Paradox Hotel - Rob Hart - E-Book

Paradox Hotel E-Book

Rob Hart

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Beschreibung

Im Paradox Hotel ticken die Uhren anders. Denn hier bucht man keinen Tagesausflug in die nähere Umgebung, sondern eine Flugreise in die Vergangenheit. Ein Dutzend verschiedene Epochen stehen den Gästen zur Verfügung, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Doch dann geschieht ein Mord im Paradox Hotel, und January Cole beginnt zu ermitteln. Das ist allerdings nicht so einfach, wenn noch nicht einmal klar ist, wann der Mord überhaupt geschehen ist – in der Vergangenheit, der Gegenwart oder gar erst in der Zukunft?

  • Willkommen im Paradox Hotel! Ihre Zeitreise beginnt hier.
  • Im einzigen Hotel beim Zeitportal ist vieles anders: die Gäste sind kostümiert, die Uhren ticken langsamer – und ein Mordopfer verschwindet in der Vergangenheit
  • Der neue, packende Zeitreise-Krimi vom Autor von »Der Store«

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Seitenzahl: 528

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DASBUCH

Im Paradox Hotel ticken die Uhren anders. Denn hier bucht man keinen Tagesausflug in die nähere Umgebung, sondern eine Flugreise in die Vergangenheit. Ein Dutzend verschiedene Epochen stehen den Gästen zur Verfügung, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Hotel und angrenzender Zeitflughafen befinden sich im Besitz der US-amerikanischen Regierung. Beide sind ein Verlustgeschäft, und so soll nun eine Versteigerung unter Billionären einen neuen Käufer ermitteln. Dazu reisen die Kandidaten, eine illustre Gruppe von Celebritys und Start-up-Unternehmern, an und beziehen das Paradox Hotel. Doch dann geschieht ein Mord. January Cole beginnt zu ermitteln und muss feststellen, dass das nicht so einfach ist, wenn noch nicht einmal feststeht, wann der Mord überhaupt geschehen ist – in der Vergangenheit, der Gegenwart oder gar erst in der Zukunft? Und während January den Mörder jagt, droht das Gefüge der Zeit immer mehr aus den Fugen zu geraten. Die Uhr tickt …

DERAUTOR

Rob Hart hat als politischer Journalist, als Kommunikationsmanager für Politiker und im öffentlichen Dienst der Stadt New York gearbeitet. Er ist Autor einer Krimiserie und hat zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. Mit seinem Debütroman Der Store hat er weltweit Aufsehen erregt. Rob Hart lebt mit Frau und Tochter auf Staten Island.

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ROB HART

PARADOX HOTEL

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Michael Pfingstl

Deutsche Erstausgabe

Wilhelm Heyne Verlag

München

Titel der Originalausgabe:

PARADOXHOTEL

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 09/2022

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2021 by Rob Hart

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illlustrat, München

Umschlagillustration: Will Staehle

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28019-2V001

diezukunft.de

heyne.de

Es ist eine schlechte Art von Erinnerung, die nur rückwärts funktioniert.

Die Weiße Königin in Alice hinter den Spiegeln von Lewis Carroll

QUANTENVERSTRICKUNG

Blutstropfen fallen auf den blauen Teppich, verfärben sich von rot zu schwarz, während sie in die Fasern eindringen. Zuerst kommen sie nur langsam und werden dann zu einem Rinnsal, während meine Schädelknochen mein Gehirn zusammendrücken wie eine Faust. Mein Körper sehnt sich danach, die Spannung in meinen Schultern zu lösen, den Druck von meinen Knien zu nehmen, sich hinzulegen und einzuschlafen.

Aber es wäre kein Schlaf.

Der Tod allerdings auch nicht. Eher ein Zwischending.

Eine ewige Leere.

Dieser Moment verfolgt mich seit Jahren: das dritte Stadium, in dem sich die Stränge meiner Wahrnehmung auflösen, und ich nicht mehr in der Lage bin, das Konzept der linearen Zeit zu begreifen.

Wieder dieses klopfende Geräusch. Aber das Blut aus meiner Nase hat aufgehört zu fließen.

Schwerer, vom anderen Ende des Flurs, das Geräusch kommt näher.

Schritte.

Vielleicht kann ich es noch aufhalten. Mit ein paar Retronim. Einem Kirschlolli. Oder Schreien? Ich öffne den Mund. Nichts kommt heraus außer Blut.

Die Schritte kommen noch näher.

Das ist der Moment, in dem mein Gehirn einen Kurzschluss erleidet. Die dritte Stufe des Losgelöstseins. Niemand weiß genau, warum es passiert. Die vorherrschende Theorie besagt, dass sich der menschliche Geist nun in einem Quantenzustand befindet und die Belastung nicht mehr erträgt. Andere glauben, dass man den Moment seines eigenen Todes erlebt. Das Warum ist mir scheißegal. Ich weiß nur, dass das Ergebnis nicht angenehm ist: Mein Blick wird leer, dann falle ich ins Koma und das so lange, wie mein Körper weiterlebt.

Der Druck steigt. Noch mehr rote Tropfen. Vielleicht verblute ich, bevor es so weit ist. Kleine Siege.

Gleich bin ich weg. Und die Realität wahrscheinlich auch. Der Zeitstrom ist gestört, und ich bin die Einzige, die ihn reparieren kann. Aber stattdessen sterbe ich hier auf dem Teppich. Sorry, Universum.

Dann drifte ich wieder, Erinnerungen scheppern in meinem Gehirn wie Steine in einer Blechdose. Ich sitze auf meinem Bett, der Geruch von Knoblauch und Chilipaste, die in der Küche brutzeln, weht die Treppe herauf. Mein Abschluss an der Akademie, ich gehe über die Bühne der Sporthalle, die neuen High Heels scheuern an meinen Fersen, während mein Blick über das Meer von Klappstühlen schweift.

Das erste Mal, als ich mich von Mena küssen ließ, wir beide allein auf der Galerie über der Lobby.

Der Geschmack von Kirschen und alles, was ich je gebraucht habe.

Die Schritte verstummen.

Ich spüre es, den Luftzug, die Schwerkraft einer anderen Person, die dasteht und zusieht, wie ich mich auf diesem bescheuerten blauen Teppich winde. Ich kann nichts mehr tun. Es ist vorbei. Aber ich weigere mich, auf den Knien zu sterben.

Mit letzter Kraft stemme ich mich hoch …

Klopf-klopf-klopf.

Doktor Tamworth hält seinen Stift einen Fingerbreit über die Schreibfläche seines riesigen Tisches und sieht mich an, als würde ich ihn jeden Moment beißen. Wer weiß, der Tag ist noch jung.

Es vergeht ein Moment, bis ich mich zurechtfinde. Das Licht ist so blendend weiß, dass es beinahe blau aussieht, passend zu den himmelfarbenen Wänden und den dunkelblauen Linoleumfliesen. Vieles in diesem Raum ist blau – das wirkt beruhigend, wie man mir gesagt hat. Ansonsten ist der Raum kahl bis auf ein kleines Tablet auf dem Schreibtisch, ein Diplom einer Universität in Tamworths Heimat Bangladesch und ein halb aufgegessenes Sandwich in einer Pappschachtel. Der stechende Geruch von Essig und Käse steigt mir in die Nase. Mein Magen knurrt dagegen an. Ruby schwebt an seinem üblichen Platz über meiner Schulter, um die Hälfte zu nah.

»Wo waren Sie gerade, January?«, fragt Tamworth.

»Genau hier, Doc«, antworte ich, was nur größtenteils gelogen ist, denn der Ort, an den ich gedriftet bin, ist nicht mehr da. Irgendwas mit einem Teppich? Ich greife danach, aber meine Finger gleiten hindurch wie durch Nebel. Wahrscheinlich ist es nicht wichtig.

»Es sah nicht so aus, als wären Sie hier gewesen«, entgegnet Tamworth. Seine Stimme hat eine luftige, nasale Tonlage, als wollte sie mit dem Knarren seines Stuhls wetteifern. »Es sah so aus, als wären Sie woanders.«

»Ihr Wort gegen meins.«

Tamworth seufzt. »Keine Verhaltensänderung. Das ist schon mal ein Anfang.«

Er erhebt sich, seine klobige Gestalt wendet sich dem Schrank zu. Das Klappern der Pillenflasche hellt meine Stimmung auf. Er stellt das orange Fläschchen Retronim auf den Schreibtisch, direkt neben das Sandwich.

»Ich erhöhe Ihre Dosis«, erklärt er. »Zehn Milligramm. Eine Tablette am Morgen, eine abends. Wenn Sie öfter driften als gewöhnlich, können Sie noch eine dritte nehmen, aber das ist die Höchstdosis innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Bei Ihrem Gewicht.« Er hebt die Hand, spreizt die Finger und wackelt damit. »Ich vermute, wenn wir bei zwanzig Milligramm am Tag sind, könnte es ein Problem geben.«

»Was für ein Problem?«

Tamworth lässt sich in seinen Stuhl sinken. »Aggressivität, Gereiztheit …«

»Dann nehme ich im Moment wohl eine Überdosis.«

Er runzelt die Stirn. »Herzklopfen, Verwirrung, Halluzinationen. Ganz zu schweigen davon, dass Ihre Nieren nicht allzu erfreut sein werden.«

»Verstanden«, sage ich und schnappe mir um ein Haar das Sandwich. Stattdessen nehme ich das Fläschchen und stecke es ein. »Ich nehme sie also je nach Bedarf. Wie Bonbons.«

Seine Miene verfinstert sich. »Wird Ihnen das nicht manchmal selber zu viel?«

Ich antworte mit einem Achselzucken.

