit einemmal ganz ruhig, ich wurde froh, ich war glücklich – wenn man mir Glauben schenken will, so war das so.

Damals war ich als »Blinder« auf einem Dampfer von Leningrad nach Hamburg. Es war durchaus nicht meine erste Reise als Blinder. Die Gefahr war gering, die Unbequemlichkeit allerdings groß. Gewisse Nebenumstände ganz ohne mein Zutun gaben dieser Reise den Charakter einer Flucht. Ich war vorn im Kettenraum verstaut. Zur besonderen Vorsicht, hauptsächlich der recht wenig verlässlichen Deckmannschaften wegen, ließ ich meinen Vertrauten auf dem Schiff die Luke zum Kettenkasten zunageln. Es wurde schlechtes Wetter. Ich lag auf dem Berg von Ketten, in völliger Dunkelheit, vom zweiten Tage an ohne Wasser und Brot, fünf volle Tage und ein paar Stunden. Wenn ich gerufen hätte, die Leiter zur Luke hochgestiegen und Alarm getrommelt, es hätte mich niemand gehört. Ich hatte Glück. Das Schiff wurde mehreremal von allen möglichen Kontrollen überholt. Schon in Leningrad wurden zwei Blinde heruntergeholt, ein weiterer in Kronstadt und der letzte noch draußen am Feuerschiff. Im Kettenkasten war ich sicher. Das war besser als Bunkerraum und Wassertank.

Das waren die Stunden, in denen ich froh wurde. Ich habe niemals recht lachen gelernt. Es hätte nur sollen jemand bei mir sein, ein Mensch, der mich anspricht und so – wir hätten zusammen gelacht, herzlich gelacht, wie so viele Menschen lachen können. Ich wurde so völlig ausgeglichen, ganz frei, beschwingt, begnadet und so ruhig.

Aber das ist es nicht, wovon ich in Folgendem sprechen will. Ich brauche diesen Vorgang nur der Atmosphäre wegen. Er hat mich aufgeschlossen für das Erlebnis, und dieses Erlebnis war: Mein Vater.

Nachdem ich dieses Schiff verlassen hatte, war ich in vielem langsamer geworden. Natürlich kam jene alte Unruhe wieder, alles der so geschenkten Ausgeglichenheit verblasste, verschwand. Aber diese Unruhe hatte nicht mehr die Macht, mich in neue Abenteuer zu stürzen. Ich verstehe nicht mehr alles, was die Menschen dieser Zeit bewegt. Ich kann oft die Menschen nicht sehen, und die Zeit schlägt über mir zusammen. Ich habe keine Mittel, mich ihnen verständlich zu machen; darum stehe ich abseits. Alle äußeren Lebensumstände sind darauf mit eingerichtet. So verging eine gewisse Zeitspanne.

Müde war ich und, wozu sich etwas vormachen, bequem. Aber ich fühlte, jene Reinigung damals ist noch nicht vollständig, vor allem, die Erinnerung daran ist noch gegenwärtig. Ich habe noch Stellung zu nehmen. Nun, es ist nicht ganz leicht, von einem Erlebnis »Vater« überhaupt zu sprechen. Der Vater, die Autorität, der Staat, Zwangmarsch der Jugend, Sehnsucht nach dem Mütterlichen – all diesem steht dieser Begriff Vater entgegen. Er ordnet, wo man übereifern will, Glied der Fessel, die man zersprengt. So haben wir das gelernt. Dafür sind wir ausgezogen, Sonne im Herzen. Es tut weh, eingestehen zu sollen, dass dies alles verdammter Unfug ist. Ja, und das ist wenig schön.

II.

Mein Vater lebte in einer schlesischen Stadt, die ihres geruhigen Lebens wegen, ihrer Pensionäre und Rentner und schließlich auch wegen ihrer beträchtlichen militärischen Garnison bekannt war. Die Stadt selbst hat in den letzten fünfzehn Jahren, während der mein Vater dort lebte, im Grunde nur eine bescheidene Entwicklung genommen. Sie ist eingekreist von einer wohlhabenden Bauernbevölkerung, die, allen Spekulationen fremd, nur geringe Veränderungen duldet. Die Wirtschaftskrisen treffen den Bauer nicht minder hart wie die Handelsbevölkerung einer Stadt, die zudem ohne wesentliche Industrie, nur auf Handwerk aufgebaut, nicht zuletzt vom Bauern abhängig ist. Solche Krisen lösen indes kaum soziale Erschütterungen, geschweige denn Auseinandersetzungen aus. Ihr Einfluss zeigt sich mehr unter der Oberfläche des Ablaufs der Tagesgeschäfte, in dem beharrlichen Festhalten an oft nur dieser Stadt eigentümlichen Vorstellungen, an einer schroffen Trennung in Kasten, Familien und Erwerbsgruppen, die schlimmer als die üblichen Klassenunterschiede die Menschen gegeneinander aufbringen.

