Der Tag, der nie kommt - Oliver Reps - E-Book

Der Tag, der nie kommt E-Book

Oliver Reps

0,0

Beschreibung

»Der Tag, der nie kommt« ist die Geschichte des 17jährigen filmbegeisterten Elias, der über sein Leben und die Ereignisse nachdenkt, die ihn in die Situation gebracht haben, in der er sich befindet. Über den letzten Sommer, seine Freundin Polly, die wie ein Engel vom Himmel fiel, über seine sehr besondere Schwester Evi. Und über die Dämonen in seinem Kopf. Es ist eine Geschichte, die immer wieder auf eine falsche Fährte führt. Man will's nicht glauben, dass das ein Erstling ist, so ausgebufft-souverän erzählt Reps. Ziemlich leise, was sehr stark im Kontrast mit der die Leser überrumpelnden Story steht. Du spürst von Anfang an, daß da irgendwas »im Busche« ist. Im Verlauf seines Romans legt Reps Fallsticke aus. Jetzt passiert's, denkst du. Aber denkste, irgendwas kommt immer anders. Und wenn du glaubst: Nun kann nix mehr passieren – dann knallt es. Hammerhart. Ausgezeichnet als BESTES JUGENDBUCH DES JAHRES in den Niederlanden! "Die Geschichte hält einen fest im Griff und führt uns bis zum atemberaubenden Ende, wonach man als Leser fassungslos bleibt.« (Jury Bestes Jugendbuch)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 199

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Verlag, Autor und Übersetzer danken der Niederländischen Kulturstiftung für die Förderung der Übersetzung sehr herzlich.

Das Buch wurde in den Niederlanden 2019 als

»Bestes Jugendbuch« ausgezeichnet.

© 2022 by 360 Grad Verlag GmbH

Lindenstraße 23, D-69181 Leimen

www.360grad-verlag.de

www.facebook.de/360GradVerlag

www.instagram.com/360gradverlag_bestbooks

Das Original erschien in niederländischer Sprache

mit dem Titel »De dag die nooit komt« bei Uitgeverij De Harmonie, Amsterdam, 2018

© 2018 Oliver Reps

Für die deutsche Ausgabe vom Autor bearbeiteter Text.

Cover: Ria Raven

Satz und eBook-Konvertierung: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96185-902-3

Inhalt

Titel

Impressum

Widmung

Die Rote oder die Blaue?

Elias

Evi

Polly

Bis es aufhört

Der Autor

Leseprobe Extravagant – Mond oder Sonne

Anzeige Extravagant – Mond oder Sonne

Für meinen Vater

Die Rote oder die Blaue?

»Die Rote natürlich.«

»Warum die Rote?«

»Weil es keine Wahl gibt.«

»Wieso keine Wahl? Du kannst doch die Blaue nehmen?«

»Das ist keine Wahl. Keine wirkliche.«

Wir guckten uns den ersten Teil von The Matrix an, den Science-Fiction-Film mit Keanu Reeves, Polly und ich, im Juli vergangenen Jahres, in meinem Zimmer, auf meinem Bett, mit Kissen im Rücken an der Wand.

Sie hatte den Film noch nie gesehen, ich bestimmt schon vier oder fünf Mal.

Keanu sitzt am Computer, an einem Schreibtisch in einem riesigen Groß­raum­büro, und überall um ihn herum sind Menschen, und alles ist grau. Doch dann stellt sich heraus, dass nichts davon stimmt, weil alles gefakt ist, es gibt überhaupt kein Großraumbüro, und auch all diese Menschen existieren nicht, weil alles, was Keanu sieht, hört, fühlt, riecht und schmeckt, nur eine Illusion ist. Ein Traum. Programmiert von den Maschinen in seinem Kopf. Denn irgendwann einmal hat es einen Krieg zwischen Menschen und Maschinen gegeben, und die Maschinen hatten gewonnen, woraufhin die Menschen in Kokons gesteckt und in Schlaf versetzt wurden. In ein Koma. Tausende und Abertausende von schleimigen Kokons neben­einander, über­einander, in riesigen Fabrikhallen, in endlosen Reihen, der reinste Horror, eine regelrechte Hölle. Und in einem dieser Kokons ist Keanu, und während er von seinem Großraumbüro träumt, saugen sie ihn wie Vampire aus, zapfen sie ihm mit kleinen Schläuchen wie umgekehrte Nabelschnüre all seine Energie aus dem Körper.

