Der Student - Erdinç Aydın - E-Book

Der Student E-Book

Aydın Erdinç

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Beschreibung

Cem ist ein fauler Student, der gerne in der Cafeteria der Uni rumsitzt, Taxi fährt, Bafög kriegt und seinen Vater anpumpt.

Er ist verwöhnt und lässt es sich gutgehen.

Eines Tages lernt er Eda kennen, freundet sich mit ihr an und verliebt sich. Es beginnt eine heimliche Liebesgeschichte, deren Eda ein Ende setzten wird, wenn er nicht endlich anfängt, sich auf den Hosenboden zu setzen und zu lernen.

Sie studiert Türkologie, ist Türkin und eine Landsfrau, etwas religiös und traditionell, was Cem das Gefühl gibt, anzukommen und zu Hause zu sein.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Erdinç Aydın

Der Student

Eine türkische Liebe

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorwort

Es gehen alle ihren eigenen Weg. Jeder Mensch für sich. Der Weg ist manchmal, wenn nicht sogar sehr oft, nicht gerade angenehm.

Die Reise dorthin, wohin es gehen kann und muss, kann strapazieren. Allein reicht man meistens und kaum aus. Gemeinsam kann die Reise viel angenehmer sein.

Geht man aber mit der Liebsten auf die Reise, ja dann, ist es auch egal, ob ein ganzes Leben eine einzige Reise sein darf und soll.

Hier in der Geschichte entdecken zwei Menschen sich gegenseitig. Sie lernen sich kennen, sie reden miteinander, sie verbringen Zeit zu zweit, sie tauschen Zärtlichkeiten aus.

Alles spricht dafür, dass es sich hier bei den Zweien um die Liebe handelt.

Ist die Geschichte ein Fall für die Liebe?

Oder ist es schon die Liebe?

Es war wünschenswert, dem Leser die Erzählung niederzuschreiben.

Ob es nun die Liebe ist, möchte der Leser doch bitte selber beurteilen.

 

I. Abschnitt- Der Anfang

Er war sehr müde, als er sein Zimmer betrat. Die Nacht stand bevor. Trotz der Müdigkeit wollte er noch etwas aufbleiben. In den Wohnungen um ihn herum brannten nur noch vereinzelt die Lichter. Er zog sich aus und ging unter die Dusche. Ließ minutenlang das kalte Wasser über sich laufen. Dann wieder mal warm, mal lau. Das ging fast eine ganze Stunde so, trocknete sich ab und kam wieder ins Zimmer zurück. Zündete sich eine Zigarette an und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. Er konnte nichts erkennen. Nur in der Lichtung der Straßenlaternen konnte er ein Schwarm von Fliegen erkennen. Er empfand dem Schwarm der Fliegen gegenüber nur Ekel, und beobachtete sie dennoch eine ganze Weile. Sein Zimmer war gut beleuchtet. Er mochte helle Räume. Das Zimmer war immer aufgeräumt und sauber. Von seinen Kommilitonen, die gelegentlich aus- und eingingen, erntete er aus diesem Grund hier und da Komplimente und Lobs. Das tägliche Waschen gehörte zum Programm. Er holte frische Unterwäsche aus dem Schrank und zog sie an. Es war schon Mitternacht durch, und trotzdem verspürte er Appetit auf Kaffee und machte sich Kaffee. Legte eine Platte auf, zündete eine Kerze an, die auf dem Tisch stand. Ging ans Fenster und beobachtete wieder die Fliegen an der Straßenlaterne. Ein ekelhaftes Bild. Es war Hochsommer, die Nacht schwül und feucht. Sein Zeichenbrett stand an der einen Ecke des Zimmers. Es herrschte schon seit Monaten Funkstille zwischen ihm und dem Zeichenbrett. Die Zeichnungen, die er begonnen hatte, klebten immer am Zeichenbrett. Er sah sich die Zeichnungen an. Die waren gut. Dennoch wurde die Entfernung zwischen den Zeichnungen und ihm immer und immer größer. Auch das Rauchen hatte er sich erst vor kurzem angeeignet. Das Rauchen schmeckte ihm und deswegen rauchte er immer mehr. An manchen Tagen eine ganze Packung. Er ging noch einmal ans Fenster und sah sich die Fliegen an, merkte, dass in ihm sich etwas veränderte. Er konnte es aber nicht definieren. Es schwebte etwas in der Luft, aber er konnte es einfach nicht einordnen. Das alles geschah, seit dem er angefangen hatte, den größten Teil der Nacht, wach zu verbringen. Er schlief erst gegen Morgen ein und wachte am nächsten Tag gegen Mittag auf. An den Vorlesungen nahm er kaum noch Teil. Gelegentlich ließ er sich an der Hochschule sehen, um sich eben sehen zu lassen. Es war schon oft vorgekommen, dass er Mitten in der Nacht sich anzog und eine Runde in der Stadt drehte. Zu Fuß. Und überhaupt sah er sich manchmal minutenlang die Blumen an, an denen er vorbeikam. Auch hatte er sich die Angewohnheit angeschafft, den städtischen Teich zu besuchen und sich die Fische anzusehen. Er verkehrte wenig mit Menschen, die er noch vor Monaten fast täglich sah, nahm sich eine Tasse und goss Kaffee ein. Zündete sich noch eine Zigarette an und ging wieder ans Fenster. Das Bild hatte sich nicht geändert. Immer noch flogen diese Viecher an der Laterne umher. Sein Zimmer war nicht besonders groß und dennoch hatte er fast alles dort untergebracht, was er für den Alltag brauchte. Die Bilder an den Wänden hatte er mit aller Sorgfalt aufgehangen. Auch die Plakate waren für ihn ein Symbol der Unruhe und des Aufstandes. Er war schon im achten Semester in der Hochschule, also seit vier Jahren in der Stadt. Kannte hier und da die Gegend, wo er nun lebte, fand aber auch nicht den Willen und die Notwendigkeit, die Gegend zu erkunden. Denn sie war ihm egal. Und Kühe auf den Weiden hatte er schon reichlich gesehen. In den letzten Monaten verbrachte er die Zeit meist alleine, stellte fest, dass ihm das gefiel. Er ging hier und da ein und aus, doch waren die einsamen Momente beinahe die schönsten Momente. Er sah, ob am Morgen, ob am Mittag oder ob am Abend, ja sogar in der Nacht, immer mehr aus dem Fenster und genoss den Ausblick, trotz dass da nichts Besonderes zu sehen war. Nachts die Fliegen und tags die Kühe auf der Weide. Er hatte einen kleinen Fernseher, den er gelegentlich einschaltete und sich davor saß. Auch hatte er das Gerät schon seit Tagen, ja sogar vielleicht seit Wochen nicht eingeschaltet. So war er auch über die aktuellen Themen im Lande und der Welt nicht informiert. Nur wenn er zum Bahnhof ging, warf er einen Blick auf die Zeitungen, die da so schön an dem Zeitungsstand zu lesen waren. Das war noch vor ein paar Wochen ganz anders. Da hat das Fernsehen beinahe zu jedem gemütlichen Abend dazugehört. Er nahm ein Schluck von seinem Kaffee und zog an der Zigarette. Beides schmeckten ihm. Auch dachte er an die nahenden Klausuren, hatte sich auf sie so gut wie nicht vorbereitet. Vielleicht würde er sich wieder abmelden. Doch hatten nun die Gedanken, die unmittelbar mit seinem Studium zu tun hatten, nicht mehr so viel Gewicht. Irgendwie waren sie nicht mehr so intensiv und so wichtig. Er hatte Pink Floyd aufgelegt und hörte gerade The Wall. Irgendwie fand er das Stück so faszinierend, so bewegend und so schwer, dass er es hundert Mal hintereinander hätte hören können; ging an sein Bücherregal und blätterte einige Bücher auf und zu. Da war das Buch der Ergonomie. Da war das Buch der Arbeitswissenschaft. Da, das der Arbeitsorganisation. Er warf auf jedes Buch ein Blick und blieb stehen bei dem Buch, welches er so toll fand. Er kannte den Namen des Autors nicht. Hatte noch nie von ihm etwas gehört. Doch der Titel gab dem Buch den Reiz, den ihn mitriss. "Menschliches- Allzumenschliches". Er legte das Buch wieder an seinen Platz. Mitternacht war längst vorüber. Er empfand nicht die Notwendigkeit, auf die Uhr zu sehen. Trank seinen Kaffee, rauchte seine Zigarette und ging schließlich ins Badezimmer und putzte sich die Zähne. Das Zimmer war sehr hell beleuchtet. Er machte das Licht aus und ging ins Bett, war sehr müde und schlief ohne langes Warten ein.