In dieser Stadt hatte mein Vater als Uhrmacher einen neuen Hausstand gegründet. Ein Uhrmacher lebt von der Hand in den Mund. Wenn er sehr fleißig und sparsam ist, glückt es ihm vielleicht im Laufe einiger Jahre, sich ein kleines Warenlager zuzulegen, auf dem er sein Verkaufsgeschäft gründet. Darin stecken seine Ersparnisse, aber sie sind nicht so sicher angelegt wie bei der städtischen Sparkasse. Die Mode wechselt, und der Reisende der Engrosgeschäfte weiß seine Leute zu nehmen. Er ist nicht nur der Freund des Hauses, sondern er kommt oft. So gehen die Ersparnisse meistens drauf. Das Lager wird verschuldet, die Zinsen fressen schließlich auch noch den Verdienst an den Reparaturarbeiten. Ein richtiger Uhrmacher endet immer da, wo er angefangen hat.

In einer solchen Lage ist es nicht leicht, sich noch mit Dingen zu beschäftigen, die über den ursprünglichen mehr geschäftlichen Interessenkreis hinausgehen. Der Handwerker wird in den Jahren alt und klapprig, mein Vater wurde, wenn man so sagen darf, mit jedem Tage jünger. Es gelang ihm dabei, die oben gekennzeichneten Krisen zu bannen.

Er schuf sich Interessen, die seiner Arbeit vollkommen parallel gingen, ohne sich gegenseitig zu berühren oder schließlich zu kreuzen. Später wechselte zunächst unmerklich die Rolle ihre Bedeutung. Solche Interessen wurden vorherrschend. Nicht auf Kosten der gewohnten Arbeit, da sie nicht im Gegensatz dazu waren. Sie waren mehr, mehr an Inhalt und an Zukunft. Daher trieben sie der Tagesarbeit neuen Verdienst zu. Auch diese Klippe, die so viele zu Fall bringt, wurde glücklich überwunden.

In den ersten Jahren trieb mein Vater der Reihe nach eine Anzahl schöner Künste. Er fertigte Verse und Theaterstücke, komponierte, baute mechanische Spielereien, die ihn zu einem der ersten Fachleute Deutschlands werden ließen in der Reparatur alter Glocken- und Spielwerke an den vom Mittelalter zurückgebliebenen Bauwerken. In dieser Sache war er eine Zeitlang berühmt, während für die erstere Beschäftigung zwar die schlesischen Dichter und Künstler reichlich seine Gastfreundschaft in Anspruch nahmen, aber so außerordentlich überlegen waren, sich über ihn lustig zu machen. Er ließ das fallen. Wendete sich philosophischen Bestrebungen zu, der Politik des Übermenschen, dem Kampf gegen die Ärzte, der in seinem ersten Abschnitt der Befreiung des Körpers diente, für Luft, Licht und Wasser. Später mündete diese Bewegung in einer Reformbewegung für den Mittelstand, genauer den Handwerkerstand. Gegen kirchlichen Konservativismus in Dingen der öffentlichen Moral. Was für den Bauern selbstverständlich, war dem Städter verboten. Gegen die Errichtung eines städtischen Freibades, gegen Barfußgehen der Gruppe der Naturfreunde predigte der Pfarrer von der Kanzel. Gegen den Wucher an Grund und Boden, siehe unter Bodenreform. Für die Erschließung des Mittelstandes zu einer politischen Bewegung. So wurde mein Vater Politiker.

Er kämpfte für eine Reform des Kredits, das Genossenschaftswesen. Er gründete Kreditgenossenschaften, Handwerker-Rohstoffgenossenschaften. Das Arbeitsgebiet wuchs. In seiner Stadt, in Schlesien und draußen im Lande.

Noch immer arbeitete er an den Uhren, die ihm zur Reparatur gebracht wurden. Die Leute, die Fachleute aus seinen neuen Interessengebieten kamen zu ihm in den Laden. Er arbeitete meistens nachts. Am Tage waren die Besprechungen, Deputationen, Versammlungen und derartiges. In diesen Nachtstunden wurden die Kommunalpolitik, der neue Mensch, der Mittelstand und der Kredit besprochen, Denkschriften verfasst, während er weiter arbeitete und lernte. Er bildete sich zum Fachmann für seine Interessen, unmerklich, aber dafür auf desto festerem Grund.

