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Rob Hart

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Beschreibung

»Cloud« ist mehr als nur ein Arbeitgeber. Es ist dein Zuhause. Deine Familie. Und wenn du einmal dort bist, wirst du nie wieder gehen wollen – oder können …

USA in der nahen Zukunft. Zinnia hätte nie gedacht, dass sie einmal für »Cloud« arbeiten würde, den weltgrößten Onlinestore, der alle lokalen Geschäfte geschluckt hat. In Zeiten enormer Arbeits- und Obdachlosigkeit bietet das Unternehmen Sicherheit – und liefert jedes Produkt, das man sich vorstellen kann. Aber Zinnias Arbeitsbedingungen sind unmenschlich. In den riesigen Lagerhallen wird jeder Schritt überwacht, jedes Gespräch belauscht. Und es steht noch mehr auf dem Spiel: Wenn Pakete mit Drohnen ausgeliefert und Kundendaten gespeichert und analysiert werden, gibt es bald keine Privatsphäre mehr. Doch niemand ahnt, dass Zinnia nicht die ist, als die sie sich ausgibt. Sie riskiert alles, um »Cloud« zu bremsen – und die Welt wieder zu einem besseren Ort zu machen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 611

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Das Buch

Paxton und Zinnia lernen sich bei Cloud kennen, dem weltgrößten Onlinestore. Paxton hat dort eine Anstellung als Security-Mann gefunden, nachdem sein Unternehmen ausgerechnet von Cloud zerstört wurde. Zinnia arbeitet in den Lagerhallen und sammelt Waren für den Versand ein. Das Leben im Cloud-System ist perfekt geregelt, aber unter der Oberfläche brodelt es. Die beiden kommen sich näher, obwohl sie ganz unterschiedliche Ziele verfolgen. Bis eine schreckliche Entdeckung alles ändert.

»1984« und »Schöne neue Welt« waren gestern – die Zukunft von »Der Store« ist jetzt

Der Autor

Rob Hart hat als politischer Journalist, als Kommunikationsmanager für Politiker und im öffentlichen Dienst der Stadt New York gearbeitet. Er ist Autor einer Krimiserie und hat zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. Der Store ist sein erster großer Unterhaltungsroman. Derzeit ist er Verleger von MysteriousPress unter dem Dach von The Mysterious Bookshop in Manhattan. Rob Hart lebt mit Frau und Tochter auf Staten Island.

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Bernhard Kleinschmidt

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

THE WAREHOUSE bei Crown, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Rob Hart

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung Nele Schütz Design/Margit Memminger unter Verwendung von Shutterstock.com (Maxim Blinkov, Den Rozhnovsky)

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-24430-9V002

www.heyne.de

Für Maria Fernandes

Wie armselig ist doch der Mensch, der einen Rock

so wohlfeil verlangt, dass der Mann und die Frau,

die das Tuch machen und das Gewand schaffen,

dabei hungers leiden.

Benjamin Harrison, Präsident der Vereinigten Staaten, 1891

1. Rekrutierung

Gibson

Tja, ich werde bald sterben!

Viele Leute schaffen es ans Ende ihres Lebens, ohne zu wissen, dass sie es erreicht haben. Eines Tages geht einfach das Licht aus. Ich hingegen habe einen Termin.

Da ich keine Zeit habe, ein Buch über mein Leben zu schreiben, wie es mir alle nahelegen, muss das hier ausreichen. Ein Blog ist doch ziemlich passend, oder nicht? In letzter Zeit schlafe ich nicht viel, daher habe ich jetzt etwas, womit ich mich nachts beschäftigen kann.

Ohnehin ist Schlaf etwas für Leute, denen es an Ambitionen mangelt.

Immerhin wird es also eine Art schriftliche Aufzeichnung geben. Ich will, dass ihr es von mir hört anstatt von jemand, der damit Geld verdienen will und irgendwelche fundierten Vermutungen anstellt. Aus der Perspektive meiner Branche kann ich euch sagen: Vermutungen sind nur selten fundiert.

Ich hoffe, es ist eine gute Geschichte, weil ich den Eindruck habe, dass ich ein ziemlich gutes Leben gelebt habe.

Vielleicht denkt ihr jetzt: Mr. Wells, Sie besitzen 304,9 Milliarden Dollar, womit Sie der reichste Mensch in Amerika sind und die viertreichste Person auf Gottes schöner Erde, also haben Sie natürlich ein gutes Leben gehabt.

Aber, Freunde, das ist nicht der springende Punkt.

Wichtiger noch, das eine hat nichts mit dem anderen zu tun.

Das hier ist die echte Wahrheit: Ich habe die schönste Frau der Welt kennengelernt und sie überzeugt, mich zu heiraten, bevor ich einen einzigen Penny in der Tasche hatte. Gemeinsam haben wir ein kleines Mädchen aufgezogen, das vom Glück verwöhnt war, das stimmt, aber gelernt hat, den Wert eines Dollars zu schätzen. Sie sagt bitte und danke und meint es auch so.

Ich habe die Sonne auf- und untergehen sehen. Ich habe Teile der Welt gesehen, von denen mein Papa nicht mal gehört hatte. Ich bin mit drei Präsidenten zusammengetroffen und habe allen respektvoll erklärt, wie sie ihren Job besser machen könnten – und sie haben zugehört. Ich habe auf der Bowlingbahn meines Wohnorts ein perfektes Spiel gemacht, und mein Name steht dort bis heute an der Wand.

Zwischendrin gab es ein paar harte Zeiten, aber wenn ich hier so sitze, während meine Hunde zu meinen Füßen ruhen, meine Frau Molly im Nebenzimmer schläft und Claire, mein kleines Mädchen, eine geschützte, sichere Zukunft hat – da fällt es mir leicht zu denken, dass ich mit dem, was ich geleistet habe, zufrieden sein kann.

Mit großer Demut sage ich, dass Cloud eine Leistung ist, auf die ich stolz sein darf. Es ist etwas, was den meisten Menschen nicht gelingt. Die großen Freiheiten, die es in meiner Kindheit noch gab, haben sich schon vor so langer Zeit in Luft aufgelöst, dass man sich kaum daran erinnern kann. Früher war es nicht allzu schwer, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und ein Häuschen zu bauen. Nach einer Weile wurde das zu einem Luxus und schließlich zu einem reinen Wunschgedanken. Während Cloud wuchs, erkannte ich, dass das Unternehmen mehr sein konnte als ein Kaufladen. Es konnte eine Lösung sein. Es konnte diesem großen Land zur Wohltat gedeihen.

Die Leute an die Bedeutung des Wortes Wohlstand erinnern.

Und das hat es getan.

Wir haben den Leuten Arbeit gegeben. Wir haben den Leuten Zugang zu erschwinglichen Gütern und medizinischer Versorgung verschafft. Wir haben Milliarden Dollar an Steueraufkommen erwirtschaftet. Wir waren führend bei der Verringerung des CO2-Ausstoßes, indem wir Normen und Technologien entwickelt haben, die unseren Planeten retten werden.

Getan haben wir das, indem wir uns auf das Einzige konzentriert haben, worauf es in unserem Leben ankommt: die Familie.

Ich habe meine Familie zu Hause und meine Familie bei der Arbeit. Zwei unterschiedliche Familien, die ich beide von ganzem Herzen liebe und voll Trauer zurücklassen werde.

Der Arzt sagt mir, dass mir noch ein Jahr bleibt, und da er ein ziemlich guter Arzt ist, vertraue ich dem, was er sagt. Außerdem weiß ich, dass mein Zustand ziemlich bald bekannt werden wird, weshalb ich ihn euch genauso gut selbst verkünden kann.

Pankreaskarzinom Stufe 4. Das bedeutet, dass der Krebs sich bereits in anderen Teilen meines Körpers ausgebreitet hat. Vor allem in der Wirbelsäule, der Lunge und der Leber. Eine fünfte Stufe gibt es nicht.

Mit der Bauchspeicheldrüse, medizinisch Pankreas, verhält es sich so: Sie ist hinten im Bauch versteckt. Wenn man feststellt, dass damit etwas nicht in Ordnung ist, ist es in vielen Fällen so wie bei einem Brand auf einem trockenen Feld. Zu spät, als dass man was dagegen tun könnte.

Als der Arzt mit der Diagnose herausgerückt ist, hat er einen ernsten Ton angeschlagen und mir die Hand auf den Arm gelegt. Jetzt kommt es, dachte ich. Zeit für schlechte Nachrichten. Daraufhin sagt er mir, was Sache ist, und meine erste Frage, ehrlich und wahrhaftig, lautet: »Was zum Teufel macht eine Bauchspeicheldrüse überhaupt?«

Er hat gelacht, und ich habe mit eingestimmt, was die Stimmung ein bisschen aufgelockert hat. Das war gut, denn anschließend wurde es weniger lustig. Falls ihr dieselbe Frage hattet: Die Bauchspeicheldrüse trägt dazu bei, die Nahrung zu verdauen und den Blutzucker zu regulieren. Inzwischen weiß ich darüber ganz gut Bescheid.

Mir bleibt noch ein Jahr. Deshalb gehen meine Frau und ich morgen früh auf große Fahrt. Ich werde so viele MotherClouds in den Vereinigten Staaten besuchen wie irgend möglich.