 

Gegen Mittag klingelte es an der Tür. Er lag noch im Bett, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter, trotz dass er das Klingeln gehört hatte. Nach einer kurzen Weile klingelte es noch einmal. Er ignorierte es wieder. Stand auf, öffnete aber dennoch nicht die Tür. Es klingelte ein letztes Mal. Es ist bestimmt Paul, dachte er sich, der wieder Mal etwas brauchte. Cem fand ihn irgendwie doch unangenehm. Er, den Paul, seinen Nachbar. Seit dem er mit seinem Studium angefangen und hier in diesem Studentenwohnheim wohnte, konnte er morgens nicht frühstücken. Er nahm die Milch aus dem Kühlschrank und trank. Viel. Fast ein halbes Liter. Das war sein Frühstück. Warf einen Blick auf das Zeichenbrett. Es erschien ihm sehr verlassen. Er hatte noch so vieles zu zeichnen. Sah sich seine Zeichnungen an, die um das Zeichenbrett herum an der Wand hingen. Sie waren gut. Er wusste, dass er das gut konnte. Aber dennoch herrschte schon seit Wochen eine Ruhe zwischen den beiden. Er nahm sich vor, heute Abend doch etwas zu zeichnen. Vielleicht würde er die Explosionszeichnung heute noch zu Ende machen. Vielleicht.

 

