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»Elos von Bergen war nicht einfach irgendein Spurensucher. Er war es, der das Rätsel des Obelisken von Tarnok gelöst hat. Er brachte der Gräfin von Oberlinden ihren Greifen zurück. Er fing den Traummörder von Altschwanenberg. Er war der berühmteste Spurensucher der Verlorenen Provinzen. Wobei er sich selbst nie als Spurensucher bezeichnet hätte. Elos von Bergen war Spurenfinder.« Elos von Bergen hat das Spurenfinden eigentlich an den Nagel gehängt, seit ein Fall mit einem nachtragenden Nachtmagier ihn und seine Kinder Ada und Naru fast das Leben gekostet hätte. Darum wohnen die drei nun seit einigen Jahren in Friedhofen, dem verschlafensten Dorf des gesamten Königreichs. Dort arbeitet Elos – sehr zum Leidwesen der Kinder, die sich in dem Kaff unsäglich langweilen – an der Niederschrift seiner zwanzigbändigen Memoiren. Doch dann geschieht ausgerechnet in Friedhofen ein rätselhafter Mord, der den Spurenfinder in den verzwicktesten Fall seines Lebens hineinzieht. Und wenn er glaubt, seine Kinder würden derweil zu Hause bleiben und Däumchen drehen, täuscht er sich gewaltig.
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Der Spurenfinder
Marc-Uwe Kling singt Lieder und erzählt Geschichten. Seine Känguru-Geschichten wurden 2010 mit dem Deutschen Radiopreis und 2013 mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Im Kino waren das Känguru und der Kleinkünstler bereits mit zwei Blockbustern vertreten ("Die Känguru-Chroniken, 2020 & Die Känguru-Verschwörung 2022). Die satirischen Dystopien QUALITYLAND (2017) und QUALITYLAND 2.0 (2020) eroberten die SPIEGEL-Bestsellerliste und werden derzeit verfilmt. Das Vorlesebuch DAS NEINHORN verkaufte sich fast eine Million mal.
»Spuren suchen kann ja jeder. Auf das Finden kommt es an.«Elos von Bergen ist der berühmteste Spurenfinder der Verlorenen Provinzen. Mit Hilfe seiner Kinder Ada und Naru hat er noch fast jeden Fall gelöst. Leider wissen die vorlauten Zwillinge nie, wann es für sie zu gefährlich wird. Nach einem beinahe tödlichen Konflikt mit einem Nachtmagier beschließt Elos, sich zur Ruhe zu setzen – und zieht mit den Kindern in ein verschlafenes Dorf namens Friedhofen. Doch dann geschieht ausgerechnet dort ein rätselhafter Mord, der die drei in den verzwicktesten und gefährlichsten Fall ihres Lebens verwickelt.Eine überraschende Fantasy-Krimi-Komödie in einer magischen Welt.
Marc-Uwe Kling, Johanna Kling und Luise Kling
Roman
Ullstein
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Das Buch
Titelseite
Impressum
PROLOG
FRIEDHOFEN
DER JAHRMARKT
DAS SPEKTAKEL
DER TOTE AM WALDRAND
SPURENSUCHE
DIE FALLE
DAS VERSTECK
DER WILDE WALD
DAS MONSTER
DIE GEHEIME BOTSCHAFT
DAS GEGENMITTEL
WER HAT AN DER UHR GEDREHT?
MINNA VON TALHEIM
GROßMÜTTERCHEN ZILLA
NEKRANS SCHUTZ
DRACHENBERG
DIE ANDERE SEITE DER ANGST
DER HERZOG
DIE HEILQUELLE
EMMETTS GEHEIMNIS
DER UMKÄMPFTE THRON
DAS VERFLUCHTE HAUS
RACHE
EPILOG
Personen
KARTEN
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
PROLOG
»Wie ausgiebig meine Wanderungen waren, mag man daran erkennen, dass sie mich sogar nach Friedhofen führten. Diesem Ort gelingt das Kunststück, gleichzeitig mitten in Dreibrücken und doch am Ende der Welt zu liegen. Im Süden, Osten und Norden umschlossen vom ›Wilden Wald‹ und ›Schönen See‹ (die Namen mögen trauriges Zeugnis von der Kreativität der Bewohner ablegen) ist das Dorf wahrhaft eine Sackgasse. Nie wird sich jemand auch nur auf der Durchreise oder aus Versehen in dieses Nest verirren. Gerüchteweise erfuhren die Bewohner von den Unabhängigkeitskriegen zwei Jahre nach deren Ende. Wer sichergehen möchte, dass in seinem Leben garantiert nichts Aufregendes mehr passiert, dem empfehle ich, nach Friedhofen zu ziehen.«
Aus Wanderungen durch das Königreich Dreibrückenvon Deidra Harfner
Elos von Bergen war der berühmteste Spurensucher der Verlorenen Provinzen. Er war es, der das Rätsel des Obelisken von Tarnok löste. Er brachte der Gräfin von Oberlinden ihren Greifen zurück. Er fing den Traummörder von Altschwanenberg. Wobei Elos sich nie selbst als Spurensucher bezeichnet hätte. Elos von Bergen war Spurenfinder. Er beliebte zu sagen: »Spuren suchen kann ja jeder. Auf das Finden kommt es an.« Und er hatte noch jede Spur gefunden. Oder zumindest fast jede. Einen einzigen Fall, so gestand er neugierigen Auftraggebern unter vier Augen, hatte er nicht zu lösen vermocht. Aber mehr war ihm darüber nicht zu entlocken.
Der Spurenfinder stammte aus Iriandria, der Hauptstadt des Königreichs Dreibrücken. Dieses Binnenland war die kleinste, aber schönste der Verlorenen Provinzen. Zumindest behaupteten das die Einwohner Dreibrückens. Elos hatte zwei Kinder. Ein schlaues Mädchen namens Ada und einen talentierten Jungen namens Naru. Beide zählten zwölf Sommer. Und sie feierten jedes Jahr zusammen Geburtstag. Daran war nichts Ungewöhnliches, denn sie waren Zwillinge.