Ich will mich bedanken. Ich kann zwar unmöglich jeder Person, die in einer MotherCloud arbeitet, die Hand schütteln, aber bemühen werde ich mich, verdammt noch mal. Das kommt mir wesentlich angenehmer vor, als zu Hause zu sitzen und auf den Tod zu warten.

Genau wie immer werde ich mit meinem Bus reisen. Fliegen ist bloß was für Vögel. Und habt ihr gesehen, wie viel ein Flug heutzutage kostet?

Das Ganze wird eine Weile dauern, und während die Reise ihren Lauf nimmt, werde ich wahrscheinlich ein bisschen müder werden. Vielleicht sogar ein bisschen deprimiert. Trotz meiner sonnigen Wesensart ist es nämlich schwer, zu erfahren, dass man bald sterben wird, und dann einfach weiterzumachen. Aber ich habe in meinem Leben viel Liebe und Wohlwollen erfahren, weshalb ich tun muss, was ich kann. Sonst würde ich im kommenden Jahr bloß jeden Tag herumhocken und Trübsal blasen, was aber nicht infrage kommt. Da würde Molly mir eher ein Kissen aufs Gesicht pressen, damit es vorüber ist!

Seit ich es erfahren habe, ist etwa eine Woche vergangen, aber indem ich darüber schreibe, wird es wesentlich realer. Jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen.

Nun aber Schluss damit. Ich werde mal die Hunde ausführen. Brauche selbst etwas frische Luft. Falls ihr meinen Bus vorüberfahren seht, winkt ihm doch zu. Wenn jemand das tut, fühle ich mich immer ziemlich gut.

Danke fürs Lesen; ich melde mich bald wieder.

Paxton

Paxton drückte die Handfläche ans Schaufenster der Eisdiele. Die Speisekarte an der Wand drinnen versprach hausgemachte Köstlichkeiten. Graham-Cracker, Schokolade-Marshmallow und Erdnussbutter-Fudge.

Flankiert wurde die Eisdiele auf der einen Seite von einer Eisenwarenhandlung namens Pop’s und auf der anderen von einem Diner mit einem Schild aus Chrom und Neon, das Paxton nicht deutlich lesen konnte. Delia’s? Dahlia’s?

Er blickte in beiden Richtungen die Hauptstraße entlang. Es war leicht, sich vorzustellen, dass sie von Menschen wimmelte. Wie lebendig es hier früher gewesen sein musste! Das war eine Stadt, die schon beim ersten Besuch nostalgische Gefühle weckte.

Jetzt war sie nur noch ein Echo, das im weißen Sonnenlicht verhallte.

Er wandte sich wieder der Eisdiele zu, dem einzigen Geschäft in der Straße, das nicht mit verwitterten Sperrholzplatten zugenagelt war. Wo die Sonne auf das Fenster auftraf, fühlte es sich heiß an. Es war mit einer Schmutzschicht bedeckt.

Während Paxton durchs Fenster die staubigen Stapel aus Metallbechern, die unbesetzten Hocker und die leeren Kühlfächer betrachtete, hätte er gern irgendein Bedauern darüber verspürt, was dieser Ort einmal für die ihn umgebende Stadt bedeutet haben musste.

Aber er hatte das Limit seiner Traurigkeit bereits erreicht, als er aus dem Bus gestiegen war. Schon die Tatsache, hier zu sein, dehnte seine Haut bis zum Platzen wie einen zu stark aufgeblasenen Luftballon.

Paxton hängte seine Reisetasche über die Schulter und reihte sich in das Rudel ein, das den Gehsteig entlangtrottete und dabei das durch die Risse im Beton ragende Gras zertrampelte. Von hinten kamen immer noch Leute an – ältere und welche mit irgendeiner Behinderung, durch die sie nicht gut gehen konnten.

Aus dem Bus waren siebenundvierzig Fahrgäste gestiegen. Siebenundvierzig Leute, er nicht eingeschlossen. Etwa in der Mitte der zweistündigen Fahrt, als auf seinem Handy nichts mehr war, was seine Aufmerksamkeit fesselte, hatte er sie gezählt. Es gab ein breites Spektrum, was das Alter und die ethnische Herkunft anging. Breitschultrige Männer mit den schwieligen Händen von Tagelöhnern. Gebückte Büroangestellte, die vom jahrelangen Hocken an der Tastatur einen krummen Rücken bekommen hatten. Eine Jugendliche war darunter, bestimmt nicht älter als siebzehn. Sie war klein und üppig, hatte lange, braune Zöpfe, die ihr fast bis zum Po reichten, und eine milchweiße Haut. Der lila Stoff ihres zwei Größen zu weiten Hosenanzugs war vom jahrelangen Tragen ausgeblichen und verbeult. Aus dem Kragen ragte der Rest eines orangefarbenen Schildchens, wie man es in Secondhandläden verwendete.

Alle hatten Gepäck dabei. Ramponierte Rollkoffer, die über das unebene Pflaster ratterten. Rucksäcke und über die Schulter geschlungene Reisetaschen. Alle schwitzten von der Strapaze. Die Sonne knallte Paxton auf den Kopf.

Es hatte bestimmt knapp vierzig Grad. Der Schweiß rann an seinen Beinen entlang und sammelte sich auf den Unterarmen, sodass ihm die Kleider am Leib klebten. Genau deshalb trug er schwarze Hosen und ein weißes Hemd: damit der Schweiß nicht so sichtbar war. Der weißhaarige Mann neben ihm, eventuell ein zwangsweise emeritierter Collegeprofessor, trug einen beigefarbenen Anzug, der wie nasse Pappe aussah.

Hoffentlich war das Rekrutierungszentrum nicht zu weit weg. Hoffentlich war es kühl dort. Er wollte einfach nur irgendwo rein. Auf seiner Zunge schmeckte er den Staub, der von den verwüsteten Feldern heranwehte, auf denen nichts mehr Wurzeln schlagen konnte. Es war grausam von dem Busfahrer gewesen, sie am Stadtrand abzusetzen. Wahrscheinlich wollte der Typ in der Nähe des Highways bleiben, um Kraftstoff zu sparen, aber trotzdem.

Die Schlange vor ihm wechselte die Richtung. Sie bog an der Kreuzung nach rechts ab. Paxton legte Tempo zu. Er wäre gern stehen geblieben, um eine Wasserflasche aus der Reisetasche zu holen, aber es war schon eine Schwäche gewesen, an der Eisdiele zu pausieren. Jetzt waren mehr Leute vor als hinter ihm.

Als er sich der Ecke näherte, drängte eine Frau sich so eng an ihm vorbei, dass er um ein Haar gestolpert wäre. Sie war älter, hatte asiatische Gesichtszüge und einen weißen Wuschelkopf. Über ihre Schulter hing eine Ledertasche. Offenbar wollte sie unbedingt an die Spitze des Rudels gelangen, wobei sie sich jedoch übernahm. Sie strauchelte und knallte auf ein Knie.

Die Leute in ihrer Nähe traten beiseite, um ihr Platz zu lassen, blieben aber nicht stehen. Paxton wusste, wieso. Eine kleine Stimme in seinem Kopf schrie »Weitergehen!«, aber das konnte er natürlich nicht, weshalb er der Frau auf die Beine half. Ihr nacktes Knie war aufgeschrammt; eine lange Blutspur lief am Bein entlang bis zu ihrem Tennisschuh, so dick, dass sie schwarz aussah.

Die Frau sah ihn an, nickte kaum merklich und setzte sich wieder in Bewegung. Paxton seufzte.

»Gern geschehen«, sagte er, aber nicht so laut, dass sie es hören konnte.

Er warf einen Blick über die Schulter. Die Leute weiter hinten beschleunigten ihre Schritte. Sie strengten sich wieder mehr an, wahrscheinlich weil sie gesehen hatten, wie jemand zu Boden gegangen war. Blut lag in der Luft. Paxton schlang sich seine Tasche über die Schulter und marschierte schleunigst auf die Ecke zu. Als er sie umrundet hatte, sah er ein großes Theatergebäude mit einem weißen Vordach vor sich. Unter dem zerbröselnden Stuck der Fassade lugten verwitterte Ziegel hervor.

Auf der Oberseite des Vordachs bildeten gesprungene Neonbuchstaben ein ungleichmäßiges Muster.

R-I-V-R-V-I-E.

Wahrscheinlich sollte das Riverview heißen, obwohl es in der Nähe sichtlich keinerlei Flüsse gab, aber das konnte früher ja mal anders gewesen sein. Vor dem Theater stand eine mobile Klimaanlage auf Rädern. Durch einen Schlauch pumpte das glänzende Gerät kalte Luft ins Gebäude. Paxton folgte dem Rudel auf die lange Reihe offener Türen zu. Als er näher kam, gingen die an den beiden Enden bereits zu, sodass nur einige in der Mitte noch geöffnet waren.

Paxton drängte sich nach vorn auf den mittleren Eingang zu. Die letzten paar Schritte rannte er beinahe. Als er eintrat, schlugen hinter ihm weitere Türen zu. Die Sonne verschwand, und kühle Luft hüllte ihn ein. Sie fühlte sich wie ein Kuss an.

Erschauernd blickte er sich um und sah, wie die letzte Tür zuging. Ein Mann mittleren Alters, der deutlich hinkte, war in der glühenden Sonne gestrandet. Zuerst sank er in sich zusammen. Seine Schultern erschlafften, seine Reisetasche plumpste auf den Boden. Dann kehrte die Spannung in sein Rückgrat zurück, und er tat einen Schritt vorwärts, um mit der flachen Hand an die Tür zu schlagen. Offenbar trug er einen Ring, denn man hörte einen scharfen Knall, als würde gleich die Scheibe bersten.