Ziemlich spät erst hing er die Uhrmacherei an den Nagel. Er stieg die Sprossen des Einflusses, den seine Stadt zu vergeben hatte, empor. Vom Stadtverordneten zum Stadtrat. Niemals ganz freiwillig. Wie er auch seine Arbeit nur ungern aufgab. Erst auf Vorstellungen, die sich über mehrere Jahre erstreckten. (Ich wuchs gerade in diesen Jahren heran.) Das, was man allgemein unter Politik versteht, die große Politik, Reichstag, Landtag, war ihm fremd. Er kandidierte nicht. Er lehnte ihm angetragene Stellungen mit sichtbarem Einfluss in Breslau und in Berlin ab. Obwohl er in den letzten Jahrzehnten ständig auf Reisen zu Kongressen und Rücksprachen war, die er sich hätte sparen können, wenn er eine dieser Stellungen angenommen hätte.

Er wollte es nicht wahrhaben, dass sein Körper verfallen muss, und verfiel. In den letzten Jahren raffte er neue Arbeitsgebiete an sich, ohne etwa die anderen aufzugeben. Er gewann Interesse für das Schulwesen, für die Jugend, und besonders für die gewerbliche Jugend. Die Arbeit wuchs und wuchs, zwischendurch der Krieg, die Revolution, Geldentwertung und Stabilisierung – so war der Vater.

III.

Ich bitte noch um Geduld, rasch einige Worte zwischendurch über meine Stellung zu diesem Vater während der Jahre des Heran- und Hinauswachsens sagen zu dürfen. Das Kind sieht gerade die Schwierigkeiten, die Konflikte der Erwachsenen ins Lächerliche verzerrt. Der Vater, der sich um die Zukunft müht, erscheint dem Jungen als ein langweiliger Narr. Das Langweilige wird zur Bösartigkeit, wenn der Vater sich auch um die Erziehung zu kümmern beginnt. Da er das meistens nur gelegentlich tut, gewissermaßen so ganz nebenbei, um so bösartiger wirkt es. Liebe erzeugt Abwehr, Verständnis wirkt als Verschlagenheit, um irgendein Geständnis zu erpressen, kameradschaftliches Eingehen schärft das Misstrauen. Der geringste Schritt des Vaters in das eigene Leben zurück hinterlässt blanken Hass, später Verachtung, schließlich wohlerworbene Gleichgültigkeit. Ich erzähle da nichts Neues, jeder weiß das.

So war natürlich auch meine Stellung zu diesem Vater, vielleicht alles einen Ton schärfer, als im Allgemeinen üblich. Der Junge parallelisiert nämlich schon früh irgendwie die Entwicklung des Vaters. Und in vielen Fällen holt er einfach nach, was der Alte bereits hinter sich hat. Den Dilettantismus, die innere Unzufriedenheit, ins Maßlose gesteigerten Ehrgeiz, die oft so köstliche Verschmähung, die das Genie ersetzt. Alles das wird zum Eigenleben, aus dem die Jahre der Entwicklung erblühen. Solche Jahre, dieses Eigenleben, lässt keinen Platz frei für den Vater. Weg damit!

Der Vater stört. In der Entscheidung des Hinauswachsens wird die väterliche Gewalt plump und abgeschmackt lächerlich, wenn man will. Einfluss, der fordernd und gesetzmäßig wirken soll, gibt den gewünschten Anlass offener Auflehnung. Daneben erscheint dann jede Tätigkeit eines Vaters empörend fatal, veraltet die Technik, zu langsam das Tempo – mit einem Wort, langweilig und dumm.

Alle diese Entscheidungen sind einmalig. Sie wiederholen sich nicht, und niemals kann man derart auch nur der Stimmung sich erinnern, um sie in der Abwehr gegen eine gleiche Entscheidung einer neu heraufkommenden Generation zu verwenden. Ich vermag nicht zu sagen, was mein Vater zu diesen Meinungen getan oder auch nur gedacht hat. Ich neige der Ansicht zu, er hatte wenig Zeit, sich mehr als zur Aufrechterhaltung der Ordnung unbedingt nötig, und mehr als alle übrigen Väter in solchen Fällen tun, damit zu beschäftigen. Aber das ist auch gleichgültig. Ich glaube, dass solche Abkehr nicht besonders schmerzt.