Doch eines Tages wird Keanu von einer Gruppe Rebellen, so was wie die letzten freien Menschen auf der Erde, aus seinem Kokon befreit, weil sie glauben, er sei der Auserwählte. Der, der die Menschheit von den bösartigen Maschinen befreien kann, wie ein uraltes Orakel einst prophezeit hat. Sie nehmen ihn mit auf ihre Wider­stands­basis, ein Raumschiff, das tief in der Erde steckt, und wecken ihn dort aus seinem Schlaf und seinem Traum. Sie erzählen ihm von dem verlorenen Krieg, den Maschinen, den Kokons, den Träumen und allem anderen und lassen ihn zwischen zwei Pillen wie Aspirintabletten wählen, einer roten und einer blauen. Wenn er die rote nimmt, wird er einer der Rebellen und kämpft gegen die Maschinen. Nimmt er aber die blaue, kehrt er in seinen Traum zurück, und alles wird wieder, wie es war, als wäre nichts geschehen.

Und da fragte mich Polly, welche Pille ich nehmen würde. Die rote natürlich, sagte ich. Nicht, weil ich unbedingt ein Held sein will, ganz im Gegenteil, dafür bin ich auch überhaupt nicht der Typ. Ich würde die rote wählen, weil es keine Alternative gibt. Denn Blau bedeutet ein Leben an einem grauen Schreibtisch, an einem grauen Computer in einem grauen Großraumbüro, und alles ist besser als das.

»Verstehst du?«

Polly verstand es.

Aber ich war noch nicht fertig und sagte, dass ich es seltsam fände, dass die Maschinen keinen Traum programmiert hatten, der es wert war, geträumt zu werden. Ein Als-ob-Leben, das aber trotzdem was zu bieten hätte.

»Warum ein Großraumbüro? Warum alles so grau?«

Wenn sie in der Lage sind, sich Großraumbüros auszudenken, dann hätten sie sich auch was Besseres einfallen lassen können, dann hätte Keanu sicher die blaue Pille genommen und wäre mit Vergnügen in seinen Traum zurückgekehrt, und schon hätten die Rebellen keine Chance gehabt. Ich sagte, dass es eher danach aussähe, als hätten die Maschinen ihre Widersacher absichtlich zum Leben erweckt. Vielleicht aus Langeweile, um überhaupt noch irgendetwas zu tun zu haben. Genauso wie Gott den Teufel erschaffen hat, zur Abwechslung, um noch ein bisschen Farbe in sein Dasein zu bringen, das hatte Henry gesagt, als wir uns einmal darüber unterhielten. Denn nichts ist so tödlich wie Langeweile, und die meisten Kriege, meinte Henry, würden aus purer Langeweile begonnen.

Wie auch immer.

Ich sagte Polly, dass sie es genau umgedreht hätten machen müssen. Dass sie einen Film hätten drehen sollen über einen Mann, der das Böse bekämpft, einen Psychopathen, ein tödliches Virus, eine Naturkatastrophe oder so was. Einen Helden wider Willen. Und dann zusammen mit Scarlett Johansson.

»Scarlett Johansson? Warum Scarlett Johansson?«

»Emma Watson vielleicht?«

Also der Mann und Scarlett oder Emma besiegen das Böse und verlieben sich schließlich, wie es eben so passiert, aber dann stellt sich heraus, dass alles fake und bloß ein Traum gewesen ist. Denn es gibt nichts Böses zu bekämpfen, und es gibt auch keine Scarlett oder Emma, und der Mann ist kein Held, denn er liegt einfach nur in einem Bett, in einem Zimmer, in einem Krankenhaus, im Koma. Mit einer ganzen Batterie summender, piepsender, blinkender Apparate um ihn herum, die seine Atmung, seinen Herzschlag, seinen Blutdruck, seine Hirntätigkeit und was weiß ich noch alles messen, und Ärzte in weißen Kitteln gehen rein und raus.