Die beiden hatten nur noch ihren Vater, da ihre Mutter kurz nach der Geburt der Kinder verstorben war. Elos sprach selten von ihr, aber in den Momenten, in denen Ada und Naru ihn dazu drängten, fühlten sie die große Liebe, die er für ihre Mutter empfunden haben musste.
Vor einigen Jahren hatte Elos die Spur eines Nachtmagiers gefunden, der wirklich nicht gefunden werden wollte. Nur knapp waren er und die Kinder der Rache des Zauberers entgangen. Es war ihr Glück gewesen, dass Naru in jener mondlosen Nacht, als der Schurke ihr Haus in Brand steckte, nicht hatte schlafen können. Noch während sie von der Straße aus beobachteten, wie die züngelnden Flammen ihr Heim verzehrten, überdachte Elos sein Leben. Der Tod war ihm dieses Mal viel zu nah gekommen. Und was bedeutend schlimmer war: Der Tod war seinen Kindern zu nah gekommen. Darum beschloss er, das Spurenfinden an den Nagel zu hängen, und zog mit den Zwillingen in das verschlafenste Nest, von dem er je gelesen hatte: Es war das von der berühmten Dichterin Deidra Harfner so wortgewandt verspottete Dorf namens Friedhofen. Elos erklärte den Kindern immer wieder, dass der Ort nach seinem Gründer benannt sei und Friedhofen nur eine Abkürzung für Friedrichs Hof war. Ada und Naru jedoch glaubten, dass das Dorf seinen Namen ganz offensichtlich aus anderen Gründen bekommen hatte, denn man konnte genauso gut tot sein, so wenig war in diesem Kaff geboten. Aber genau das war ja Elos’ Wunsch gewesen. Keine dunklen Geheimnisse mehr, keine Verbrechen, keine Morde. Er wollte einfach nur Ruhe und Frieden. Daraus ist natürlich nichts geworden.
Wie jeden zweiten Morgen wünschte sich Ada, dass sie Feuer flüstern könnte. Sie kniete vor dem Ofen mit der eisernen Herdplatte und mühte sich vergeblich, dem Feuerstein Funken zu entlocken. Das zweistöckige Backsteinhaus, in dem sie nun schon seit anderthalb Jahren lebten, hatte einst einem Fischer gehört. Es lag direkt am Schönen See, und man konnte morgens förmlich sehen, wie der kalte Nebel vom Wasser aufstieg und sich durch alle Ritzen ins Haus schlich.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Naru spöttisch.
»Lass mich!«, sagte Ada. »Ich kann das.«
Sie schlug den Feuerstahl ein weiteres Mal gegen den Stein und blickte ihren Bruder triumphierend an, als im Ofen eine kleine Flamme züngelte – die leider sofort wieder erlosch.
Naru öffnete seinen Mund, aber Ada kam ihm zuvor.
»Ich will nix hören!«
Sie schichtete gerade neuen Zunder auf, als Elos die Treppe herunterkam. Seine langen braunen Haare steckten noch unter einer Schlafmütze. Weil er mit den letzten Nachwirkungen einer Erkältung kämpfte, lutschte er einen scharfen Feuerdrops. Er lief an Ada vorbei und spuckte das Bonbon in den Ofen. An der Luft fing es sofort Feuer, steckte den Zunder an, und dieser begann zu qualmen.
»Na, sag mal!«, rief Ada und pustete gegen eine angekokelte Strähne. Sie nahm ihre Schleife aus der Jackentasche und band ihre rotbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz. Immer wenn sie das machte, kostete es ihren Bruder fast übermenschliche Kräfte, nicht daran zu ziehen. Man konnte so gut daran ziehen. Viel besser als an Narus rotbraunem Strubbelkopf. Noch vor Kurzem hatte er lange Haare gehabt, weil es da dieses eine Mädchen in der Schule gab, die mal gesagt hatte, dass sie Jungen mit langen Haaren hübscher fand. Also hatte er sie wachsen lassen. Aber dann hatten sich die anderen Kinder über ihn lustig gemacht. »Der hübsche Naru« hatten sie ihn genannt: »Schaut mal, da kommt der hübsche Naru.« – »Oh, der hübsche Naru wird wütend.« – »Obacht, der hübsche Naru wirft mit kleinen Äpfeln.« Immerhin hatten sie ihn nicht »den hässlichen Naru« genannt. Dennoch hatte er sich seine Haare wieder abgeschnitten.
Elos setzte sich an den Tisch mit den drei Stühlen, der fast ein wenig zu groß für die kleine Küche war, und schnupperte mit seiner leicht schiefen Nase. »Rieche ich da Frühstück?« Damit äußerte er wohl eher einen Wunsch, als dass er tatsächlich schon etwas roch.
»Bin dabei. Bin dabei!«, sagte Naru, der bereits Eier aufschlug, um ein Omelett zuzubereiten. Beim dritten Ei stellte er sich ungeschickt an, und etwas Schale fiel mit in die Pfanne.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Ada grinsend.
Naru verdrehte die Augen. »Bitte«, sagte er. »Mach!«
»Nein, nein, mein Junge«, mischte Elos sich ein. »Du bist heute dran.«
Naru seufzte und versuchte, all die kleinen Stückchen Schale aus der Pfanne zu fischen.
Als das Omelett fest genug war, warf er es mit einem lässigen Pfannenschwung in die Luft, um es dort zu wenden. Leider landete es in hohem Bogen auf Elos’ Schlafmütze. Der Spurenfinder nahm diese ab und legte sie mitsamt Omelett vor sich auf den Tisch.
»Vielen Dank, Naru«, sagte er. »Ich muss gestehen, normalerweise esse ich von einem Teller und nicht von meiner Schlafmütze, aber warum nicht mal etwas Neues probieren?«
»Ups …«, sagte Naru. »Entschuldigung.«
Seine Schwester lachte.
»Und du, Ada«, ermahnte Elos, »könntest deine Hausaufgaben vielleicht lieber nach der Schule machen und nicht in aller Eile am Morgen.«
Ada blickte auf ihre Hände. Sie hatte frische Tinte an den Fingern. Verräterisch.
Jetzt grinste Naru.
»Immerhin habe ich sie überhaupt gemacht«, sagte Ada.
Ihr Bruder grinste nicht mehr.
