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Die Braut des jungen Modeschöpfers Manuel Graf stirbt am Tag der Hochzeit, nachdem sie von einem Autoraser niedergestoßen wird. Als Manuel wenige Monate nach dem Unglück seine blutjunge Sekretärin heiratet, ist nicht nur Bea, die jüngere Schwester der Braut fassungslos. Jahrzehnte später lichten sich die Nebel und demaskieren einen Teufel in Menschengestalt. Aber wie konnte es so weit kommen? „Der Teufel und die Liebe“ erzählt die Lebensgeschichte eines tragischen Helden und besteht aus den sich ergänzenden Romanen „Der Tod der Braut“ sowie „Der Mörder und die Wildrose“. **„Der Tod der Braut“ spielt in Wien: Eine Frau wird mit aufgeschnittener Kehle gefunden. Wer ist aber das Opfer und was sind die Hintergründe dieser grausamen Bluttat? **„Der Mörder und die Wildrose“ spielt im südlichen Bayern und liefert Antworten, geht zurück in die Kindheit und Jugend einiger Protagonisten: Als auf Schloss Stollenberg zwei junge Frauen ermordet werden, geraten die Söhne des alten Barons, der 25-jährige Philipp und der 23-jährige Stefan ins Visier der polizeilichen Ermittlungen.
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Goldenes Wiener Herz Juni 2018
Großer Fehler Juni 2018
Die weiße Rose 15. Mai 1995
Einfach so? Juni 2018
Endloser Schmerz 1995
Zu Höherem geboren Juni 2018
Mach es! 14. Mai 1995
Starker Auftritt Juni 2018
Grüne Augen 1998
Mörderische Kieselsteine Juni 2018
Teamarbeit Juni 2018
Problemlösung 1994
Das Bächlein Juni 2018
Otello 1995
Oberflächliches Ungeheuer Juni 2018
Ameisen im Stechschritt 2002
Heidelbeeren Juni 2018
Samenkorn Mai 2015
Suchtrupp Juni 2018
Zusammengekrachtes Weltbild Juni 2018
Aufgeschnittene Kehle Juni 2018
Bereust du es? 2002
Die Kinder noch einmal Juni 2018
Der Teufel Juni 2018
Kein Wunschkonzert Juni 2018
Die Wildkatze Juni 2018
Der Zauberlehrling Juni 2018
Übertreibungen Juni 2018
Lange Geschichte Juni 2018
Sirenen Juni 2018
Die Hochschaubahn 2010
Nicht verlieren Juni 2018
Weniger als fünfzig Prozent Juni 2018
Ich weiß Juni 2018
Überwachungskamera Juni 2018
Das ganze Programm September 2018
Kartoffelknödel Oktober 2018
Kopfsprung November 2018
Meer voll Tränen November 2018
Walzer Mai 2019
Buch 2 Der Mörder und die Wildrose
Prolog
Das Kätzchen August 1981
Wildrose in der Hand 6. Oktober 2018
Der Wunschbrunnen Juli 1986
Gut, wir kommen Oktober 2018
Der Junker
Wem es beliebt Oktober 2018
Sie ist da, oder nicht Sommer 1988
Kann ich mich verlassen? Oktober 2018
Läufige Hündin Sommer 1991
Alibi Oktober 2018
Falsch gedacht Sommer 1991
Das Ansehen der Familie Oktober 2018
Wenn er nicht redet Dezember 1993
Gott will mich bestrafen? Oktober 2018
Bitte nicht! September 2018
Faschierte Männer Oktober 2018
Das waren wir September 2018
Auf ein Wort Oktober 2018
Essigwickel September 2018
Beichte September 2018
Picknick Oktober 2018
Du kannst dichten? 7. September 2018
Das Böse ausradieren Oktober 2018
Prinzipien über Bord September 2018
Wolke mit Wurzeln 1997
Jausenpaket Oktober 2018
Früher vielleicht einmal September 2018
Unnötige Angst Oktober 2018
Aphrodisiakum 5. Oktober 2018
Nie ein böses Wort Oktober 2018
Appetit September 2018
Vertrauen verloren Oktober 2018
Olga von der Wolga Oktober 2018
Motorengeräusche September 2018
Freudenspendende Natur Oktober 2018
Tickende Zeitbombe September 2018
Fettnäpfchen Oktober 2018
Eros und Agape September 2018
Offenheit Oktober 2018
Das Gebetbüchlein Oktober 2018
Sonne des Lebens Oktober 2018
Eine Kommune? Oktober 2018
Wenn du weißt, was ich meine Oktober 2018
Schmutzige Kniescheiben Oktober 2018
Epilog Buch 1 und 2 August 2019
Mehr von Brigitte Kaindl
Danksagung
Brigitte Kaindl
Der Teufel und die Liebe
Der Tod der Braut
Der Mörder und die Wildrose
Buch
Dieses Buch erzählt die Lebensgeschichte eines tragischen Helden und besteht aus zwei Romanen.
