Ob ich es bereue, fragst du? - Aydın Erdinç - E-Book

Ob ich es bereue, fragst du? E-Book

Aydın Erdinç

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Beschreibung

Ich, als das Spiegelbild der Gesellschaft, so wie sie sein soll, ich sein soll. Jung, erfolgreich gutaussehend. Und was dann? War das alles? Meine Geschichte ist die eines Mannes, der so ziemlich alles hatte. Und es war zu viel. Zu viel Frauen, zu viel Alkohol, zu viel Marihuana. Ja, ich bin raus und durch damit. Der Islam gibt da schon Halt und eine neue Struktur, auch durch das Gebet, die Bildung, aber noch bin ich nicht angekommen, als ein Türke in Deutschland, als ein Muslim, der sich sehr weltlich durch die Gegend schiebt. Unangepasst, besessen beinahe, um noch mehr Ich und Sein in mir selbst zu finden und damit durchzubrechen. Möge diese Geschichten jeden zu Nutze kommen. Aber macht es richtig- Wenn ein Gangster, dann ein richtiger Ganove, nur als Heiliger ohne Schein, und als Eroberer kein Herzensbrecher. Politik ohne Bestechung.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ob ich es bereue, fragst du?

Ob ich es bereue, fragst du?Impressum

Ob ich es bereue, fragst du?

Nein! 

Vorwort

Die Vernunft, die Erfahrung und der Verstand des Menschen bringen ihn immer dorthin, wo er ist.

Unabhängig von der ideologischen, kulturellen und religiösen Anschauung, führt der Weg des Menschen nicht immer über gut gepflasterte Straßen.

Viele verirren sich und finden nicht mehr zurück. Viele bleiben auf der Strecke.

Mein Weg ging über Geld, Konsum, Spaß, Abenteuer, Karriere, Sex, Drogen und Kriminalität.

Und irgendwo unterwegs begegnete ich meinem Gott...

Erdinç Aydın

١            Der Beginn

... ich überlegte mir, wie ich mein Buch nennen müsste, um das wieder zu geben, was es beinhaltete. Ich überlegte lange. Doch fand ich keinen passenden Ausdruck. Stattdessen fing ich an zu schreiben. Ich war mir sicher, dass mir während des Schreibens etwas Gescheites einfallen würde. Vielleicht heute noch. Wer wusste es schon?

Ich überlegte aber nicht lange, womit ich am liebsten anfangen würde und müsste. Also begann ich mein Buch zu schreiben, mit:

Assalam alaikum,

es war sehr lange her, dass ich das letzte Mal ein Buch in die Hände genommen hatte. Vielleicht eine Ewigkeit, vielleicht mehrere Ewigkeiten. Wer wusste es schon?

Ein Analphabet war ich gerade nicht. Aber irgendwie lebte ich all die Jahre wie ein Analphabet. Nur den Trieben nachjagend. Nun, ich will mich, den Helden, nicht ganz schwarz malen. Ich bin ein junger Mann in den allerbesten Jahren. Irgendwo in der Fremde. Lebe wie der König in Frankreich. Gelegentlich mache ich Übersetzungen und gebe Nachhilfeunterricht. Also dumm bin ich nicht. Aber ich lebte all die Jahre wie ein Dummer vor mich hin. Nur den Trieben nachjagend. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Eine bildhübsche Frau.

Ich habe in den letzten fünf Jahren keine einzige Minute vor dem Fernseher gesessen. Vor fünf Jahren verlor ich den Glauben an die Unterhaltung im Fernsehen. Nun, mir geht es gut. Ich verdiene selber etwas, ich erhalte Leistungen vom Staat und ich habe einen vermögenden Vater, der mir hier und da den einen oder den anderen Wunsch erfüllt. Also habe ich keinen Grund, mich zu beklagen.

Die Tage, die Wochen, die Monate und die Jahreszeiten kamen und gingen. Ich ging meinen Weg vor mich hin. Mit meiner Familie. Meinen Weg?