»Die neuen Scans sind da. Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen.« Er nimmt das Tablet, klappt es auf und dreht mir das Display zu. Auf dem breiigen Oval, das darauf abgebildet ist, leuchten einzelne Bereiche in Grün-, Blau- und Rottönen. »Das ist das Gehirn einer Frau Ihres Alters, die noch nie einen Fuß in den Zeitstrom gesetzt hat.« Er wischt über den Bildschirm und zeigt mir einen weiteren Scan mit etwas weniger Farbe im Zentrum. »Das ist Ihr Gehirn. Sehen Sie den Unterschied?«

»Ich bin kein Arzt«, sage ich.

»Es gibt eine deutliche Verschlechterung im Hypothalamus. Wir wissen noch nicht genau, wie es passiert, aber wir glauben, dass das Problem mit dem Nucleus suprachiasmaticus zusammenhängt, der den zirkadianen Rhythmus des Körpers reguliert …«

Ich hebe die Hand. »Doc. Sagen Sie mir nicht, Sie wüssten nicht, was passiert, um mir dann zu erklären, was mit mir nicht stimmt. Ich habe es Ihnen bereits gesagt: Ich bin noch immer im ersten Stadium.«

Mit seinem Stift klopft er auf das Display. »Niemand mit einem derart ausgeprägten Funktionsverlust …«

»Nur, dass Sie nicht wissen, was genau passiert. Wie wollen Sie es dann beurteilen?«

Er hält inne, gerät ins Stottern. »January, das ist nur zu Ihrem Besten.«

»Ich habe meine Pillen, Doc«, erkläre ich. »Und wenn ich das zweite Stadium erreiche, sind Sie der Erste, der es erfährt.«

Er knallt das Tablet auf den Schreibtisch. »Retronim ist kein Heilmittel. Es zögert das Unvermeidliche nur hinaus. Ich habe ernsthafte Bedenken, ob Sie überhaupt hier sein sollten. Gewiss, angeblich besteht kein Risiko, aber sehen Sie sich nur die Uhren an. Eindeutig gibt es ein Strahlungsleck. Sie wären besser weit, weit weg von hier. Warum setzen Sie sich nicht zur Ruhe? Schließlich haben Sie das Ihre getan. Suchen Sie sich eine nette Beach Community. Lesen Sie. Lernen Sie jemanden kennen.«

Ich lege meine Hände flach auf den Schreibtisch, beuge mich vor und nehme mir die Zeit, jedes einzelne Wort zu betonen: »Sagen Sie mir nicht, was ich brauche.«

»Wenn Sie im zweiten Stadium sind, wissen Sie, was das bedeutet«, entgegnet Tamworth flehend.

»Ich bin im ersten.«

»January, ich bin nicht dumm.«

»Vielleicht doch. Und mir gefällt es hier.«

»Wirklich? Es sieht nicht so aus.« Er späht über meine Schulter. »Was hast du zu alldem zu sagen?«

Summend kommt Ruby noch ein wenig näher. Ich überlege, ihn gegen die Wand zu klatschen. Nicht aus einem besonderen Grund, sondern weil ich das oft überlege. Er gibt einen leisen Piepton von sich und sagt mit seinem eleganten neuseeländischen Akzent: »Nichts Erwähnenswertes, Doktor Tamworth.«

Tamworth verdreht die Augen. Mir fällt keine gute Beleidigung ein, und ich will auch keine erwidern, also stehe ich auf und tätschele das Tablettenfläschchen in meiner Tasche. Es klappert optimistisch. »Danke für das Gespräch, Doc. Man sieht sich.« Ich winke der Drohne über meiner Schulter zu. »Verschwinden wir, Ruby.«

»January …«, sagt Tamworth.

»Was?«

Er fixiert mich wieder, bereit, etwas zutiefst Fürsorgliches und Bedeutungsschweres zu sagen, nehme ich an. Er überlegt es sich anders.

Als ich gehe, wird mir klar, dass ich es besser hätte machen können.

Ich hätte das Sandwich mitnehmen können.

Eigentlich sollte ich mich schlecht fühlen, denn es ist ja nicht so, dass er im Unrecht wäre. Ich sollte nicht hier sein.

Aber wie könnte ich irgendwo anders sein?

Ich trete an das Geländer über der Hotellobby und überblicke mein Reich.

Die geschwungenen Linien und abgerundeten Ecken verleihen dem Gebäude aus der Mitte des Jahrhunderts eine Anmutung von retro und futuristisch zugleich. Die Lobby ist kreisförmig und schwindelerregend hoch. Sie beginnt dreißig Meter unter mir und reicht weitere dreißig Meter über meinen Standpunkt hinaus. Von oben führt eine an der Wand verlaufende Rampe am Restaurant und der Bar vorbei bis ganz nach unten. Ebene für Ebene voller Büros und Geschäfte, alles durch Aufzüge und die Rampe miteinander verbunden wie ein in die Höhe gebautes Einkaufszentrum. Der zentrale Blickfang aber ist die an der Decke aufgehängte Stange mit der astronomischen Uhr aus massivem Messing am unteren Ende, die nur ein paar Zentimeter über dem Boden schwebt.

Mena kommt gerade aus dem Spa auf der anderen Seite des Abgrunds, sie trägt ihre schwarz-weiße Kellnerinnen-Uniform und ein leeres Tablett. Ihr gewelltes Haar ist zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihr präziser Hüftschwung erinnert mich an die Bewegungen eines Panthers. Mein Herzschlag überbrückt den leeren Raum zwischen uns, und ich überlege, ihr etwas zuzurufen. Aber bevor ich den Mund öffnen kann, biegt sie um eine Ecke und verschwindet.

Mena.

Ich weiß, dass sie in Wirklichkeit gar nicht da ist.

Aber sie ist außerdem der Grund, warum ich hier nicht wegkann.

Denn was, wenn ich weggehe und sie nie wiedersehe?

Wie soll ich das Tamworth erklären? Oder irgendjemand anderem?

Wenn ich es versuche, schicken sie mich mit Sicherheit weg.

Und für einen kurzen Moment denke ich dasselbe, was ich jedes Mal denke, wenn ich Mena sehe: eine fünfminütige Straßenbahnfahrt. Mehr bräuchte es nicht. Ich müsste nur bereit sein, die Regeln zu brechen, die einzuhalten ich geschworen habe, und dabei möglicherweise die Realität zu zerstören.

Es gibt Tage, da scheint es mir das wert.

»Ein schwerer Schneesturm ist im Anmarsch«, sagt Ruby. »Unwetterwarnung. Gefährliche Reisebedingungen.«

Die Meldung reißt mich aus meiner Benommenheit, ich atme einmal tief durch und wende mich der Drohne zu, die wie ein schwebendes Fernglas aussieht. Sie dreht sich in meine Richtung und lässt die Kulleraugen rollen, die ich ihr auf die Objektive geklebt habe.

»Immer musst du alles kaputt machen«, sage ich.

»Ich tue nur meinen Job.«

Jetzt sollte ich mich an die Arbeit machen. Die Uhr in der Lobby zeigt 9:17. Ich sehe dem Sekundenzeiger dabei zu, wie er über das Zifferblatt tickt.

9:17:24

9:17:25

9:17:26

9:17:25

9:15:26

9:15:27

9:15:28 …

Eine Bewegung in der Lobby erregt meine Aufmerksamkeit. Unzählige Leute schleppen Rollkoffer durch den Tunnel von Einstein. Die Schlangen an den drei Schaltern, die die Uhr umgeben, sind lang und werden immer noch länger. Cameo managt den Empfang, und die Check-in-Schalter sind besetzt. Trotzdem stehen alle im Stau. Ich bin nicht erfreut.

»Was hat es mit diesen Leuten auf sich, Rubes?«

»Es scheint, als gäbe es bei Einstein Probleme, die zu ein paar Flugannullierungen geführt haben«, antwortet er. »Außerdem habe ich eine Nachricht von Reg, dass er Sie sprechen muss.«

»Warum?«

»Mehr weiß ich nicht.«

»Habe ich dir nicht gesagt, dass du keine unvollständigen Nachrichten annehmen sollst? Du hättest ihn anpingen und weitere Informationen erbitten sollen.«

Ruby zögert ein paar Sekunden, bevor er antwortet. »Ich hatte keine Lust dazu.«

»Danke.«

»Sie haben mich zu dem gemacht, was ich bin.«

Ich schlage nach ihm, aber er weicht aus.

»Es würde helfen, wenn Sie ein bisschen schneller wären«, kommentiert Ruby.

Wie auch immer. Ich lasse den Aufzug Aufzug sein und nehme die gewundene Rampe hinunter in die Lobby, wo meine Leinenschuhe auf dem Marmorboden quietschen. An der Wand hängt ein großer ovaler Bildschirm, auf dem die nächsten Flüge angezeigt werden.

QR3345 – Altägypten – VERSPÄTET

RZ5902 – Schlacht von Gettysburg – VERSPÄTET

ZE5522 – Trias-Zeit – VERSPÄTET

HU0193 – Renaissance – VERSPÄTET

Das kann ja heiter werden.

Auf dem Weg zu Regs Büro sehe ich einen Mann am Kaffeespender stehen. Meine Antennen schlagen an. Er hat keine Tasche bei sich, nippt an seinem Kaffee und sieht sich im Raum um, als würde er jemanden suchen. Groß, attraktiv wie ein Filmstar, Motorradstiefel und eine Lederjacke, die ihm tatsächlich steht. Könnte ein Gast sein, doch dafür wirkt er ein bisschen zu ungepflegt. Seine Kleidung ist schick, aber von keinem Designerlabel. Die Männer, die hier übernachten, sehen in der Regel so aus, als müssten sie zu einer Dringlichkeitssitzung des örtlichen Jachtclubs.