An dem städtischen Teich und an der Handelsschule vorbei, ging er in die Stadt. Hatte sich frisch rasiert und auch versucht, sich akzeptabel anzuziehen. Das war für ihn wichtig. Dass Kleider Leute machen, wusste er schon seit seiner Jugend. Also gab er sich auch Mühe, trotz seiner finanziellen Notlage, nicht arm und herunter gekommen auszusehen. Sein Kleiderschrank war fast leer. Er hatte nicht besonders viel. Man kann sogar sagen, er hatte nichts. Ein paar Hemden, zwei Hosen, ein paar Unterwäsche und ein Paar Schuhe. Das Geld, was ihm monatlich zur Verfügung stand, gab er aus, für die Miete, Strom, Telefon und für die Nahrung. Für Klamotten blieb so gut wie nichts übrig. Das Bisschen, was er besaß, hatte er von seiner Mutter bekommen. Seine Klamotten waren schon alt, aber er achtete darauf, dass sie immer sauber waren. Unterwegs zündete er sich eine Zigarette. Das Wetter war angenehm warm. Leicht windig. Er kam an der Bibliothek vorbei. Ging aber nicht hinein. An der Bank hob er etwas Geld von seinem Konto ab und setzte sich in der Stadt in eine italienische Eisdiele und bestellte eine Tasse Kaffee. Er war der einzige Gast in der Eisdiele. Nur eine Kellnerin, die mit der Frau hinter der Theke sich auf italienisch unterhielt und beide dabei laut lachten. Trank seinen Kaffee und dachte sich, dass die Italiener die besseren Kaffeemacher seien. Er war geistig abwesend. Saß zwar in der Eisdiele, doch in Wirklichkeit war er ganz woanders. Es waren zwei Wochen vergangen, seit dem er sie gesehen hatte. Ihren Namen kannte er nicht. Er wusste nur, dass er Tag und Nacht an sie denken musste. Sie hatte sehr schöne lange Beine, einen sehr weiblichen Hintern. Auch die Brüste waren nach seinem Geschmack. Er hatte sie genau vor zwei Wochen in dem Tante-Emma-Laden gesehen. Gott, was war er von ihr angetan; er hatte sie hinter der Theke ganz heimlich minutenlang beobachtet, ja sogar angestarrt. Jetzt saß er hier in der Eisdiele und war in den Gedanken wieder mit ihr beschäftigt. Wie mag sie wohl heißen? Bestimmt hat sie einen sehr schönen Namen. Ob er sie erobern kann? Wo und wie lebt sie? Was hört sie nur für eine Musik? Wo macht sie Urlaub? Liebt sie vielleicht jemanden? Hat sie mich bemerkt? Er saß in der Eisdiele und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er musste sie noch einmal sehen. Musste noch einmal in den Laden. Sie beobachten, sie anstarren, sie sondieren. Hatte das Gefühl, dass er etwas ganz Besonderes entdeckt hatte. Die Kellnerin kam und leerte den Ascher. Er sah sie nicht. Musste noch einmal dahin. Und zwar so schnell wie nur möglich. Lange saß er in der Eisdiele. Nach und nach kamen andere Gäste, tranken, aßen Eis oder Kuchen und gingen. Er saß an seinem Platz, dachte an das Mädchen aus Bonn. Gott, was war sie doch hübsch. Er war neben dem Mädchen, auch mit seinen Finanzen beschäftigt, die alles andere, als in Ordnung waren. Er hatte nie Geld. Oder anders ausgedrückt; das Geld war bei ihm immer schon ein sehr knappes Gut. Das musste sich ändern. Sein Vater hatte ihm angeraten, den Personenbeförderungsschein zu machen, um anschließend, gelegentlich Taxi fahren zu können. Das leuchtete ihm ein. Und genau seit einer Woche beschäftigte ihn auch dieses Vorhaben, was er so schnell wie möglich, in Angriff nehmen wollte. Die Kellnerin kam auf ihn zu und fragte, ob er noch etwas wünsche. Er verneinte und zündete sich noch eine Zigarette an. Wie heißt sie nur? Vielleicht Canan? Vielleicht Fatma? Vielleicht auch Aischa? Wie heißt sie nur? Seit genau einem Semester hatte er kaum an den Vorlesungen teilgenommen. Das passte ihm auch nicht. Er hatte Angst, dass dieser Zustand ihn um den Diplom bringen könnte, musste sich mehr mit seinem Studium auseinandersetzen. Schließlich kam er in dieser Stadt, um zu studieren. Abgesehen davon, konnte man in dieser Stadt auch nur studieren. Nachtleben oder alternative Möglichkeiten zur Unterhaltung gab es so gut wie nicht. Die Stadt war nach Ladenschluss so wie ohnmächtig. Nichts lief und nichts ging. Ein Kaufhausblock bildete das Zentrum der Stadt. Hier und da gab es ein paar Kneipen. Doch waren diese so überfüllt, dass man von einem gemütlichen Abend mit einem Glas Bier nicht reden konnte. Gelegentlich ging er in die Spielhalle. Das nur deshalb, weil er hier für eine Tasse Kaffee das wenigste Geld in der Stadt ausgeben musste. Der Kaffee schmeckt vorzüglich und kostete nur ein Viertel von dem, was er in dieser Eisdiele kostete. So allmählich wurde die Eisdiele voll. Es gab keine freien Tische mehr. Die Gäste kamen, aßen, tranken und gingen. Er saß immer noch an seinem Platz. Er saß ... saß ... und saß. Mit den Gedanken bei dem Mädchen aus Bonn und bei dem Personenbeförderungsschein und etwas an seinem Studium. Nach circa drei Stunden rief er die Kellnerin, bezahlte die Rechnung und ging.

 

Wieder kam er an der Bibliothek vorbei. Sah hinein, ging aber nicht hinein. Er glaubte, noch nie an der Bibliothek vorbeigegangen zu sein, ohne ein Blick reinzuwerfen. Den Berg hoch an dem Teich vorbei, war er wieder in seiner Höhle. Wieder zu Hause, legte eine Platte auf, schmiss sich auf das Sofa und schloss die Augen. Wieder kam sie ihm in den Sinn. Es hörte nicht auf. Er musste ununterbrochen an sie denken. Er lag eine ganze Weile. Sah auf den Zeichenbrett, überwand mit Mühe und Not seinen inneren Schweinehund und nahm die Tusche in die Hand. Die Explosionszeichnung war sehr umfangreich. Genau 38 Einzelteile. Bis spät in den Abend stand er vor dem Zeichenbrett und zeichnete. Der Appetit war ihm abhanden gekommen. Den ganzen Tag aß er kein Scheibchen Brot. Erst als die Zeichnung zu Ende war, schmiss er ein paar Fischstäbchen in die Pfanne und aß sie. Zum Trinken hatte er nur Milch zu Hause. Kein Wasser, kein Saft, kein Bier, kein Wein. Nur eine Flasche Raki, die ihm irgendwoher zugeflogen kam, stand seit Monaten ungeöffnet in seinem Kühlschrank. Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen, als er nach einer sehr langen Zeit den Fernseher wieder einschaltete. Er sprang von einem Sender zum anderen. Fand nichts und schaltete das Gerät wieder aus. Ging ans Fenster und sah wieder diese blöden Fliegen an der Laterne und um die Laterne herumfliegen. Ein ekelhaftes Bild, dachte er sich. Das Mädchen aus Bonn muss in meinem Alter sein, vielleicht ein paar Jahre jünger. Sie ist schön groß. Beinahe so groß wie ich. Wenn sie hohe Absätze trägt, sehe ich aber alt aus. Dann guckt sie mir ja auf den Scheitel. Gott, was war sie hübsch. Er verbrachte die Zeit entweder zu Hause oder in der Stadt. Nach zehn Tagen hatte er alle Formalitäten für den Personenbeförderungsschein erledigt und auch einen Taxiunternehmer gefunden, der ihn zunächst über die Wochenenden fahren ließ. Meist fuhr er in der Nachtschicht. Das ist besser, dachte er sich. In der ersten Nacht als Taxifahrer musste er diverse Lokale der Stadt anfahren, irgendwelche Betrunkene abholen und nach Hause fahren. Manche konnten gar nicht mehr reden, sondern lallten ihm die Adresse, die er gerade noch verstehen konnte. Zweimal fuhr er Fluggäste zum Flughafen. Er war mit dem, was er in dieser ersten Nacht verdient hatte, doch schon zufrieden und einverstanden. Cem hatte Angst, dass irgendein Beamter vom Bafögamt ihn beim Taxifahren erkennt und das die Kürzung, womöglich die Streichung seines Bafögs mit sich bringen würde. Das war der Grund, warum er sich für die Nachtschicht entschieden hatte. Er fuhr einen sehr neuen Wagen. Einen Mercedes der neuesten Serie. Er fuhr den Wagen gern. Erlaubte sich, den Wagen auch schnell zu fahren, wenn keine Fahrgäste drin saßen. Sobald jemand einstieg, entwickelte er sich zu einem Musterverkehrsteilnehmer der Stadt. Auch verwöhnte Kinder der höheren Schichten waren eingestiegen. Irgendwie hatte er nichts gegen sie. Er wünschte sich sogar, auch reiche Eltern zu haben, um nicht die Leute durch die Gegend zu fahren, sondern um sich durch die Gegend fahren zu lassen. Nun gut, ein Träumer war er doch etwas.