Dann sieht man ihn in einer Rückblende auf der Dachkante eines Gebäudes mit zehn oder mehr Stockwerken stehen. Immer wieder verlagert er sein Gewicht vom linken aufs rechte Bein, er schaut nach unten, zu den vorbeifahrenden Autos, zu den Leuten auf dem Bürgersteig. Er hat Angst. Was soll er tun? Er sieht sich selbst am Schreibtisch in diesem riesigen Großraumbüro einer Versicherungsgesellschaft sitzen. Ohne Ende tippt er Zahlen in den Computer, jeden Tag achteinhalb Stunden lang und jeden Tag wieder aufs Neue, und er fragt sich, wie um Himmels willen er ausgerechnet da gelandet ist. Seine Frau ist fürchterlich, und seine beiden Kinder sind völlig von der Rolle und hassen ihn, sein Leben ist die reinste Hölle, und alles, wovon er einst geträumt hat, ist schiefgegangen. Deshalb springt er, und eigentlich müsste er mausetot sein, aber wie durch ein Wunder überlebt er den Sturz und wird in rasendem Tempo mit Blaulicht und Sirenen ins Krankenhaus gefahren.

Da liegt er nun schwer verletzt im Bett, im künstlichen Koma, damit sein Kopf und sein Körper zur Ruhe kommen. Wochen, vielleicht auch Monate vergehen, und während sich sein Körper langsam erholt, kämpft er in Gedanken mit Scarlett oder Emma gegen das Böse, auf seinem Gesicht ist ein seltsam beseelter Glücksausdruck zu erkennen, und die Ärzte rätseln, warum er denn so zufrieden dreinschaut. Dann kommt der Tag, an dem sie ihn aus dem Koma holen wollen, der Tag, auf den die Ärzte die ganze Zeit hingearbeitet haben, und sie stehen alle um das Bett herum, auch seine Frau und seine Kinder sind da. Und du sitzt im Kino und siehst eine Nah­auf­nahme von seinem Gesicht, seine Augen sind noch geschlossen, aber gleich wird er sie aufschlagen, und das Einzige, woran du denken kannst, ist: Tut es nicht, lasst ihn schlafen, lasst ihn träumen, lasst ihn nie wieder aufwachen. Alles ist besser, als aufzuwachen.

Aber sie tun es trotzdem, denn sie haben keine Ahnung.

So etwas habe ich gesagt, als wir an diesem Nachmittag auf meinem Bett saßen und uns The Matrix anschauten.

»Du bist ziemlich irre, weißt du das?«, sagte Polly.

»Würdest du diesen Mann denn aus dem Koma holen?«

Sie wich meiner Frage aus und meinte, dass das vor allem eine hypothetische Frage sei, eher ein Gedankenexperiment als Realität, weil man sich seine Träume nicht aussuchen könne. Nicht nachts im Bett, und schon gar nicht, wenn man im Kranken­haus im Koma liegt.

»Vielleicht landest du tatsächlich in einem Albtraum, in einem Großraumbüro zum Beispiel, wie dieser Typ bei The Matrix.«

»Jetzt noch, ja«, erwiderte ich, »aber das wird sich ändern, denn sie wissen immer besser über dein Gehirn Bescheid, wie es funktioniert, wie man deine Gedanken, deine Gefühle, deine Träume mit Mikrochips im Kopf manipulieren kann. Der richtige Strom­stoß an der richtigen Stelle, die passende chemische Reaktion im rechten Moment, es ist nur eine Frage der Zeit, und dann können sie es. Zehn Jahre, maximal zwanzig, dann kannst du dir deine Träume aussuchen.«

Polly sah mich nur noch kopfschüttelnd an.

»Stell dir vor, du könntest den Rest deines Lebens träumen«, fuhr ich fort, »und nimm mal an, dass dein Leben damit ein bisschen schöner würde, tätest du es dann auch?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Da kannst du auch gleich tot sein.«

Polly war plötzlich ganz ernst geworden, aber irgendwie hatte ich das nicht mitgekriegt.

»Wieso?«, fragte ich. Denn wenn man weiter darüber nachdenkt, fällt einem kein Grund ein, es nicht zu tun. Und während ich so redete, sah ich, wie sich Pollys Gesichts­ausdruck allmählich veränderte, plötzlich reagierte sie gereizt auf alles, was ich sagte, die anfängliche Leichtigkeit des Gesprächs war ganz und gar weg, und das wollte ich nicht, das hatte ich so nicht beabsichtigt. Es war ein schöner Nachmittag, wir saßen auf dem Bett und sahen uns einen klasse Film an, es war prima, und so sollte es auch bleiben.