»Ruby, siehst du den gut aussehenden Kerl da drüben?«, frage ich.

»Sie wissen, dass ich als mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Maschine nichts von Schönheitsstandards verstehe.«

»Beim Kaffeespender, Dummchen«, sage ich. »Behalt ihn im Auge.«

»Aus welchem Grund?«

»Schön.«

Regs Tür steht einen Spaltbreit offen, also drücke ich sie ganz auf und stelle fest, dass er telefoniert. Er blickt von seinem chaotischen Schreibtisch auf – Papierstapel, leere Essenskartons und möglicherweise eine Katze – und zuckt die Achseln nach dem Motto: Warum können Sie nicht anklopfen?

Ich antworte mit einem kleinen Achselzucken meinerseits: Das fragen Sie wirklich?

Er konzentriert sich wieder auf das Gespräch und hört aufmerksam zu, während ich das Durcheinander begutachte und schließlich mein Lieblingsstück entdecke: die sizilianische Flagge, die er an die Wand geheftet hat. Rot und Gelb mit einem Frauenkopf, der von drei Beinen ohne zugehörigen Körper umgeben ist. Ich habe Reg schon oft erklärt, dass das die ideale Flagge für den Lesbian Pride wäre, aber er ist anderer Meinung.

»Ja, das verstehe ich«, bellt er ins Telefon. »Richtig, aber wir sind auch so schon unterbesetzt und … Nein, hören Sie zu … Okay, gut, gut. Gut!« Er beendet den Anruf, knallt das Telefon auf den Schreibtisch und lehnt sich zurück, wobei er die Hände auf sein Gesicht presst, als wollte er es zerquetschen.

Reg hat auf dem College in der Offensive Line gespielt, und obwohl diese Zeit schon lange hinter ihm liegt, ist er immer noch eine wuchtige Erscheinung. Und normalerweise passen sein Charme und sein Auftreten dazu. Heute nicht. Seine Haut ist grau, und sein weißes Haar, das er sonst zu einer nach hinten gegelten Stachelfrisur trägt, ist zerzaust. Sein lavendelfarbenes Button-down-Hemd ist zerknittert, und er riecht, als hätte er in Aftershave gebadet – ganz so, als käme er gerade von einem Seitensprung in der Besenkammer zurück. Aber da er außer mit seinem Job mit niemandem verheiratet ist, weiß ich, dass gleich ein Hammer auf uns beide niedergehen wird.

»Janu, was war die größte und blutigste Schlacht der Menschheitsgeschichte?«, fragt er.

»Ich musste mal jemanden in der Normandie aufspüren, nach der Landung der Alliierten«, antworte ich. »Das war ziemlich krass.«

»Ich will ein Ticket. Nur Hinflug. Das wäre mir lieber als das hier.« Er seufzt. »Die Arschlöcher haben sie auf morgen vorverlegt.«

»Haben was auf morgen vorverlegt?«, frage ich.

»Die Konferenz.«

Ich hauche einen beträchtlichen Teil meiner Seele aus. Die Konferenz. Ein logistischer Albtraum, der mich während der letzten Nächte um den Schlaf gebracht hat, aber wenigstens hatte ich da noch bis nächste Woche Zeit, um mich darauf vorzubereiten. Die Wut durchzuckt mich wie ein Stromschlag, und ich überlege, Reg meinen Daumen ins Auge zu bohren, damit es mir wieder besser geht. Aber es hat keinen Sinn, es an ihm auszulassen. Der arme Kerl ist nur der Hotelmanager und offensichtlich genauso wenig erfreut über diese Nachricht wie ich.

Der Anruf kam von der ZVB, also weiß ich, auf wen ich wütend sein muss.

»Weiß Danbridge schon Bescheid?«, erkundige ich mich.

»Er hat gesagt, ich soll mir fünf Minuten Zeit nehmen, um mich zu beruhigen, bevor ich ihn anrufe.«

»Dann gebe ich ihm zwei, und das ist noch großzügig.«

Reg schließt für einen Moment die Augen. »Ich brauche einen Drink. Ist es noch zu früh dafür?«

An einer Ecke des Schreibtischs entdecke ich einen Wettschein. Reg spielt gerne in der Lotterie, hat aber kein sonderlich glückliches Händchen dabei. Ich tippe auf den Schein und sage: »Wissen Sie, es wäre besser, Sie würden Ihr Geld auf einen Haufen werfen und es verbrennen. Dann hätten Sie es wenigstens warm.«

Er schnappt sich das Stück Papier, greift mit der anderen Hand nach dem Klebeband und heftet den Schein an den unteren Rand seines Monitors. »Man braucht einen Traum im Leben, Mädel. Und dieser Zettel hier wird meines für immer verändern. Ich weiß es.« Sein Blick schweift durch den Raum. »Großer Jackpot. Wenn ich gewinne, setze ich mich zur Ruhe. Irgendwo unten in Mexiko. Schöne Frauen, bunte Cocktails. Und ich werde nie wieder eine lange Hose anziehen.« Er lacht in sich hinein. »Sie sollten mitkommen.«

Sein Lachen steckt mich an. »Sie glauben, ein paar mit Regenschirmchen dekorierte Cocktails könnten meine Laune bessern?«

»Ich erwarte nichts anderes, als dass Sie bis zu Ihrem Todestag den Charme einer Streitaxt versprühen. Aber Sie können nicht ewig hierbleiben, und das wissen Sie.«

»Ich kann es versuchen«, erwidere ich.

Der Ledermann ist verschwunden. Die Schlangen vor den Schaltern sehen noch länger aus als vorhin. Immer noch viele Blaublütige, aber nun ist auch noch das Flugpersonal mit seinen glitzernden roten, grünen und lila Uniformen dabei. Und das bedeutet, dass wir bald unsere Kapazitätsgrenze erreichen werden. Wenigstens ist die Crew in der Regel höflich. Ein Hoch auf die Klassensolidarität. Ich husche zu Cameo, die wie immer wie eine lebendig gewordene Statue aussieht mit ihren kantigen Gesichtszügen, den schweren Jade-Ohrringen und dem kahl rasierten Schädel auf ihrem fast zwei Meter großen Körper.

»Wie sieht’s aus?«, frage ich und lege den Kopf in den Nacken, damit ich ihr in die Augen sehen kann.

Cameo lächelt die ältere Dame an, mit der sie gerade spricht. »Ich bin gleich wieder für Sie da, Liebes.« Zu mir sagt sie: »Wir sind jetzt schon zur Hälfte belegt, und wie ich gehört habe, wurden alle Flüge für heute abgesagt, was bedeutet, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Leute hier anfangen, sich gegenseitig aufzufressen.«

»Verzeihung«, sagt die ältere Dame.

Wir wenden uns ihr, der Perlenkette, dem Designer-Gepäck und dem pinken Velours-Trainingsanzug zu.

»Es tut mir sehr leid, Ma’am, aber wie ich bereits sagte, befinden wir uns in einer Ausnahmesituation …«, beginnt Cameo.

Die Stimme der Kundin klingt wie das Quieken einer Spielzeugpuppe in einer Mülltonne. »Mir wurde bereits mitgeteilt, dass die Reise, die ich seit über einemJahr plane, verschoben wurde, aber niemand kann mir sagen, auf wann. Und jetzt sagen Sie mir, dass auch das reservierte Zimmer nicht verfügbar ist? Ich habe ein Superluxus-Zimmer gebucht, und ich will ein Superluxus-Zimmer.«

»Das verstehe ich«, erwidert Cameo mit Engelsgeduld, was mich zutiefst beeindruckt, denn ich möchte die teure Tasche der Dame schon jetzt quer durch die Lobby treten. »Ich bedaure die Unannehmlichkeiten zutiefst. Ich kann Ihnen Unterkunft und Verpflegung gratis anbieten.«

»Ich möchte den Manager sprechen.«

Cameo fasst sich ans Ohr. »Reg? Eine Miss Steubens möchte Sie sprechen. Rüberschicken? Sofort.« Sie deutet mit feingliedrigen Fingern auf Regs Büro, die Handfläche nach oben gedreht. Schnaubend nimmt die Frau ihre Tasche und stapft los.

»Hat Reg wirklich gesagt, du sollst sie rüberschicken?«, frage ich.

»Selbstverständlich nicht«, antwortet Cameo mit einem verschlagenen Grinsen.

Und dann verzieht sie das Gesicht, als wäre sie mit der Zungenspitze gerade auf die zerkauten Überreste eines Käfers zwischen ihren Zähnen gestoßen. Ich drehe mich noch einmal um und sehe einen alten weißen Mann in einer Leinentunika, mit einem Goldreif um den Hals und einer goldfarbenen Kordel um die Taille, die die Tunika zusammenhält. Wahrscheinlich sollte seine Reise ins alte Ägypten gehen.

Leute, die in historischen Gewändern herumlaufen, sind hier nichts Ungewöhnliches.

Das Problem ist der Selbstbräuner, den der Kerl benutzt hat, um seinen Teint abzudunkeln.

Fumiko, die Kostümschneiderin, hat eine eiserne Regel, die jede Art von Hautveränderung verbietet. Sie nennt es das Keine-schwarzen-Gesichter-Gesetz.

Das Schlimmste daran ist, dass er so stolz aussieht und lächelt wie ein Kind, das gerade eine Wand bemalt hat. Und das, obwohl das rissige Make-up um seine Falten herum abblättert und er einige Stellen am Hals vergessen hat.