Mein Weg ging jeden Samstagabend in die Kneipe. Ich trank. Ich trank. Ich trank. Dann ließ ich mich mit dem Taxi nach Hause fahren. Schon mehrmals erbrach ich mich im Wagen und musste zu den Fahrtkosten noch die Reinigungskosten übernehmen. Manchmal ging ich zu Fuß nach Hause. Schaukelnd und stolpernd. Damit hatte ich keinerlei Probleme. Selbst wenn ich nach Hause kriechen müsste, glaubte ich nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte. Ich war cool. Der Gang in die Kneipe war ein festes Programm in meinem Leben. Manchmal musste ich auf dem Weg von der Kneipe zurück nach Hause dringend pinkeln. Das war für mich kein Thema. Ich fand immer einen passenden Platz. Glaubte ich. Aber wer wusste es schon?

Ich bin ein Akademiker. Ein Mann mit einem Hochschulabschluss. Ich genoss Anerkennung von diversen Kreisen. Ich wurde in bestimmten Kreisen akzeptiert und sogar zum Teil auch respektiert. Ich hatte ganz große Ziele. Mit 50 Jahren wollte ich mich irgendwo in den Süden absetzen und dort unter der Sonne am Strand alt werden. Ich war durchaus immer gepflegt. Die tägliche Rasur war wie eine Pflicht. Ohne mich nicht rasiert zu haben, war ich nicht aus der Wohnung zu kriegen. Schwarze Socken und schwarze Schuhe. Immer. Haare hatte ich nicht mehr viel. Aber selbst die wenigen Haare hatten eine Frisur. Trotz, dass ich täglich mit Menschen zu tun hatte, die sich zum Islam bekennen, konnte ich nicht nachvollziehen, warum man einen ganzen Monat hungern sollte. Oder warum man jeden Tag fünf mal beten musste. Jeden Tag. Ich lebte, ohne zu fasten und ohne zu beten. Und nach Mekka? Und etwas abgeben von meinem Gewinn? Ich hatte einfach keine Zeit und keine Lust, mich mit etwas zu beschäftigen, woran ich ohnehin zweifelte, ja, sogar nicht glaubte. Meine Eltern sind Muslime, und ich? Weiß ich es? Aber wer wusste es schon?

Ich war in der Fremde politisch sehr aktiv. War Mitglied in diversen Vereinen und Institutionen. Ich war in öffentlichen Veranstaltungen meistens anwesend. Hielt in dem und jenem Abend auch schon eine Rede, die immer gut ankam. Ich wusste nicht, wie oft ich bei solchen Veranstaltungen schon ein Glas Sekt oder ein Glas Wein getrunken hatte. Es waren einfach viel zu viele. Wein schmeckte mir. Sekt und Bier dagegen nicht. Ich trank in der Öffentlichkeit, ich trank zu Hause, ich trank in der Kneipe. Ein Alkoholiker war ich nicht. Aber ich war auf dem besten Wege dorthin. Meine Frau hatte es nicht so gern, wenn ich betrunken nach Hause kam. Immer wenn ich betrunken nach Hause kam, musste ich auf dem Sofa schlafen. Meine Frau ließ mich einfach nicht ins Bett. So kam es, dass ich die meisten Nächte auf dem Sofa verbrachte, statt im Bett neben meiner Frau. Aber auch das war für mich kein Thema. Dann schlafe ich eben auf dem Sofa. Und?

Es kam des Öfteren vor, dass ich ausging. Ausgehen hieß für mich im Übrigen in die Kneipe gehen. Ich ging aus. Trank. Und noch einen. Und noch einen. Irgendwann in der Nacht wurde ich entweder vom Wirt rausgeworfen oder ich hatte kein Geld mehr. Also ging ich wieder nach Hause. Ich war so betrunken, dass ich nicht merkte, dass ich in die Hose gemacht hatte. Meine Hose war von der Gürtellinie an, bis zu den Fußgelenken voll mit Urin. So ging ich nach Hause. Stürzend und stolpernd. Quer durch die Stadt. Mir machte es nichts aus. Ich ging nach Hause, legte mich auf das Sofa und schlief ein. Mitten unter meiner Familie.

Ich verkehrte mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt, wo ich lebte, in der Fremde. Politiker, Direktoren, Journalisten, Kommissare der Polizei, Lehrer, Geschäftsleute usw.