»He!«, brüllte er mit dumpfer Stimme. »He, das könnt ihr doch nicht machen! Schließlich hab ich den weiten Weg hierher auf mich genommen!«

Tack, tack, tack.

»He!«

Ein Mann in einem grauen T-Shirt, auf dem hinten in weißen Lettern JobExpress stand, ging auf den abgelehnten Bewerber zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Paxton konnte zwar nicht von den Lippen lesen, nahm aber an, dass es dieselben Worte waren, die eine am Bus zurückgewiesene Frau zu hören bekommen hatte. Sie hatte als Letzte in der Warteschlange gestanden, als die Tür vor ihrer Nase zuging. Darauf war ein Mann in einem JobExpress-Shirt erschienen und hatte gesagt: »Es gibt keinen letzten Platz. Sie müssen wirklich bei Cloud arbeiten wollen. In einem Monat können Sie sich gerne noch einmal bewerben.«

Paxton wandte sich von der Szene ab. Schon für seine eigene Traurigkeit fand er in sich keinen Raum mehr und für die von jemand anderes erst recht nicht.

Im Foyer wimmelte es von Männern und Frauen in JobExpress-Shirts. Manche standen freundlich lächelnd mit einer Pinzette und kleinen Plastikbeuteln bereit. Alle Bewerber wurden angewiesen, sich von einer Person in Grau ein paar Haare auszupfen und eintüten zu lassen. Dann wurden die Bewerber aufgefordert, mit schwarzem Filzstift ihren Namen und ihre Sozialversicherungsnummer auf den Beutel zu schreiben.

Die Frau, die bei Paxton die Probe nahm, war fast kugelrund und einen Kopf kleiner als er. Damit sie an ihn herankam, musste er sich bücken. Er zuckte beim Haareausreißen kurz zusammen, dann schrieb er seinen Namen auf den Beutel und übergab ihn dem Mann, der darauf wartete, ihn abzutransportieren. Als Paxton aus dem Foyer in den Theatersaal trat, überreichte ihm ein spindeldürrer Mann mit buschigem Schnurrbart einen kleinen Tablet-PC.

»Suchen Sie sich einen Platz, und schalten Sie das Tablet ein«, sagte der Mann in geübtem, desinteressiertem Ton. »Der Bewerbungsprozess wird gleich beginnen.«

Paxton schlang sich wieder seine Reisetasche über die Schulter und ging den Mittelgang entlang. Der Teppich war fast bis auf den Estrich abgewetzt, und es roch nach alten, undichten Rohrleitungen. Er wählte eine Sitzreihe ziemlich weit vorn und ging bis zur Mitte durch. Als er sich auf dem harten Holzsitz niedergelassen und seine Tasche neben sich gestellt hatte, hörte er hinter sich ein lautes Klacken. Die Türen wurden verriegelt.

Seine Reihe war leer bis auf eine Frau, deren Haut die Farbe von verbrannter Erde hatte. Auf ihrem Kopf türmten sich elastische Locken aus dunkelbraunem Haar, und sie trug ein honigfarbenes Sommerkleid mit farblich passenden flachen Schuhen. Sie saß am Ende der Reihe, ganz in der Nähe der Wand, deren verschnörkelte, weinrote Tapete von Wasserflecken verunziert war. Paxton versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen und sie anzulächeln, aus Höflichkeit, aber auch weil er mehr von ihrem Gesicht sehen wollte. Da sie ihn nicht bemerkte, starrte er auf das Tablet. Zog eine Wasserflasche aus der Reisetasche, schüttete sich die Hälfte in die Kehle und drückte die Taste an der Seite des Computers.

Das Display flackerte auf. In der Mitte erschien eine Abfolge großer Zahlen.

Zehn.

Dann neun.

Dann acht.

Als die Null erreicht war, summte und blinkte das Gerät, dann erschien anstelle der Zahlen eine Reihe von leeren Feldern. Paxton legte sich das Tablet auf den Schoß und konzentrierte sich.

Name, Kontaktinformationen, kurzer beruflicher Werdegang. Hemdgröße?

Paxtons Finger schwebten über dem Wort Werdegang. Er wollte nicht erklären, was er bisher gemacht hatte. Nichts über den Lauf der Ereignisse schreiben, der ihn zu einem maroden Theater in einer maroden Stadt geführt hatte. Sonst hätte er erklären müssen, dass Cloud sein Leben zerstört hatte.

Aber was sollte er schreiben?

Ob die überhaupt wussten, wer er war?

Und wenn sie es nicht wussten, war das dann besser oder schlechter?

Paxton stellte fest, dass doch noch mehr Raum für Traurigkeit in ihm vorhanden war. Sollte er sich wirklich bewerben, indem er in das besagte Feld Unternehmer eintrug?

Sein Magen zog sich zusammen, und er entschied sich für den Job im Gefängnis. Fünfzehn Jahre. Das war lange genug, um sein Pflichtbewusstsein zu demonstrieren. So würde er es nennen, wenn man ihn danach fragte: Pflichtbewusstsein. Wenn man etwas über die Lücke wissen wollte, jene zwei Jahre zwischen dem Gefängnis und jetzt, dann würde er damit umgehen können.

Nachdem er sämtliche Felder ausgefüllt hatte, leuchtete der nächste Bildschirm auf.

Haben Sie je etwas gestohlen?

Darunter waren zwei Schaltflächen. Grün für ja und rot für nein.

Er rieb sich die Augen, die von dem grellen Display schmerzten. Erinnerte sich daran, wie er mit neun Jahren im Laden von Mr. Chowdury vor dem Drehständer mit den Comics gestanden hatte.

Das Comicheft, das er haben wollte, kostete vier Dollar, und er hatte nur zwei. Er hätte nach Hause gehen und seine Mutter um den fehlenden Betrag bitten können, doch stattdessen wartete er mit zittrigen Beinen, bis ein Mann hereinkam und eine Packung Zigaretten verlangte. Als Mr. Chowdury sich bückte, um die Packung unter der Ladentheke hervorzuholen, rollte Paxton das Comicheft zusammen, hielt es sich eng ans Bein, damit es nicht zu sehen war, und machte sich auf den Weg zum Ausgang.

Er ging zum Park, setzte sich auf einen großen Stein und versuchte, den Comic zu lesen, konnte sich jedoch nicht richtig konzentrieren. Die Zeichnungen verschwammen, während er sich in das hineinsteigerte, was er gerade getan hatte.

Er hatte eine Straftat begangen. Hatte jemand bestohlen, der immer nett zu ihm gewesen war.

Er brauchte den halben Tag, bis er genügend Mut aufbrachte, ging aber schließlich doch zum Laden zurück, um sich davorzustellen und zu warten, bis bestimmt niemand mehr darin war. Dann trug er das Comicheft wie ein totes Haustier zur Ladentheke. Heulend erklärte er mit laufender Nase, wie leid ihm alles tue.

Mr. Chowdury war bereit, nicht bei der Polizei oder – schlimmer noch – bei Paxtons Mutter anzurufen. Aber jedes Mal, wenn Paxton danach den Laden betrat – es war der einzige in der Nähe seines Elternhauses, weshalb er keine andere Wahl hatte –, spürte er den Blick des alten Mannes auf seinem Rücken brennen.

Paxton las die Frage noch einmal und tippte auf das rote Kästchen mit der Aufschrift Nein, obwohl es eine Lüge war. Es war eine Lüge, mit der er leben konnte.

Das Display blitzte auf, und eine neue Frage erschien.

Finden Sie es moralisch vertretbar, unter bestimmten Umständen zu stehlen?

Grün für ja, rot für nein.

Das war leicht. Nein.

Können Sie sich irgendwelche Umstände vorstellen, unter denen es moralisch vertretbar wäre zu stehlen?

Nein.

Wenn Ihre Familie hungern würde, würden Sie dann einen Laib Brot für sie stehlen?

Ehrliche Antwort: wahrscheinlich.

Nein.

Würden Sie etwas an Ihrem Arbeitsplatz stehlen?

Nein.

Und wenn Sie wüssten, dass man Sie nicht erwischt?

Paxton wünschte sich ein Feld mit der Bedeutung: Ich würde nie im Leben etwas stehlen – können wir jetzt bitte weitermachen?

Nein.

Wenn Sie wüssten, dass jemand etwas gestohlen hat, würden Sie ihn dann melden?

Klar. Ja.

Haben Sie jemals Drogen genommen?

Die Frage war eine Erleichterung. Nicht nur aufgrund des Themenwechsels, sondern weil er sie ehrlich beantworten konnte.

Nein.

Haben Sie jemals Alkohol getrunken?

Ja.

Wie viele alkoholische Getränke konsumieren Sie pro Woche?

– 1–3

– 4–6

– 7–10

– 11+

Sieben bis zehn stimmte wahrscheinlich eher, aber Paxton wählte die zweite Option.

Danach sprangen die Fragen von einem Thema zum anderen.

Wie viele Fenster gibt es in Seattle?

– 10 000

– 100 000

– 1 000 000

– 1 000 000 000

Sollte Uranus als Planet bezeichnet werden?

– Ja.

– Nein.

Es gibt zu viele Rechtsstreitigkeiten.

– Ich stimme voll und ganz zu.