Ich werfe einen Blick auf Cameo. Mit ihrer Höckernase und der mandelfarbenen Haut könnte sie durchaus aus Nordafrika stammen. Oder sie empfindet eine solche Aufmachung im Jahr Zweitausend-verdammt-zweiundsiebzig genau wie ich schlicht als total daneben.

Der alte Mann scheint unser Unbehagen zu bemerken, was nicht verwunderlich ist, denn wir beide sind wie zu Salzsäulen erstarrt. Er zuckt die Achseln und sagt: »Wie in Rom, nicht wahr? Oder Theben, oder wie das heißt.«

Ich kann sehen, wie Cameos Kiefer arbeitet, während sie auf den Worten herumkaut, die sie erwidern möchte, bevor sie schließlich ein Lächeln auf ihr Gesicht zwingt und nickt. Das Problem mit unserer Klientel ist, dass sie einen, wenn man sie zu hart anfasst, gerne daran erinnern, dass sie »jemanden kennen«. Und das Schlimmste daran ist, dass es jedes Mal stimmt.

»Ja, Sir«, presst Cameo hervor. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Nun, es heißt, dass sich meine Reise verzögert, und ich hoffe, Sie können mich auf dem Laufenden halten oder zumindest auf meinem Zimmer anrufen, sobald sich etwas ändert …«

Ich wende mich Cameo zu, zucke die Achseln und überlasse sie ihrem Schicksal. Viel mehr kann ich nicht tun. Der vernichtende Blick, den sie erwidert, mag dem alten Mann gelten oder mir. Es macht keinen Unterschied.

Wortlos winke ich Ruby zu, weitere Anweisungen braucht er nicht: An seiner Seite öffnet sich eine kleine Klappe, und mein Ohrhörer kommt heraus. Ich setze das Ding ein und drehe es ein Stück, bis es richtig sitzt. »Danbridge.«

Er geht sofort ran. »Waren das fünf Minuten?«

Ich gehe zum Kaffeespender. »Was in allen Quantenhöllen soll das, Allyn?«

»Das ist ja lustig.«

»Was ist lustig?«

»Dass Sie glauben, ich hätte in dieser Angelegenheit irgendetwas mitzureden.«

Ich nehme einen Pappbecher und halte ihn unter den Spender, sehe mein Spiegelbild in der glänzenden Oberfläche, verzerrt und bleistiftdünn. Als ich den Hebel an der Oberseite drücke, kommt nichts heraus. Ich kippe den Spender in meine Richtung. Es tropft nicht einmal. Als ich die Kanne wieder aufrichte, flackert eine der Wandlampen kurz. Gott, alles hier ist am Auseinanderfallen. »Sie sind der Leiter der ZVB«, erwidere ich.

»Richtig«, bestätigt er. »Und das weiß auch Vince Teller. Genauso wie der Kronprinz von Saudi-Arabien. Haben Sie eine Ahnung, wie viele Gruppierungen gegen die Konferenz protestieren wollten? Sie haben den Termin herausbekommen und eine Demonstration organisiert, also mussten wir das Ganze vorverlegen.«

»Ich dachte, wir sind Freunde.«

»Keine Sorge, ich schicke jemanden vorbei, der Ihnen hilft.«

»Okay, wahrscheinlich waren wir nie Freunde …«

»Janu, Sie brauchen eine rechte Hand.«

»Dann kommen Sie her und übernehmen Sie das. Drücken Sie mir nicht den nächsten Praktikanten auf. Die meisten von denen müssen erst ihre Schuhe ausziehen, damit sie bis zehn zählen können.«

»Keine Sorge, der Junge ist gut. Er erinnert mich sogar an Sie, wenn Sie nicht jede einzelne Sekunde jedes einzelnen Tages eine solche Psychopathin wären.«

»Manchmal schlafe ich auch.«

Allyn lacht. »Wenn Sie schlafen, sind Sie wahrscheinlich genauso eine Psychopathin. Vermutlich träumen Sie davon, wie Sie Leute treten und Babys ihren Schnuller klauen.«

Ich überlege, ob ich ihm widersprechen soll, aber er würde mir kaum glauben. Geschweige denn sich irren.

»Sagen Sie dem Jungen, er soll mich im Ticktack treffen. Ich brauche ungefähr zehn Liter Kaffee. Die Rechnung schicke ich Ihnen.«

Bevor er antworten kann, ziehe ich den Ohrhörer heraus, stecke ihn wieder in Ruby und sehe mich ein letztes Mal in der Lobby um. Mein Magen verwandelt sich spontan in einen Knoten, denn ich weiß, dass alles noch viel, viel schlimmer werden wird, bevor es sich wieder ein bisschen bessert.

Und jetzt muss ich nach oben, um mir meine Ration Koffein abzuholen. Ich flüstere ein kleines Gebet, dass Mbaye noch nicht da ist, doch dann wird mir klar, dass das nichts bringt. Der Mistkerl ist immer da.

Ich greife in meine Tasche, ziehe einen Kirschlolli heraus, stecke ihn in den Mund und genieße die Süße. In den nächsten zwei Tagen wird es nicht viele freie Momente geben, um etwas zu genießen. Dann gehe ich nach oben.

Das Ticktack ist größtenteils leer. Nur ein paar Leute sitzen verstreut an den Tischen, wischen über ihre Tablets und nippen an ihrem Kaffee, während sie in ihrem auf Porzellantellern servierten Frühstück herumstochern. Mbaye sitzt auf der anderen Seite der Bar mit einer Espressotasse und einem halb gegessenen Croissant vor sich. Eine Hand hat er ans Kinn gelegt, als wäre er tief in Gedanken versunken. Die Art, wie sich sein muskulöser Körper gegen die weiße Kochschürze stemmt, erinnert mich an eine Statue. Wie hieß sie noch gleich? Der Nachdenker oder so?

Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich Mbaye als meinen Freund bezeichnet.

Aber an diese Tage erinnere ich mich kaum.

Als ich näher komme, springt er auf und lächelt. »Guten Morgen, January! Wie geht es Ihnen heute?«

»Gut«, antworte ich. »Kaffee.«

Während ich meinen Hocker zurechtrücke, erscheint eine Tasse auf der Theke, und als ich sitze, gießt Mbaye aus einer Edelstahlkaraffe eine dampfende, schwarze Flüssigkeit ein.

»Die kann ich gleich stehen lassen, stimmt’s?«, fragt er und zwinkert mir zu.

»Yepp«, sage ich und achte darauf, dass das Wort möglichst knapp und scharf über meine Lippen kommt.

Sein Lächeln gerät ins Straucheln, aber er hält es fest. »Was darf ich Ihnen zum Frühstück anbieten? Ich hätte ein paar Spezialitäten, die ich Ihnen empfehlen könnte, aber es ist so wenig los, dass ich Ihnen so ziemlich alles zaubern kann, was Sie möchten.« Er deutet auf mich. »Sie mögen doch Blaubeeren, oder? Ich habe gerade eine neue Lieferung bekommen. Wunderbar. Ich könnte Ihnen Blaubeerpfannkuchen machen, dazu noch ein paar frische Beeren in einer Schale.«

Mbaye ist ein gefeierter Koch, gelernt hat er in Frankreich. Gegen seine Pfannkuchen kann man alle anderen Pfannkuchen auf der Welt schlicht vergessen. Und Tamworths Sandwich hat meinen Magen zweifellos in Stimmung gebracht …

»Ich habe keinen Hunger«, sage ich.

Mbaye nickt, will etwas erwidern, hält inne und wendet sich ab. Als er Richtung Küche geht, frage ich: »Könnte ich bitte noch eine zweite Tasse haben? Ich bin mit jemandem verabredet.«

Er presst seinen Mund zu einem frustrierten Strich zusammen und nickt. Dann kramt er unter der Bar, holt eine weitere Porzellantasse hervor und stellt sie so behutsam neben meine, als könnte sie jeden Moment zerbrechen. Mbaye füllt die Tasse, setzt die Karaffe wieder ab und bleibt.

Ich nehme meinen Kaffee. Er ist immer noch zu heiß, um ihn zu trinken, aber ich nippe trotzdem daran, versenge mir die Lippen und konzentriere mich voll und ganz darauf, damit Mbaye den Wink versteht und verschwindet.

Nach einem Moment tut er es.

Schweigend sitze ich eine Weile da, dann höre ich ein Klack-Klack-Klack. Es erinnert mich an eine Achterbahn, die gerade die Schienen rauffährt. Ich brauche mich nicht umzusehen, um zu wissen, was das Geräusch verursacht hat – der kleine Stromschlag, der durch mein Gehirn zuckt, sagt mir, dass es ein Drift ist. Ich frage mich kurz, wo genau ich diesmal bin, aber eigentlich interessiert es mich nicht. Das werde ich noch früh genug erfahren.

Ich habe die Tasse zur Hälfte ausgetrunken und greife nach der Karaffe, um den Rest Kaffee wieder aufzuwärmen, als ich höre: »January Cole?«

Der Weiße, der sich zwischen den Tischen hindurchschlängelt, wirkt eher wie ein applaussüchtiger Rockstar als ein Bundesbeamter der Zeitvollstreckungsbehörde. Mittelgroß, mittelbreit, sein blaues Polohemd trägt er ordentlich in die Hose gesteckt, und als Gegengewicht dazu kunstvolle Tätowierungen auf beiden Unterarmen. Viele Blumen, ein paar Fische. Alles sehr farbenfroh. Er hat eine Brille mit dickem Gestell, und das dunkle Haar ist lässig nach hinten gekämmt, dabei hat er für die Frisur wahrscheinlich den ganzen Vormittag gebraucht. Er streckt eine Hand aus. »Nik Moreau.«

»Nik«, sage ich und erwidere den Händedruck kurz und kräftig. »Kaffee?«

»Danke.« Er nimmt die Tasse und führt sie an den Mund, um die Temperatur zu prüfen. Den Korb mit Zucker und Kaffeesahne zu seiner Rechten würdigt er keines Blickes, was ich als Zeichen guten Charakters werte.