 

Die nächsten Wochen fuhr er immer Freitag- und Samstagabend. Seine Schicht ging von 18.00-6.00 Uhr. Also den ganzen Abend und die ganze Nacht. Nach nur vier Wochen hatte er soviel verdient, dass er sich neue Klamotten kaufen konnte. Er kaufte sich ein paar T-Shirts, ein paar Hemden, zwei Hosen und ein Paar Schuhe. Keine Namensprodukte, keine Imitationen. Die Schule würde er vergessen, wenn er nicht jeden Tag seine Studienbücher und seinen Zeichenbrett sehen müsste. Betreten hatte er die Schule das letzte Mal vor Monaten. Egal war sie ihm nicht. Nur, in den letzten Wochen und Monaten fand er keine Zeit für die Schule, obwohl er doch im Besitz der Zeit war. Es gab irgendetwas, was ihn davon abhielt, den Hörsaal zu betreten. Irgendetwas, was ihn davon abhielt, die Mensa zu betreten, ja sogar das Grundstück zu betreten. Er war immatrikuliert. Das war es aber auch. Wollte und brauchte im Moment mehr das Geld als die Schule. Und immer kam das Mädchen aus dem Tante-Emma-Laden ihm in den Sinn. Er hätte sie so gern wieder gesehen. Auch seinen Fernseher hätte er am liebsten weggeräumt. Doch ein Apartment, ohne ein Fernseher? Nein, das geht nicht. Nur um einen Fernseher im Zimmer zu haben, ließ er das Gerät an seinem Platz. Seine vier Blumen behütete er wie seine leiblichen Kinder. Jeden Tag befühlte und betastete er den Boden der Blumentöpfe. Den Kaktus mochte er am meisten. Im wahrsten Sinne des Wortes, war sein Zimmer seine Höhle, sein Reich und seine Heimat. Er fühlte sich wohl in seinem Zimmer, ja sogar sehr wohl. Hier war er, er selber. Hier war er der, den er wusste zu sein. Manchmal stand er mitten im Zimmer und bewegte sich minutenlang nicht von der Stelle. Das konnte er nirgendwo als in seinem Zimmer machen. Manchmal stand er an seinem Zeichenbrett, hatte nichts an und zeichnete ganz nackt. Manchmal stellte er sich vor dem Spiegel in seinem Badezimmer und führte laute Gespräche mit seinem Spiegelbild. Manchmal bereitete er sich auf die Prüfungen vor, in dem er gute Pfuschzettel entwarf. Im übrigen hatte er in seinem achtsemestrigen Studium noch nie an einer Prüfung oder Klausur teilgenommen, ohne extra für diese Klausur ein Pfuschzettel vorbereitet und sie in die Klausur mitgenommen zu haben. Pfuschzettel gehörten zum festen Inventar einer jeden Klausur. Interessant war, dass er jede Klausur, an der er teilnahm, auch bestand. Wenn er kurz vor den Klausuren merkte, dass weder das Lernen noch die Pfuschzetteln ausreichen, um sie zu bestehen, so meldete er sich schnell ab. Einmal als die Frist für die Abmeldungen verstrichen war, und er sich nicht mehr abmelden konnte, ging er anstatt in die Klausur zum Arzt und ließ sich krankschreiben. Die Schule musste diesen getürkten Attest akzeptieren. Er war schon gerissen.

 

Das Mädchen aus dem Tante- Emma Laden erschien ihm jetzt auch in seinen Träumen. Er sah sie immer mit kurzen Haaren. Dabei hatte sie doch lange Haare. Als er wieder Mal sich in die Mitte seines Zimmers stellte und wieder minutenlang wie verwurzelt stehen blieb, beschloss er, sich das Auto von seinem griechischen Nachbar auszuleihen und nach Bonn zu fahren, um sie zu sehen. Costa hatte ihm schon oft seine Ente ausgeliehen. Ja, sagte er sich, das mach ich. Er ging in den Korridor und klingelte bei Costa. Costa nannte sich El Greko. Nicht weil er ein griechischer Patriot war, sondern weil ihm der Name so witzig vorkam. Costa öffnete seine Tür und stand betrunken vor ihm. Er hatte feuchte Augen. Sein Zustand ließ eher auf Unglück schließen als auf Zufriedenheit. Er streckte die Hand und sagte: „Komme herein." Er ging hinein, aber am liebsten wäre er wieder zurückgegangen. Costas Zimmer war sehr unordentlich und roch nach Alkohol. Er zeigte ihm mit der linken Hand einen Stuhl und fragte gleichzeitig: „Was führt Dich zu mir? Vielleicht meine Ente?" Cem freute sich, dass Costa es kurz und schnell machte. So konnte er nämlich schnell wieder aus diesem Gestank raus.

„Ja" sagte Cem, „kann ich sie morgen haben?".

 „Kannst Du."

„Danke."

„Trinkst Du ein Glas mit?"

„Nein."

Costa ging an den Regal und holte ein Glas.