– Ich stimme eher zu.

– Keine Meinung.

– Ich stimme eher nicht zu.

– Ich stimme überhaupt nicht zu.

Paxton gab sich Mühe, über jede Frage ernsthaft nachzudenken, obwohl er nicht recht wusste, was das alles bedeuten sollte. Wahrscheinlich gab es irgendeinen Algorithmus, der anhand seiner Meinung zu astronomischen Fragen den Kern seiner Persönlichkeit enthüllen konnte.

Er beantwortete Fragen, bis er nicht mehr wusste, wie viele es gewesen waren. Dann erlosch das Display und blieb so lange dunkel, dass Paxton sich schon fragte, ob er wohl etwas falsch gemacht hatte. Er sah sich nach Hilfe um, aber da er keine fand, richtete er den Blick wieder auf das Tablet, auf dem inzwischen endlich ein neuer Text erschienen war.

Danke für Ihre Antworten. Wir bitten Sie nun um ein kurzes Statement. Wenn Sie in der linken unteren Ecke einen Countdown sehen, beginnt die Aufnahme, und Sie haben eine Minute Zeit zu erklären, weshalb Sie bei Cloud arbeiten wollen. Bitte bedenken Sie, dass Sie nicht die gesamte Minute über sprechen müssen. Eine klare, einfache und direkte Erklärung genügt. Wenn Sie das Gefühl haben, fertig zu sein, können Sie auf den roten Punkt unten auf dem Display tippen, um die Aufnahme zu beenden. Es besteht keine Möglichkeit, die Aufnahme zu wiederholen.

Im Display spiegelte sich Paxtons Gesicht, durch die Neigung des Geräts leicht verzerrt. Seine Haut leuchtete in einem kränklichen Grau. In der linken unteren Ecke tauchte ein Countdown auf.

1:00.

Dann :59.

»Mir war nicht klar, dass ich eine Rede halten muss«, sagte Paxton mit einem Grinsen, das ausdrücken sollte, dass es sich um einen Scherz handelte, aber schärfer als beabsichtigt wirkte. »Ich würde wohl sagen, dass, äh, tja, wissen Sie, heutzutage ist es schwer, einen Job zu bekommen. Deshalb und weil ich mich örtlich verändern will, dachte ich, das ist doch irgendwie ideal, nicht wahr?«

:43.

»Ich meine, ich will wirklich bei Ihnen arbeiten. Das ist, denke ich, äh, eine fantastische Gelegenheit, etwas Neues zu lernen und mich zu entwickeln. Wie es in dem Werbespot heißt, Cloud ist die Lösung für alle Bedürfnisse.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann nicht so gut aus dem Stegreif sprechen.«

:22.

Ein tiefer Atemzug.

»Aber ich arbeite hart. Ich bin stolz auf meine Arbeit, und ich verspreche, alles zu geben.«

:09.

Paxton drückte auf den roten Punkt, worauf sein Gesicht verschwand. Das Display leuchtete weiß auf. Er verfluchte sich, weil er derart über die eigenen Worte gestolpert war. Wenn er gewusst hätte, dass das ein Teil der Bewerbung sein würde, hätte er vorher geübt.

Danke. Bitte warten Sie, während die Interviewergebnisse ausgewertet werden. Am Ende dieses Vorgangs wird Ihr Display entweder grün oder rot aufleuchten. Bei Rot tut es uns leid, dann haben Sie entweder den Drogentest nicht bestanden oder die von Cloud erwarteten Normen nicht erreicht. In diesem Fall dürfen Sie das Gebäude verlassen und müssen sich vor einer erneuten Bewerbung einen Monat gedulden. Bei Grün bleiben Sie bitte sitzen und warten Sie auf weitere Anweisungen.

Das Display wurde schwarz. Als Paxton den Kopf hob und sich umblickte, sah er, wie alle anderen ebenfalls den Kopf hoben und sich umblickten. Die Frau in seiner Reihe schaute zu ihm herüber, worauf er leicht die Achseln zuckte. Anstatt die Geste zu erwidern, legte sie sich das Tablet auf den Schoß und zog ein kleines Taschenbuch aus ihrer Handtasche.

Paxton balancierte das Tablet auf den Knien. Er war sich nicht sicher, ob er Rot oder Grün sehen wollte.

Rot bedeutete, hinauszugehen und in der Sonne zu stehen, bis wieder ein Bus kam, falls das überhaupt der Fall war. Es bedeutete, die Stellenanzeigen nach Jobs zu durchforsten, mit denen man nicht genug zum Überleben verdiente, und die Wohnungsanzeigen nach Buden, die entweder zu teuer für ihn waren oder so heruntergekommen, dass man nicht darin hausen konnte. Es bedeutete, wieder in jenem stinkenden Tümpel aus Frustration und Emotion zu stecken, in dem er sich monatelang abgestrampelt hatte, die Nase knapp über der Wasseroberfläche.

Trotzdem kam ihm das beinahe wünschenswerter vor, als für Cloud zu arbeiten.

Hinter ihm schniefte jemand laut. Paxton drehte sich um und sah die Frau mit den asiatischen Zügen, die sich vorher an ihm vorübergedrängt hatte. Sie hatte den Kopf gesenkt. Ihr Gesicht war in rotes Licht getaucht.

Als nun sein Display aufleuchtete, hielt er den Atem an.

Zinnia

Grün.

Zinnia zog ihr Handy hervor und scannte schnell den Raum. Keinerlei Abhöreinrichtungen. Sobald sie sich in der MotherCloud befand, würde sie auf jede Funkverbindung verzichten müssen, denn wer wusste schon, was die aus der Luft auffangen konnten. Sorglos mit Übertragungen umzugehen war eine sichere Methode, erwischt zu werden. Sie tippte eine Nachricht, um ein Update über ihren Status zu übermitteln: Hallo, Mama, tolle Neuigkeiten! Ich hab den Job.

Nachdem sie das Handy wieder in der Handtasche versenkt hatte, sah sie sich um. Die Zahl der Leute, die sitzen blieben, war deutlich größer als die derer, die gingen. Zwei Reihen weiter hinten machte eine junge Frau mit einem lila Hosenanzug und langen braunen Zöpfen leise »Puh!« und strahlte.

Schwer war der Test nicht gewesen. Man musste ein ganz schöner Trottel sein, so etwas nicht zu schaffen. Viele von den Antworten hatten keinerlei Bedeutung, vor allem wenn es um abstrakte Sachen ging. Fenster in Seattle? Worauf es ankam, war das Timing. Wenn man zu schnell antwortete, demonstrierte man, dass man durchpowerte, um es hinter sich zu bringen. Und wenn man zu langsam antwortete, fehlte es einem an analytischem Verstand. Dann die Videos. Die wurden doch bestimmt von niemand angesehen. Als ob irgendwo da hinten ein damit beauftragtes Team sitzen würde! Es ging nur um einen Gesichts- und Audioscan. Lächeln. Blickkontakt. Die Verwendung von Ausdrücken wie Leidenschaft, harte Arbeit, lernen und sich entwickeln.

Wenn man den Test überstehen wollte, musste man die Balance halten. Musste demonstrieren, dass man über die Fragen nachdachte.

Darum ging es. Außerdem durfte man nicht durch den Drogentest fallen.

Nicht dass sie regelmäßig irgendwas verwendet hätte bis auf gelegentlich ein bisschen Gras, um sich zu entspannen, und das hatte sie zum letzten Mal vor mehr als sechs Monaten getan. Inzwischen war das THC schon lange aus ihrem Körper gespült worden.

Sie warf einen Blick nach rechts. Der Dussel, der acht Sitze von ihr entfernt saß, hatte es ebenfalls geschafft. Neigte sein grünes Display in ihre Richtung und lächelte. Sie gab nach und erwiderte vorsichtig das Lächeln. Es war vernünftig, höflich zu sein. Wer grob war, fiel auf.

So wie der Typ sie ansah, als wären sie jetzt befreundet, würde er sich im Bus neben sie setzen. Das war sonnenklar.

Während sie auf die nächsten Anweisungen wartete, beobachtete sie, wie die Leute, die es nicht geschafft hatten, sich auf den Weg zum Ausgang machten. Sicher grauste es denen vor der Rückkehr in die Tageshitze, wie sie so den Mittelgang entlangtrotteten. Sie bemühte sich, ein bisschen Mitgefühl für sie aufzubringen, aber es fiel ihr schwer, jemand zu bedauern, der keinen von diesen hirnlosen Jobs an Land gezogen hatte.

Nicht dass sie herzlos gewesen wäre. Sie hatte ein Herz. Da war sie sich sicher. Wenn sie die Hand an die Brust drückte, spürte sie es pochen.

Nachdem alle Ausgemusterten den Raum verlassen hatten und die Türen wieder geschlossen waren, trat eine Frau mit dem Cloud-Logo auf dem weißen Poloshirt vor die Sitzreihen. Sie hatte eine Haube aus goldblonden, wie gesponnen wirkenden Haaren und hob ihre melodische Stimme, um in dem riesigen Saal gehört zu werden.