»Hat Danbridge Sie vor mir gewarnt?«, frage ich.

Er nimmt einen langen Schluck, bevor er antwortet. »Er sagte, Sie seien reizbar.«

»Dieses Wort hat er nicht verwendet.« In den nächsten paar Sekunden geht es um alles oder nichts. Mir ist gerade großzügig zumute, also gebe ich ihm einen Tipp. »Ehrlichkeit ist wichtig. Welches Wort hat er benutzt?«

Nik lacht, ein leises Schnauben durch die Nase. »Er hat gesagt, Sie wären eine der besten Agentinnen, mit denen er je gearbeitet hat, und ich hätte Glück, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. Er sagte auch, dass Sie eine ziemliche Zicke sind.«

Ich klopfe ihm auf die Schulter. Damit hat er nicht gerechnet, und sein Oberkörper kippt ein Stück nach vorne. »Wenn überhaupt, dann hat er damit noch untertrieben.« Ich drehe mich ein wenig zur Seite und schwenke den Arm in Richtung des leeren Restaurants wie eine gelangweilte Zirkusmagierin. »Willkommen im Paradox Hotel. Waren Sie schon mal hier?«

»Nö«, sagt Nik. »Erstes Mal.«

»Zum Grundriss kommen wir gleich. Aber zuerst: Wissen Sie, warum Sie hier sind?«

Er nickt. »Danbridge hat mich informiert. Die Konferenz.«

Die Konferenz. Eher ein gottverfluchter Ausverkauf.

Wie sich inzwischen herausgestellt hat, sind Zeitreisen teuer. Und dieses ganze Etablissement – das Hotel, der Einstein Intercentury Zeitflughafen, all das Land drum herum – kostet die Regierung mehr, als sie einnimmt. Selbst wenn reiche Arschlöcher Hunderttausende von Dollars abdrücken, um die allererste Aufführung von Hamlet zu sehen oder die Bibliothek von Alexandria zu besichtigen, wirft der Laden keinen Gewinn ab. Also hat die Behörde ein paar Billionäre eingeladen, um ihn an den Höchstbietenden zu versteigern.

»Aber sie sollte doch nächste Woche stattfinden, oder?«, fragt Nik. »Warum wurde sie vorverlegt?«

»Ein paar Gruppierungen haben geplant, dagegen zu demonstrieren«, antworte ich. »Sie sind gegen die Privatisierung von Einstein. Und ich bin sicher, dass niemand, der mit dieser Sache zu tun hat, durch Massen von Menschen fahren will, die ihn mit Schildern in der Hand anschreien. Um diese Variable brauche ich mich jetzt nicht mehr zu kümmern. Aber leider war das, ehrlich gesagt, genau die eine Sache, die mir am wenigsten Sorgen bereitet hat.«

»Es stört Sie nicht, wenn ein Haufen Hippie-Irrer versucht, die Türen einzurennen?«

Das ist eine interessante Wortwahl, die mich über Niks Einstellung nachdenken lässt. Das Letzte, was ich jetzt hören will, ist dieser Wir-sind-die-Einzigen-die-die-Welt-vor-dem-Chaos-bewahren-Bullshit. »Diese ›Hippie-Irren‹ haben jedes Recht, gegen eine so hirnrissige Entscheidung zu protestieren. Es ist verrückt, jemandem die Schlüssel von Einstein zu geben, dessen einziges Ziel ist, Profit damit zu machen.«

Nik zuckt die Achseln. »Subventionieren wir im Moment nicht lediglich den Urlaub der Superreichen? Das ist nicht nachhaltig. Und außerdem wird die ZVB das Ganze doch weiterhin überwachen, oder?«

»Es geht hier um mehr als nur Ferienreisen«, sage ich. »Auf der anderen Seite dieses Grundstücks steht eine Menge weltverändernder Technologie herum. Und ja, die ZVB bleibt bestehen. Ich bin sicher, wer auch immer den Zuschlag bekommt, wird treuherzig versprechen, den Zeitstrahl zu respektieren und sich an die Regeln zu halten. Aber ich fresse einen Besen, wenn diese Typen nicht alles versuchen werden, um das Maximum aus ihrer Investition herauszuholen.«

»Und trotzdem«, sagt Nik und sucht nach den richtigen Worten, »machen Sie mit.«

Er schrumpft ein wenig, nachdem er das gesagt hat, und ich bin nicht sicher, ob er mich nur abcheckt, oder ob das eine offene Herausforderung war. »Unsere Aufgabe ist, auf die Bälger aufzupassen, die das Spielzimmer verwüsten wollen.«

»Und welche Funktion erfülle ich dabei?«, fragt er ein wenig zu eifrig, als wollte er die Waffen sofort strecken.

Ich werfe ihm einen leicht schrägen Blick zu, bevor ich sage: »In Anbetracht der Komplexität der Angelegenheit hat Danbridge entschieden, dass ich Hilfe brauche. Es gibt nur wenige Menschen auf der Welt, denen ich vertraue, und Danbridge ist einer davon. Wenn er Sie ausgesucht hat, sollten Sie das als großes Kompliment auffassen.«

Seine Wangen werden rot. Er heischt nach Anerkennung. Gut zu wissen.

In diesem Moment bemerkt er Ruby, der ein paar Meter entfernt schwebt. Nik deutet mit dem Kinn. »Eine KI-Drohne.« Er beugt sich nach vorne und inspiziert die Hülle genauer. »Warum hat sie Kulleraugen?«

»Ein kleines Upgrade«, antworte ich. »So habe ich was, worauf ich mich konzentrieren kann, wenn ich mit ihm spreche.«

»Es beeinträchtigt meine Sehschärfe«, protestiert Ruby.

»Bis jetzt hast du es noch jedes Mal geschafft auszuweichen, wenn ich meinen Stiefel nach dir werfe. Also ist es offensichtlich nicht so schlimm«, entgegne ich. »Sag Hallo zu Nik.«

»Hallo«, sagt Ruby.

»Haben diese Dinger normalerweise nicht eine weibliche Stimme?«, fragt Nik. »Und warum hat er einen Akzent?«

»Weil Assistenzdrohnen mit weiblicher Stimme sexistisch sind, also habe ich das geändert. Und den Akzent fand ich einfach witzig. Ruby, zeig ihm deinen Partytrick.«

Ruby schwirrt näher heran. »Nik Gaston Moreau. Siebenundzwanzig, Klassenbester in Stanford, Abschluss in Strafrecht. Seit zwei Jahren bei der ZVB. Wohnt momentan in Watertown. Sie sind allergisch auf Shrimps und nehmen gerade an einer Online-Versteigerung eines Vintage-Paars Air Jordan 13 Sneakers teil, bei dem es sich meiner Einschätzung nach um eine Fälschung handelt. Aber das nur nebenbei. Sie sind bei einem Dating-Portal registriert, haben sich aber schon seit Längerem nicht mehr eingeloggt, was Sie jedoch tun sollten, da es jemandem gibt, der sehr gut zu Ihrem Profil zu passen scheint – ich prognostiziere eine einundachtzigprozentige Kompatibilitäts-Wahrscheinlichkeit. Ich könnte Ihnen sagen, welche Art von Pornografie Sie bevorzugen, kann mir aber vorstellen, dass Sie sich dabei unwohl fühlen würden. Oder sogar noch unwohler, wenn ich Ihren momentanen Puls berücksichtige.«

»Gaston? Was ist das für ein Mittelname?«, frage ich.

»Das … Ich meine, der Vater meiner Mutter, aber … Das ist gruselig genau. Ich weiß, die Zeiten von so etwas wie Privatsphäre sind längst vorbei, aber heilige Scheiße …«

»Man nennt es künstliche Intelligenz«, erläutere ich. »Ruby ist wie ein fliegender Sekretär. Er beantwortet Fragen, erinnert mich an Termine, macht Notizen und geht mir auch sonst tierisch auf die Nerven.«

Außerdem teilt er mir manchmal mit, ob ich mich gerade in der richtigen Zeitspur befinde, was durchaus hilfreich ist, aber das verrate ich Nik nicht.

»Ich gehe Ihnen nur deshalb auf die Nerven, weil das meine Aufgabe ist«, wirft Ruby ein.

Mit einer Handbewegung verscheuche ich ihn. »Machen wir unsere Tour.« Ich stehe auf und strecke den Arm aus. »Das Ticktack. Chefkoch Mbaye Diallo, er ist für die Speisekarte und das gesamte gastronomische Angebot des Hotels verantwortlich. Sie müssen unbedingt das Thieboudienne probieren. Ein Fischeintopf aus dem Senegal. Außerirdisch gut.«

»Ich war im Diallo’s in Queens«, erklärt Nik. »Habe drei Stunden auf einen Platz gewartet.«

»Drei Stunden?«, wiederhole ich mit einem Lachen, das wahrscheinlich ein bisschen herablassend klingt.