»Sorry, ich hab mich da reingesteigert«, sagte ich, »aber ich frage mich solche Sachen manchmal.«

»Daran ist auch nichts auszusetzen«, antwortete sie frostig, »deine Frage ist sogar berechtigt, nur die Art und Weise, wie du darüber sprichst, geht mir auf den Keks. Als ob alles ein einziger großer Witz wäre, obwohl überhaupt nichts Lustiges dran ist. Im Gegenteil, ich finde es gruselig.«

»Ich auch«, sagte ich.

Und das stimmte, Polly hatte völlig recht, die Idee ist gruselig, unheimlich sogar. Aber mit Polly zu reden, war immer schön. Oft schien es überhaupt um nichts zu gehen, und doch ging es um alles.

Elias

Es ist Viertel vor eins in der Nacht, ich bin in Evis Zimmer und sitze auf ihrer Bettkante. Ich sehe, wie sie schläft, wie sie atmet, ganz leicht, ein und aus, die Decke bewegt sich im festen Rhythmus sanft auf und ab. Es ist beinahe Vollmond, die Vorhänge sind halb offen und der Raum ist in einen kalten silbernen Schimmer getaucht. Ich ziehe die Decke noch einmal richtig über mein Schwesterchen und streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Alles fühlt sich wie ein schlechter Traum an, aus dem ich hoffentlich bald erwachen werde. Aber das wird nicht passieren, da bin ich mir ganz sicher, und wenn ich mir deshalb tausendmal in den Arm kneife.

Ich stehe auf und will aus dem Zimmer schleichen, aber an der Tür fällt mein Blick auf ein Foto von Polly und Evi, das mit Reißzwecken an einer Pinnwand zwischen vielen anderen Bildern befestigt ist. Vorsichtig mache ich es ab und halte es ins Mondlicht. Polly liegt in ihrem gelben Bikini bäuchlings auf dem Handtuch und sonnt sich in unserem Garten. Evi mit ihrem schwarzen Bikini hockt auf den Knien daneben und schmiert ihr den Rücken mit Sonnencreme ein. Im Gras liegt das Buch, das Polly liest und das sie tags zuvor in der Bibliothek ausgeliehen hat. Als sie es später am Tag aus hatte, gab sie es mir, es war nicht dick, an die hundert Seiten vielleicht, eigentlich eher eine lange Erzählung als ein Roman, und Polly las schnell. Viel schneller als ich, der auf Wörtern und Sätzen unendlich lange herumkauen und -schmecken kann.

»Das musst du lesen«, hatte Polly gesagt, wie sie öfter über Dinge sprach, die ich tun, sehen oder lesen müsste, wenn sie selbst davon begeistert war. So auch dieses Buch, dessen Titel ich vergessen habe, aber es handelt von einem Mann, der irgendwo in Amerika in einer trostlosen Gegend eine riesige eiserne Eisenbahnbrücke anstreicht. Ganz alleine, sein Leben lang, denn wenn er auf der einen Seite fertig ist, muss er auf der anderen Seite wieder von vorn anfangen. Und während er pinselt, blickt er über das Wasser und über das Land, er schaut auf die Berge in der Ferne, sieht, wie die Schiffe und Züge vorbeifahren, und inzwischen philosophiert er munter drauflos. Darüber, wie sich alles im Kreis dreht, wie sich alles wiederholt und sich nie wirklich etwas ändert. Ich weiß noch genau, wie Polly mich gebeten hat, ihr den Rücken einzucremen, aber Evi, die in der Nähe war, hatte es auch gehört.

»Lass mich das mal machen, das kann ich viel besser«, sagte sie.

Schnell grapschte sie mir die Sonnencreme vor der Nase weg, ging neben Polly in die Knie und begann, sie einzuschmieren. Da habe ich das Foto geschossen, ihr Rücken glänzt noch immer von der noch nicht ganz verriebenen Creme.

Ich piekse das Foto wieder an die Pinnwand und schaue mich noch einmal nach Evi um, dann schleiche ich mich aus dem Zimmer und ziehe die Tür sacht hinter mir zu. Ich schaue bei meinen Eltern vorbei, auch sie schlafen, alles ist ruhig, alles ist, wie es sein soll. Ich weiß nicht genau, wie lange es noch dauern wird, nach meiner Schätzung mindestens noch ein paar Stunden.