Ich würde nicht übertreiben, wenn ich sagen würde, ich verkehrte mit der Elite der Stadt. Und man kann sogar sagen, ich gehörte auch dazu. Man ging gemeinsam essen, gemeinsam trinken, gemeinsam etwas unternehmen. Alle Journalisten der Stadt hatten bereits etwas über mich berichtet. Auf der kommunalen Ebene war ich schon bekannt. Ich verkehrte auch mit dem Bürgermeister der Stadt und mit dem Stadtdirektor. Ich zählte in jeder Kneipe der Stadt zu den Stammkunden. Alle Wirte kannten mich. Wie das so in der Fremde ist, sind auch Frauen in der Kneipe. Andere Länder andere Sitten. In der Fremde betranken sich Männer und Frauen gemeinsam. Das kam mir doch gelegen. So hatte ich schon mehrmals in meiner Karrierezeit als Trinker, die eine oder die andere Frau auf die Toilette begleitet oder mit ihr einen einsamen und verlassenen Platz ausfindig gemacht. Auch das war okay. Gar kein Thema. Auch würde ich nicht übertreiben, wenn ich sagen würde, diese Angelegenheiten waren ein Bestandteil jedes Ganges in die Kneipe. Entweder schleppte ich eine Frau ab, oder eine Frau schleppte mich ab. Das Übernachten in Betten fremder Frauen war für mich nichts Fremdes. Ich hatte in den besten Betten der Stadt die Nacht verbracht.

Sogar im Bett des Stadtdirektors. Immer dann, wenn er auf einer mehrtägigen Reise war. Und?

An die Frau zu Hause dachte ich dabei nicht. Und dachte ich mal an sie, sagte ich: „Sie kann alles essen, aber braucht nicht alles wissen.“

Woche für Woche und Monat für Monat ging es so weiter. Ein Jahr folgte den Anderen. Ich ging mit meiner Familie auch schon mal essen oder ins Kino oder ins Schwimmbad oder wir machten Fahrradtouren. Oder wir gingen einfach mal so raus. Etwas herumgehen. Uns die Gegend ansehen. Ein Eis essen. In den Kletterwald, ins Phantasialand. Die Kinder wuchsen auf...Tag für Tag. Ich wusste etwas über die Psychologie des Kindes. Glaubte ich. Aber was wusste ich schon? Wer wusste schon was?

Ich war schon fast in jeder Kanzlei der Stadt und hatte dort für die Ausländer gedolmetscht. Auch bei den Notaren verkehrte ich hier und da. Bei den meisten Anwälten der Stadt war ich dadurch bekannt geworden. Sie kannten mich fast alle. Wenn ich eine Person in der Stadt nicht kannte, dann lag das daran, dass diese Person wirklich ein Niemand war. Irgendwie bewegte ich mich oder verkehrte ich mit den wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt. Ich glaube den schlechtesten Umgang hatte ich mit dem Imam der Moschee. Nur da ließ ich mich nicht blicken. Nicht einmal zu den großen zwei Festen der Muslime war ich bereit, die Moschee von innen zu betreten. Ich fand nichts, was mich mit dem Imam der Moschee verband. Nichts. Auch der Imam war ein studierter Mann von Welt. Er hatte schon in diversen Städten sein Amt als Imam oder Vorbeter angetreten. Konnte viel von den Kulturen dieser Länder erzählen, aber ich konnte ihm einfach keine Nähe zeigen. Es gab da etwas, was mich davon abhielt, mich hinter den Imam zu stellen, und vielleicht einmal im Jahr ein Gebet mitzumachen. Nein, der Imam der Moschee war einfach wie ein Stiefbruder für mich. Ich war ein Muslim, aber was wusste ich denn? Wer weiss schon was? Und überhaupt, kümmerte mich das denn? Hatte die Tatsache, dass ich auch ein Muslim war, für mich ein Gewicht? Interessierte der Islam mich denn?