Er zuckt die Achseln. »Ich esse gerne gut.«

Mein Blick schweift Richtung Küche. »Gehen Sie später hin und sagen Sie Hallo. Verraten Sie ihm aber nicht, dass ich Sie geschickt habe.«

Nik erwidert nichts darauf, und das ist gut so. Ich geleite ihn durch die Glastüren auf die Galerie, den höchsten Punkt über der Lobby, so hoch, dass mir schwindelig wird, wenn ich nach unten schaue. Ich tue es trotzdem. Die Schlangen am Check-in-Schalter sind immer noch ziemlich lang. Na, fantastisch.

Ich führe ihn die Rampe hinunter und zeige ihm die verschiedenen Geschäfte, Etage für Etage. »Vieles hier unterscheidet sich nicht groß von anderen Hotels. Aber es gibt auch einiges, das man nur im Paradox findet. Zum Beispiel eine Kostümschneiderin, die sich um die passende Kleidung für die jeweilige Epoche kümmert. Es gibt einen Arzt und eine ganze medizinische Abteilung, die sich um Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen kümmert. Niemand hat Lust, mit einer Seuche aus einer längst vergangenen Zeit zurückzukommen. Und wir haben einen Linguisten, der die Leute mit Ohrmuschel-Übersetzern ausstattet. Klar so weit?«

»Linguist, Arzt, Kostümschneiderin«, wiederholt Nik.

Wir erreichen die Lobby. Cameo wirft mir einen kurzen Blick zu, während ein weiterer alter Mann – der wenigstens kein wandelndes Werbeplakat für Rassismus ist – wegen eines weiteren Zimmers mit ihr streitet. »Sie haben mich offensichtlich nicht verstanden«, sagt er gerade. »In meinem Zimmer spukt es …«

»Sir, ich versichere Ihnen …«, erwidert Cameo, aber der Rest des Gesprächs geht im Lärm unter, während wir uns auf den Weg zum Sicherheitsbüro machen.

Mit dem Kinn deute ich über die Schulter. »Der große nichtbinäre Leckerbissen dort drüben ist Cameo. Sie weiß alles. Wenn Sie etwas brauchen, fragen Sie Cameo, und Sie bekommen eine Antwort.« Ich deute auf die andere Seite des Flurs. »Dort ist Regs Büro, er ist der Manager. Und daneben ist das Sicherheitsbüro, über das wir gleich sprechen werden.«

Ich zeige auf die Gabelung vor uns. »Der rechte Korridor führt zum Atwood-Flügel, links geht’s zum Butler-Flügel. Jeder der beiden hat zweihundertsechs Zimmer. Die Zimmernummern in Atwood sind gerade, die in Butler ungerade. Alles verstanden?«

»Atwood gerade. Butler ungerade. Insgesamt also vierhundertzwölf Zimmer.«

»Schön, Junge, Sie können also rechnen«, sage ich. »Dann weiter nach unten.«

Wir gehen eine Etage tiefer und betreten den Flur, der um den kreisförmigen Ballsaal herumführt. Die äußere Wand ist von Türen zu Besprechungszimmern, Lagerräumen und Toiletten gesäumt, die innere ist mit Eiche getäfelt und führt direkt ins Herz des Hotels. Dann betreten wir den runden Saal – riesig, leer und düster.

»Das ist das Lovelace. Hier finden die Veranstaltungen statt und morgen die Konferenz«, erläutere ich.

»Ist das das unterste Level?«, erkundigt sich Nik.

»Darunter gibt es noch einen Bunker, weil man einen sicheren Rückzugsort wollte für den Fall, dass der Zeitflughafen in die Luft fliegt. Wir benutzen ihn hauptsächlich als Lagerhalle.«

»Um wie viel Uhr geht das Ganze los?«

Ich versuche, mich an den Plan zu erinnern, der bis vor einer Stunde noch vorläufig gewesen war. Aber jetzt werden wir ihn wohl oder übel so umsetzen müssen. »Ich werde denen sagen, dass es um zehn Uhr vormittags anfängt, und die werden tun, was immer sie wollen.«

»Wie viele Leute?«

»Der Saal hat eine Kapazität von vierhundertzweiundfünfzig Plätzen. Ich werde denen sagen, dass ich maximal hundert Leute hier drin haben will, und die werden mir sagen, wie viele sie haben wollen.«

»Wissen Sie, was Danbridge mir verschwiegen hat?«

»Hm?«

»Was für eine Optimistin Sie sind.«

»Machen Sie diesen Job erst mal lange genug, dann verstehen Sie mich.«

Wir kehren in die Lobby zurück, und als wir aus dem Aufzug steigen, zuckt mir ein neuerlicher Stromschlag durchs Gehirn. Im nächsten Moment rennen drei hühnergroße Dinosaurier vor uns über den Weg. Ihre schwarzen Krallen schlagen klappernd gegen den harten Boden.

Sie sehen aus wie kleine Velociraptoren. Einer von ihnen bleibt stehen, sieht zu mir auf und neigt den Kopf. Ich sehe Nik an, der den Blick gerade durch die Lobby schweifen lässt und eindeutig keine Dinosaurier sieht. Als ich mich wieder umdrehe, sind sie verschwunden.

Es hat keinen Sinn, länger hinterm Berg zu halten. »Ich kenne auch einen Partytrick«, sage ich zu Nik. »Bei Gelegenheit werde ich drei Dinosaurier herbeizaubern.«

»Das klingt nach einem seltsamen Trick.«

»Man muss mit dem arbeiten, was man hat.« Wir gehen Richtung Sicherheitsbüro. »Hat Danbridge Ihnen gesagt, dass ich losgelöst bin?«

»Hat er.«

»Was denken Sie sich dabei?«

Nik zuckt die Achseln. »Ich weiß, dass das Phänomen selten ist. Und ich habe gehört, dass es ziemlich scheiße ist.« Er hält inne und überlegt, ob er die Frage stellen soll, von der ich weiß, dass er sie stellen möchte. Dann tut er es. »Wie ist es denn?«

»Sie kennen doch den Idiotenleitfaden für Zeitreisen von der Akademie«, antworte ich. »Dass die Zeit dem Modell des Blockuniversums entspricht – also alles, was geschehen ist oder jemals geschehen wird, gleichberechtigt in einem vierdimensionalen Würfel existiert. Wir nehmen diese Ereignisse nur deshalb als linear wahr, weil wir uns auf einer geraden Linie durch diesen Würfel bewegen.«

»Der Zeitpfeil«, sagt Nik.

»Exakt. Wenn man losgelöst ist, wird der eigene Zeitpfeil ein wenig krumm. Er verbiegt sich mal hierhin, mal dorthin, bringt Sie in Kontakt mit Augenblicken aus der Vergangenheit und der Zukunft. Es fühlt sich ein bisschen an wie ein Déjà-vu. Sie sehen etwas und haben das Gefühl, es irgendwo schon einmal gesehen zu haben, dann ist das Gefühl wieder verschwunden. Diese Blitze dauern nur ein paar Sekunden, manchmal vielleicht eine Minute. Es ist nicht besonders schlimm. Man gewöhnt sich dran.«

»Und Sie sind erst im ersten Stadium.«

»Das ist korrekt«, bestätige ich unkorrekterweise.

Irgendwann gewöhnt man sich auch an das zweite Stadium, obwohl es weit weniger Spaß macht. Und weit verwirrender ist. Die Verbiegungen werden heftiger, und die Wahrnehmung springt komplett in die Vergangenheit. Man geht seinem Tag nach und – Bumm! – plötzlich wandert man durch die Flure seiner Highschool, findet sich mitten in einem schiefgegangenen Date wieder, das einem immer noch nachhängt, oder legt Papiere in einem Büro ab, in dem man vor zehn Jahren gearbeitet hat. Es ist schwer, solche Drifts von der Realität zu unterscheiden, und umso leichter, sich darin zu verlieren. Wenn man wieder zu sich kommt, ist in der Gegenwart kaum Zeit vergangen, egal wie lange man weg war. Für jeden, der einen beobachtet, sieht es so aus, als wäre man nur mal eben für eine Sekunde weggetreten.

Manchmal springt das Gehirn auch in zukünftige Momente, an die man sich aber schwerer erinnern kann, wenn sie wieder vorbei sind. Es ist, wie wenn man aus einem Traum aufwacht. Die Erinnerung daran löst sich zusehends auf, je länger man darüber nachdenkt. Denn es ist nicht wirklich eine Erinnerung, weil es ja noch gar nicht passiert ist.

Und dann dauert es nicht mehr lange, bis man das dritte Stadium erreicht. Die eigene Zeitwahrnehmung gerät derart aus den Fugen, dass das Gehirn durchdreht. Und es gibt nicht viel, was man dagegen tun könnte, außer sich vom Zeitstrom fernzuhalten, die tägliche Dosis Retronim einzuwerfen und darauf zu warten, dass es trotzdem passiert.

»Glauben Sie, dass es gut für Sie ist, hier zu sein?«, erkundigt sich Nik.

»Fragen Sie das, weil Sie sich Sorgen machen, oder weil Danbridge es angesprochen hat?«

Er antwortet nicht, was Antwort genug ist.

Eine Stimme hinter uns. »January.«

Wir drehen uns beide nach der Quelle um. Brandon, ein ziemlich verpeilter Schwarzer und unser Portier. Seine Uniform ist wie immer ein wenig zerknittert, und ein Hemdzipfel hängt heraus. Er hat einen Stöpsel im Ohr und hört so laute Musik, dass ich das blecherne Klimpern bis hierher höre. Er packt eines der Bonbons aus, mit denen er seine fast ständige Mundtrockenheit bekämpft, und steckt es sich in den Mund, während er das kleine Quadrat aus Wachspapier in seine Hosentasche stopft. Es geht schief, und das Papier fällt auf den Boden, also bückt er sich, um es aufzuheben.

