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»[Sie] ist nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, törichte Seligkeit«. Thomas Mann spart hier nicht mit Lob und findet in seiner Besprechung ganz besondere, poetische Worte für die »wundersam hoch und frei und lieblich erträumte Novelle, die wir alle in unserer Jugend gelesen haben«. Längst war das Werk Joseph von Eichendorffs, ›Aus dem Leben eines Taugenichts‹, in den klassischen Literaturkanon eingegangen. Mann äußerte sich dazu, nachdem im Verlag Hans von Webers eine bibliophile Neuausgabe erschienen war, ausgestattet mit Illustrationen von Emil Preetorius, dessen Arbeit Mann schätzte und der auch einige seiner Bücher gestaltet hatte. Der Text, der im November 1916 in der Neuen Rundschau erschien, diente Mann zudem als Vorbereitung für den wichtigen Essay ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹, welcher 1918 erschien. Insbesondere bei Vertretern des linken politischen Spektrums rief der Text Protest hervor.
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Seitenzahl: 32
Thomas Mann
Der Taugenichts
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
In einem Augenblick, wo literarische Aktivistentugendhaftigkeit ihre rhetorisch geschulte Stimme mit den Stimmen jener Exzedenten der Staatsfrömmigkeit vereinigt, welche kategorisch dafür halten, daß das Menschliche dazu da sei, organisiert, restlos organisiert und sozialisiert zu werden und im Staatlich-Gesellschaftlichen unbedingt aufzugehen, – in einem solchen Augenblick mag es sehr frech, sehr zigeunerhaft oder sehr – bürgerlich scheinen (der Unterschied ist heute so groß nicht, als man denken sollte, und war es niemals), von einem deutschen Buche zu sprechen und es mit Nachdruck als deutsch, auch noch als deutsch zu bezeichnen, das der politischen Tugend in einem wahrhaft liederlichen Grade enträt: nämlich so, daß es nicht nur nichts davon wissen will (das wäre noch keine Willenlosigkeit), sondern tatsächlich rein gar nichts davon weiß und sich also auf eine heute schlechthin verblüffende Weise im Stande politischer Unschuld und Ruchlosigkeit befindet: ich meine den »Taugenichts«, Joseph von Eichendorffs wundersam hoch und frei und lieblich erträumte Novelle, die wir alle in unserer Jugend gelesen haben, und von der uns allen all die Zeit her ein feiner Saitenschlag und Glockenklang im Herzen nachgeschwungen hat.
»Aus dem Leben eines Taugenichts« … Weiß man noch? Und möchte man die holde Erinnerung nicht einmal auffrischen, gerade und trotzigerweise jetzt die schwebende, klingende Geschichte wieder lesen, die, als wir sie vordem lasen, vielleicht ein zerschlissenes Fetzchen mit Eselsohren war und unterdessen zum vornehmsten Buchwerk geworden ist: solennen Formats, gedruckt in klaren und großen deutschen Lettern auf schönes, starkes Papier und obendrein geschmückt mit Zeich{152}nungen von einem wunderlich anachronistisch wirkenden, genialen kleinen Herrn mit dem romantisch-vorpolitischen Namen Preetorius? So nämlich ist sie kürzlich, mitten im Kriege, wieder erschienen: als »Sechster Hyperiondruck« in Hans von Webers Verlag; und als sie kam und vor mir lag, wußte ich gleich, daß ich eine Buchanzeige schreiben und auf die außerordentliche bibliophile Ehrung hinweisen wollte, die ausgemacht jetzt dem alten »Taugenichts« zuteil geworden. Denn die Sendung paßte, wie das ja geheimnisvollerweise öfters zu gehen pflegt, genau in den Gedankengang, den ich eben verfolge, und das Nachdruckswort im Titel wurde mir in dem Augenblick, wo ich es wiedersah, zum Symbol und Inbegriff für vieles, was mir am Herzen liegt, und was zu entwickeln und in treffende Worte zu fassen derzeit meine Aufgabe ist …
Es hat doch wohl keinen Sinn, daß ich die Fabel rekapituliere? Sie anspruchslos zu nennen, wäre schon zu viel gesagt. Sie ist – die reine ironische Spielerei, und der Verfasser selbst macht sich darüber lustig, indem er gegen den Schluß jemanden sagen läßt: »Also zum Schluß, wie sich’s von selbst versteht und einem wohlerzogenen Romane gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhnung, wir sind alle wieder lustig beisammen, und übermorgen ist Hochzeit!« Aber der Roman ist nichts weniger als wohlerzogen, er entbehrt jedes soliden Schwergewichts, jedes psychologischen Ehrgeizes, jedes sozialkritischen Willens und jeder intellektuellen Zucht; er ist nichts als Traum, Musik, Gehenlassen, ziehender Posthornklang, Fernweh, Heimweh, Leuchtkugelfall auf nächtlichen Park, törichte Seligkeit, so daß einem die Ohren klingen und der Kopf summt vor poetischer Verzauberung und Verwirrung. Aber er ist auch Volkstanz im Sonntagsputz und wandernde Leierkasten, ein deutsch-romantisch gesehenes Künstler-Italien, fröhliche Schiffahrt einen schönen Fluß hinab, während die Abendsonne Wälder {153}