»Außerdem, Naru, wenn du das nächste Mal die halbe Nacht in meinen Aufzeichnungen liest«, sagte Elos, »dann solltest du darauf achten, dass das Buch danach wieder an exakt derselben Stelle liegt.«
»Woher wusstest du, dass ich es war und nicht Ada?«, fragte Naru.
»Bis eben hatte ich es nur vermutet«, sagte Elos und schob sich ein Stück Omelett in den Mund. Dann spuckte er Eierschalen auf den schmutzigen Boden.
Der Vorteil davon, erwischt worden zu sein, befand Naru, war, dass er endlich über all das reden konnte, was er gelesen hatte. »Am besten fand ich, wie du das Rätsel der verrückten Baronesse gelöst hast!«, sagte er und wandte sich dann an seine Schwester. »Vater hat sie einfach beim Schlafwandeln verfolgt. Und wie er den Mann überführt hat, der sich immer nachts in dieses Bärenmonster verwandelte, war auch spannend. Er gab ihm etwas mit Rübensirup zu essen. Davon bekommen die meisten Wandelwesen nämlich Ausschlag! Hast du das gewusst? Und dann fand ich natürlich toll, wie Vater draufgekommen ist, dass es eine Nixe war, die mit dem blauen Königsstein in der Kanalisation verschwand. Wer sonst hätte die Stromschnellen überlebt? Außerdem war da noch der Fall …«
»Ist gut jetzt«, sagte Elos. »Meine Aufzeichnungen sind eigentlich nichts für Kinder.«
»Sie sind eben das Spannendste, das es in diesem verschlafenen Nest gibt«, verteidigte sich Naru. »Selbst mein Traum heute Nacht war langweilig. Ich habe ernsthaft geträumt, dass ich schlafe. Kann man sich etwas Öderes vorstellen? Dabei war doch gestern die Nacht der Träume.«
Ada lachte. »Die ist erst heute, du Dummkopf!«
Heute war nämlich Herbstanfang, das hieß, Licht und Dunkelheit hielten sich die Waage. Und in diesen Nächten, so sagte man, träumten alle Wesen der Welt so intensiv wie sonst nie. Die Seelenhüter behaupteten sogar, dass Manuna, die Göttin der Träume, in jenen Nächten manch einen Menschen tatsächlich in seine Vergangenheit oder Zukunft entrückte. Aber Elos hatte den Kindern schon oft gesagt, dass das nur abergläubischer Unsinn sei. Er hielt nicht viel von den Göttern.
Die große Standuhr schlug acht Mal.
»Jetzt aber schnell«, sagte Elos, »sonst kommt ihr zu spät in die Schule.«
»Ich geh schon mal los«, sagte Naru und stand auf.
»Nein, bitte warte auf mich«, rief Ada und begann, schnell ihr restliches Frühstück hinunterzuschlingen. Sie hatte diese blöde Angst vor dem Alleinsein. Vielleicht lag es daran, dass sie ihr ganzes Leben nie wirklich allein gewesen war. Selbst im Bauch ihrer Mutter hatte sie ja schon Gesellschaft gehabt.
»Dann aber hopp, hopp«, sagte Naru. »Ich wollte noch vor der Schule mit Ilda quatschen.«
Ada grinste, verkniff es sich aber, ihren verknallten Bruder zu verspotten, weil er so nett war, auf sie zu warten.
Da Friedhofen das kuhdorfigste Kuhdorf war, das man sich vorstellen konnte, gab es auch nur eine überschaubare Anzahl Kinder. In der Schule steckte man die Mädchen und Jungen allen Alters in nur eine einzige Klasse. Auch gab es natürlich nur eine Lehrerin, und die wohnte im Obergeschoss des Schulgebäudes. Im Klassenzimmer standen Tische und Bänke in verschiedensten Größen. Je älter die Schülerinnen und Schüler waren, desto weiter hinten saßen sie. Ein Kachelofen in der Ecke bei der Tür verbreitete wohlige Wärme. Den ganzen Vormittag hatte Frau Lilienfeld geredet – über Pflanzen und Tiere, Zahlen und Zeichen, Handwerk und Kunst. Jetzt sprach sie über Länder und Leute, aber Naru hörte nicht richtig zu. Er blickte aus dem Fenster, sah Schmetterlinge, die in der Mittagssonne tanzten, und wünschte sich in sein Bett zurück.
»Naru«, sagte die Lehrerin. »Naru!«
Ada stupste ihren Bruder an.
»Hm?«, machte Naru und gähnte.
»Schläfst du, Junge?«, fragte die Lehrerin.
Naru schreckte auf. »Nein, nein. Natürlich nicht, Frau Lilienfeld.«
»Dann weißt du doch bestimmt die Antwort auf meine Frage.«
»Äh ja … sicher«, stammelte Naru. »König Fredlaff der Zweite!«
»Sehr gut«, sagte Frau Lilienfeld. »Wirklich ausgezeichnet, dass du den Namen unseres Königs kennst. Aber danach hatte ich leider nicht gefragt.«
»Verlorene Provinzen«, flüsterte Ada ihrem Bruder zu.
»Ich war ja noch nicht fertig«, sagte Naru. »Ich wollte sagen, dass König Fredlaff der Zweite eine der Verlorenen Provinzen regiert, nämlich Dreibrücken, und die anderen … äh … sind äh … die Tarnischen Inseln, Ronasland, … das Sladonische Reich, … mmh … Oberlinden, Unterlinden und äh … Mittellinden?«
Die Klasse lachte.
»Syndrakos«, flüsterte Ada.
»… äh … ich meine natürlich Syndrakos«, sagte Naru.
»Sehr gut, Ada«, lobte Frau Lilienfeld. »Wobei Syndrakos als Kern des alten Kaiserreichs genau genommen keine Verlorene Provinz ist.« Sie blickte forschend in die Klasse. »Wer von euch weiß denn etwas über Syndrakos?«
Ada meldete sich. Wie so oft war sie die Einzige.