»Was gibt’s?«, frage ich.

Er kommt zu mir und beäugt Nik. Ich stelle ihn kurz vor, und die beiden schütteln Hände. Dann fragt Brandon: »Ist es wahr?«

»Ist was wahr?«

»Dass wir alle bald arbeitslos sind?«

»Wer hat das gesagt?«

»Nur so ein Gerücht, das gerade die Runde macht.«

Ich habe dieses Gerücht auch schon gehört. Wer auch immer bei der morgigen Konferenz den Zuschlag bekommt, wird sich wohl oder übel mit der ZVB gut stellen müssen, aber das Hotel und seine Mitarbeiter dürften weniger respektvoll behandelt werden. Brandon nickt Nik zu. »Also, äh, übernehmen Sie?«

»Ich bin nur als Unterstützung hier«, erwidert Nik und verengt die Augen, als wäre der nervöse Funke bereits auf ihn übergesprungen.

»Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen«, sage ich zu Brandon. »Egal was passiert, diese Arschlöcher werden immer noch Leute brauchen, die ihnen die Windeln wechseln und sie abends ins Bett bringen.«

Er kneift die Augen zusammen, als wollte er etwas sagen, dann schüttelt er den Kopf. »Okay, hören Sie, heute kommen eine Menge Leute. Ich muss los.«

Brandon macht sich eilig auf den Weg Richtung Atwood, und Nik wartet, bis er außer Hörweite ist. Dann fragt er: »Drogen?«

»Der Kerl war noch nie nicht high. Aber er ist gut in seinem Job. Ist das ein Problem?«

»Nö«, sagt Nik, und ich glaube ihm. Seine Antwort macht den Hippie-Spinner-Kommentar von vorhin wieder wett.

Ich halte meine Armbanduhr an den Scanner, um die Tür zum Sicherheitsbüro zu öffnen, und sage zu Ruby: »Vergiss nicht, Niks Freigaben zu aktualisieren, okay?«

Ruby piepst. »Schon erledigt.«

»Braver Hund.«

»Das ist unangebracht und herabsetzend.«

Wir betreten das Büro, und ich führe Nik kurz herum – hier die Videoschirme, da die Computer, und in der Mitte der Hologrammtisch, auf dem ich einen 3-D-Plan des Hotels aufrufe. Das Hauptgebäude sieht aus wie ein Eimer, der sich nach unten hin etwas verjüngt. Die beiden gerundeten Flügelanbauten, Atwood und Butler, entspringen an gegenüberliegenden Seiten – würden sie ganz herumgehen, würde das Hotel von oben aussehen wie ein Unendlichkeitssymbol. Ich schiebe und ziehe das Bild mit meinen Händen, drehe und zoome, während wir den Grundriss durchgehen.

Als Nik kapiert hat, wie man den Tisch bedient, lasse ich ihn mit dem 3-D-Modell spielen, damit er ein Gefühl für das Layout der Gebäude bekommt. Er zoomt auf eine Superluxus-Suite und begutachtet den Grundriss.

Ich wende mich an Ruby und schnippe mit den Fingern. »Pinge alle an, die bereits hier sind. In einer Stunde im Lovelace. Ich möchte die Dummköpfe kennenlernen, mit denen wir es morgen zu tun bekommen. Dann stell mir eine Liste der Gäste zusammen, die in die … In welchem Zeitalter gab es Velociraptoren?«

»Späte Kreidezeit.«

»Ja, genau. Und behalt die Bilder von den Überwachungskameras im Auge.«

»Erledigt«, sagt Ruby. »Ein Flug fand gestern statt, und ein weiterer ist für morgen geplant. Ich überprüfe die Berichte und achte auf alles Verdächtige.«

Also werde ich alle Gäste interviewen müssen, die Tickets für die späte Kreidezeit haben. Wie schön, ich hatte ja noch nicht genug zu tun. Ich überlasse Nik seinen Studien und gehe in die Lobby, vorbei an einer langen Menschenschlange, die immer wieder von Trägern aufgescheucht wird, die große, eingeschweißte Möbelstücke in Richtung Butler-Flügel schleppen. Es erstaunt mich immer wieder, dass Leute, die nur ein paar Nächte bleiben, ihre eigenen Möbel mitbringen. Es muss schön sein, Geld zu haben.

Ich mache mich auf den Weg zu den Aufzügen in Atwood. Ein älteres weißes Paar wartet darauf einzusteigen: ein Mann mit silbernem Haar und einem marineblauen Seidenblazer und eine Frau, die aussieht, als hätte sie sich mit Klebstoff eingerieben und wäre dann in einen Swimmingpool voller Perlen gesprungen. Ich blicke auf meine zerrissene Jeans, das weiße T-Shirt und meinen ramponierten roten Blazer hinunter. Darin sehe ich nicht nach Personal aus. Ich sehe überhaupt nicht so aus, als würde ich hierhergehören. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die beiden mich nicht einmal wahrnehmen. Genauso gut könnte ich ein Geist sein.

»Für das, was wir hier bezahlen, hätte ich mehr erwartet«, sagt der Mann. »Und das Personal scheint nicht sehr entgegenkommend zu sein.«

»Ja, es ist ein wenig wunderlich«, bestätigt die Frau.

»Das kommt davon, wenn man die Dinge der Regierung überlässt«, sagt er. »Weißt du eigentlich, wie viel mich das alles kostet?«

»Das weiß ich, Schatz. Aber es ist eine Zeitreise. Es ist ja nicht so, dass wir uns verspäten könnten.«

Sie sagt es so, als wollte sie ihn zum Lachen bringen, aber er lacht nicht. »Und die Speisekarte. Die Kritiken sind gut, aber das Essen sieht ein bisschen …« Er blickt in meine Richtung. »Du weißt schon.«

»Sagen Sie einfach ›ethnisch‹«, rate ich ihm. »So wahren Sie wenigstens den Anschein von Anstand.«

»Wie bitte?«, fragt er – weniger wegen meiner Wortwahl als vielmehr wegen der Tatsache, dass jemand von meinem Rang ihn anspricht. Die Frau wendet sich mit hochrotem Kopf ab und will nichts mit dem Gespräch zu tun haben. Ich ziehe die Reißleine und gehe zur Treppe. Mit diesen Leuten möchte ich nicht in einem engen Blechkasten festsitzen, und sei es nur für wenige Sekunden. So, wie sich der Tag bisher entwickelt hat, würde der Aufzug garantiert stecken bleiben.

Im Weggehen höre ich, wie er sie in einem Tonfall besänftigt, in dem man normalerweise mit einem beleidigten Kleinkind spricht. »Ich bin sicher, sie machen dir ein ganz normales Steak, Liebes.«

Der Flur im fünften Stock ist leer. Ich stapfe über den blauen Teppich zu meinem Zimmer ganz am Ende und bleibe auf halbem Weg stehen. Vor Zimmer 526 spüre ich ein kleines Ziepen. Als würde ich driften, aber anders.

Anstatt eines Blitzes ist es ein dumpfes Surren. Ein Zahnschmerz in meinem Gehirn.

Die Zimmertür ist angelehnt, also klopfe ich leise. Von drinnen ertönt ein schlurfendes Geräusch, und Tierra öffnet die Tür. Sie trägt ihr schwarzes Haar in einem strengen Pferdeschwanz, ihre graue Bedienstetenuniform ist sorgfältig glatt gestrichen. Sie sieht mich verwirrt von oben bis unten an.

Dann bin ich es, die verwirrt ist, denn als ich an ihr vorbeiblicke, sehe ich in dem leeren Rechteck zwischen ihr und dem Türpfosten jemanden im Bett liegen.

Warum macht sie das Zimmer, wenn noch jemand drin ist?

Dann bemerke ich die leuchtend rote Blutspur auf dem weißen Laken.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Tierra.

Blut. Eindeutig Blut. Und Tierra steht da, als wäre ihr größtes Problem, dass ich sie von dem ablenke, was auch immer gerade aus ihren Ohrstöpseln scheppert.

»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«, frage ich zurück.

Sie sieht sich um und zuckt die Achseln, ihr Blick gleitet einfach über die Leiche weg, dann wendet sie sich wieder dem Zimmer zu und wischt die Kommode mit einem Lappen ab. Sie lässt die Tür offen, also trete ich hinter ihr ein und umschiffe ihren Handwagen mit den Reinigungsmitteln.

Ja. Da liegt eine Leiche im Bett.

Und es ist der Typ. Der Ledermann aus der Lobby.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Tierra zunehmend gereizt.

Ich brauche eine Sekunde. »Eine Frau meinte, sie hätte hier drin einen Ohrring verloren. Haben Sie ihn gesehen?«

Tierra weiß, dass ich sie nicht verdächtige, aber trotzdem wird sie ein wenig hitzig, und ihr jamaikanischer Akzent schlägt stärker durch. »Ich habe in 470 ein Handy-Ladegerät gefunden. Und eine Brieftasche in 312, aber die habe ich gleich zur Rezeption gebracht.«

»Okay.« Ich tue so, als würde ich mich umsehen, als hätte Tierra den Ohrring möglicherweise übersehen, was sie ebenfalls ärgert. Aber so komme ich näher an die Leiche heran.

Die Szene ist schwer zu verarbeiten. Das Bett ist eindeutig gemacht, und der Mann liegt ausgestreckt auf dem Laken und starrt an die Decke. Aus einer dunklen Wunde an seinem Hals ist Blut ausgetreten. Aber es ist ein leuchtendes Purpurrot. Er kann noch nicht lange tot sein, also müsste das Blut immer noch fließen.