»Könnten Sie jetzt bitte alle Ihre Sachen einsammeln und uns zum Hintereingang folgen? Dort wartet ein Bus. Falls Sie es allerdings vorziehen, Ihre Abreise um ein paar Tage zu verschieben, sprechen Sie bitte umgehend mit einem der Manager. Danke.«

Alle erhoben sich gleichzeitig. Knallend klappten die Sitze hoch, als würde eine Salve abgefeuert. Zinnia hängte sich die Handtasche über die Schulter, griff nach ihrer Sporttasche und folgte der Menschenschlange zum hinteren Teil des Theaters. Im Gleichtakt mit den anderen durchquerte sie ein grell leuchtendes Rechteck aus weißem Licht.

Während sie sich dem Ausgang näherte, kamen zielstrebig mehrere Männer in JobExpress-Shirts anmarschiert. Mit strenger Miene beobachteten sie die Vorübergehenden. Ihr wurde flau im Magen, aber sie ging unbeirrt weiter, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Als sie auf gleicher Höhe mit den Männern war, streckte einer den Arm aus, und sie blieb stehen, bereit zur Flucht. Eine geeignete Route hatte sie sich schon ausgedacht. Sie würde erst rennen und dann ziemlich weit zu Fuß gehen müssen. Und nichts bezahlt bekommen.

Der Mann hatte es allerdings auf die Person vor ihr abgesehen, die junge Frau mit den langen Zöpfen und dem lila Hosenanzug. Er packte sie am Arm und zerrte sie so rabiat aus der Schlange, dass sie einen leisen Schrei ausstieß. Die anderen Leute gingen einfach weiter. Den Blick zu Boden gewandt, beschleunigten sie ihre Schritte, um nicht in die Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. Während das JobExpress-Team die Frau wegführte, waren Worte wie falsch dargestellt, Werdegang, unangebracht und disqualifiziert zu hören.

Zinnia erlaubte sich den Luxus eines Lächelns.

Ins Freie zu treten fühlte sich an, wie wenn man die Tür eines heißen Backofens öffnete. Am Bordstein stand mit laufendem Motor ein Bus, groß, blau und stromlinienförmig. Das Dach war mit Sonnenkollektoren bestückt. Die Seite war mit dem gleichen Logo wie dem auf dem Poloshirt der Frau zuvor dekoriert: eine weiße Wolke, der leicht versetzt eine blaue Wolke folgte. Das Fahrzeug war deutlich sauberer als der ramponierte alte Dieselbus, mit dem sie in die Stadt gekommen waren. Der hatte ein klägliches Heulen von sich gegeben, als der Fahrer den Motor angelassen hatte.

Auch das Innere war hübscher. Es erinnerte Zinnia an ein Flugzeug. Zwei Reihen mit je drei Sitzen, alle aus steifem, glänzendem Kunststoff. In die Rückseite der Kopfstützen waren Bildschirme eingelassen. Auf jeden Sitz hatte man achtlos einige Broschüren und ein Set billige Einwegohrhörer geworfen, noch in der Plastikhülle. Zinnia ging nach hinten und setzte sich ans Fenster. Die Luft im Innern war eiskalt, aber die Scheibe war heiß wie eine Bratpfanne.

Sie warf einen Blick auf ihr Handy und sah eine Antwort.

Gratuliere! Viel Glück dort! Dein Dad und ich freuen uns auf deinen Besuch an Weihnachten.

Übersetzung: Weitermachen wie geplant.

Neben sich hörte sie ein Geräusch und spürte eine Bewegung in der Luft. Als sie den Kopf hob, blickte sie in das Gesicht des Dussels aus dem Theater. Sein Lächeln drückte aus, dass sie ihn sympathisch finden sollte, hatte jedoch nur eine minimale Wirkung. Er machte den Anschein, als würde er auf Khakihosen und Leichtbier stehen. Außerdem sah er so aus wie jemand, der es wichtig fand, über die eigenen Gefühle zu sprechen. Er trug sogar einen Scheitel.

»Sitzt da schon jemand?«, fragte er.

Sie spielte im Kopf ihre Optionen durch. Eigentlich bevorzugte sie die Methode, einzutauchen und wieder zu verschwinden, ohne zu viel Aufsehen zu erregen und ohne enge persönliche Verbindungen zu knüpfen. Allerdings wusste sie auch, dass simple Dinge wie der Umgang mit anderen ihren Status beeinflussen konnten. Je mehr sie sich gegen Kontakte wehrte, desto größer war die Gefahr, aufzufallen oder gar gefeuert zu werden. Alles in allem bedeutete das, einige Freundschaften zu schließen.

Wahrscheinlich ein guter Moment, damit anzufangen.

»Noch nicht«, sagte sie zu dem Dussel.

Der Typ warf seine Reisetasche auf die Ablage über ihr und setzte sich an den Gang, sodass ein Sitz zwischen ihnen frei blieb. Er roch nach getrocknetem Schweiß, aber das taten alle. Sie selbst auch.

»Tja …«, sagte er und sah sich im Bus um. Man hörte, wie sich die Leute auf den knisternden Plastiksitzen zurechtsetzten und sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. Offenbar versuchte er verzweifelt, den leeren Sitz neben sich weniger peinlich erscheinen zu lassen. »Wie ist eine Frau wie Sie an einem solchen Ort gelandet?«

Nachdem er das von sich gegeben hatte, lächelte er gequält. Ihm war wohl klar geworden, wie dämlich der Spruch sich angehört hatte.

Aber da war noch eine tiefere Schicht. Ein Anflug von Selbstverachtung hinter den Worten. Na, wie hast du es denn geschafft, dein Leben derart in den Sand zu setzen?

»Ich war Lehrerin«, sagte sie. »Als das Schulsystem von Detroit letztes Jahr vollständig outgesourct wurde, sind sie auf die Idee gekommen, dass man statt einem Mathelehrer in jeder Schule bloß einen für jeden Bezirk braucht, der per Videokonferenz in die Klassenzimmer übertragen wird. Früher gab’s da fünfzehntausend Lehrer; jetzt sind es weniger als hundert.« Sie zuckte die Achseln. »Und zu denen zähle ich leider nicht.«

»Ich habe gehört, dass das auch in anderen Städten so läuft«, sagte er. »Der Gemeindehaushalt ist überall knapp. Als Kostensparmaßnahme ist es vielleicht sogar sinnvoll, oder?«

Was wusste der schon von Gemeindehaushalten?

»Sprechen wir da mal in ein paar Jahren wieder drüber, wenn die Kinder nicht mal eine simple mathematische Aufgabe mehr lösen können«, sagte sie mit gehobener Augenbraue.

»Tut mir leid. War nicht so gemeint. Was haben Sie in Mathe denn so unterrichtet?«

»Die Grundlagen«, sagte sie. »Hauptsächlich war ich bei den jüngeren Schülern. Das kleine Einmaleins. Geometrie.«

Er nickte. »Ich hab mich früher ziemlich für Mathe interessiert.«

»Was haben denn Sie in letzter Zeit gemacht?«, fragte sie.

Er verzog das Gesicht, als hätte ihm jemand einen Rippenstüber verpasst. Sie bedauerte die Frage beinahe, weil er ihr wahrscheinlich gleich irgendeine ebenso rührselige wie erfundene Geschichte auftischen würde.

»Ich war Gefängniswärter«, sagte er. »In einer privatisierten Anstalt. Dem Upper New York Correctional Center.«

Aha, dachte sie. Daher das mit dem Gemeindehaushalt.

»Aber danach …«, sagte er. »Haben Sie schon mal vom Perfekten Ei gehört?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte sie wahrheitsgemäß.

Er öffnete die Hände auf dem Schoß, als wollte er etwas präsentieren, verschränkte sie jedoch wieder, als er feststellte, dass sie leer waren. »Das war eine Vorrichtung, in die man ein Ei legen konnte, um sie dann in die Mikrowelle zu stellen. Dort hat sie für ein perfekt hart gekochtes Ei gesorgt, exakt so gegart, wie man es haben wollte, je nachdem wie lange man es dringelassen hat. Zu dem Zweck war eine kleine Tabelle beigelegt. Und wenn das Ei fertig war, ist die Schale von selbst abgegangen, wenn man das Ding aufgeklappt hat.« Er sah sie an. »Mögen Sie hart gekochte Eier?«

»Nicht besonders.«

»Man möchte es nicht meinen, aber so ein Gadget, mit dem man sie leichter hinkriegt …« Er blickte an ihr vorüber aus dem Fenster. »Die Leute mögen Gadgets für die Küche. Das Ding war ziemlich erfolgreich.«

»Und was ist dann passiert?«

Er betrachtete seine Schuhspitzen. »Ich hatte Bestellungen von überallher, aber Cloud war der größte Kunde. Bloß war es so, dass die ständig Rabatt gefordert haben, damit sie es billiger verkaufen konnten. Was am Anfang gar nicht so schlecht war. Ich habe den Verpackungsprozess rationalisiert, sodass weniger Abfall angefallen ist. Wir haben in meiner Garage geschuftet, ich und vier andere. Aber dann kam ein Punkt, wo der Rabatt so hoch war, dass ich keinen Gewinn mehr erzielen konnte. Als ich mich geweigert habe, noch weiter runterzugehen, hat Cloud die Geschäftsverbindung gekappt, und die anderen Kunden haben nicht ausgereicht, das auszugleichen.«

Er schwieg, als wollte er noch etwas anfügen, tat das jedoch nicht.

»Das tut mir leid«, sagte sie, diesmal nicht ganz wahrheitsgemäß.