Mir war egal, wer ich war. Es hätte mir nichts ausgemacht, ein Buddhist zu sein, oder ein Schamane oder ein Christ oder ein Jude. Der Ausdruck, den ich am wenigsten aussprach war, Islam oder Allah oder Muhammad. Eine fest eingefahrene Einstellung nistete in meinen Gedanken, dass das Übel der Erde nur eine einzige Ursache hatte, nämlich die Religion. Daher waren alle, die sich aus religiösen Gründen eine Enthaltsamkeit unterzogen, einfach Spielverderber und Spießer. Ich hielt von Religionen nicht viel, wenn man die meinige mir überließ. Religionen kümmerten mich nicht besonders, wenn ich mein Leben leben durfte. Und überhaupt: Wer braucht schon eine Religion? Wozu?

Vor gar nicht lange her, vielleicht ein Jahr, vielleicht 18 Monate ließ ich mir eine Tätowierung machen. Eine tolle Tätowierung. Ich fand das Bild hervorragend. Nun, ich war einfach cool. Und coole Typen hatten nun mal eine Tätowierung. Ein Mann wie ich ohne eine gute Tätowierung. Nein, das war nicht in. Eine Tätowierung musste sein. Also ließ ich mir bei dem Besten auf dem Markt eine Tätowierung machen. Einen Steppenwolf. Ich fand das Bild echt cool. Ein Steppenwolf, wie er halt in der Steppe lebt und jagt. Meine Frau fand das nicht gut. Aber ich habe doch zu Hause die Hose an. Oder? Aber wer weiß es schon? Nach der Tätowierung hatte ich an der tätowierten Stelle starke Schmerzen. Tagelang und wochenlang. Aber jetzt ist es wieder okay. Ich fand es riesig, dass auch ich eine Tätowierung hatte. Immer wenn ich schwimmen ging, fand ich es toll, meine Tätowierung zeigen zu können. Und wurde ich darauf auch mal angesprochen, ja, so bekam ich vor Stolz ganz weiche Knie. Immer wenn ich mir meine Tätowierung ansah, überkam mich die Angst, sie könnte beim Duschen oder so wieder verschwinden. Sie musste lange bleiben. So lange wie es nur geht.

Ich verkehrte ungern mit Arabern. Mein Dealer war der einzige Araber, mit dem ich mich austauschte. Der Marokkaner Said, genauer gesagt der Berber Said, versorgte mich schon seit mehreren Jahren mit dem allerbesten Haschisch aus Marokko. Ich genoss die Augenblicke und die Momente mit Said. Said war schon fast sechzig Jahre alt und kannte sich mit Haschisch mindestens so gut aus wie Howard Marks aus Wales. Ein Mann vom Fach. Schon in den Riffgebirgen in Marokko handelte Said mit Haschisch. Dann ging er auch in die Fremde. Unsere Wege trafen sich irgendwo in Amsterdam. Wir saßen am selben Tisch und rauchten unsere Joints. Nach einer kurzen Unterhaltung stellte sich heraus, dass wir in der Fremde nur wenige Autominuten voneinander entfernt wohnten. Seit dem fuhr ich nur noch ganz selten nach Amsterdam, sondern immer zu Said und besorgte mir meinen Stoff. Für mich war klar: Said hatte den besten Haschisch im Umkreis von 200 km. Wir trafen uns bei Said im Zimmer. Rauchten gemeinsam. Sowohl für Said, als auch für mich war das Recht auf Rausch ein Menschenrecht. Said war den Arabern auch nicht wohlgesinnt. Irgendwie konnte er sie nicht riechen. Erzählte sogar dann und wann von einem unabhängigen Berberstaat. Er war ein Mann der Unterhaltung. Sprach mit einem sehr starken arabischen Akzent. Oder war es doch eher berberisch? Aber wer weiss schon was?