Das muss ein Drift sein. Ich sehe einen Moment in der Zukunft. Der Typ läuft wahrscheinlich noch irgendwo im Hotel herum.

Das wirft eine interessante ethische Frage auf: Die Regeln für Zeitreisen beruhen auf der Vorstellung, dass wir uns nicht in etwas einmischen können und sollten, was bereits geschehen ist, damit wir den Zeitstrom nicht durcheinanderbringen, was zu Wellen und Fluktuationen führen würde, die das Gefüge der Realität aus den Angeln heben könnten. Aber es gibt keine Regel für Eingriffe in etwas, das noch nicht geschehen ist. Das liegt zum einen daran, dass wir noch nicht in die Zukunft reisen können – zumindest nicht über einen gelegentlichen halbschizophrenen Gedankentrip hinaus. Und nach dem Blockmodell ist jede Veränderung, die ich in der Zukunft vornehme, eine, die ich ohnehin schon vorgenommen habe, oder?

Das wiederum ruft eine Menge beunruhigende Fragen über den freien Willen versus Bestimmung auf den Plan. Doch die überlasse ich den Typen mit Lederflicken an den Ellbogen. Ich für meinen Teil amüsiere mich lieber.

Und ich mag eine mürrische Zicke sein, aber ich werde bestimmt nicht nichts tun.

»Ich bin hier fast fertig«, sagt Tierra. »Wenn ich den Ohrring finde, bringe ich ihn nach unten.«

»Großartig«, erwidere ich. »Danke.«

Ich verlasse 526 und gehe den Flur entlang zu meinem Zimmer. Als wir außer Hörweite sind, frage ich Ruby: »Wo ist der Typ? Der, den du im Auge behalten solltest.«

»Ich suche noch.«

»Du hast ihn verloren?«

»Es … scheint eine Störung zu geben.«

»Finde ihn, sofort. Wenn er sich in die Nähe eines Fahrstuhls oder eines Treppenhauses begibt, das zu diesem Flügel führt, sperr ihn aus.«

»Weshalb diese plötzliche Dringlichkeit?«

»Tu, was ich dir gesagt habe.«

Baby-Dinosaurier, eine Leiche in spe, annullierte Flüge und die Konferenz. Eine Mischung wie diese erfordert normalerweise die Zugabe von Tequila, daher ärgert es mich, dass ich nicht mehr trinke.

Ich brauche noch eine Million Liter Kaffee. Ich brauche noch ein Retronim.

Als ich Zimmer 508 betrete, bin ich ein wenig nervös, also überprüfe ich alles, um sicherzugehen, dass das Zimmer noch genau so ist, wie ich es verlassen habe. Normalerweise mache ich eine Bestandsaufnahme, bevor ich morgens aufbreche – eine gute Übung, um meinen Geist in der Spur zu halten.

Ich finde alles so vor, wie ich es zurückgelassen habe.

Direkt hinter der Tür liegt ein Stapel frischer Handtücher und Toilettenartikel – danke, Tierra. Das Handtuch, das ich nach dem Duschen benutzt habe, hängt immer noch am Haken. Meine Zahnbürste liegt auf dem Glas, das auf dem Rand des Waschbeckens steht. Das Bett ist ungemacht, denn wozu das Bett machen, wenn ich mich sowieso bald wieder reinlege? Der Vorhang ist zugezogen und der Saum unter den Beinen des kleinen Sessels in der Ecke eingeklemmt, damit er nicht versehentlich aufgehen kann. Der Stapel Schmutzwäsche daneben ist fast genauso groß wie der Sessel. Mein roter Lieblingskapuzenpulli liegt immer noch zerknittert obendrauf. Im Rahmen des Badezimmerspiegels klemmt die abgegriffene, ausgebleichte Postkarte mit Georges Seurats Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte.

Und wie jedes Mal, wenn ich das Bad betrete, gehe ich zum Spiegel und berühre die Karte. Nur um mich daran zu erinnern, dass sie da ist, und um mir die Frage zu stellen, auf die ich immer noch keine Antwort habe:

Wohin schauen all die Menschen, die sich da am Flussufer drängen?

Ruby fragt: »Was haben Sie gesehen?«

Unwillkürlich zucke ich ein wenig zusammen. Das verdammte Ding ist so leise, dass man leicht vergisst, dass es da ist. Ich nehme das frische Pillenfläschchen aus meiner Tasche und stelle es aufs Waschbecken. »Nichts.«

Er weiß, dass ich lüge. Er registriert meinen Puls, meine Intonation und meine Wortwahl. All die Indikatoren, für die ich ein Leben lang gebraucht habe, um Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, sind in seinen Algorithmen integriert.

Nicht, dass das wichtig wäre. Eine von Rubys Aufgaben, die ich Nik gegenüber nicht erwähnt habe, war es, der ZVB zu melden, wenn ich das zweite Stadium erreiche. Aber als ich die neue Stimme installiert habe, ist es mir gelungen, gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Ruby nur weitergibt, was ich vorher absegne.

Außerdem habe ich ihn dabei irgendwie auch zu einem Faulpelz und einer Nervensäge gemacht.

»Geh aufladen«, sage ich.

Er schwebt zu seinem Platz neben dem Fernseher, ich werfe Portemonnaie und Telefon aufs Bett. Dann tausche ich die zerrissene Jeans gegen eine dunkle Hose und meine Turnschuhe gegen ein Paar Stiefel, in denen ich laufen kann. Im Badezimmer trage ich etwas Wimperntusche auf und überlege, ob ich etwas mit meiner Frisur machen soll. Aber mir fehlt die Energie dazu. Mit den Fingern fahre ich mir durch die Haare, um die schlimmsten Knoten zu lösen, und setze mir schließlich einen breitkrempigen Schlapphut auf.

Ich stecke mein Taschenmesser in den Stiefelschaft. Es ist schwarz und nach zehn Jahren immer noch so scharf, dass ich mir damit die feinen Linien von den Fingerkuppen schälen kann. Dann stelle ich meine Uhren neu ein: am linken Handgelenk meine Sicherheitsuhr, mit der ich jede Tür in diesem Gebäude öffnen kann. Am rechten der silber-schwarze Chronograf, den ich zu meinem Abschluss an der ZVB bekommen habe. Ich drehe ihn so, dass sich das Zifferblatt auf der Innenseite meines Handgelenks befindet.

Damit Sie nie vergessen, wie wichtig die Zeit ist, sagte der Prüfer mit ernster Stimme zu mir, als er mir die Uhr zusammen mit meinem Diplom überreichte.

Zumindest bis ich vergesse, die Batterie zu wechseln, erwiderte ich, aber er schien meinen Scherz nicht lustig zu finden.

Die Taschen meines Blazers fülle ich mit Kirschlutschern aus der Großpackung unter dem Schreibtisch, dann höre ich ein leises Klappern im Badezimmer. Ich brauche eine Sekunde, um herauszufinden, was das Geräusch verursacht: die Pillenflasche.

Sie steht immer noch am Rand des Waschbeckens, genau dort, wo ich sie hingestellt habe.

Ich muss das Geräusch gehört haben, als ich sie vor ein paar Augenblicken dort abgestellt habe.

Zum Losgelöstsein gehört, dass Geräusche manchmal asynchron sind oder dass ich in einem leeren Raum einen Gesprächsfetzen aufschnappe, kurz vor oder nachdem das Gespräch stattgefunden hat. Ich habe mich daran gewöhnt, aber das Klappern beweist, dass ich heute noch viel mehr drifte als sonst. Nicht zu vergessen diese sonderbare Sache mit der Leiche.

Mir fällt ein, dass ich meine Pille noch nicht genommen habe. Das muss es sein. Ich werfe eine ein und stecke eine weitere in meine Brusttasche. Bis zu drei Pillen am Tag kann ich nehmen, oder? Ich stecke eine dritte dazu, nur für den Fall.

Dann sehe ich mich im Spiegel an und finde, dass das für meine niedrigen Ansprüche vollauf genügt. Ich muss den Ledermann finden. Ein Mord könnte den gesamten Ablauf durcheinanderbringen. Hübsch machen kann ich mich später immer noch.

Als ich die Tür öffne, sehe ich eine Bewegung auf dem Flur.

Die Wände sind leicht gebogen, sodass man das Ende des Flurs nicht sehen kann. Designtechnisch ist das ein cooler Effekt, sicherheitsmäßig ein absoluter Albtraum. Ganz am Ende des einsehbaren Bereichs steht eine Gestalt, die um die Biegung lugt. Ich brauche einen Moment, um herauszufinden, wer es ist.

Ein Mädchen, glaube ich, mit langen dunklen Haaren, die ihr Gesicht verdecken. Sie trägt ein grünes Sweatshirt, dunkle Jeans und abgewetzte Turnschuhe, die nicht recht zu den Modestandards des Hotels passen wollen. Mir stottert das Herz in der Brust, denn nichts auf diesem Planeten ist gruseliger als ein kleines Mädchen mit dunklen Haaren, die ihr ins Gesicht hängen. Aber meine Angst wird schnell von Wut verdrängt.

Ich hasse es, wenn Eltern ihre Kinder hier herumtoben lassen, als wäre ich ein Babysitter. Ich bin eine gottverdammte Vollzugsbeamtin. Ich drehe den Kopf in Rubys Richtung und sage ihm, dass er mir folgen soll. Dann schreite ich den Flur entlang, bereit, das Kind in die Schranken zu weisen und es zurück auf sein Zimmer zu schicken – mit einer ordentlichen Standpauke für die Eltern.

Ich komme an Zimmer 526 vorbei und habe wieder das gleiche Gefühl von Zahnschmerzen.

Was … nicht der Fall sein sollte.