»Ist schon in Ordnung«, sagte er und sah sie lächelnd an. Seine finstere Miene war verschwunden. »Ich bin gerade von dem Unternehmen eingestellt worden, das meinen Lebensunterhalt ruiniert hat, also läuft es in die richtige Richtung. Übrigens habe ich ein Patent auf das Ding angemeldet. Sobald das durch ist, kann ich es wahrscheinlich an Cloud verkaufen. Ich glaube, darauf hatten sie es ohnehin angelegt – dass sie mich aus dem Markt drängen, um dann ihre eigene Version einzuführen.«

Sie hatte schon kurz davorgestanden, Mitleid zu empfinden, aber seine Einstellung zwang sie dazu, sich für Ärger zu entscheiden. Sie hatte etwas gegen die Art und Weise, wie er sich gebärdete. Schlaff und weinerlich wie die ganzen Trauerklöße, die diesen bescheuerten Job nicht bekommen hatten. Pech gehabt, Alter! Denk dir doch mal was aus, wo es nicht darum geht, Kriminelle zu babysitten oder in der Mikrowelle Eier zu kochen.

»Na, das hört sich ja ganz gut an«, sagte sie.

»Danke«, sagte er. »Mensch, so läuft es doch sowieso, oder? Wenn was nicht klappt, macht man einfach weiter. Wollen Sie vielleicht wieder unterrichten? Ich hab gehört, dass die Schulen in der Anlage ziemlich gut sein sollen.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie. »Ehrlich gesagt, wollte ich bloß ein bisschen Geld verdienen, um eine Weile im Ausland zu leben. Mit einer kleinen Reserve in der Hinterhand irgendwo Englisch unterrichten. In Thailand. Oder Bangladesch. Irgendwo anders als hier.«

Die Türen des Busses schlossen sich. Zinnia sprach lautlos ein Dankgebet, weil der Sitz zwischen ihr und dem Dussel leer geblieben war. Vorn hatte sich die Frau mit der melodischen Stimme postiert und wedelte mit der Hand. Die gedämpften Kennenlerngespräche verstummten. Gehorsam hoben alle den Kopf.

»So, Leute, jetzt geht es gleich los«, sagte die Frau. »Würden Sie bitte die Kopfhörer aufsetzen, es kommt eine Einführung auf Video, die Sie sich anschauen sollen. Die Fahrt dauert ungefähr zwei Stunden. Ganz hinten gibt es eine Toilette, und hier vorne ist Wasser erhältlich, falls jemand was trinken will. Nehmen Sie sich nach dem Video bitte etwas Zeit, die Broschüren durchzusehen, und wenn wir ankommen, wird Ihnen Ihre Unterkunft zugeteilt. Das Video beginnt in drei Minuten. Vielen Dank!«

Auf den Bildschirmen in den Kopfstützen erschien ein Countdown.

3:00

2:59

2:58

Zinnia und ihr Nachbar streckten gleichzeitig die Hand nach dem mittleren Sitz aus, auf dem sie die Broschüren und Ohrhörer deponiert hatten. Die Hände berührten sich, und die Plastikhüllen knisterten. Wahrscheinlich sah der Typ zu ihr herüber, weshalb sie darauf achtete, keinen Blickkontakt aufzunehmen. Da, wo er ihre Haut berührt hatte, spürte sie allerdings Wärme.

Nähe, aber keine zu große Nähe.

Eintauchen, den Job erledigen, und dann schleunigst wieder weg.

»Hoffentlich dauert das Video nicht zu lange«, sagte sie. »Ich würde liebend gern ein Nickerchen halten.«

»Keine schlechte Idee.«

Während sie das Kabel in die Buchse unter dem Bildschirm steckte, grübelte sie wieder darüber nach, von wem sie den Auftrag eigentlich bekommen hatte.

Der erste Anruf und sämtliche weiteren Mitteilungen waren anonym und verschlüsselt gewesen. Das Angebot hatte sie regelrecht vom Hocker gerissen. Mit einem solchen Honorar konnte sie sich anschließend zur Ruhe setzen. Das würde sie wahrscheinlich auch tun müssen, nachdem sie gerade ihr Genmaterial zur Verfügung gestellt hatte. So ungern sie es zugelassen hatte, dass jemand ihr mehrere Haare ausriss und ihr Profil in eine Datenbank einspeiste – wenn der Job gelaufen war, kam es nicht mehr darauf an. Sie konnte ihr restliches Leben irgendwo in Mexiko am Strand verbringen. An einem langen, wunderschönen Strand ohne Auslieferungsabkommen.

Es war nicht ihr erster anonymer Auftrag, aber eindeutig ihr größter. Und obwohl es sie eigentlich nichts anging, machte sie sich unweigerlich Gedanken.

Um die Frage, wer sie beauftragt hatte, zu beantworten, musste man sie ein bisschen erweitern: Wer hatte einen Nutzen davon? Allerdings führte das auch nicht weiter. Wenn der König im Sterben lag, geriet das ganze Reich unter Verdacht.

»Tut mir furchtbar leid«, sagte der Dussel und störte ihren Gedankengang. »Ich hätte mich längst vorstellen sollen.« Er bot ihr über den leeren Sitz hinweg die Hand. »Paxton.«

Sie beäugte die Hand einen Moment lang, bevor sie reagierte. Sein Griff war stärker, als sie gedacht hätte, und außerdem war seine Haut erfreulicherweise schweißfrei.

Sie rief sich den Namen in Erinnerung, den sie sich für diesen Auftrag ausgedacht hatte.

»Zinnia«, sagte sie.

»Zinnia«, wiederholte er und nickte. »So ähnlich wie die Blume.«

»Wie die Blume«, stimmte sie zu. »Übrigens können wir uns gerne duzen.«

»Schön. Freut mich, dich kennenzulernen.«

Es war das erste Mal, dass sie den Namen laut ausgesprochen hatte, während jemand außer ihr selbst ihn hören konnte. Sein Klang gefiel ihr. Zinnia. Das hörte sich an wie ein glatter Kieselstein, der über die Oberfläche eines stillen Teiches hüpfte. Abgesehen davon, tat sie das bei jedem neuen Job am liebsten. Sich einen Namen auszusuchen.

Zinnia lächelte, wandte sich von Paxton ab und steckte sich die Hörer in die Ohren, während sich der Countdown seinem Ende näherte. Das Video begann.

Willkommen

Eine gut ausgestattete Küche in einem gediegenen Einfamilienhaus. In dem durch große Erkerfenster einströmenden Sonnenlicht glitzern die Oberflächen aus Edelstahl. Drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, rennen lachend durchs Bild, spielerisch verfolgt von ihrer Mutter, einer jungen Frau mit braunem Haar. Sie ist barfuß, trägt einen weißen Pulli und Jeans.

Die Mutter bleibt stehen, wendet sich der Kamera zu, stemmt die Hände in die Hüften und spricht direkt zu den Betrachtern.

MUTTER: »Ich liebe meine Kinder, aber sie sind ganz schön anstrengend. Manchmal dauert es ewig, bis sie angezogen und im Garten sind. Und nach den Massakern am Black Friday …«

Sie unterbricht sich, drückt die Hand an die Brust und schließt die Augen, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Dann jedoch macht sie die Augen wieder auf und lächelt.

»… seither jagt mir schon die Vorstellung, zum Einkaufen zu fahren, einen gewaltigen Schrecken ein. Wenn es Cloud nicht gäbe, wüsste ich ehrlich gesagt gar nicht, was ich tun soll.«

Sie lächelt wieder, sanft und natürlich, genau wie eine Mutter lächeln soll.

Schnitt auf den kleinen Jungen, der jetzt auf dem Boden liegt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hält er sich sein Knie, das blutig aufgeschürft ist. Er heult.

KIND: »Mamiiiiiiii!«

Schnitt auf einen Mann im roten Poloshirt, der von irgendwoher weiter oben auf den Boden eines riesigen Warendepots springt. Er ist schlank, attraktiv, blond. Sieht aus wie im Labor gezüchtet. Die Kamera zoomt auf den Gegenstand in seiner Hand: eine Schachtel mit Heftpflaster.

Der Mann läuft los und spurtet zwischen zwei hoch aufragenden Regalreihen hindurch, auf denen säuberlich aufgestapelt verschiedene Waren liegen.

Kaffeebecher und Toilettenpapier, Bücher und Suppendosen. Seife und Bademäntel, Laptops und Motoröl. Briefumschläge und Spielzeugsets, Handtücher und Sneakers.

Der Mann bleibt vor einer langen Reihe Förderbänder stehen, legt die Packung Pflaster in eine blaue Box und schiebt sie dann das Förderband entlang.

Schnitt auf eine Drohne, die durch einen strahlend blauen Himmel summt.

Schnitt auf die Mutter, die gerade einen mit dem Cloud-Emblem geschmückten Pappkarton aufreißt. Sie entnimmt ihm die Schachtel mit den Pflastern und zieht eines heraus, das sie ihrem Kind aufs Knie klebt. Der kleine Junge strahlt und gibt seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.

Die Mutter wendet sich wieder der Kamera zu.

MUTTER: »Dank Cloud bin ich immer bereit für alles, was das Leben uns vorsetzt. Und wenn mal eine Leckerei angesagt ist, lässt Cloud mich ebenfalls nicht im Stich.«

Der Mann im roten Poloshirt taucht wieder auf, diesmal mit einer Schachtel Süßigkeiten unter dem Arm. Er rennt los, aber die Kamera folgt ihm nicht. Stattdessen wird er zwischen den riesigen Regalen immer kleiner, bis er scharf nach rechts abbiegt und verschwindet. Nun sieht man nur noch die monumentalen Regale über dem leeren Boden aufragen. Sie erstrecken sich weit in die Ferne.