Ich glaube das deshalb, weil später der so auf die Welt losgelassene junge Mann aufs höchste erstaunt ist, wie innerlich ausgewogen, bescheiden, freundlich und so völlig unverletzt dieser Vater ihm entgegentritt.

Auch dies trägt wenig zur Besserung des Gesamtverhältnisses bei. In geldlichen Auseinandersetzungen pflegt jeder Vater klüger und stärker zu sein. Sich einen Beruf zu wählen, sich emporzuarbeiten, jener verworrene Anfang, sich umzusehen und auf seinen eigenen Füßen zu stehen – dazu genügt die Abwehrstellung des Jungen nicht. Das ist sogar verdammt wenig. Es wäre gut, wenn der Alte im Hintergrunde irgendwie wäre. Merkwürdigerweise verblasst der Vater, je mehr man ihn ruft. Er wird wirklich empörend gleichgültig. Er lässt dich abrutschen – das fühlt man so deutlich, dass für viele junge Leute von diesem Augenblick so etwas wie eigenes Denken erst beginnt. Es besteht die Gefahr, den Anschluss an das Leben, ich meine die Welt, zu verlieren. Die Maschine läuft noch recht unruhig, sie kommt schwer und polternd in Gang, man schwitzt. Und bildet sich ein, etwas ganz Außerordentliches geleistet zu haben. Das ist die Zeit, während der der Begriff Vater zur Form wird. Die Lösung hat sich vollzogen. Die Jahre regnen darüber hin. Man erinnert sich gelegentlich, dass der alte Vater lebt.

So weit war das in unserer Stellung auch der natürliche Verlauf. Nur in einigen Sonderfällen, die für ihn zu einer Bedrohung seines Heims, seiner Stellung zu führen schienen, trat der Vater aus seiner Zurückhaltung heraus. Er unterstrich deutlichst, dass ich seiner Fürsorge entwachsen war. Ich wurde für ihn der Fremde, der seine Arbeit störte, und er wehrte sich dagegen. Er benutzte dazu jedes Mittel, mit dem ein Bürger dieses Staates gegen einen ihm fremden Feind kämpfen kann. Er hatte die Überlegenheit, diesen Feind so genau zu kennen, dass er ihn richtig abschätzen konnte. Darin bin ich ihm unterlegen.

Damit ist die Vorgeschichte zu dem Erlebnis, von dem ich erzählen will, umrissen. Über einen Teil dieser Zusammenhänge habe ich in dem schon erwähnten Kettenraum des Hamburger Dampfers nachgedacht. Ihre Bedeutung für mich ging in der darauffolgenden Zeit ziemlich verloren. In einem ganz anderen Sinne, als ich hätte erwarten sollen, wurde sie wieder lebendig: Mein Vater lag im Sterben.

IV.

Er hatte schon die Siebzig überschritten, und er hatte vor, es bis auf hundert zu bringen. Seiner Meinung nach war siebzig kein Alter. Er ging zwar etwas gebückt, doch war dies auf ein altes körperliches Leiden zurückzuführen. Es stimmt, es war keine Alterserscheinung. Er fühlte sich frisch, wenngleich überarbeitet. Das Haar war kaum angegraut.

Ein Schlaganfall warf ihn nieder.

Er hatte nicht die Absicht, diesen Schlag zu ernst zu nehmen. Eine Lähmung der Hand, des Armes, die man massieren muss. Er begann sich zu massieren. Dann wurde er müde und ging zu Bett. Seit Jahrzehnten zum erstenmal, dass er tagsüber ruhen wollte. Am nächsten Morgen stand er wieder auf, halb gelähmt. Und wurde wieder müde.

Er hatte nicht daran gedacht, mich rufen zu lassen. Sicherlich schämte er sich, ans Bett gefesselt zu sein. Er war überzeugt, diesen Anfall zu zwingen.

So wurde ich von dritter Seite gerufen.

Es war eine ziemlich lange Eisenbahnfahrt, und ich kann sagen, dass ich recht gedrückter Stimmung war. Es lag etwas Bedrohliches in der Luft, etwas Schleichendes, gegen das man sich nicht wehren kann. Es lässt sich nirgends einordnen, man sieht es nicht. Es wird alles so schwer und ohne zureichenden Grund. Wird der Vater sterben – gewiss, das liegt im Lauf der Welt. Du hast ihn die letzten Jahre öfter gesehen; im Grunde nimmt man jeweils Abschied, ob nur so oder fürs Leben – das ist es nicht. Ein fremder, freundlicher Mann, der sorgsam bedacht ist, nicht anzustoßen – schade; wird sich vielleicht wieder aufraffen. Die Drohung geht tiefer. Trifft so etwas wie das Eigene, das eigene Dasein. Vielleicht ist es dies: es wird alles so unsicher, der Boden schwankt. Es bleibt nichts von dem, was man in all den Jahren gedacht und getan hat. Es ist ja auf einmal alles nichts.