„Der Tod der Braut“ spielt in Wien, wo 1995 die Braut des 27-jährigen Modeschöpfers Manuel Graf am Tag der Hochzeit von einem Autoraser niedergestoßen wird. Als der trauernde Mann wenige Monate nach dem Unglück seine blutjunge Sekretärin heiratet, ist nicht nur Bea, die jüngere Schwester der Braut fassungslos. Jahrzehnte später lichten sich die Nebel und demaskieren einen Teufel in Menschengestalt.
Aber wie konnte es so weit kommen? Diese Frage beantwortet der zweite Roman.
„Der Mörder und die Wildrose“ geht zurück in die Kindheit und Jugend einiger Protagonisten im südlichen Bayern. Als auf Schloss Stollenberg zwei junge Frauen ermordet werden, geraten die Söhne des alten Barons, der 25-jährige Philipp und der 23-jährige Stefan ins Visier der polizeilichen Ermittlungen. Fesselnd und einfühlsam gewährt dieser Roman tiefe Einblicke in verletzte Seelen und zeichnet das Psychogramm eines Mörders.
„Der Teufel und die Liebe“ ist ein Roman-Sammelband über dämonische Obsessionen, psychische Verirrungen, die starke Kraft der Wünsche, aber in erster Linie ein Buch über die Liebe.
Autorin
Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie Romane mit sozialkritischem Hintergrund.
Impressum
Urheberrechtlich geschütztes Material
Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl
www.brigittekaindl.at
Alle Rechte vorbehalten
Buch 1 Der Tod der Braut
Wien. 1995 stirbt die Braut des 27-jährigen Modeschöpfers Manuel Graf am Tag der Hochzeit, als sie von einem Autoraser niedergestoßen wird.
Doch war es wirklich ein Unfall?
Bea, die jüngere Schwester der Braut versucht Manuel danach beizustehen. Als er aber wenige Monate nach dem Unglück seine blutjunge Sekretärin heiratet, ist sie einfach nur fassungslos. Doch erst Jahrzehnte später lichten sich die Nebel und enthüllen erschütternde Geheimnisse sowie eine mörderische Intrige.
Aber auch eine unerschütterliche Liebe tritt ans Licht. Ausgerechnet ein Seminar, zu dem auch Manuels Tochter eingeladen wurde, wird zum Schauplatz einer Tragödie.
Die ich rief, die Geister,
werd´ ich nun nicht los.
Goethe (Zauberlehrling)
Die Frau stolperte über Baumwurzeln und Steine. Trotzdem hetzte sie weiter, bis sie plötzlich am Laufen gehindert wurde. Gerade noch rechtzeitig konnte sie stehenbleiben.
Vor ihr breitete sich ein Abgrund aus, der mindestens fünfzig Meter in die Tiefe abfiel. Beinahe wäre sie hinuntergefallen.
Doch dann gefror ihr das Blut in den Adern.
Sie wäre dort nicht allein gelegen.
Es lag schon jemand unten.
Ein Mann krümmte sich am Waldboden und brüllte vor Schmerzen.
„Oh, mein Gott“, dachte sie und drehte sich mit schreckgeweiteten Augen um.
Da sah sie auch schon ihren Verfolger näherkommen.
Herbert Steininger verließ kreidebleich die Ordination. Wie hypnotisiert setzte er einen Fuß auf die Hauptstraße, als ihn ein wild hupendes Auto zu einem eiligen Rückwärtsschritt veranlasste.
Sein Herz raste. Beinahe hätte ihn der weiße Lieferwagen totgefahren.
Obwohl: Was wäre daran so schlimm gewesen?
Der Fahrer des Vans kurbelte die Seitenscheibe herunter und schrie im breitesten Wiener Dialekt: „Bist du b´soffen, du blödes Arschgesicht?“
Als Herbert mit einem stumpfen Blick hochblickte, vor Schreck aber kein Wort herausbekam, ließ der Chauffeur es bleiben, weiter zu poltern.
„Ist wohl vollkommen eingenebelt, dieser Idiotenschädel!“, murmelte der Fahrer, als er die Scheibe wieder hochfahren ließ.
An das goldene Wiener Herz musste man sich erst gewöhnen. Die drei Jahre, die Herbert das bereits versuchte, waren dafür eindeutig zu kurz.