„Doch. Du trinkst ein Glas mit."

Er wollte kein Glas mittrinken. Er wollte keinen Alkohol zu sich nehmen. Nicht heute.

„Gibst Du mir jetzt schon mal die Schlüssel?" Costa füllte Wein und reichte ihn zu ihm.

„Erst wenn Du ein Glas getrunken hast." „Meinetwegen."

Sie stießen die Gläser an, Costa sagte „Yamas".      „Yamas."

Wie es auch immer geschah, wurden aus dem einen Glas zwei und drei. Innerhalb von zwanzig Minuten wurde er betrunken. Und zwar ganz schön ordentlich. Er fragte Costa, ob er schon Mal Raki getrunken hätte. „Ja" sagte Costa, „Das Zeug knallt gut“. „Ich hole schnell eine Flasche. Eiskalt. Ja?" Costa lag auf dem Sofa und lallte nur noch durch das Zimmer. „Ja. Gehe. Bring Raki."

Sie tranken die ganze Nacht.

 

Die Fahrt mit der Ente war schon etwas Seltsames. Doch sie fuhr gut. Er hatte sich frisch rasiert und von dem Rasierwasser benutzt, das er nur in ganz besonderen Tagen aus dem Schrank nahm. Auch hatte er sich seine neuen Sachen angezogen. Dabei wollte er sie nur sehen. Er hatte nicht vor, sich vorzustellen. Er wollte sie nur sehen. Dennoch hatte er sich mit seiner Erscheinung Mühe gegeben, fuhr über die Autobahn. Immer auf der rechten Spur. Die Ente fuhr nicht schneller als 90 km/h. Während der Fahrt hörte er Radio. Gelegentlich betrachtete er sich im Spiegel. Er fand, dass er gar nicht mal so übel aussah. Seinen Haaren gab er mit Haargel festen Halt. Denn sonst fielen sie ihm vor die Augen und das hasste er.

Die Fahrt aus seinem Kuhdorf bis nach Bonn dauerte circa eine gute Stunde. Er parkte. Der Tante- Emma-Laden befand sich unmittelbar im Zentrum der Stadt. War sehr bescheiden bestückt aber sehr fein dekoriert. Er sah durch das Schaufenster hinein. Und da stand sie. Er fing wieder an, sie anzustarren. Minutenlang. Dabei gab er sich Mühe, so zu tun, als ob er die Dekoration betrachten würde. Irgendwie gelang ihm dies auch, sah wie sie sich bewegte, wie sie redete, wie sie lächelte, wie sie ihre Hände ausstreckte. Sie hatte braune Haare, wie so viele Türkinnen. Sie waren schön und gut gepflegt. Das war für ihn bei der Frau wichtig. Schöne und saubere Haare. Die hatte sie. Auch ihre Bekleidung war sehr modern und dennoch sehr konservativ. Auch sauber. Das war sehr wichtig. Vielleicht das Wichtigste bei der Frau. Die Sauberkeit. Sie faszinierte ihn. Er bekam nicht genug. Starte sie lange Zeit an. Er fiel ihr nicht auf. Sie bemerkte ihn nicht. Es kamen viele Passanten an dem Laden vorbei. Er ging in der Menschenmenge verloren. Lange sah er ihr zu. Stieg dann in die Ente und fuhr wieder zurück.

 

Die Strecke von seinem Zimmer bis zum Jochen in das andere Heim hatte er schon bestimmt tausendfach zurückgelegt. Jochen sprach ihm immer aus der Seele. Sie waren zwei Fremde, doch standen sie sich sehr nah. Er ging zu ihm, um ein paar Tassen Kaffee zu trinken. Doch eigentlich benutzte er den Kaffee nur als Vorwand. Das, was er wollte, war die Unterhaltung dieses Weltmannes, der ganz im Verborgenen steckte und jederzeit wie ein Vulkan zur Explosion drohte. Er war sogar etwas platonisch verliebt in ihn. Er verweilte gerne bei ihm und mit ihm. Nach Wochen stand er wieder bei ihm vor der Tür. Jochen öffnete.

„Ach, Du. Ich dachte Du lebst nicht mehr."

Er ging hinein und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Jochen war fast vierzig. Gott weiß in welchem Semester er war. Das Dreißigste vielleicht. Alle Studenten kannten Jochen. Er war so was wie ein Überstudent. Nie Geld aber frei wie ein Vogel.

„Wo hast Du so lange gesteckt?" fragte er nach dem er den Kaffee aufgesetzt hatte.

„Ich war in mir."

Jochen lächelte: „Schön."

Es wurde still im Zimmer. Es war ein sehr armes Zimmer. Ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank, ein Waschbecken, ein Tisch und ein Fernseher aus den sechziger Jahren. Die Möbel waren sehr alt. Nur ein Poster der deutschen Eishockeynationalmann- schaft hing an der Wand. Die Tür hatte kein Schloss und stand Tag und Nacht offen. Er hatte alle Klausuren schon hinter sich. Das war schon so, als Cem mit seinem Studium begann. Man könnte meinen, er genoss die freie Zeit. Die Mutter schickte ihm immer das nötige Kleingeld fürs Essen. Er ging nirgendwohin. Ganz ganz selten mal in die Stadt. Und selbst das, so, als wäre er auf der Flucht. Er goss Kaffee ein. Sah Cem an und sagte: „Du hast Dich verliebt."

Cem war sehr überrascht. „Wieso? Wie kommst Du dazu?" Stimmte das etwa? Hatte er sich verliebt?

„So ein Blödsinn. Sich verlieben. Das ist doch kitsch und stinkt bis in den Himmel."

Jochen wurde etwas lauter und nahm ein Schluck aus der Tasse: „Cem, Du hast Dich verliebt."

Cem stand auf, legte die Tasse auf den Tisch und ging aus dem Zimmer. Es passte ihm nicht. Er war doch nicht verliebt. Er zündete sich eine Zigarette an und ging nach Hause.