»Nun, dann nehme ich wohl ausnahmsweise Ada dran.«
Narus Schwester holte tief Luft und legte los: »Das Wappentier von Syndrakos ist ein Drache. In der Ära des sogenannten Drachenimperiums war Syndrakos das mächtigste aller Reiche. Bis zu den Unabhängigkeitskriegen hat es alle anderen Länder diesseits der Ewigen Berge beherrscht. Deshalb nennt man diese Länder noch heute die Verlorenen Provinzen. Die Heilquelle nahe der Hauptstadt Drachenberg ist eines der dreizehn Weltwunder. Die Kaiserin von Syndrakos …«
»Sie müssen meine Schwester unterbrechen, wenn Sie noch mal zu Wort kommen wollen«, warf Naru ein.
Frau Lilienfeld lächelte und blickte auf die Uhr an der Wand. »Nun gut, Kinder. Das war’s für heute. Und vergesst nicht, ab morgen sind Ernteferien.«
»Oooooh …«, machten alle siebenunddreißig Schülerinnen und Schüler pflichtschuldig.
»Als ob das jemand vergessen würde«, murmelte Raffa Arden.
»Ada vielleicht«, spottete seine große Schwester Ilda.
»Ich werde sie notfalls ans Bett fesseln«, versprach Naru.
Frau Lilienfeld warf ihnen einen strengen Blick zu. »Und wenn wir uns wiedersehen«, sagte sie lächelnd, »wird Naru einen kleinen Vortrag über Mittellinden… äh Syndrakos halten. Eine Viertelstunde über Land und Leute, Gesetze und Gebräuche, Lieder und Legenden. Da freuen wir uns schon alle drauf.«
»Ich freu mich auch riesig«, murrte Naru.
»Und ich erst«, sagte Ada.
»Du hast auch allen Grund«, flüsterte Naru. »Du darfst ihn schreiben.«
»Vergiss es.«
Der kürzeste Weg von der Schule zum Dorfkern führte über eine alte Streuobstwiese. Die Bäume trugen noch die meisten ihrer herbstbunten Blätter, aber manch eines ließ sich schon vom Wind umherwirbeln. Ada und Naru liefen mit ihren Freunden, den Ardens, nach Hause. Ilda war ein halbes Jahr älter als die Zwillinge, Raffa war neun und ihr kleiner Bruder Timu gerade mal sechs. Wegen Ilda hatte sich Naru die Haare wachsen lassen. Es war ulkig. Als sie nach Friedhofen gezogen waren, hatte er es nicht sofort bemerkt, aber vor ungefähr einem halben Jahr war ihm urplötzlich klar geworden: Die schlaue Ilda mit ihrer dunklen Haut, ihren langen Haaren, ihrem frechen Gesicht und ihren funkelnden braunen Augen war das hübscheste Mädchen, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
»Wir freuen uns wirklich schon riesig auf deinen Vortrag, Naru«, neckte sie ihn.
»Ja, ja«, murrte Naru. »Da denkt man kurz mal an wichtigere Dinge, wie zum Beispiel an Schlaf.«
»Frag doch deinen Vater, wenn du Hilfe brauchst«, schlug Raffa vor. »Der war bestimmt schon in Syndrakos.«
»Ja, Elos war doch fast überall«, sagte Timu.
»Aber Vater hat Wichtigeres zu tun, als Schulaufsätze für Naru zu schreiben«, sagte Ada.
»Als ob …«, schnaubte Naru. »Was macht er denn schon groß, außer seine zwanzigbändigen Memoiren zu verfassen?«
»Nichts. Aber das ist wichtiger als dein Schulaufsatz.«
»Mag sein. Zum Glück hast du nichts Wichtigeres zu tun.«
»Pff«, machte Ada.
»Wem willst du hier was vormachen?«, fragte Ilda. »Wir wissen doch, dass dir so was Spaß macht.«
»Streberin, Streberin«, rief Timu und fing sich dafür von Ada einen Klaps auf den Hinterkopf ein. Dadurch gerieten seine sehr ordentlich gekämmten braunen Haare durcheinander. Das war ihm eigentlich ziemlich schnuppe. Es war nur so, dass seine Mutter ihm zu Hause nun wieder die Haare kämmen würde, und das nervte ihn. Er wünschte sich, einen so unzähmbaren Lockenkopf zu haben wie sein Bruder Raffa. Bei dem hatte Mutter Arden schon vor Jahren aufgegeben.
»Treffen wir uns später bei den toten Bäumen zum Klettern?«, fragte Naru. »Vielleicht sehen wir ja wieder ein paar Erdaffen!«
»Geht leider nicht«, sagte Ilda. »Mama hat den Dorfvorsteher zum Kuchenessen eingeladen. Wir sollen alle dabeisitzen, möglichst viel lächeln und möglichst wenig sprechen.«
»Bahnt sich da was an?«, fragte Ada.
»Küsschen, Küsschen?«, scherzte Naru und fing sich einen Klaps von Ilda ein.
»Und wenn schon?«, fragte sie.
Naru pflückte sich im Vorbeigehen einen Apfel vom letzten Baum der Streuobstwiese und biss hinein. Sie hatten den Rand des eigentlichen Dorfkerns erreicht. Das erste Haus gehörte dem Holzfäller Ronald Hagen. Er legte viel Wert darauf, dass sein Heim immer in Schuss war. Bei ihm quietschte keine Tür, klemmte kein Schubfach, und natürlich tropfte es auch nicht durchs Dach. Hagen saß mit Brot, Tomaten und Käse an einem Tisch vor seinem Haus und machte Mittagspause.
»Schönen guten Tag, ihr Racker!«, rief er, als die Kinder an ihm vorbeiliefen.
»Guten Tag, Herr Hagen!«, grüßten die Kinder zurück.
»Bestell deiner Mutter einen schönen Gruß von mir, Ilda!«
»Mach ich.«
»Ihre Tomaten sind ganz großartig!«
»Aber nicht, dass der Dorfvorsteher eifersüchtig wird«, flüsterte Naru, als sie ein paar Schritte weiter waren.
Ilda lachte und sagte: »Was kann ich dafür, dass das halbe Dorf in meine Mutter verliebt ist.«
»Sla eis erjüng raw, raw eis stimmtbe os schönderwun eiw ud«, sagte Naru.
Ada blickte ihren Bruder augenrollend an.