Heute Nachmittag hatte ich M&M’s für Evi mitgebracht, sie hatte auf der Couch gesessen und mich kaum angesehen, als ich ins Wohnzimmer kam, ihre Augen waren auf den Fernseher fixiert wie eigentlich immer. Sie sah einen Zeichentrickfilm mit Tom & Jerry, den mein Vater oder meine Mutter ihr angestellt hatte. Ich setzte mich neben sie und hielt ihr ein Schälchen M&M’s unter die Nase.

»Für dich«, sagte ich.

Erst da schaute sie auf.

»Dein Lieblingszeug«, fuhr ich fort.

Sie schaute mit glasigem Blick auf die M&M’s, die sie zunächst kaum zu interessieren schienen. Aber dann machte sie ein paar undeutliche Geräusche und begann, wie ein schlecht programmierter Roboter die bunten Schokoladenkugeln zusammenzugrapschen, und die meisten rollten auf die Couch und auf den Boden. Weil die Verbindungsstränge zwischen Evis Gehirn und ihren Armen und Händen nicht mehr so funktionieren, wie sie sollten. Genauso wie die zu ihren Beinen, ihren Füßen, dem ganzen Körper eigentlich, nichts funktioniert mehr. Ich hob die Kügelchen auf und steckte sie ihr in den Mund, eine nach der anderen, als ob ich ein kleines, krankes Vögelchen fütterte. Ich glaube, dass sie die M&M’s lecker fand, aber sie rührte sie nicht mehr an, bis ich ihr das Schälchen wieder vor die Nase hielt.

»Nimm noch ein paar M&M’s«, sagte ich.

Sie hatte sie längst vergessen.

Das war also heute Nachmittag, und jetzt ist es mitten in der Nacht, und ich bin wieder in meinem Zimmer und rauche eine Zigarette, es sind noch neun in meiner Packung, das sollte reichen, um über den Rest der Nacht zu kommen. Elliott Smith läuft, leise höre ich sein Gitarrengeklimper im Hintergrund, seine Stimme ist zer­brech­lich wie Glas. Elliott war ein Singer-Songwriter, und ich war sofort hin und weg, als ich ihn zum ersten Mal im Soundtrack von Good Will Hunting hörte. Manchmal spiele ich seine Lieder auf der Gitarre, wie Between The Bars oder Waltz #2. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass sie untersucht haben, wie alt jemand sein muss, um die Texte von Mainstream-Popsongs zu verstehen. Und nachdem sie Abertausende analysiert hatten, stellte sich heraus, dass das Alter jedes Jahr ein bisschen herunter­ging; die Schlussfolgerung lautete, dass die Texte immer simpler werden und dass wir in diesem Moment auf dem Niveau eines Sechs- oder Siebenjährigen angelangt sind. Und vielleicht ist das der Grund, warum Elliott es in den Charts nie weit gebracht hat, seine Lieder sind schlichtweg nicht simpel genug.

Wie auch immer, Elliott ist tot. 2003 hat er sich umgebracht. Und ich wäre auch gerne Singer-Songwriter geworden, ich habe sogar ein paar Nummern geschrieben; manchmal habe ich sie auf der Gitarre für Evi gespielt und dazu gesungen. Darüber musste sie dann vor allem laut lachen, sie sagte, dass ihr meine Lieder zwar gefielen, meine Stimme aber piepsig wie die einer Maus klinge. Und ich fürchte, sie hat damit recht. Meine Stimme klingt ganz normal, schätze ich mal, aber wenn ich singe, geht sie gleich eine ganze Oktave in die Höhe. Und wegen eines Unfalls fehlt mir die Spitze meines linken kleinen Fingers, das ist ein ziemliches Handicap, wenn man zum Beispiel Barré-Akkorde spielen will. Ich war noch keine anderthalb Jahre alt und bin über den Küchenfußboden gekrochen, während mein Vater mit dem Abendessen beschäftigt war, irgendetwas mit einem großen Stück Fleisch. Das Messer rutschte ihm genau in dem Augenblick aus den Händen, als ich an seinen Füßen lang krabbelte.