Mit solchen Empfindungen klappert der Zug dahin. Er hat es gar nicht eilig.

Ankunft, die Verlegenheit: fremde und vergessene Gesichter ringsum, ein fremdes Haus, verlegene fremde Worte im Vorraum, das Krankenzimmer – ein Weg, der sich vor einem herschiebt, ausgelöscht in der Erinnerung.

Und dann das Krankenzimmer. Gegenüber der Tür an der Wand stand das Bett, mit dem Kopfende am Fenster. Das Fenster ist geschlossen. Wie merkwürdig, da der Vater jedes Fenster weit aufzureißen pflegte. Der röchelnde Atem bannte den Eindringling an der Schwelle. Der Vater schlief. Er schläft seit wie vielen Stunden. Der Atem geht schwer. Er verbreitet sich im Raum und röchelt. Auf und nieder und bleibt zwischendurch stehen, um auszuruhen. Dann windet er sich hindurch, er übersteigt ein Hindernis, rasselt hinab und wartet. Der Kopf ist so schmal, der breite massige Kopf.

So sah ich den Vater. Das Gesicht eingefallen. Es ist gelb. Das Gelb liegt breit im Zimmer und alles in gelbem Glimmer. Der Kopf liegt zur Seite und wird vom Kissen rutschen. »So liegt er schon seit Tagen«, flüstert jemand. Es ist heiß in diesem Raum. Alles zittert ein wenig. Auf die Stirn des Kranken treten Schweißtropfen. »Er wird Sie nicht erkennen –«, wieder flüstert jemand. Ich gehe einige Schritte näher.

Niemals hat man gelernt, richtig zu gehen. Es tut weh.

Man soll ihn aufwecken. Die Hand hängt leicht zu Boden geneigt. Genügt es, sie zu fassen und ein wenig zu schütteln. Eine Bewegung an die Wange hin. Über der rechten Schulter bauscht sich das Hemd, das Hemd ist viel zu groß. Jemand hat die Hand genommen und sie aufs Bett gelegt. Die Hand ist gelb und schmal. Die Finger zittern und die Knöchel. Beben und zittern. Das Bett zittert und alles ringsum. Die Augen wollen sprechen, meine Augen. Über das Gesicht geht ein Ruck, ein einziger tiefer Ruck, der einen Spalt reißt. Sprich jetzt, sag’ was!

Da hängen alle diese alten Bilder. Diese blödsinnigen Bilder meiner Kindheit. Die Jungfrau Maria mit dem Jesusknaben, die Mutter Gottes mit dem Gotteskind. Das Bild des Gekreuzigten mit der Dornenkrone. Die Augen gehen auf und zu – sagt man. Wieder räuspert sich jemand.

Am Bett saß die Schwester. Eine Frau aus der kirchlichen Gesellschaft, die barmherzige Schwester. Sie sieht mich an und kniet nieder. Mit einem Tuch wischt sie dem Kranken den Schweiß von der Stirn.

Ist es draußen kalt? Ein grauer Wintertag und am frühen Vormittag. Das Fenster ist geschlossen. Es ist heiß. Es würgte mir in der Kehle. Ich atme in dem zitternden Atem mit. Wie ein eiserner Ring legt sich das um die Brust. Wach’ auf – ich bin da!

Dann stieg alles Fremde in mir auf. Es entlud sich. Es drängte nach oben, schlug über. Jeder Mensch hat in seiner Brust einen Stein. Den Stein, mit dem er sein Leben verbringt, dieses Leben voller Wunder. Alles Fremde stieß empor.

Es zerriss den Raum, das Fremde. Die Schleier, die einer über das Zimmer gezogen hatte, Schleier für Schleier. Draußen war der Tag.

Ich konnte nicht mehr atmen. Das Blut hämmerte an den Schläfen. Ich wandte mich ab.

Ich floh aus dem Zimmer. Es knarrte. Ich stolperte. Ich floh tief beschämt, unsagbar geschlagen.

Ich wusste nur noch, nebenan steht der Frühstückstisch. Luft – ich habe Hunger.

Und so blätterte dieser Stein auf.

V.