»Ihr immer mit eurer doofen Geheimsprache«, sagte Ilda.
Am Dorfbrunnen angekommen, kreischte Raffa plötzlich. Er drehte sich im Kreis und deutete immer wieder auf einen Aushang. Die anderen folgten seinem Blick. Dann fingen sie auch an, vor Freude herumzutollen. Timu, der ebenfalls fröhlich kreischend auf und ab hüpfte, fragte irgendwann: »Was ist eigentlich los?« Er konnte nämlich noch nicht lesen.
»Ein Jahrmarkt!«, rief Ilda. »Mit Schaustellern und Spektakel!«
»Flüsterer, ein Wandelwesen und der stärkste Mensch der Welt!«, las Raffa vor.
»Wann?«, fragte Timu. »Wo?«
»Heute Abend schon«, sagte sein großer Bruder. »In Rabenfurt!«
Timu strahlte, denn Rabenfurt, so viel wusste sogar er, war nur eine Stunde Fußmarsch von Friedhofen entfernt. Man musste einfach der alten imperialen Kopfsteinpflasterstraße folgen, die hier am Brunnenplatz begann. Es sprach Bände über Macht und Reichweite des ehemaligen Kaiserreichs, dass es überhaupt eine Straße nach Friedhofen gab. Ebenso vielsagend fand es Naru, dass der kaiserliche Straßenbaumeister, einmal in Friedhofen angekommen, anscheinend beschlossen hatte, dass es sich ab hier nun doch nicht mehr lohne, eine Straße zu bauen.
»Wir müssen unbedingt zu diesem Spektakel«, sagte Ada.
Naru murrte: »Du kennst doch Vater …«
»Zu gefährlich«, seufzten die Zwillinge.
»Ihr müsst mitkommen!«, rief Ilda. »Ich rede mit Mama. Sie kann sehr überzeugend sein, wenn sie will.«
»Der Dorfvorsteher findet sie auch sehr überzeugend«, sagte Timu und fing sich noch einen Klaps ein. Diesmal von seiner großen Schwester.
»Wir haben übrigens gehört, dass er die Schule schließen will«, sagte Raffa. »Friedhofen fehlt es an Geld.«
»Was?«, rief Naru. »Das klingt ja nach einer ganz fantastischen Idee. Ich bin großer Unterstützer des Dorfvorstehers Emmett Freling!«
»Trottel«, sagte Ada. »Das hieße nur, dass wir dann jeden Tag nach Rabenfurt und zurück laufen müssten.«
»Ich war schon immer ein Gegner des Vorstehers Freling!«, sagte Naru. »Dieser Nichtsnutz!«
Die Ardens lachten, dann bogen sie nach rechts zum Hof ihrer Mutter ab, während Ada und Naru weiter in Richtung See schlenderten.
Als sie am Laden des Kräuterhändlers vorbeikamen, hielt Naru seine Schwester am Arm fest: »Lass uns Feuerdrops für Vater kaufen. Du weißt schon. Schön Wetter machen, damit er uns auf den Jahrmarkt lässt.«
»Gute Idee.«
»Ich hab kein Geld.«
Ada schnaubte. »Das hätte ich mir denken können.«
Im kleinen Laden des Kräuterhändlers war nicht viel los. Nur Anselm Kiruk, der Seelenhüter des Dorfes, war vor den Kindern an der Reihe. Wie alle seiner Zunft trug er den Schädel kahl rasiert, denn auf den Hinterkopf hatte man ihm während der Einführung in die Mysterien ein weiteres Gesicht tätowiert. Dieses zweite Gesicht hatte er den Kindern zugewandt. Ada erinnerte sich dunkel, dass die Fratze böse Geister davon abhalten sollte, den Seelenhüter hinterrücks zu überfallen, und es mochte sogar funktionieren, denn zumindest Ada fand die Tätowierung wirklich sehr abschreckend. Wie immer trug Kiruk seinen schwarzen Umhang mit den vielen goldenen Verzierungen. Ada sah die beiden Monde, die man als Jespas Augen bezeichnete. Außerdem viele kleinere Gestirne, die im Licht glitzerten wie ihre Vorbilder, die Sterne, in der Nacht.
»Und ein Fläschchen Traumlos hätte ich gerne noch«, sagte der Seelenhüter gerade.
»Sehr gerne«, erwiderte Titus Grünspecht und strich sich über seinen kleinen grauen Ziegenbart. »Aber obwohl mein Traumlos das beste in den Verlorenen Provinzen ist, muss ich Sie warnen, dass es in der Nacht der Träume nichts ausrichten kann. Heute muss jeder mit den Träumen leben, die Manuna einem schenkt.«
»Natürlich, natürlich. Ich baue auf ihre Gnade.«
Der Seelenhüter reichte dem Händler ein paar Münzen und zog weiter. Ada trat vor.
»Einmal Feuerdrops bitte«, sagte sie.
Titus Grünspecht schaute die Zwillinge skeptisch an. »Meine Feuerdrops sind nichts für kleine Kinder«, sagte er. »Die sind verflucht scharf. Die schärfsten, die man legal kaufen kann. Aber wie wär’s mit Grünspechts Grünen? Die schmecken wunderbar minzig.«
»Wir wollen Feuerdrops!«, sagte Ada. »Für Vater.«
»Ach so! Verstehe.«
»Und wir sind keine kleinen Kinder«, beschwerte sich Naru.
»Das ist aber Pech«, sagte Titus Grünspecht. »Kleine Kinder bekommen von mir nämlich immer zwei unglaublich leckere Himbeerbonbons geschenkt.«
»Also so alt sind wir ja gar nicht«, sagte Ada.
Titus Grünspecht lächelte. Er reichte ihr die Tüte Feuerdrops und ein Himbeerbonbon.
Dann blickte er Naru spöttisch an. »Möchte der junge Herr auch eins, oder ist er zu alt dafür?«
Demonstrativ nahm Naru einen Feuerdrops aus Adas Tüte und steckte ihn sich in den Mund. Der Kräuterhändler fing an zu lachen. Ada grinste. Narus Gesicht war einfach zu köstlich.