In der Stadt, in der ich lebte, gab es mehrere Friedhöfe. Eins von denen war ein jüdischer Friedhof. Umzäunt und abgeriegelt. Ich konnte nicht verstehen, warum manche es für nötig halten, etwas zu umzäunen. Auch die israelische Botschaft in der Nähe war umzäunt. Das waren die einzigen Punkte in meinem Leben, wo ich mit dem Jüdischen oder israelischen irgendwie in Berührung kam. Ich ging selten an dem jüdischen Friedhof vorbei. Nicht weil ich es nicht wollte, sondern weil ich da so selten vorbei kam. Und außerdem: Ein Friedhof wie alle anderen Friedhöfe der Stadt. Nur abgeriegelt und umzäunt. Keine Rarität. In den zwischen Palästinensern und Israeliten anhaltenden Auseinandersetzungen war ich eher in der Rolle des Zuschauers oder Betrachters. Ich ergriff keine Partei. Israel, ein Staat wie alle anderen Staaten der Erde. Palästinenser, ein Volk wie alle anderen Völker der Erde. Und sie hassen sich gegenseitig. Sie wünschen sich gegenseitig den Tod. Sie verfluchen sich jeden Tag auf das Neue gegenseitig. Aber ja. Die Welt ist nicht immer fair. Dieser Konflikt beschäftigte mich kaum. Ja überhaupt nicht. Irgendwo im Nahen Osten. Und ich? Ich bin in der Fremde. Irgendwo im Westen. Keine Zeit mich mit diesem Konflikt auseinanderzusetzen. Dass die Amis und die Russen ihre Finger darin haben, ahnte ich schon. Aber auch das war mir egal. Und überhaupt, wozu? Da war mir der Gang in die Kneipe am Wochenende doch wohl wichtiger. Null Lust auf Israel, null Bock auf die Palästinenser. Irgendwo gibt es immer Krieg. Und der zwischen Palästinensern und Israel scheint einfach nicht aufzuhören. Und ich? Was bitte soll ich machen?

Ich hatte in all den Jahren in Fremde nur zwei Juden kennengelernt. Der Levi und der Efraim. Ich verstand mich gut mit ihnen. Mit beiden hatte ich jahrelang zusammen gearbeitet. Es gab keine Differenzen. Bis beide aus der Gegend zogen. Auch Bekanntschaft mit Palästinensern hatte ich bereits gemacht. Mit Mustafa habe ich immer noch Kontakt. Guten Kontakt. Da beschäftigte mich der letzte Fang in der Kneipe am Samstagabend doch mehr als der kein Ende nehmende Krieg im Nahen Osten. Wie hieß sie noch? Keine Ahnung. Wozu sich auch an den Namen erinnern?

Kein Tag verging, ohne das ich ihn nicht geplant hätte. Alles lief in meinem Leben nach Plan. Die Kinder besuchten die Schule. Sie gingen in gute Schulen. Ich half bei den Hausaufgaben und betreute sie tagtäglich. Aber sie sprachen nicht ihre Muttersprachen, sondern immer die Sprache der Fremde. Sie feierten keine Feste oder heilige Nächte. Die Kinder waren gut in der Schule, aber alles andere schien irgendwie nicht wichtig zu sein. Warum fasten die Muslime? Warum schlachten sie ein Opfer? Sie wuchsen heran in der Fremde und wurden selber zu Fremden. Fremd zu der eigenen Kultur und fremd zu der eigenen Sprache. Sie lernten in der Schule auch noch Englisch und Französisch und Latein. Aber was war denn mit der eigenen Muttersprache? Keinen einzigen Satz konnten sie bauen. Ihr Wortschatz beinhaltete vielleicht zwanzig Ausdrücke und ein paar Sätze, die sie auswendig gelernt hatten. Ich fand das nicht schlimm. Ist doch alles in Ordnung. Schließlich brachten die Kinder nur gute Noten nach Hause. Die anderen Kinder, aus der Nachbarschaft, deren Eltern sich zum Islam bekannten, gingen in den Ferien in die Moschee und lernten ein paar Suren und ein paar Ayats. Und meine? Ich erzog meine Kinder so, dass keine Interesse an dem Islam entstand. Ich hatte ja auch keine Interesse. Und überhaupt, wozu brauchen sie in dem Alter schon eine Sure oder ein Ayat? Was sollen sie mit ihnen bloß anfangen? Ich kannte auch keine einzige Sure auswendig.