 

Der Abend war angenehm warm. Das Wetter gefiel ihm. Ein ganz sanfter Wind wehte gegen den Süden und streichelte ihm das Gesicht. Es konnte doch nicht sein, dass er sich verliebt hatte. Er kannte sie doch gar nicht. Sie war hübsch, gar keine Frage. Er gestand sich auch, dass er oft an sie denken musste. Aber verliebt? Das passte gar nicht zu ihm. Verlieben war doch etwas für Teenager. Er legte sich auf das Sofa und zündete sich noch eine Zigarette an. Die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar. Er war müde, konnte aber nicht schlafen, schloss die Augen. Kaum hatte er die Augen geschlossen, schon musste er wieder an sie denken. Wie heißt sie nur? Das Fenster stand offen. Auf dem Parkplatz unterhielten sich ein paar Studenten. Er erkannte Abduls Stimme. Stand auf und ging auf das Fenster zu und sah raus. Abdul stand draußen mit einem anderen Palästinenser und unterhielt sich mit ihm auf Arabisch. Sie sahen ihn nicht. Unbemerkt schaute er den Männern eine Weile zu und ging wieder zurück. Holte sich die kalte Milch aus dem Kühlschrank und trank wieder fast ein halbes Liter. Dann warf er ein Blick auf das Zeichenbrett. Er hatte noch so viel zu zeichnen. Irgendwie fühlte er sich blockiert und das schon fast seit einem Monat. Hing das etwa doch mit dem Mädchen aus dem Tante-Emma-Laden zusammen? Er wusste es nicht, ging aus der Tür in das Nachbarzimmer. Costa öffnete die Tür. „Aahh ... der Türke."

Er sagte nichts und ging hinein. Costas Vater arbeitete bei der griechischen Botschaft als Atteche für Soziales. So zählte Costa im Heim zu den Studenten, die auf staatliche Unterstützung fürs Studium nicht zurückgreifen mussten. Ohnehin gab es ein paar von der Sorte Costas im Heim. Er hatte eine sehr runde Brille und ohne diese Brille konnte er nichts sehen. Ohne seine Brille ähnelte er einem Maulwurf. Cem setzte sich auf das Sofa. Costa neben ihm.

„Wo bist Du heute mit der Ente hingefahren?" fragte er, um ein Gespräch zu beginnen.

„Nach Bonn."

„Wieso nach Bonn? Da kommst Du doch gar nicht her?"

Er wollte sich nur hinsetzen und hatte auf einem Gespräch nicht das geringste Interesse.

Costa versuchte erneut das Gespräch zu starten: „Wie viele Klausuren schreibst Du im Herbst?"

„Vier", sagte er mit einer sehr schwachen Stimme.

„Soll ich Dir ein Kaffee machen?"

„Ja" ,sagte er. „Mach bitte ein Kaffee."

Tausend Gedanken hatten sich in seinem Gehirn eingenistet. Die Gedanken über die Liebe wogen am schwersten. Wieso musste er ununterbrochen an sie denken? Was sollte er aus dieser Intensität schließen? Er hatte schon Hunderte von Frauen gesehen und nun fragte er sich, wieso er ausgerechnet an dieser hängen blieb. Eine feste Freundin hatte er noch nie gehabt, obwohl er schon zweiundzwanzig Jahre alt war. Was Frauen betrifft, so wusste er, dass er sehr wählerisch war. Das war auch der Grund, warum er noch nie eine feste Beziehung eingegangen war. Selbst zu kleine Füße oder vielleicht zu große Füße hatten ihn von vielen Frauen fern gehalten. Die eine war zu dunkel, die eine zu hell, die eine zu dick, die eine zu dünn. Irgendwie gab es immer ein Grund, die Frau, die ihm auffiel, nicht anzusprechen. Und keine Frau hat ihn jemals so beschäftigt, wie diese aus Bonn. Er hatte sie erst zwei Mal gesehen. Was war nur geschehen? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sein Geist den Körper verlassen hatte. Er befand sich im diesem Augenblick nicht in Costas Zimmer, sondern war woanders. Costa redete mit ihm. Aber er hörte nichts und reagierte auch nicht. Costa goss Kaffee ein und legte die Tasse vor ihm auf den Tisch.

„Hey Türke ... Dein Kaffee."

Costa und er waren gute Freunde. In den letzten Semesterferien hatten sie eine Tour durch Italien gemacht. Dafür hatte sich Costa extra einen großen Wagen zugelegt. Für beide war es eine geniale Tour. Sie waren planlos losgefahren und drangen in Italien bis nach Birindisi vor. Costa wollte mit der Fähre rüber nach Griechenland, aber Cem riet ab, da die Finanzen dies nicht zulassen würden. Sie waren in Verona, in Neapel, in Rom, in Mailand. Drei Monate lang waren sie in Italien durch die Gegend gefahren und wollten gar nicht so richtig wieder zurück. Aber sie mussten.

„Hey Türke ... Dein Kaffee.", sagte er erneut und zog ihn am Arm.

"Danke."

Die Unterhaltung nahm nun seinen Lauf. Von den bevorstehenden Klausuren, über die nächste Reise in den Benelux, bis zu den Unterschieden der türkischen und der griechischen Musik. Costa träumte von den Staaten oder Kanada. Die beiden Länder hatten es ihm angetan. Vor allem aber Kanada. Cem träumte davon in Oslo zu leben. Sie erzählten sich stundenlang über ihre Lieblingsländer. Costa hatte sich zu einem wahren Kanadakenner entwickelt. Cem hatte keine Zweifel daran, dass Costa in zehn Jahren in Toronto lebt. Er wusste, er packt das. Zwei Tage nach seinem Diplom wird er aus diesem Kaff verschwunden sein, dachte er sich. So kannte er Costa. Costa war für ihn wie ein wohlhabender Gönner. Er hatte, im Gegensatz zum Jochen, immer Geld. Und davon nicht wenig. Sie tranken die ganze Kanne leer. Es wurde später und später.