Obwohl: In dem kleinen oberbayrischen Dorf, in dem er aufgewachsen war, war es tatsächlich nicht sehr viel anders gewesen. Die Dialekte waren sich in deren Kraftausdrücken auch ziemlich ähnlich und die Mentalität hatte Herbert in seiner Heimat ebenfalls öfter mal als ausgesprochen rau empfunden.
Übermäßig sensibel durfte man im südlichen Deutschland genauso wenig sein wie in Wien. Und daher hatte er sich angepasst.
Anpassen müssen.
Angeglichen streckte er daher den berühmten Mittelfinger hoch, denn zum Sprechen war er zu geschockt.
Der Fahrer verstand seinen Gruß sofort und erwiderte ihn spiegelgleich, bevor er mit quietschenden Reifen davonpreschte.
Idiotenschädel.
Arschgesicht.
Herbert hörte diese Worte kaum, mit denen er soeben gerufen wurde.
Er war vorige Woche 23 Jahre alt geworden und das, was auf ihn noch wartete, war viel schlimmer als diese Schimpfworte.
Daher hatte er auch alles abgelehnt, wozu ihm soeben geraten worden war.
Er wollte das alles nicht mehr. Er wollte sein eigener Herr sein und seine eigenen Entscheidungen fällen.
Es wurde Zeit, dass er zu leben begann.
Carpe Diem. Nutze den Tag.
Das hatte schon seine Mutter immer zu ihm gesagt. Oder halt die Frau, die er für seine Mutter gehalten hatte.
Carpe Diem. Diese Worte waren die einzigen Fremdworte gewesen, die diese einfache Frau mit dem Herzen aus Gold gekannt hat.
Für sie war alles entweder gut oder weniger gut gewesen.
Schlechtes hat es für sie überhaupt nicht gegeben. Was war sie nur für eine besondere Frau. Klobig und rustikal wie die bäuerliche Heimat, in der er aufgewachsen war. Aber auch so warmherzig und liebevoll. Und vor allem: So verlässlich!
Mama!
Dieses Wort hatte für ihn seit drei Jahren eine andere Bedeutung und er konnte seine zwiespältigen Gedanken einfach nicht ausblenden.
Er wusste, dass sie sich Sorgen machte. Und er hatte ursprünglich auch gar nichts so lange wegbleiben wollen. Noch dazu, wo sie doch gar nicht wusste, wo er nun steckte.
Doch dann hatte alles so eine rasante Eigendynamik bekommen und inzwischen war er bereits drei Jahre von daheim weg.
Seit zwei Jahren lebte er mit Chris zusammen. Die brünette Friseurin wünschte sich eine Familie und immer, wenn sie von Kindern sprach, krampfte sich etwas in ihm zusammen. Das hatte aber nichts mit ihr zu tun. Er liebte sie und ihre ansteckende Fröhlichkeit. Ein Leben ohne Chris konnte er sich gar nicht mehr vorstellen.
Nein, wenn sie von einer Familie sprach, dachte er wieder an seine Mutter und an sein grußloses, undankbares Weggehen.
Und noch etwas spürte er in diesem Augenblick.
Wie sehr er seine Mama gerade jetzt brauchte.
Mehr als in den Jahren zuvor. Doch sein schlechtes Gewissen erinnerte ihn, wie weh er ihr doch getan hatte.
Sie hatte sich sein Verhalten nämlich nicht verdient.
Keinesfalls!
Trotzdem war er damals einfach gegangen, weil er etwas gesucht hatte, das er sowieso nicht finden konnte. Eigentlich hätte ihm die Sinnlosigkeit seines Unterfangens immer klar sein müssen. Doch nein, er war dennoch aufgebrochen und hatte alles hinter sich gelassen.
Für diese sinnlose Suche hatte er aufgegeben, was er erst zu schätzen gelernt hatte, als er es nicht mehr besessen hatte.
Und jetzt war es irgendwie zu spät. Mit jedem Monat, mit jedem Jahr, wo er sich nicht bei seiner Mutter gemeldet hatte, war es schwieriger geworden, zum Telefon zu greifen.
Und nun war es sowieso unmöglich geworden.
Das konnte er ihr nicht antun.
Das wollte er ihr gar nicht mehr antun.
Er wusste, sie wartete verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm.
Ein Lebenszeichen!
Ein bitterer Zug zog sich um seine Mundwinkel. Und die Bilder seiner Heimat kamen hoch.
Der Bauernhof mit dem Gackern der Hühner. Bob, der treue Schäferhund, Mutters deftige Küche und ihr rauer Charme, ihre Stärke und die Gemütlichkeit seiner Heimat.