Ich kannte nur den Namen des Propheten und die Tatsache, dass er elf Frauen hatte. Irgendwie fand ich das gut. Denn welcher Mann würde nicht gerne im Besitz eines Harems sein? Immer die gleiche Frau ist doch langweilig. Ich liebe meine Kinder, will nicht, dass sie schon in den jungen Jahren mit finsteren Erzählungen durcheinander gebracht werden. Ich erzog sie schon ganz gut. Es war alles in Ordnung, dachte und sagte ich mir. Schließlich gingen von den vielen Klassenkameraden der Kinder auch beinahe kein einziger in die Kirche, um zu beten. Warum mussten denn meine Kinder in die Moschee gehen? Sie sollen nicht die düsteren Sprüche eines Arabers auswendig lernen. Brauchen sie nicht. Wenn sie aber alt genug sind, und dann aus eigener Initiative Interesse zeigen, wollte ich sie daran nicht hindern. Aber jetzt, wo ich das Kommando hatte, war Religionsunterricht nicht erforderlich. Sie sollten frei und unabhängig leben. Frei von allen Fesseln, frei von allen Handschellen, frei von allen religiösen Verpflichtungen. Meine Kinder sollten freidenkende Menschen sein. Sie sollten die Logik verstehen, sie sollten das Denken verstehen. Sie sollten aber nicht nach irgendwelchen Regeln leben, die vor 1500 Jahren von einem Mann aufgestellt wurden, der weder lesen noch schreiben konnte. Ich sah in den Medien den Zustand der Muslime überall auf der Welt. Und ich wollte nicht, dass meine Kinder das Gleiche durchmachen müssen. Nein, frei sollen sie aufwachsen. Frei von irgendwelchen Verpflichtungen. Ich wusste schon was ich tat. Ich wusste schon, wie ich meine Kinder großziehen musste. Wusste ich es? Aber wer weiss schon was?

Ich kannte zwei Systeme. Nämlich die des Heimatlandes und die des Gastlandes. In dem Heimatland hatte ich schon als Kind viel Prügel von den Lehrern kassiert. Und hier wurde ich schon als Kind Zeuge, wie ein Schüler dem Lehrer ins Gesicht spuckt, ohne dass er dafür verprügelt wird. So wuchs ich in einem Land auf, wo der Lehrer Angst vor dem Schüler hat. Ich fand das so krass. So widersprüchlich. Ich wuchs mit denen auf, ging zur Schule mit denen, studierte mit denen und färbte so ab, dass ich einer von denen wurde. Schon nach ein paar Jahren fing ich auch so oder so den Lehrern ins Gesicht zu spucken und hatte dabei keine Angst. Und ich hatte in meiner schulischen Laufbahn einige Dutzende Lehrer und Lehrerinnen.

So ergaben sich mit diesen bedauerlichen Kreaturen Gründe dafür. Nun, ich wuchs in einem Land auf, wo es einem Mädchen peinlich ist, mit vierzehn immer noch eine Jungfrau zu sein. Ich lernte schnell. Ich saugte in dem Gastland alles wie ein Schwamm auf. So wurde ich in all den Jahren ein Mann des Landes. Ein Mann des Systems. Begriffe wie Toleranz, Frieden, Menschenrechte, usw. prägte ich mir gut ein. Ich möchte nicht so viel von mir verraten. Auf jeden Fall nannte man Ausländer dieses Formats assimiliert. War ich assimiliert oder gut integriert? Keine Ahnung. Fakt ist, dass ich meine Wurzeln schon längst vergessen hatte. Ich war kein Einheimischer, lebte aber wie ein Einheimischer. Paradox. Dennoch war es so.

Da es inzwischen auch in war, einen Ohrring zu tragen, ließ ich mir die Ohrläppchen lochen und brachte dort die seltsamsten Ohrringe an. Die Haare ließ ich gerne wachsen. Auch lange Haare waren in. Ich sollte ja nicht so aussehen, wie einer von gestern. Anpassen an die Sitten des Gastlandes war wichtigstes Prinzip. Bloß nicht aus der Reihe tanzen. Denn mit denen, die aus der Reihe tanzen machen sie einen ganz schnellen und schmerzlosen Prozess. In dem überall gelobten Gastland. Irgendwo im Westen. Auch wenn es am Ende der Welt ist. Hauptsache es ist Westen. Nicht anpassen war nicht gut. Ich hatte schon einige Ausländer kennen gelernt, die aus der Reihe tanzten und früher oder später in der Gosse landeten.