 

Jeden Abend und jede Nacht beobachtete er aus seinem Zimmer die Fliegen an der Straßenlaterne. Er stellte fest, dass sie immer weniger wurden. Anscheinend brach der Herbst herein. Auch wurde es immer frischer draußen. In seinem Zimmer beschäftigte er sich immer mit seinen Büchern. Aber immer weniger mit seinen Studienbüchern. Er hatte inzwischen "Menschliches-Allzumenschliches" gelesen und fand das Buch sehr gut. Der Autor war ihm total unbekannt. Aber welcher Autor war ihm schon bekannt? Er beschloss mehr von ihm zu lesen. Aus der Bücherei lieh er sich ein anderes Buch von ihm aus. Es hatte den Titel "Also sprach Zarathustra". Als er das Buch in seinem Zimmer zu lesen begann, merkte er sich den Namen des Autors. Er hieß Nietzsche. Nietzsche. War er vielleicht ein Pole? Aber das war auch total egal. Denn er war gut. Er war sehr gut. Vorgestern hatte er sich von allen Klausuren abgemeldet, auf die er sich zwar angemeldet aber nicht vorbereitet hatte. Er war nur noch Nietzsche am Lesen. Tag und Nacht. Gelegentlich stellte er sich an das Zeichenbrett und zog ein paar Linien und ein paar Kurven. Immer wenn er in die Stadt ging, ging er an der Bücherei nicht mehr vorbei, sondern immer hinein. Ein Buch von Nietzsche steckte er einmal einfach so unter die Jacke und nahm es mit. Dass das nicht legal, aber total legitim ist, brachte ihm Nietzsche bei. Auch fing er an Zeitschriften zu lesen. Am meisten gefielen ihm die politischen Magazine. Hier und da auch etwas Playboy. Er ging nun noch später ins Bett. Selbst wenn er in den Wochenenden Taxi fuhr, befand sich mit Sicherheit ein Buch im Wagen. Nietzsche. Er war fasziniert von ihm. Nicht legal aber legitim. Die Zeichnungen waren alle fertig. Nun mussten sie durch den Professor bestätigt oder anerkannt werden. Er beschloss schon in den nächsten Tagen, ihn in seinem Amt zu besuchen. Er fand, dass seine Zeichnungen in Ordnung waren. Aber einige Professoren hatten sich zu richtigen Absägern entwickelt. Und der hier war einer von ihnen. Er packte alle Zeichnungen nummeriert und datiert in die Rolle und stellte die Rolle in die Mitte des Zimmers, drehte ein paar Runden um die Rolle und sah sie sich genau an. Cem hatte schon fast alle Klausuren bestanden, die bis zum Diplom erforderlich aber auch notwendig waren. Zündete sich eine Zigarette und trank Milch. Viel Milch, sah nicht auf die Uhr, als er ins Bett ging. Überhaupt sah er immer weniger auf die Uhr. Seine Gedanken wanderten von einer Thematik zu dem Mädchen aus Bonn und Nietzsche. Er beschloss in den nächsten Tagen wieder nach Bonn zu fahren. Cem musste sie wieder sehen. Gott, was war sie hübsch und sie studiert Turkologie und geht nebenbei noch arbeiten. Sie imponierte ihm sehr. Und hier neben ihm wohnte die Petra und ließ die Typen auf ihren Schlüpfer gucken. Gott, was empfand er das für krass.

 

Eine halbe Stunde später kam er in sein eigenes Zimmer zurück, aber betrunken wie ein Schwamm. Er fand diesen Zustand angenehm. Er war berauscht und das war angenehm. Cem hatte nichts gegen Alkohol. Er trank zwar viel Milch, aber die Gelegenheiten für einen guten Wein nahm er immer wahr. Zündete eine Kerze und legte sich auf das Sofa. Irgendetwas machte gerade eine Umwandlung. War er es vielleicht? Seit Monaten war er nicht mehr in der Hochschule erschienen. Er las nur noch Nietzsche. Das war vor ein paar Monaten noch ganz anders. Es veränderte sich etwas, es schwebte etwas in der Luft und zwar sehr rasant, sehr schnell, sehr intensiv und sehr massiv. Er schloss die Augen auf und sah das Zeichenbrett. Nietzsche und das Zeichenbrett. Waren es Gegensätze oder waren es Ergänzungen? Er wusste nicht wie viele Tuschen er schon leer gezeichnet hatte. Aber es waren doch schon sehr viele. Und jetzt ging er nicht mehr aus dem Zimmer und las nur noch Nietzsche. Was war geschehen mit ihm? Er, der die Liebe eher für Kinderkram hielt, musste jetzt Nacht und Tag an ein Mädchen denken, das er gar nicht kannte. Stand auf, zündete sich eine Zigarette an und ging ans Fenster. Die Straßenlaterne brannte, aber es waren so gut wie keine Fliegen mehr zu sehen. Verreckt sind die Viecher vor Kälte, dachte er, und grinste ganz listig und böse. Ohne sich die Zähne zu putzen, ohne sich die Klamotten zu wechseln, legte er sich aufs Bett. Schnell schlief er ein.

 

In den nächsten Tagen musste er in die Schule und die Zeichnungen dem Professor zeigen. Sollten sie seine Zustimmung und Anerkennung finden, so hätte er eine Hürde weniger durch das Studium. Er traute keinem einzigen Professor. Daher versuchte er die Übungen so zu machen, dass sie erst gar nicht dazu kommen sollten, ihm sie nicht anzuerkennen. Er wusste, dass die Zeichnungen gut waren. Auch wollte er wieder nach Bonn. Auch wollte er wieder Mal etwas lesen. Alles drehte sich um die drei Sachen: Nietzsche, das Mädchen aus Bonn und etwas die Hochschule. Cem fand die Ideen von Nietzsche faszinierend. Jeder Satz von diesem verrückten Philosophen begeisterte ihn, jeder Satz von diesem durchgeknallten Philosophen bekam seine Anerkennung und seine Zustimmung. In den letzten Monaten hatte er bereits drei Bücher von ihm gelesen und fand ihn einfach genial. In der Stadtbücherei suchte er nur noch nach seinen Werken und wurde immer fündig. Anscheinend hatte Nietzsche nichts anderes gemacht, als zu philosophieren und es niederzuschreiben. Seine Götter waren anders. Er hatte eine ganz gefährliche Auffassung von dem Menschen und der Menschlichkeit. Aber gerade das Gefährliche fand Cem unwiderstehlich und reizend. Während er ihn las, begegnete er dem Begriff des Übermenschen. Er war sehr irritiert. Doch dann hatte er sich mit dem Übermenschen durchaus angefreundet. Nietzsche erzählte sehr oft von dem Übermenschen und Cem sah ein, dass Nietzsche ebenfalls sich zu einem Übermenschen entwickelt hatte und nun diesem Ausdruck auch er sich stellen musste.