»Ga … ga … gar nicht scharf …«, stammelte er und kämpfte mit den Tränen. Es fühlte sich an, als hätte er ein glühendes Stück Kohle im Mund.
»Hier, Kleiner«, sagte der Kräuterhändler und gab Naru ein weißes Bonbon. »Joghurtdrops. Nehmen die Schärfe raus.«
»Ge … ge … geht schon«, sagte Naru trotzig, nahm aber dennoch das angebotene Bonbon.
Ada bezahlte. »Schönen Tag noch.«
»Ebenfalls!«, sagte der Kräuterhändler. »Und habt ihr gesehen, dass der Jahrmarkt nach Rabenfurt kommt?«
Ada nickte. Naru wünschte sich nur, dass der Mann aufhören würde zu plappern, damit sie endlich gehen und er dieses verfluchte Bonbon unbemerkt wieder loswerden konnte.
»Es gibt sogar ein Spektakel!«, sagte der Kräuterhändler. »Wisst ihr, ich habe ja in jungen Jahren selbst mal auf einem Jahrmarkt gearbeitet.«
Naru knuffte seine Schwester und versuchte, ihr zu verstehen zu geben, dass er weiterwollte. Was Ada auch durchaus verstand, weswegen sie sagte: »Das ist ja sehr spannend, Herr Grünspecht. Was haben Sie denn da gemacht? Bitte erzählen Sie uns mehr. Ich bin mir sicher, dass auch Naru wirklich an Einzelheiten interessiert ist.«
Naru grummelte mit Tränen in den Augen.
»Nun ja«, sagte Titus Grünspecht. »Ihr wisst doch, dass allerhand Magie mit Kräutern und Tränken zu tun hat. Und ich war eben der beste …«
Jetzt zerrte Naru seine Schwester förmlich vom Fleck. Der Kräuterhändler, der den Grund für Narus Eile wohl längst erraten hatte, lachte amüsiert. »Macht’s gut! Und grüßt euren Vater!«
»Auf Wiedersehen!«, rief Ada.
Naru zog seine Schwester mit sich und stieß fast mit Oma Martens zusammen, die gerade den Laden betrat. Die grauhaarige Marlene Martens mit den vielen Falten und dem Tortenbäuchlein war die freundlichste alte Dame im ganzen Dorf. Ihre niedliche Stupsnase war so klein, dass sie kaum die dicke Brille halten konnte. Ob sie wirklich eine Oma war, wusste niemand. Sie hatte noch nie Verwandtschaft zu Besuch gehabt. Trotzdem wurde sie von allen Oma Martens genannt.
»Nanu, Naru? Warum so stürmisch?«, fragte sie und lächelte.
»Ni … ni … nichts«, stammelte Naru, der immer noch den Feuerdrops im Mund hatte. »Alles spitze.«
»Ada, Liebes«, sagte Oma Martens. »Würdest du nachher zum Bäcker gehen und mir ein Honigtörtchen kaufen? Heute tun mir meine Beine so schrecklich weh.«
»Na klar«, sagte Ada. Es war nicht das erste Mal, dass Oma Martens die Beine so schrecklich wehtaten.
Die alte Dame drückte ihr drei Münzen in die Hand.
»Ihr dürft euch auch welche kaufen.«
»Vielen Dank!«
»Kommt doch am Nachmittag zum Tee vorbei, um …«
»… um Punkt vier Uhr«, ergänzte Ada. »Weiß ich doch.«
»Und, Naru«, sagte Frau Martens. »Du siehst gar nicht gut aus. Falls dich eine Erkältung erwischt hat, dann kann ich dir Feuerdrops empfehlen. Die helfen hervorragend.«
»Mir … mir … mir geht’s gut, danke.« Naru zerrte seine Schwester weiter. »Jetzt komm schon.«
Kaum waren sie wieder auf der Straße und außer Sichtweite des Kräuterhändlers, da spuckte er das schreckliche, garstige, verhasste Bonbon auf den Boden und zertrat die kleine Stichflamme, die daraufhin entstand. Schnell steckte er sich den Joghurtdrops in den Mund und seufzte erleichtert.
»Fabelhafte Aktion«, sagte Ada grinsend.
»Vielen Dank«, sagte ihr Bruder und verbeugte sich.
»Nein. Auf gar keinen Fall«, sagte Elos kurze Zeit später mit Nachdruck. Er stand am Ofen und schnippelte Kartoffeln in einen Topf voll heißem Wasser. Dabei trug er eine modisch äußerst fragwürdige Schürze.
»Bitte, bitte, bitte!«, rief Ada. »Es gibt da sogar Zauberei!«
»Ich kann auch zaubern«, sagte Elos. »Schaut her!«
Er zeigte seine leere Hand, griff an Adas Ohr und zog scheinbar einen Kartoffelschnitz daraus hervor.
Seine Tochter rollte mit den Augen. »Da gibt es echte Zauberei!«, sagte sie. »Nicht nur deine billigen Taschenspielertricks.«
»Hier passiert sonst nie was«, beschwerte sich Naru. »Und jetzt ist einmal was los, und du verbietest uns hinzugehen!«
»Es ist viel zu …«, begann Elos.
»… gefährlich«, seufzten die Zwillinge.
»Aber wir sind jung«, sagte Ada. »Wir wollen was erleben!«
»Früher warst du nicht so ein Langweiler«, murrte Naru.
»Früher?«, fragte Elos scharf und fixierte seinen Sohn. »Du meinst vor der Geschichte, bei der ihr fast von einem Nachtmagier mit Haut und Haaren verbrannt worden wärt? Ja, mag sein, dass mich das nachhaltig beeindruckt hat.«
»Du gehst ja noch nicht mal ins Dorf!«, murrte Naru. »Du guckst immer nur auf den See oder schreibst deine Memoiren! Für dich ist das vielleicht erfüllend …«
»Es ist meine oberste Aufgabe, für eure Sicherheit zu sorgen und …«
»Aber es ist doch nur ein Jahrmarkt!«, rief Naru.
»Vergiss es«, sagte Ada. Trotzdem reichte sie ihrem Vater die Papiertüte mit den Feuerdrops.