All das war Vergangenheit. Unwiederbringlich.
Alles war vorbei.
Bald zumindest absolut alles.
Kraftlos setzte er sich auf den Bordstein.
Er ließ sein Gesicht in beide Hände fallen, als ihn ein älterer Herr, der einen Rollator vor sich herschob, anpöbelte.
„Hey, du Vollkoffer! Hier kannst du nicht sitzen. Was ist, wenn sich da jemand einparkt? Dann fährt er dir doch über die Schuhspitzen und du brauchst keine Fußpflege mehr“, meinte er es sicher nur gut. Herbert sah sein goldenes Herz beinahe glänzen.
„Schon gut“, raunte er einsichtig und versuchte aufzustehen. In dem Moment wurde ihm speiübel und er musste sich übergeben.
„Du hast wohl zu viel gesoffen?“, orakelte der Ältere und in seinem Gesicht machte sich Ekel breit.
„Nein, ich bin nur ...“, Herbert sprach nicht weiter. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und ließ es bleiben. Es interessierte den Alten sowieso nicht. Niemanden interessierte es. Und die, die es interessierte, denen würde er es nicht sagen.
Seiner Chris.
Seiner Mutter.
Sie durften es nicht erfahren.
Da blieb eine junge Dame neben ihm stehen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie und reichte ihm ein Taschentuch. Er sah in die warmherzigen Augen dieser fremden Frau und nahm im Geiste alle zynischen Gedanken über die Bewohner dieser Stadt wieder zurück.
Es gab hier, wie überall auf der Welt, auch sehr hilfsbereite Menschen. Und gerade in Wien hatte er tatsächlich viele kennengelernt.
Wie soeben.
„Kommen´s. Ich helfe Ihnen!“, bot die stämmige Wienerin an und er nahm dankbar das Tuch und wischte sich über den Mund. Dann zog er sich mit ihrer Hilfe schwerfällig wieder hoch.
„Danke, es geht schon wieder!“, sagte er, als er wieder auf den Beinen war.
Dann machte er sich auf den Heimweg.
Seine Entscheidung war getroffen.
Ab heute begann er zu leben. Er würde nur mehr tun und lassen, was er wollte.
Keine Ängste mehr. Keine negativen Gedanken mehr.
Carpe Diem.
Nutze den Tag.
Solange es noch möglich war.
Die Frau griff nach dem Parfumzerstäuber und sprühte sich ein. Da erblickte sie im Spiegel eine Person, die auf sie zukam und sie angrinste.
Aber nicht freundlich. Böse.
Die Frau wurde blass.
Totenblass.
„Was machst du denn hier?“, kreischte sie und ihr Blick wurde panisch.
Da wurde sie am Handgelenk hochgezogen. Es knackste ungesund und die Frau spürte einen irren Schmerz, der sich von ihrer Hand bis in die Schulter zog.
Ihr wurde fast schlecht.
„Bitte, hör auf! Du tust mir weh“, keuchte sie.
„Ach, ich tu dir weh? Was glaubst du, wie weh du mir getan hast, als du verlogenes Stück Scheiße mich reingelegt hast.“
„Das habe ich nicht“, versuchte sie sich rauszureden.
Ihr wurde jedoch nicht geglaubt.
Der Schlag, der ihr ins Gesicht geschmettert wurde, versetzte ihren Kopf augenblicklich um einige Zentimeter zur Seite. Ihre Haare flogen ihr ins Gesicht und einige Strähnen blieben am roten Lippenstift kleben.
Jetzt schwieg sie.
„Ich frage mich, wie ich dir jemals habe trauen können. Du lügst doch, wenn du nur den Mund aufmachst!“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, was du meinst“, beteuerte sie. „Aber: Was willst du denn jetzt von mir?“
„Ich will zurück, was mir gehört ...“
„Dir gehört überhaupt nichts!“, zischte sie.
Da spürte sie ein Messer an ihrer Kehle, dessen scharfe Schneide die Haut aufritzte. Eine zarte Blutspur sickerte in ihren Ausschnitt.
„Ich habe keine Angst vor dir!“, spie die Frau jedoch.
„Großer Fehler!“, hörte sie daraufhin und während das Messer noch immer an ihrem Kehlkopf lag, drehte sie sich um, wodurch der Schnitt breiter wurde.
Tiefer. Tödlicher.
Nachdem der leblose Körper der Frau auf den beigefarbenen Teppich sackte, sah sich die Person im Zimmer um.
Auf dem Schreibtisch lag eine Einladung zu einem Seminar.