Schnitt auf einen weißen Bildschirm. Ein hagerer älterer Mann kommt heran. Er trägt Jeans, ein weißes Anzughemd mit hochgekrempelten Ärmeln und braune Cowboystiefel. Seine Haare sind militärisch kurz geschnitten. In der Mitte des Bildschirms bleibt er stehen und lächelt.

GIBSON WELLS: »Tag, ich bin Gibson Wells, Ihr neuer Chef. Es ist mir ein echtes Vergnügen, Sie in der Familie willkommen zu heißen.«

Schnitt auf Wells, der zwischen den gewaltigen Regalreihen hindurchgeht. Diesmal huschen dort Männer und Frauen in roten Shirts hin und her, aber niemand hält inne und grüßt ihn, wie wenn er ein Gespenst wäre.

GIBSON WELLS: »Cloud ist die Lösung für alle Bedürfnisse. Es ist ein Ort der Erleichterung in einer hektischen Welt. Unser Ziel ist es, einzelnen Menschen und Familien zu helfen, die nicht außer Haus gehen können, keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe haben oder das Risiko nicht eingehen wollen.«

Schnitt auf einen Raum mit rasterförmig angeordneten, wuchtigen Tischen. Bedeckt sind sie mit blauen Rohren, die wie Industriegebläse aussehen. Wenn die Arbeiter in den roten Poloshirts einen Gegenstand darauflegen, wird er von aus den Rohren quellendem Schaum umhüllt, der schnell zu Pappe trocknet.

Die Arbeiter befestigen Adressetiketten und Aufkleber mit dem Cloud-Emblem auf den Paketen und deponieren sie dann auf einer Reihe von Bändern, die endlos zur Decke hinauflaufen.

Wells streift immer noch umher, während die Arbeiter flink und präzise ihre Tätigkeit verrichten, ohne ihn wahrzunehmen.

GIBSON WELLS: »Hier bei Cloud ist es unser Bestreben, Ihnen ein sicheres Arbeitsumfeld zu bieten, wo Sie Herr Ihres eigenen Schicksals sind. Das heißt, es ist ein breites Spektrum an Positionen verfügbar, von den Sammlern – diesen netten Leuten in Rot – über unsere Verpacker und unser Supportpersonal …«

Schnitt auf einen riesigen Raum voller Bürokabinen. Leute mit kanariengelben Poloshirts und Telefon-Headsets blicken auf Tablets, die an ihren Schreibtischen befestigt sind. Alle lächeln oder lachen, als würden sie sich mit alten Freunden unterhalten.

»… die Assistenten …«

Schnitt auf eine glänzende Industrieküche, wo Angestellte in hellgrünen Poloshirts Mahlzeiten zubereiten und Abfalleimer leeren. Auch sie lächeln oder lachen. Wells steht mit einem Haarnetz neben einer kleinen Frau mit indischen Gesichtszügen und ist damit beschäftigt, eine Zwiebel zu schneiden.

»… das technische Team …«

Schnitt auf eine Gruppe von jungen Männern und Frauen in braunen Poloshirts. Sie inspizieren die freigelegten Innereien eines Computerterminals.

»… bis zu den Managern.«

Schnitt auf einen Tisch, an dem Männer und Frauen in strahlend weißen Poloshirts mit Tablets in den Händen sitzen. Sie diskutieren über etwas sehr Bedeutsames, während Wells danebensteht.

GIBSON WELLS: »Bei Cloud evaluieren wir Ihre Kompetenzen und setzen Sie in genau der Position ein, die am besten für uns alle ist.«

Schnitt auf eine aufgeräumte, hübsche Wohnung wie aus dem Katalog, in der ein junger Mann am Herd steht. Er setzt sich seine Tochter auf die Schultern, um anschließend in einem Topf mit Soße zu rühren.

Die Wand ist mit Aufklebern geschmückt, auf denen in Kursivschrift Love und Inspiration steht. Das Sofa ist flott und modern. Die Einbauküche ist so groß, dass darin vier Leute gemeinsam kochen könnten, und bietet den Blick auf ein tiefer gelegtes Wohnzimmer, das für eine Cocktailparty geeignet wäre.

Wells ist jetzt verschwunden, aber seine Stimme ist weiterhin zu hören.

GIBSON WELLS: »Weil Cloud nicht nur ein Ort ist, wo man arbeitet. Es ist ein Ort, wo man lebt. Glauben Sie mir: Wenn Ihre Freunde und Verwandten zu Besuch kommen, wollen sie womöglich auch hier arbeiten.«

Schnitt auf einen verstopften Highway. Kein Fahrzeug bewegt sich, die Abgase lassen den Himmel aschgrau werden.

GIBSON WELLS: »Bisher war der amerikanische Berufspendler im Durchschnitt zwei Stunden täglich unterwegs. Das sind zwei Stunden vergeudete Zeit. Zwei Stunden, in denen Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen wird. Alle Mitarbeiter, die sich entscheiden, in einer unserer Wohnanlagen zu leben, gelangen von ihrem Arbeitsplatz in weniger als fünfzehn Minuten nach Hause. Wer mehr von seiner Zeit zur Verfügung hat, der hat mehr Zeit für seine Familie, sein Hobby und für die dringend nötige Erholung.«

Schnitt auf eine Montage aus kurzen Szenen:

–   Leute beim Einkaufsbummel in einer mit weißem Marmor ausgelegten Ladenpassage, umgeben von Markengeschäften

–   ein Arzt, der sein Stethoskop an die entblößte Brust eines jungen Mannes drückt

–   ein junges Paar, das Popcorn mampft; die Gesichter flackern im Licht eines Kinofilms

–   eine ältere Frau, die auf einem Laufband trainiert.

GIBSON WELLS: »Wir bieten alles von Unterhaltung über medizinische Versorgung und Wellness bis hin zu schulischen Einrichtungen, die dem höchsten Standard entsprechen. Wenn Sie einmal hier sind, werden Sie nie wieder fortgehen wollen. Außerdem will ich, dass Sie sich hier zu Hause fühlen. Wirklich zu Hause. Obwohl Ihre Sicherheit absolute Priorität für uns hat, werden Sie trotzdem nicht an jeder Ecke Überwachungskameras sehen. Sonst wäre das kein Leben.«

Schnitt auf einen weißen Bildschirm. Wells ist wieder da. Der Hintergrund ist verschwunden, sodass er mitten in der Leere steht.

GIBSON WELLS: »Alles, was Sie hier sehen, und mehr wird für Sie verfügbar sein, sobald Sie bei Cloud angefangen haben. Überdies können Sie darauf vertrauen, dass Ihr Job sicher ist. Zwar sind einige unserer Abläufe automatisiert, aber ich halte nichts davon, Roboter zu beschäftigen. Ein Roboter kann niemals die Geschicklichkeit und das kritische Urteilsvermögen eines Menschen replizieren. Selbst wenn es eines Tages dazu kommen sollte, wird das keine Bedeutung für uns haben. Wir glauben an die Familie. Das ist der Schlüssel, ein Geschäft erfolgreich zu führen.«

Schnitt auf eine verlassene Ladenfront. Die Schaufenster sind mit Sperrholz verrammelt. Wells, der den Bürgersteig entlanggeht, wirft einen Blick auf den Laden, schüttelt den Kopf und wendet sich der Kamera zu.

GIBSON WELLS: »Die Lage ist hart, daran besteht kein Zweifel. Aber auch in der Vergangenheit waren wir allerhand Widrigkeiten ausgesetzt und haben sie überwunden, denn das ist es, wofür wir geschaffen sind. Wir bringen Leistung, und wir halten durch. Es ist mein Traum, Amerika wieder auf die Beine zu verhelfen, und deshalb arbeite ich mit den von Ihnen gewählten Lokalpolitikern zusammen, um dafür zu sorgen, dass wir genügend Wachstumsmöglichkeiten haben, damit mehr Bürgerinnen und Bürger ihren Lebensunterhalt verdienen können. Unser Erfolg beginnt bei Ihnen. Sie sind die Zahnräder, die unsere Wirtschaft in Bewegung halten. Ja, Ihre Arbeit wird manchmal schwer sein oder Ihnen monoton vorkommen, das verschweige ich nicht, aber Sie sollten nie vergessen, wie wichtig Sie für das große Ganze sind. Ohne Sie ist Cloud absolut nichts. Bei rechtem Licht betrachtet …«

Die Kamera zoomt näher heran. Lächelnd breitet Wells die Arme aus, als wollte er den Betrachter auffordern, ihn zu umarmen.

»… arbeite ich für Sie.«

Schnitt auf einen Tisch in einem Restaurant, an dem etwa ein Dutzend Männer und Frauen sitzen. Viele von ihnen sind übergewichtig. Die Männer halten Zigarren in den Fingern; graue Rauchkringel schweben in der trüben Luft. Auf dem Tisch stehen leere Weingläser und Teller mit halb gegessenen Steaks.

GIBSON WELLS: »Manche Leute werden Ihnen erklären, es sei nicht ihre Aufgabe, für Sie zu kämpfen. Das stimmt. Die Aufgabe solcher Leute ist es, für sich selbst zu kämpfen. Sich durch die harte Arbeit, die Sie leisten, zu bereichern. Bei Cloud hingegen sind wir für Sie da, und das meinen wir auch.«

Die Kamera zieht sich zurück. Nun steht Wells in einer kleinen Wohnung.