So mussten die Ohrringe getragen werden. Es war einfach uncool hier keine Ohrringe zu tragen. Es herrschte die Meinung, das Ohrläppchen links zu lochen hieße, dass man schwul ist. Rechts dagegen auf Frauen steht. Ein paar Wochen später hörte ich das Gleiche noch einmal, doch in verkehrter Richtungen. Rechts schwul, links auf Frauen. Ich kam durcheinander und ließ mir beides lochen. Nach dreißig Jahren Aufenthalt im Gastland, irgendwo im Westen, glaubte ich nicht mehr an die Sitten und Bräuche meiner Eltern. Sie nämlich waren gegen die Aktion mit den Ohrringen. Aber nein. Ich glaubte inzwischen an die persönliche Freiheit mehr als an die Regeln meiner Eltern. Cool ist in. Und irgendwie wirkte ich auch mit meiner Art und Weise des Lebens und des Verhaltens cool. Meine Mitmenschen verhielten sich mir gegenüber eher wohlwollend. Ich hatte ja irgendwie auch alles im Griff. Das sahen die Nachbarn, die eher Einheimische waren. Keinem von ihnen kam es als peinlich vor, wenn ich in den Wochenenden betrunken stolpernd die Haustür versuchte minutenlang aufzuschließen. Bis das Licht anging und meine Frau die Tür öffnete. Nur meine Eltern fanden das peinlich und beschämend. Manchmal verhielten sie sich wie Bauern aus dem tiefsten Orient.

Die Ohrringe mussten sein. Ohne die Ohrringe wäre ich nur ein halber Mann. Man sah ich cool aus. War ich denn cool? Aber wer wusste schon was?

Als ich noch ein paar Jahre jünger war, fing ich an Rockmusik zu hören. Alles andere war Schrott. Rock war die Krönung der Musik. Ich hatte eine Sammlung mit mindestens 500 CD`s. Meist waren die CD`s gekauft oder vom Flohmarkt. Original. Es gab aber auch viele Raubkopien. Dass diese CD`s Raubkopien waren, störte mich nicht. Über die Musiker, die Popmusik machten, pflegte ich Bastarde zu sagen. Bei klassischer Musik fielen mir die Augen zu. Über Schlagermusik konnte ich nur lachen. Rock. Ich war, glaubte ich, ein Rocker in feinen Klamotten. Mick Jagger war mein Traum. Gelegentlich setzte ich meine Kopfhörer auf und machte lange Spaziergänge. Ich bekam nicht genug vom Rock. Und tätowierte Männer, die etwas abgebrannt aussahen, waren die Männer, denen ich alles zutraute. Selbst über Leichen gehen, wenn es die Situation erfordert. Dachte ich auch so? Was dachte ich? Wer weiß schon was?

Auch hörte ich, wenn ich zur Ruhe kommen wollte, Cat Stevens, der später zum Islam konvertierte. Ich hörte ihn gern, aber seine Entscheidung konnte ich nicht nachvollziehen. Wieso verlässt man den eigenen Glauben? Ich hörte ihn gern. Hatte aber keine Zeit über Cat Stevens und seine Entscheidung etwas mehr in Erfahrung zu bringen. Auch kein Interesse. Oder Muhammad Ali. Ich wusste sie waren zum Islam übergetreten, beschäftigte mich aber nicht damit. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich dagegen, als Muslim, hatte nicht vor in eine andere Religion überzutreten, hatte aber auch schon den Islam verlassen. Ich lebte in einem Land, wo die Menschen für Gott keine Zeit hatten. Gott ist out. Es lebe die Freiheit. Ein Mann des Landes, ein Mann des Staates, ein Mann des Volkes. Ich entsprach in keiner Weise einem Mann mit anderen Wurzeln und Werten. Ich lebte genauso wie die Menschen in diesem Land. Für die Musik der Heimat zeigte ich wenig Interesse. Das war doch nichts. Blechmusik. Ich war auch schon auf Konzerten von den Rolling Stones. Ich fand sie einfach göttlich. Sie waren die Krönung der Rockgeschichte. Ich hatte mich doch schon etwas von meinen Altersgenossen abgehoben. Eine ganz komische Figur, ich. Am liebsten hörte ich Rockmusik, wenn ich auf der Autobahn raste. Zündete mir dabei meinen Minijoint an und raste über die Fahrbahn. Richtung Amsterdam. Besuchte dort zuerst einen gemütlichen Coffeeshop und anschließend die Altstadt. Allen vor allem den Rotlichtbezirk. Vertrieb mir die Zeit mit den Kiffern und Nutten und fuhr am Abend wieder nach Hause. Ich glaubte, ein guter Autofahrer zu sein. Alkohol trank ich nicht beim Fahren. Aber eine lange Fahrt mit dem Auto, im Hintergrund die Rolling Stones und eine Jointtüte in der Hand. Und ich drückte gerne auf den Gaspedal. Unfall? Ich doch nicht. Unfall ist etwas für einen Amateur. Unfälle verursachen doch immer die Anderen. Ich aber war ein Profi. Glaubte ich. War ich das? Ich hatte viel Glück dabei und wurde kein einziges Mal von der Polizei angehalten. Überhaupt kam ich wegen eines Delikts mit der Polizei noch nie in Berührung. War das Glück oder konnte ich mich sehr gut tarnen?