Vortragender: Magister Walter Schüssler.
Das war machbar, wusste die Person, nachdem sie die Teilnehmerliste überflogen hatte und steckte die Einladung ein.
Manuel Graf zupfte an seinem weißen Anzug. Er saß perfekt. Daher war sein Tun nichts anderes als pure Nervosität.
Seine Mitarbeiter hatten gute Arbeit geleistet. Wie immer. Gut, für seinen Hochzeitsanzug hatten sie sich wohl auch ganz besonders ins Zeug gelegt.
Der 27-jährige Gründer des Modehauses Graf konnte es sich leisten, weiß zu tragen. Manuel war schlank, aber nicht dünn. Er wirkte elegant und strahlte trotz seiner Jugend eine Würde aus, die viele Menschen erst mit reiferen Jahren erlangten.
Sein dunkles Haar trug er, dem feierlichen Anlass entsprechend, kürzer als sonst und seine Haut war leicht gebräunt.
Heute, an seinem Hochzeitstag wollte der begnadete Designer seriös wirken.
Seriös genug?, überlegte er, ob er nicht doch einen dunklen Anzug hätte wählen sollen.
Ein zartes Klopfen ließ ihn aus seinen Gedanken hochschrecken. Noch bevor er darauf reagieren konnte, öffnete sich die Tür.
Ein hübscher Blondschopf in lilafarbenem Seidenkleid wirbelte in den Raum und zauberte mit einer ansteckenden Fröhlichkeit ein Lächeln auf Manuels Züge, die soeben noch so ernst gewesen waren.
„Du siehst fantastisch aus!“, klatschte Bea, seine 18-jährige Fast-Schwägerin Beifall. Ihre strahlenden grünen Augen betrachteten ihn bewundernd.
Dann steckte sie ihm die weiße Rose, die sie in der Hand hielt, in seinen Revers.
„Jetzt bekommt meine Schwester ihren Traummann, und zwar perfekt! Mit einer weißen Rose, die zu ihrem Brautstrauß passt“, rief sie. Er zuckte unmerklich zusammen. Bea bemerkte es.
„Wurde gestern viel getrunken?“, lächelte sie vielsagend.
„Vielleicht ein ganz klein wenig zu viel!“, verzog er schmerzverzerrt sein Gesicht und erinnerte sich an den Junggesellenabend, bei dem tatsächlich der Alkohol etwas zu reichlich geflossen war.
„Hast du vielleicht eine Aspirin-Tablette?“, fragte er und seine sonst so offenen braunen Augen mit den dichten Wimpern zogen sich zu schmerzverzerrten Schlitzen zusammen.
Bea lächelte, während sie aus ihrer Handtasche ein Pillenpäckchen hervorzauberte.
„Ich kann doch nicht zulassen, dass du heute meine Schwester mit so einem Gesicht heiratest“, schmunzelte sie, während sie ein Glas Wasser holte.
„Wieso, was stimmt denn nicht mit meinem Gesicht?“
„Das Gesicht ist schön“, grinste Bea und lächelte ihn an. Sie meinte es so wie sie es sagte. Manuel war tatsächlich ein unglaublich attraktiver Mann.
„Birgit ist wirklich um dich zu beneiden, doch man sieht dir an, dass du Kopfschmerzen hast“, erklärte sie ehrlich. „Und meine Schwester soll doch nicht glauben, dass sie der Grund dafür ist, dass du so ein schmerzgeplagtes Gesicht machst“, lächelte sie und reichte ihm das Wasserglas und das Aspirin.
„Ist es so schlimm?“
„Ja, schon!“, bestätigte sie. „Hier: Runter damit und bitte das ganze Glas leertrinken!“, wies sie ihn an.
Er tat, wie ihm befohlen und betrachtete das Bild auf seinem Schreibtisch, das Birgit zeigte. Ihre strahlenden, blauen Augen blitzten ihm aus dem Fotorahmen entgegen und er strich mit dem Daumen über das Bild.
„Du wirkst verliebt wie ein kleiner Schuljunge!“, grinste Bea. „Und Birgit hat vorhin den gleichen Dackelblick wie du gehabt“, erzählte sie grinsend, weil sie noch vor einer halben Stunde bei ihrer Schwester gewesen war.
„Nichts anderes erwarte ich mir“, lachte er und wurde ernsthaft. „Nein, ohne Spaß. Ich bin der Glückliche von uns beiden.“
Manuel blickte von Birgits Foto hoch und betrachtete Bea.
„Weißt du, dass du deiner Schwester heute noch mehr ähnlich siehst als sonst? Dein Haar offen zu tragen, steht dir gut!“, sagte er, während er das Glas Wasser auf den Tisch zurückstellte.