Elos musste lächeln. »Vielen Dank, Kindchen. Doch die Antwort lautet trotzdem Nein.« Er nahm sich ein Bonbon und steckte es in den Mund. »Außerdem sind Feuerdrops nichts für Kinder«, sagte er. »Aber das hast du wahrscheinlich selbst gemerkt, nicht wahr, Naru?«
»Woher …?«, fing Naru an, unterbrach sich jedoch selbst. Es war nicht immer einfach mit einem Spurenfinder als Vater. Wahrscheinlich war die Tüte verräterisch verknittert oder sonst irgendein Blödsinn.
»Die Ardens kommen auch mit …«, machte Ada einen letzten Versuch.
»Also dürfen wir?«, fragte Naru.
Elos atmete tief ein. »Auf gar keinen Fall«, sagte er seufzend, »geht ihr da alleine hin.«
Die Augen der Kinder begannen zu leuchten.
»Du kommst mit?«, fragte Ada begeistert.
»Aber ihr bleibt immer in meiner Nähe«, verlangte Elos. »Und ihr macht keinen Unsinn. Auf diesen Jahrmärkten treiben sich allerhand zwielichtige Gestalten herum.«
»Du meinst, wie das eine Mal, als du den Homunkulus überführt hast«, fragte Naru, »der den Schatz des Undrin geklaut und sich dann unter den Schaustellern versteckt hatte?«
Sein Vater seufzte. »Ich sollte meine Aufzeichnungen des Nachts wegschließen.«
Nach dem Mittagessen las Ada ein Buch über den Aufstieg und die Herrschaft der Königin Iria, während Naru aus dem Kopf ein Porträt von Ilda in sein Skizzenbuch zeichnete. Ab und zu schielte Ada hinüber. Ihr Bruder war, das musste sie zugeben, nicht untalentiert. Als die Standuhr halb vier verkündete, ließen sie alles stehen und liegen und liefen zusammen zur Bäckerei. Der Trampelpfad ins Dorf war ausnahmsweise kaum matschig, denn es hatte seit längerer Zeit nicht geregnet. Ada schwenkte vergnügt einen kleinen Weidenkorb hin und her. Ihr Bruder machte Luftsprünge.
In der Bäckerei trafen sie auf den Schmied Matthis Bjarnson. Der kräftige Mann wartete auf seine Bestellung.
»Na, ihr seid ja blendend gelaunt«, sagte er.
»Es ist wegen heute Abend!«, erklärte Naru.
»Sagt bloß, euer Vater hat euch erlaubt, den Jahrmarkt zu besuchen?«
»Gehen Sie auch?«, fragte Ada.
»Aber natürlich!«
Naru bemerkte, dass an Bjarnsons rechter Hand zwei Finger mit einem neuen, sauberen Verband geschient waren. Auch hatte er tiefe schwarze Ringe unter den Augen. Anscheinend schlief er nicht besonders gut.
»Haben Sie sich schon wieder auf den Finger gehauen?«, fragte Ada mitleidig.
Der Schmied seufzte. »Nun ja. Ich war noch nie der Geschickteste. Vielleicht sollte ich den Beruf wechseln.« Er lächelte matt.
Bäckermeister Odo Winter schnitt ein Brot entzwei und reichte dem Schmied den halben Laib. Sein langes hellblondes Haar steckte standesgemäß unter einer weißen Bäckermütze. Er hatte das Geschäft vor Kurzem von seiner Mutter übernommen. Aber noch hatte sich wenig verändert, außer dass die alte Dame fehlte. Wie immer stand Odos hübsche Schwester Amalia an einem Tisch neben dem Backofen und knetete Teig. Sie war im sechsten Monat schwanger, was man ihr aber noch kaum ansah. Ihr Mann, der Gerber, war mal wieder in die Hauptstadt gereist, wo er für seine Felle einen besseren Preis bekam.
»Wie steht’s mit der Bezahlung?«, fragte der Bäcker.
Gezwungen lächelnd hob der Schmied seine verletzte Hand.
»Also wieder mal anschreiben«, seufzte Amalia.
»Das wäre nett«, sagte Bjarnson und verschwand mit der unverletzten Hand grüßend aus dem Laden. Naru blickte sehnsüchtig auf all die Leckereien, die in der Bäckerei auslagen. Es gab Apfel-, Birnen-, Pflaumen-, Salz- und Zwiebelkuchen und natürlich Oma Martens’ Lieblingsleckerei.
»Wir hätten gerne drei Honigtörtchen«, sagte Ada.
»Eine Lieferung für die alte Dame, wie?« Odo Winter blickte auf die Uhr und lächelte. »Dann müsst ihr euch aber beeilen. Es ist schon fast vier!«
Oma Martens wohnte etwas abgelegen am Waldrand. Der Weg dorthin führte die Zwillinge vorbei an Feldern mit bunten Kürbissen und Weiden mit zotteligen Wollkühen. Die ganze Zeit sangen die Kinder gut gelaunt ein Spottlied, das sie von den Ardens gelernt hatten.
»König Fredlaff, der Breite,ist andauernd pleite!Er hat zu viele Rösser,baut zu viele Schlösser.Doch er zahlt sie nich,zahlen tun du und ich.
Prinzessin Henriettawar schon mal adretta!Isst leider zu viel Torte,passt nicht mehr durch die Pforte,drum baut Fred für sein’n Spross,ein noch größ’res Schloss.«
Oma Martens stand vor ihrem Haus mit der schönen Terrasse und fütterte eine Familie Erdaffen mit Resten von Obst und Gemüse. Die Tiere ähnelten ihren durch die Bäume kletternden Verwandten, nur glichen die Augen denen einer Katze und die Vorderpfoten sahen aus wie die eines Maulwurfes. Als die Kinder näher kamen, huschten die Erdaffen schnell davon.
»Oh«, rief Ada. »Der kleine war ja so niedlich. Vater sagt, wir sind auf irgendeine Art mit ihnen verwandt.«
»Du vielleicht«, spottete Naru.
Oma Martens drehte sich zu den Kindern um. »Das war aber ein garstiges Lied, das ihr da gesungen habt«, sagte sie.
»Wieso?«, fragte Naru.