»Du kannst von Glück reden«, hat mir mal jemand gesagt, »genauso gut hätte die ganze Hand ab sein können.«

Oder der Arm.

Oder schlimmer.

Er hat recht, schlimmer kann’s immer kommen.

*

Evi mit der Blockflöte zu Hause bei uns im Wohnzimmer vor sieben Jahren. Es ist einer der schönsten Filme, die ich von ihr aus der Zeit habe, als sie noch klein war. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und schaut zu, während mein Vater, der damals noch einen Schnurrbart trug, Evi eine Blockflöte in die Hand drückt. Er versucht, ihr zu erklären, wie man auf einem solchen Instrument spielt: mit den Fingern auf den Löchern und dann blasen. Aber Evi legt gleich los und bläst ihm direkt ins Ohr, so derb sie nur kann, mein Vater erschreckt sich zu Tode, und Evi lacht und streckt die Zunge raus.

In die Kamera.

Zu mir.

Ihr fehlen zwei Zähne, das sieht sehr lustig aus, sie war damals vielleicht fünf und ich neun oder zehn, und alles war noch gut.

Ein anderer Film, ungefähr sechs Jahre später, Evi mit Polly in ihrem Zimmer, auf dem Bett, mit einem Schminkkästchen auf dem Schoß. Sie malen sich gegenseitig an, alles ist todernst, und ich frage, ob wir vielleicht Karneval haben.

»Hau ab!«, knurrt Evi.

Weil ich doch nur im Weg stehe und blöde Witze mache. Evi hat knallrote Lippen, ihre Augen sind violett und die Wangen rosa, sie sieht aus wie ein Clown. Polly versucht, sich das Lachen zu verbeißen, aber das gelingt ihr nicht so ganz.

Dieser Film ist vom letzten Juni, vom Beginn des Sommers, und jetzt haben wir März, neun Monate später, und draußen ist es kalt. Ich schaue zum Mond am Himmel, zu den Bäumen auf der Straße, zu den Häusern auf der anderen Straßenseite. Alles ist ruhig, alle schlafen. Vielleicht wird es sogar noch schneien, das haben sie heute Nachmittag im Fernsehen gesagt.

»Dann können wir morgen eine Schneeballschlacht machen«, sagte ich Evi, das Schälchen mit den M&M’s zwischen uns. Sie hat nicht reagiert, und es war auch egal, denn meine Bemerkung hatte sowieso keinen Sinn. Aber das war keine Absicht, es ist mir einfach so rausgerutscht, ich habe nicht darüber nachgedacht. Oft weiß ich nicht, was ich Evi sagen soll, und deshalb sage ich halt irgendwas.

*

Vor ein paar Jahren ist ein Mädchen von meiner Schule totgefahren worden. Es passierte im Herbst, Laura radelte gerade von der Schule nach Hause, als ein Lkw rechts abbog. Der Fahrer hat sie nicht gesehen, und am nächsten Tag war die Kreuzung, an der es geschehen war, ein einziges Blumenmeer. Jeden Tag wurden es mehr, ich habe auch Blumen hingelegt, spät am Abend, als es schon dunkel war. Ich bin bei der Beerdigung gewesen, obwohl ich Laura nicht mal kannte, nicht gut jedenfalls, aber ich wusste, wer sie war, denn sie war eine Klasse unter mir, und unsere Schule ist nicht groß. Es war schwarz vor Menschen, denn Laura war beliebt, und es wurde viel geweint. Von Weitem sah ich Lauras Familie um das Grab stehen, und ich konnte meinen Blick nicht von ihrer jüngeren Schwester abwenden, sie stand da wie ein Zombie und muss nun den Verlust ihrer großen Schwester für den Rest ihres Lebens mit sich herumtragen. Wie eine Narbe, die höchstens ein bisschen verblasst, aber nie ganz verschwindet. Einsam stand sie da, eingekeilt zwischen ihren Eltern.