Birgit und Bea hatten zuvor gemeinsam den Friseur besucht. Bea war allerdings früher fertig, weil sie sich geweigert hatte, ihr Haar hochstecken zu lassen. Sie trug es lieber offen und nun fiel es ihr in weichen Wellen über ihre Schultern.
„Dafür trägt Birgit die Haare heute hochgezwirbelt!“, verriet Bea.
„Tatsächlich?“, zeigte sich Manuel überrascht.
„Ja, angeblich lässt sich so der Schleier besser fixieren“, verdrehte Bea die Augen und es war augenscheinlich, dass sie von dieser Frisur nicht sonderlich viel hielt.
„Das ist übrigens der Grund, warum ich hier bin. Nachdem meine Schwester beim Friseur länger braucht, hat sie eine Rose aus ihrem Brautstrauß rausgezupft und mich gebeten, sie dir zu bringen. Ich soll sie dir in den Revers stecken und achtgeben, dass der Stiel der Rose nicht vorguckt. Also halte still, ich muss überprüfen, ob ich den Auftrag meiner Schwester ordnungsgemäß erfüllt habe.“
Manuel stellte sich folgsam vor Bea und beobachtete sie, wie sie mit ernstem Gesicht den Sitz der Blüte kontrollierte und sodann zufrieden nickte.
„Ist eure Mutter eigentlich auch beim Friseur?“, fragte er.
„Nein, sie war schon gestern. Mama wartet daheim auf Birgit, um ihr den Schleier anzustecken.“
„Und wie kommt Birgit vom Friseur zu eurer Mutter? Holt sie euer Vater mit dem Auto ab?“
„Nein!“, lachte Bea. „Birgit geht zu Fuß. Es sind doch nur fünf Minuten.“
Manuel blickte irritiert.
„Hey, der Friseur ist bloß wenige hundert Meter von unserem Zuhause entfernt“, erklärte Bea. „Man geht über einige Gässchen und eine kleine Straße. Diesen Weg sind wir schon tausend Mal gegangen!“
Sie war überrascht, weshalb Manuels Gesicht so voll Sorge war. Dann erriet sie seine Gedanken.
„Jetzt verstehe ich: Du glaubst, dass sie den Saum des Brautkleides an den Bordsteinkanten verdreckt.“
„Auch“, gab er zu. „Aber das wäre ja noch gar nicht das Schlimmste“, schienen seine Gedanken tatsächlich in diese Richtung zu gehen.
„Aber was ist, wenn sie an einem Gebüsch hängenbleibt oder gar über das lange Kleid stolpert und niemand bei ihr ist, um ihr zu helfen?“
Manuel sah in Gedanken seine Braut wohl im bodenlangen Kleid allein auf der Straße herumirren. Bea musste bei dieser Vorstellung hellauf lachen.
„Da kann ich dich aber jetzt wirklich beruhigen: Birgit steckt sicherlich nicht an einem Dornenbusch fest. Sie hat ihr Brautkleid nämlich noch gar nicht an. Birgit sitzt in Jeans und T-Shirt beim Friseur. Ihr Kleid ist bei uns daheim und unsere Mutter wird ihr nicht nur den Schleier anstecken, sondern auch beim Ankleiden helfen. Birgit wird also nirgends hängenbleiben und auch nicht stolpern!“, grinste Bea und erklärte weiter. „Sie hat gesagt, dass sie sogar froh ist, wenn sie ein paar Schritte gehen kann, denn wahrscheinlich wird sie den ganzen Tag sowieso kaum mehr Bewegung machen können.“
Das beruhigte Manuel nun, obwohl er damit gerechnet hatte, dass Birgit an diesem Tag immer jemanden von der Familie um sich hätte.
„Das war übrigens der Rat deiner Hochzeitsplanerin!“
„Tina?“
„Ja, Tina! Deine Assistentin, die sich bereit erklärt hat, eure Hochzeit zu organisieren. Oder hast du noch mehr Sekretärinnen?“
„Nein“, grinste er und stupste Bea an der Nase, wie immer, wenn sie frech war. „Ich bin nur überrascht, warum ihr Tina dazu geraten hat!“
„Na, eben wegen der Bewegung und sie hat gemeint, dass es auch gleich die letzte Gelegenheit für Birgit ist, es sich noch einmal in Ruhe zu überlegen.“
„Das hat sie gesagt?“, blickte Manuel bestürzt.