 

Gelegentlich riefen seine Eltern an und erkundigten sich nach seinem Wohlbefinden. Die Gespräche waren sehr kurz und sehr bündig. Weder seine Mutter noch sein Vater mochten lange Gespräche am Telefon. Nachdem sie erfuhren, dass bei ihm alles in Ordnung war, legten sie wieder auf. Der Vater sagte ihm, dass er das nächste Mal, wenn er wieder nach Hause kommt, auch etwas Geld kriegen würde. Cem wusste zu gut, dass es sich hierbei um 500`er handeln würde. Er nahm die finanziellen Spritzen von seinen Eltern gern und ohne Zögern an. Doch war er, nach dem er angefangen hatte, Taxi zu fahren, auf dieses Geld immer weniger angewiesen. Das gefiel ihm sehr. Es war doch ganz anders Geld auszugeben, das man selber verdient hatte, als das Geld, was die Mutter oder der Vater ihm in die Taschen steckten.

 

Der Wagen stand schon seit drei Stunden am Bahnhof in der Schlange. Es war, als wäre die ganze Stadt am Schlafen. Es stiegen keine Fahrgäste ein, auch von den ankommenden Zügen kam niemand in den Taxistand. Er war schon fast seit vier Stunden unterwegs, besser gesagt, er war schon seit fast vier Stunden am Platz, bis über Funk eine Fahrt hereinkam. Sein Wagen war an der Reihe. Er nahm die Adresse auf und fuhr dahin. Die Fahrt geht ins Ungewisse, dachte er sich, als ein Ehepaar, relativ jung, streitend einstiegen. Die Frau schrie den Mann laut an und hatte auch keine Probleme damit, dass sie so die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich zog. Sie machte den Eindruck, als würde sie sich einen Dreck um die Nachbarschaft kümmern. Sie war hübsch, machte aber kein Hehl daraus, den Mann wie einen kleinen Buben anzuschreien. Der Mann wehrte sich nicht im Geringsten und war leise und still. Sie stiegen ein. Hinten nahmen sie Platz. Cem startete den Wagen, fuhr aber nicht los, bis die Fahrgäste nicht gesagt hatten, wohin die Fahrt überhaupt hinging. „Nach Frankfurt" ,sagte der Mann mit einer sehr dünnen, ja sogar ängstlichen Stimme. Cem freute sich riesig. Denn eine Fahrt nach Frankfurt war das Schönste, was man einem Taxifahrer schenken konnte. Es war also eine dicke Fahrt. Sie fuhren los. Das Radio war an und man berichtete gerade die Staumeldungen. Es war alles frei. Das war gut, dachte er sich. Vielleicht schaffe ich es heute, meinen Rekord zu brechen. Das Paar sprach so gut wie nie miteinander. Aber auch die Frau schrie nicht mehr herum. Anscheinend hatte sie sich wieder beruhigt. Er fuhr auf die Autobahn. Die war frei. Also drückte er etwas stärker auf die Pedale. Der Mercedes bewegte sich in der Mitte der Nacht Richtung Frankfurt. Während der ganzen Fahrt sprach keiner von den Dreien auch nur ein Wort. Auch der Rest der Nacht war weder bunt noch farbig. Monoton und langweilig. Doch hatte er in den darauffolgenden Stunden so viel Umsatz gemacht, wie in seinem bisherigen kurzen Taxifahrer-Leben nicht mehr. Er war mit der Nacht sehr zufrieden. Morgens um sechs überließ er den Wagen dem Tagfahrer und ging an dem Teich vorbei, wieder zurück nach Hause. Er war müde, sehr müde. Öffnete den Kühlschrank, holte die Milch raus und trank. Fast ein halbes Liter. Vielleicht auch etwas mehr. Der Tag war schon hereingebrochen als er endlich im Bett war. Er musste auf den Schlaf nicht lange warten.

 

Kurz nach Mittag klingelte es an der Tür. Er war tief am Schlafen, hörte es aber dennoch. Er drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Auch als es noch einmal klingelte, öffnete er nicht, sondern blieb im Bett. Er nahm an, dass es wieder Paul war, der bestimmt wieder etwas brauchte. Kurz danach stand er auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie schmeckte ihm. Er ging unter die Dusche und ließ eine ganze Weile warmes Wasser über seinen Körper laufen. Auch das tat ihm gut. Es war Montag und heute musste er zum Professor, wegen den Zeichnungen. Zähne, Ohren, Gesicht, kurz er reinigte sich gründlich, bevor er den Weg in die Schule antrat, nach Monaten der Ruhe. Der Professor, übrigens gleichzeitig der Dekan der Fakultät, empfing ihn durch und durch herzlich. Er holte die Zeichnungen aus der Rolle und rollte sie für den Professor auf den großen Zeichentisch. Der Professor betrachtete sie lange und intensiv, ohne auch nur eine einzige Bemerkung zu machen. Manchmal hob er sie gegen das Licht ans Fenster. Er sagte nichts. Keiner von den Zweien sprach. Der Professor sah sich die Zeichnungen an und Cem sah sich den Professor an. Nach langem Begutachten wandte sich der Professor Cem zu und fragte ganz leise: „Was glauben Sie, wie lange brauchen Sie noch?" Cem wusste, dass er das Studium meinte.

„Ich rechne mit zwei Semestern" sagte er.

„Das ist gut. Die Zeichnungen sind in Ordnung."

Er unterschrieb jede Zeichnung einzeln, tat sie wieder in die Rolle und übergab sie Cem. Der Professor lächelte ihn an und fügte hinzu: „Alles Gute." Cem war sehr erleichtert. Mit kleinen und sicheren Schritten ging er wieder zurück. Zurück in seiner Höhle.