Ich konnte kein einziges Kartenspiel mit Regeln. Daher zockte ich nicht. Ein Zocker war ich nicht. Ich konnte auch mit den Spielautomaten nicht umgehen. Also spielte ich mit diesen auch nicht. Ich fand aber die Atmosphäre und die Ambiente in den Zockerbuden und in den Spielhallen sehr reizend und ging daher in ihnen ein und aus. Trank meistens einen Kaffee und schaute zu, wie den Zockern der Schweiß die Stirn herunter läuft. War ich ein Krimineller?

Irgendwie hatten wir alle unsere kriminelle Energie in uns. Nur vielleicht waren sie bei mir etwas geprägter als der Rest. Ein Gesetzloser war ich nicht. Aber vor den meisten Gesetzen hatte ich einfach keinen Respekt. Ich hielt sie ein, um mir Ärger zu ersparen und nicht weil ich zu ihnen stand. Überzeugung aus der Not heraus. Ein Liebhaber Deutschland war ich gerade nicht und so richtig Respekt davor hatte ich auch nicht. Ich war aber auch kein Deutschlandhasser. Es gab Sachen, die fand ich toll und es gab Sachen, die verachtete ich. Ich wäre gerne in Neuseeland oder Australien oder Schweden. Deutschland? Na ja, wenn es anders nicht geht. Gut. Ich war schon fast in jeder Zockerbude in der Umgebung und in fast jeder Spielhalle. Ohne dabei auch ein einziges Mal gezockt zu haben. Ich sah den Zockern gerne zu. Und sah ihre Nervosität. Sie waren alle beladen und gestresst. Manchmal setzte ich mich einfach dazu, bestellte mir Kaffee und schaute stundenlang zu. Es hatte etwas, was mich reizte. Es war aber nicht das Zocken. Vielleicht das Ganze drum herum. Die Blicke der Zocker, ihre Gesichtszüge, ihr Verhalten beim Gewinn und beim Verlust. Meistens ging ich in die Zockerbuden von Ausländern. Arabern, Türken, Griechen, Albanern, Kurden.

Manchmal blieb ich bis in die Morgenstunden dort und sah, wie in einer Nacht 300.000 Euro über den Tisch wanderten. Wie einer in einer Nacht sein Haus verlor. Oder sein Wagen.

Irgendwie machte mir das auch Angst. In einer einzigen Nacht das Haus verlieren. Das war selbst für mich zu krass. Ich kannte Männer, die feuchte Hände bekamen, wenn sie in die Nähe eines Automaten kamen. Ich verkehrte mit Zockern, die selbst in ihren Träumen am Automaten und am Tisch zockten. Ganz seltsame Geschöpfe, ganz komische Typen, üble Wesen. Das alles war überhaupt nicht schlimm. Wieso auch? Aber was war denn überhaupt für mich schlimm? Nichts? Wusste ich es denn? Aber wer weiß schon was?