»Es ist schrecklich, wenn so etwas passiert«, sagte Henry, als ich ihm das erzählte, »aber man muss weitermachen, denn man hat keine andere Wahl.«

»Ja«, sagte ich, »man muss weitermachen, denn man hat keine andere Wahl.« Wie ein Papagei, es war nicht einmal zynisch gemeint, und was hätte man sonst dazu sagen sollen? Weitermachen oder aufhören, das sind die beiden Optionen, die man hat, und aufhören funktioniert hauptsächlich theoretisch, und deshalb hatte Henry vollkommen recht. Wie so oft, eigentlich immer. Evi wollte mit zur Beerdigung gehen, obwohl sie Laura noch weniger kannte als ich. In Wahrheit kannte sie Laura überhaupt nicht, denn Evi ging auf eine andere Schule, ich habe es ihr ausgeredet, und im Nachhinein weiß ich nicht mehr so recht, warum, ich denke, ich hätte sie einfach mitnehmen sollen. Als ich am Mittag wieder nach Hause kam, musste ich ihr alles haarklein erzählen, denn sie wollte alles wissen. Ich erzählte ihr von der Predigt, der Schwester und wie Lauras Vater mitten in seiner Rede plötzlich ins Stocken kam, zu schluchzen anfing und seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich erzählte von Lauras Mutter, die ein Gedicht vortrug, und dass ihre beste Freundin ein Lied gesungen und sich selbst auf der Gitarre begleitet hatte. Ich berichtete von dem Holzsarg und den Blumen, die darum drapiert waren, und dass sie Halo von Beyoncé gespielt hatten, weil Beyoncé Lauras Lieblingssängerin und Halo ihr Lieblingslied gewesen ist. Als das Lied aus war, gab es eine lange Stille, in der man nur das Schluchzen der Menschen hörte. Evi lauschte aufmerksam auf alles, was ich sagte, und nickte ab und zu.

»Waren sie alle in Schwarz?«, fragte sie. Denn nach Evis Auffassung muss man schwarz gekleidet zu einer Beerdigung gehen, solche Dinge sieht sie ziemlich konventionell. Aber einige Leute hatten helle Sachen getragen, und ich weiß, dass es Kulturen gibt, in denen so was normal ist, wo ein Begräbnis eine merkwürdige Art Party ist, weil der Tote an einen besseren Ort geht. Davon verstand Evi auf jeden Fall nichts.

»Es ist doch keine Hochzeit«, sagte sie.

Ich hatte eine schwarze Hose an, ein weißes Hemd und ein schwarzes Jackett. Ich hatte ein paar Fotos gemacht und ein kurzes Video gedreht, das ich Evi zeigte, sie hatte extra darum gebeten, und ich hatte es ihr versprochen, aber das hätte ich besser nicht tun sollen, denn ich fühlte mich ekelhaft, als ich während der Beerdigung anfing, Fotos zu schießen. Mit erhobener Hand wie ein Möchtegern-Paparazzo, aber ich wollte Evi nicht enttäuschen, weil ich wusste, dass sie fest damit rechnete. Und ich war längst nicht der Einzige, der das tat, denn Handys wurden haufenweise hochgehalten, und ich schätze, dass Laura nie öfter gefilmt worden ist als damals, es war ein richtiges Spektakel, traurige fifteen minutes of fame, man kann das alles auf YouTube ansehen, weil es jemand online gestellt hat. Es ist krank.

»Was glaubst du, wo Laura jetzt ist?«, fragte Evi und kaute auf einem Gummi­bärchen herum, neben M&M’s ihre Lieblingsnascherei. Früher.

»Wo Laura jetzt ist?«, wiederholte ich ihre Frage, um Zeit zu schinden, weil ich nicht so ohne Weiteres eine Antwort aus dem Ärmel schütteln konnte. Aber ich hätte so etwas erwarten müssen, denn Evi war damals in einer übergangsweisen Gothic-Phase und las Bücher von Edgar Allan Poe, die sie sich aus der Bibliothek holte. Eines Abends kam sie zum Abendessen herunter und war ganz in Schwarz gekleidet. Schwarzes T-Shirt, schwarze Strickjacke, schwarze Hose, Socken und Schuhe, alles, ich wusste überhaupt nicht, dass sie so viel schwarze Sachen hatte. Sie hatte sogar ihre Haare schwarz gefärbt, obwohl sie von Natur blond ist, sie war damals gerade mal zehn. Wir sahen sie etwas befremdet an, und Evi tat so, als wäre alles ganz normal, als müsste alles genauso sein.

»Was guckt ihr so?«, fragte sie ziemlich erstaunt.