GIBSON WELLS: »Jetzt fragen Sie sich vielleicht, was als Nächstes kommt. Nun, wenn Sie in der MotherCloud eintreffen, wird man Sie mit einem Zimmer und einem CloudBand ausstatten.«

Wells hebt den Arm, um ein glänzendes, uhrenähnliches Objekt zu zeigen, das er an einem robusten Lederriemen um das Handgelenk trägt.

GIBSON WELLS: »Ihr CloudBand wird Ihr neuer bester Freund sein. Es hilft Ihnen dabei, innerhalb der Anlage von Ort zu Ort zu gelangen, Türen zu öffnen und Einkäufe zu bezahlen. Es liefert Wegbeschreibungen, überwacht Ihre Gesundheit und Ihre Herzfrequenz, aber vor allem unterstützt es Sie bei Ihrer Arbeit. Wenn Sie in Ihre Wohnung gelangen, werden Sie übrigens ein paar weitere tolle Sachen vorfinden.«

Er hebt einen kleinen Karton in die Höhe.

GIBSON WELLS: »Die Farbe Ihres Shirts wird Ihnen mitteilen, wo Sie arbeiten. Wir sind noch damit beschäftigt, Ihre Testergebnisse auszuwerten, aber bis Sie in Ihrer Wohnung sind, haben wir das geschafft. Sobald Sie ankommen, sollten Sie Ihre Sachen abstellen und einen Spaziergang unternehmen. Machen Sie sich mit allem vertraut. Morgen findet die Orientierung statt, bei der jemand aus Ihrem Arbeitsbereich Sie begleiten wird, um Sie einzuweisen.«

Er stellt den Karton ab und zwinkert der Kamera zu.

GIBSON WELLS: »Viel Glück, und willkommen in der Familie! Wir haben mehr als hundert MotherCloud-Zentren in den Vereinigten Staaten, und es ist bekannt, dass ich dort ab und an zu Besuch komme. Wenn Sie mich also durch die Gegend gehen sehen, können Sie mich gern ansprechen und grüßen. Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen. Und wohlgemerkt: Sagen Sie einfach Gib zu mir!«

Gibson

Da wir nun den ganzen deprimierenden Kram beiseitegeräumt haben, ist es wahrscheinlich am besten, wenn ich euch erst mal berichte, wie ich überhaupt in dieser Branche gelandet bin, ja?

Das ist allerdings nicht ganz einfach, weil ich es nämlich selbst nicht genau sagen kann. Schließlich gibt es wohl keinen kleinen Jungen auf unserem Planeten, der je vorhat, später mal das weltgrößte Unternehmen für elektronischen Einzelhandel und Cloud-Computing zu führen, wenn er groß ist. Als kleiner Junge wollte ich Astronaut werden. Erinnert ihr euch an den Rover Curiosity? Den hat man damals im Jahre 2011 auf dem Mars herumrollen lassen. Ich war begeistert von dem Ding. Das Modell, das ich davon hatte, war so groß, dass ich unseren Kater draufsetzen und durchs Wohnzimmer fahren lassen konnte. Noch heute, viele Jahre später, erinnere ich mich an allerhand Fakten zum Mars, zum Beispiel daran, dass dort der höchste Berg im Sonnensystem steht, Olympus Mons, und dass ein Gegenstand, der auf der Erde 100 Kilo wiegt, dort nur 38 Kilo wiegen würde.

Ein fantastischer Diätplan, wenn ihr mich fragt. Leichter, als auf rotes Fleisch zu verzichten.

Jedenfalls war ich überzeugt, dass ich der erste Mensch sein würde, der den Fuß auf diesen Planeten setzt. Ich habe mich jahrelang damit beschäftigt. Eigentlich ging es mir gar nicht so sehr darum, dass ich dorthin wollte. Ich wollte der Erste sein. Aber als ich auf die Highschool kam, gelang das just einem anderen, was meinen Traum platzen ließ.

Nicht dass ich nicht trotzdem hingeflogen wäre, wenn man es mir angeboten hätte, aber der Zauber war irgendwie verflogen. Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas als Erster tut oder als Zweiter.

Während ich mir also die ganze Zeit vorstellte, auf einem fremden Planeten herumzuhüpfen, war ich bereits auf dem Weg dorthin, wo ich mich heute befinde. Eines habe ich nämlich immer wirklich gern getan: mich um andere Leute zu kümmern.

In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es etwa eine Meile von unserem Haus entfernt einen Gemischtwarenladen. Coop’s. Wenn Mr. Cooper es nicht hat, sagte man scherzhaft, dann braucht man es wahrscheinlich nicht.

Der Laden war ein wahres Wunder. Nicht so groß, wie man es erwartet hätte, aber gerade groß genug. Alles war bis unter die Decke aufgestapelt, wie wenn ein Ding auf dem anderen balancieren würde. Man konnte Mr. Cooper nach jeder beliebigen Ware fragen, und er fand sie sofort. Manchmal musste er sich dafür bis an die Rückwand der Regale durchwühlen, aber er hatte immer vorrätig, wonach man suchte.

Als ich neun war, ließ meine Mutter mich ganz alleine zu dem Laden gehen, weshalb ich natürlich immer dazu bereit war. Selbst wenn es um was ganz Kleines ging, rannte ich sofort hin. Wenn sie sagte, sie brauche einen Laib Brot, war ich schon aus der Tür, bevor sie mir erklären konnte, das könne gut und gerne auch bis zu ihrem nächsten Einkauf warten.

Mit der Zeit ging ich so oft hin und her, dass ich nebenbei Besorgungen für Leute aus der Nachbarschaft machte. Wenn Mr. Perry von nebenan mich losmarschieren sah, hielt er mich an und bat mich, ihm einen Tiegel Rasierseife oder wer weiß was mitzubringen. Er gab mir ein paar Dollar mit und überließ mir das Wechselgeld, wenn ich wiederkam. Daraus entwickelte sich ein lukratives kleines Nebengeschäft. Nach einer Weile konnte ich mir Comichefte und Süßigkeiten kaufen, so viel ich wollte.

Aber wisst ihr, was der große Moment war? Der Moment, der alles veränderte? Da gab es diesen Jungen aus unserer Nachbarschaft. Ray Carson. Ein massiger Bursche, gebaut wie ein Stier, aber richtig nett. Ich komme also eines Tages vollgepackt mit Einkäufen aus dem Laden – wahrscheinlich hatte ich sechs oder sieben Stationen vor mir, bevor ich nach Hause kam – und dachte, mir würden gleich die Arme abfallen.

Da lehnt Ray an der Ladenwand und futtert einen Schokoriegel, und ich sage zu ihm: »Hör mal, Ray, wie wär’s, wenn du mir tragen hilfst? Ich geb dir dafür auch was ab.« Klar hilft er mir, sagt Ray, denn welcher Junge braucht nicht ein bisschen extra Taschengeld?

Ich überlasse ihm also ein paar von den Einkaufstüten, und wir liefern alles schneller ab, als ich das alleine geschafft hätte. Am Ende habe ich mein ganzes Trinkgeld gezählt und Ray wie versprochen was davon abgegeben, was ihn so gefreut hat, dass wir das weiter so gehalten haben. Ich habe die Bestellungen entgegengenommen und die Einkäufe gemacht, er hat mir beim Tragen und Ausliefern geholfen. Mit der Zeit konnte ich mir statt Süßigkeiten und Comicheften sogar Videospiele leisten. Und Modellraketen, die richtig guten mit den zahllosen Einzelteilen, von denen man anfangs nie alle in der Schachtel gefunden hat.

Nach einer Weile haben andere Jungen mitbekommen, wie gut das Ganze für Ray Carson lief. Daraufhin haben sie mich gefragt, ob sie ebenfalls für mich arbeiten dürfen. Klar, habe ich gesagt, und so ist es dazu gekommen, dass die Leute in meiner Nachbarschaft eigentlich gar nicht mehr zum Einkaufen aus dem Haus gehen mussten.

Mir hat das ein gutes Gefühl verschafft. Es war schön, dass meine Mutter sich hinsetzen und sich die Fingernägel lackieren konnte, statt wie eine Irre durch die Gegend zu rennen, was sie wegen mir und meinem Dad oft hatte tun müssen.

Die Sache lief so gut, dass ich eines Abends beschloss, meine Eltern zum Essen auszuführen.

Wir gingen in das italienische Lokal gleich neben dem Coop’s. Ich trug ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, die ich extra für den Abend gekauft hatte, bloß dass ich keine Ahnung hatte, wie man so eine binden musste. Eigentlich wollte ich meine Mutter überraschen, indem ich damit die Treppe herunterkam, aber stattdessen musste ich sie nach oben rufen, damit sie mir beim Binden half. Als sie sah, wie ich da so stand und mich mit dem Knoten abmühte, ist sie fast geplatzt.

Wir sind zu Fuß gegangen, weil es ein milder Abend war, und die ganze Zeit über hat mein Daddy mich veräppelt, weil er dachte, sobald die Rechnung komme, würde ich die Muffen kriegen, und dann könnte er eingreifen, um die Lage zu retten. Aber ich hatte mir im Internet die Speisekarte angeschaut und wusste, dass ich genügend Geld dabeihatte.