»Na, was glaubt ihr denn, wie ich mich bei solchen Worten fühle?« Sie streichelte über ihr Bäuchlein. »Ich esse doch auch zu viel Torte!«
»Ich, äh, na also, das ist doch nur ein Lied …«, stammelte Ada.
»Sogar der Dorfvorsteher singt es«, verteidigte sich Naru.
»Von dem haben wir es ja!«
»Also eigentlich haben wir’s von Ilda …«
»… aber die hat’s vom Dorfvorsteher«, ergänzte Ada.
»So, so«, sagte Oma Martens. »Der Dorfvorsteher! Na, der kann mir eh gestohlen bleiben.«
Wie zur Entschuldigung streckte ihr Ada den kleinen Weidenkorb mit den Honigtörtchen entgegen.
Die alte Dame lächelte erfreut. »Vielen Dank, Ada Liebes«, sagte sie und öffnete ihre Haustür.
Naru räusperte sich, schließlich war er ja auch mit beim Bäcker gewesen.
»Willst du ein Feuerdrops?«, fragte Oma Martens. »Die helfen am besten, wenn man heiser ist.«
Naru schüttelte entschieden den Kopf.
»Ebenfalls gut gegen eine Erkältung hilft nackt schlafen«, sagte die alte Dame. »Dann kann der Körper auslüften. Ich schlafe immer nackt.«
Naru sagte nichts. Er guckte nur. Das war eindeutig eine Information über Oma Martens, die er nicht unbedingt gebraucht hatte. Und die Wirksamkeit ihres Therapievorschlags fand er überdies äußerst fragwürdig. Zumal er ja gar nicht krank war. Naru blickte zu seiner Schwester. Die zuckte nur mit den Schultern. Alte Leute sagten oft komische Sachen.
Oma Martens war derweil ins Haus gegangen. »Aber kommt doch rein, kommt rein!«, rief sie.
Die Kinder folgten ihr. Im Eingangsbereich hing ein großer ovaler Spiegel an der Wand. Die Zwillinge konnten nicht anders, als jedes Mal innezuhalten und sich darin zu betrachten. In ihrem Haus gab es so etwas nicht.
»Findest du, die kurzen Haare stehen mir?«, fragte Naru.
»Mit langen warst du hübscher«, neckte ihn seine Schwester. Sie schubste ihn vom Spiegel weg, und beide nahmen am runden Tisch in der guten Stube Platz. Oma Martens verschwand in ihrer Küche und kam mit Tee für sich sowie warmer Milch für die Kinder zurück. Sie setzte sich ebenfalls auf einen der gepolsterten Stühle. Dann schauten alle auf eine Uhr. Tatsächlich schauten alle auf eine andere Uhr, denn in der guten Stube hingen mehr als ein Dutzend. Jeder hat seine eigenen Schrullen, dachte Ada. Vor allem alte Leute natürlich. Die Zwillinge warteten darauf, dass der große Zeiger die zwölf erreichte, damit es endlich vier Uhr war. Denn Oma Martens trank jeden Nachmittag um Punkt vier ihren Tee. Manche im Dorf vermuteten sogar, dass sie auch jeden Morgen um Punkt vier Uhr ihren Tee trank. Aber das war natürlich Unsinn und zeigte nur, was die Leute in Friedhofen für einen Blödsinn tratschten.
»Was haben Sie denn gegen den Dorfvorsteher?«, fragte Ada, mehr um die Wartezeit zu überbrücken als aus wirklichem Interesse.
»Ach«, sagte Oma Martens und winkte ab. »Es ist nur so, dass er wohl plant, den Wald hier am Rand von Friedhofen zur Abholzung freizugeben. Aber da geh ich doch so gerne spazieren. Und was soll aus meinen Erdäffchen werden?«
»Gehen Sie eigentlich auch zum Jahrmarkt nach Rabenfurt?«, fragte Naru, um das Gespräch auf das einzige Thema zu bringen, das ihn im Moment interessierte. »Es gibt sogar ein Spektakel mit Artisten und Magie!«
»Oh nein, nein, nein«, sagte Oma Martens. »Solche Veranstaltungen sind nichts für mich. Da werden Menschen vorgeführt wie Tiere. Ich finde …«
Aber weiter kam die alte Dame nicht, denn es gongten, schrillten, klingelten und kuckuckten alle ihre Uhren gleichzeitig. Ada zuckte erschrocken zusammen, obwohl sie es schon so oft miterlebt hatte. Oma Martens lachte.
»Wisst ihr«, sagte sie und trank ihren ersten Schluck Tee, »es ist wichtig, dass man eine gewisse Routine im Leben hat! Tee um Punkt vier. Das hat schon meine Mutter so gemacht.«
Naru biss gierig in sein Honigtörtchen und goss einen Schluck warme Milch hinterher. »Ziemlich lecker«, schmatzte er. »Auf jeden Fall besser als Feuerdrops.«
»Aber gegen eine Erkältung gibt es nichts Besseres«, sagte Oma Martens. Nachdem sie ihren Tee getrunken hatte, nahm sie einen Bissen von ihrem Törtchen und verzog augenblicklich das Gesicht. »Also ich weiß ja nicht, aber ich finde, es schmeckt nicht mehr so gut, seit der Sohn die Bäckerei übernommen hat. Oder was meint ihr?«
»Ich find’s lecker«, sagte Ada mit vollem Mund.
Oma Martens zuckte mit den Schultern und gab dem Törtchen eine zweite Chance. Es schien dann doch essbar, jedenfalls ließ sie kaum einen Krümel davon übrig.
Danach fragte die alte Dame: »Liest du mir noch ein bisschen vor, Ada Liebes?«
»Na klar«, sagte Ada und holte das dicke Buch der Götter aus dem Regal. Naru kramte seine Zeichensachen hervor. Er war an den antiken Geschichten über Dämonen, Monster und Götter erstaunlicherweise kaum interessiert. Das lag weniger am Inhalt des alten Wälzers als an seinem schwerfälligen Stil. Während Ada vorlas, wie die oberste Göttin Jespa den Feuerdämon Zerus in den Drachenberg verbannte und so der erste Vulkan entstand, saß Naru am Tisch und malte Oma Martens mit einem Törtchen auf dem Kopf.