„Das war ein Scherz!“, lachte nun Bea und tätschelte seinen Oberarm. „Hallo, wo ist denn heute dein Humor geblieben?“
„Ich bin wohl etwas nervös“, gestand er.
„Warum?“, verstand Bea nicht. „Du heiratest doch nur meine Schwester. Oder machst du dir jetzt tatsächlich Sorgen, dass es sich deine über beide Ohren verliebte Braut noch anders überlegt und gar nicht kommt? Da sei unbesorgt. Dazu hätte sie doch gar keine Gelegenheit mehr. Wahrscheinlich zupft gerade in diesem Moment unsere Mutter an ihr genauso herum, wie ich soeben an dir“, wischte Bea einen Fussel von Manuels Schulter. „Und danach geht es in Papas Auto zur Kirche. Du siehst deine Verlobte also in zwei Stunden vor dem Altar!“
„Ja!“, sagte er und wirkte nervös.
So hatte sie ihn noch nie gesehen. Manuel war normalerweise die Ruhe in Person. Doch nun wirkte er verkrampft, verstand Beas Scherze nicht und machte sich ständig Sorgen um Birgit. Also eigentlich genauso wie ihre Schwester, fiel Bea auf.
„Ihr tickt aber wirklich total gleich“, prustete sie daher los. „Weißt du übrigens, dass Birgit vorhin fast die gleichen Gedanken gehabt hat, wie du soeben?“
„Sie hat sich auch gesorgt, dass ich stolpere?“
„Nein!“, entgegnete sie. „Das nicht. Aber es ging ihr nicht um die Rose. Sie wollte, dass ich auf dich schaue! Sie wollte nicht, dass du allein bist.“ Dann zwinkerte sie schelmisch.
„Wahrscheinlich wollte sie verhindern, dass du es dir im letzten Moment noch anders überlegst“, testete sie, ob sein Humor wieder zurückgekehrt war, oder er noch immer nicht fähig war, einen Scherz zu erkennen.
„Das war jetzt aber nicht ernstgemeint, oder?“, blickte er sie fassungslos an.
Sie verdrehte die Augen.
„Natürlich nicht! Aber wenigstens hast du dieses Mal zumindest mitbekommen, dass das ein Scherz gewesen ist“, seufzte sie und tat so, als hätte sie es wirklich nicht leicht mit ihm.
Manuels Eltern waren vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen und jeder, der ihn kannte, wusste, wie sehr er noch immer unter deren so plötzlichen Tod litt.
Auch wenn er nicht darüber redete, er vermisste sie sehr.
Das wusste Birgit und daher hatte sie auch zuvor beim Friseur ihre Schwester um einen Gefallen gebeten.
„Manuel weiß, wie sehr mich unsere Eltern vor und bei der Hochzeit unterstützen und ich kann mir vorstellen, dass ihm dann wieder schmerzlich bewusstwird, dass seine normalerweise heute auch bei ihm gewesen wären“, hatte Birgit Bea erklärt, bevor sie ihren Wunsch deponiert hatte.
„Kannst du vielleicht kurz vor der Trauung bei Manuel vorbeischauen?“
„Ja, natürlich“, hatte sich Bea sofort einverstanden gezeigt. Wie immer, wenn es darum ging, etwas für Manuel zu tun, war sie sofort zur Stelle. „Ich bin sowieso bereits fertig! Wenn du willst, bringe ich den Brautstrauß nach Hause und fahre danach zu ihm.“
„Danke, Bea!“, war Birgit erleichtert gewesen.
Sie hatte aus dem Brautstrauß, der eine halbe Stunde zuvor im Friseurladen abgegeben worden war, eine weiße Rose herausgezupft und sie Bea übergeben.
„Bringe ihm bitte diese Blüte von mir“, hatte sie gesagt und die Blütenblätter geküsst.
„Ich glaube, er hat niemanden, der jetzt, vor der Hochzeit bei ihm ist.“
„Doch! Jetzt hat er mich!“, hatte Bea enthusiastisch gerufen und sofort verstanden, was ihre Schwester hatte ausdrücken wollen. „Wir sind doch jetzt seine Familie!“
„Ja, wir sind jetzt seine Familie!“, hatte Birgit gelächelt und dann war ihr noch etwas eingefallen.
Sie hatte nach ihrer Handtasche gegriffen und ein Päckchen Aspirin hervorgezaubert.
„Gestern wurde sicherlich viel getrunken und vielleicht braucht er ein Schmerzmittel!“, hatte Birgit gezwinkert und damit absolut rechtbehalten.
Wie gut sie ihn doch kannte, hatte Bea gedacht, als sie zuvor Manuels, vom Kopfschmerz gezeichnetes Gesicht gesehen hatte. Und wie sehr Birgit ihn doch liebte und sich um ihn sorgte.
Dann hatte Birgit sich von ihrer kleinen Schwester verabschiedet.
„Danke, Bea, dass du nach ihm siehst. Er mag dich so sehr. Das weiß ich. Ich bin daher sicher, ihn schmerzt der Verlust seiner eigenen Familie nicht so sehr, wenn du bei ihm bist. Damit er nicht glaubt, dass wir ihn bemuttern, sage ihm daher bitte, dass es mein Wunsch ist, dass er diese Rose im Revers trägt.“
Nun hatte Bea ihren Auftrag erfüllt und erkannte, dass Manuel genauso strahlte wie zuvor Birgit, als deren blonde Locken kunstvoll von der Friseurin hochgesteckt worden waren.
„Ich weiß, ich wirke ruhelos“, gab Manuel zu, als er bemerkte, wie amüsiert ihn Bea beobachtete. „Also schau mich nicht so an!“
„Ich beneide dich ja nur. Dich und Birgit“, gestand Bea daraufhin. „Aber ohne Neid!“, beeilte sie sich zu betonen. „Ich gönne euch dieses Glück wirklich!“
„Das weiß ich doch, meine kleine Schwägerin“, sagte Manuel und nahm sie kurz in seine Arme, um gleich darauf weiter zu schwärmen.
„Ich könnte tatsächlich vor Glück platzen. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass mich deine Schwester tatsächlich genommen hat.“
„Jetzt hör aber mal auf“, rief Bea enthusiastisch. Ihre Worte stießen unkontrolliert aus ihrem Innersten hoch. „Du tust gerade so, als wärst du ein Niemand, der froh sein muss, dass er überhaupt noch eine abbekommt. Birgit kann sich genauso glücklich schätzen, dich bekommen zu haben, wie umgekehrt. Merkst du denn nicht, wie sehr dich andere Frauen, allen voran deine weiblichen Angestellten anschmachten?“
„Ach, das ist doch nur, weil ich der Chef bin. Eine leitende Stelle macht automatisch attraktiv!“, wischte er Beas Bemerkung zur Seite und strich gedankenverloren über die Narbe, die ihm über seine rechte Wange lief.
Sie war an diesem Tag kunstvoll überschminkt worden und Bea befürchtete, dass er das Makeup verstrich, wonach die rotgefärbte Haut wieder stärker vortreten könnte.
Sie nahm ihm daher die Hand aus dem Gesicht und sagte: „Man sieht sie nicht, keine Sorge. Außer du wischt weiterhin daran herum!“
Er nickte.
Birgit hatte ihr erzählt, dass Manuel als Junge offenbar in eine Schlägerei geraten sein musste und ein älterer Junge ein Messer gezückt haben dürfte. Bea fand jedoch, dass diese Narbe an Manuels Attraktivität absolut nichts änderte.
Daher kam sie auf seine vorherige Bemerkung zurück und stellte klar: „Nein, das Anhimmeln deiner weiblichen Angestellten ist nicht nur, weil du deren Boss bist. Es ist in erster Linie, weil du so ganz besonders bist!“, ereiferte sie sich und hob ihre Stimme.
„Du siehst nicht nur passabel aus“, untertrieb sie bewusst, weil sie nicht wie ein verliebter Backfisch wirken wollte, indem sie ihm auf den Kopf zusagte, wie umwerfend er doch tatsächlich aussah. „Du hast zudem auch noch eine Art an dir ...“, nun stockte sie doch, wurde rot und schwieg betreten.
So heftig für den Bräutigam zu schwärmen, gehörte sich nicht. Immerhin war sie die Schwester der Braut und bald würde dieser bemerkenswerte Mann ihr Schwager sein.
„Na, sprich doch bitte weiter, meine kleine Schwägerin!“, grinste Manuel hingegen, der sich offenbar noch rasch vor der Trauung einige Komplimente einholen wollte.
Das kann er doch gar nicht nötig haben, dachte Bea und zirpte: „Ach, besser nicht, sonst wirst du noch eingebildet.“
„Na, komm! Jetzt wo du schon angefangen hast, kannst du doch nicht ...“
„Na gut“, unterbrach ihn Bea und überwand sich. Manuel sah sie offenbar noch als Kind. Er redete sie immer wieder als ‘kleine Schwägerin’ an. Kinder und kleine Schwägerinnen dürfen schwärmen, ohne sich verdächtig zu machen. Daher wagte es Bea nun doch, ihre ehrlichen Empfindungen auszusprechen.
„Damit du heute auf dem Weg zum Altar den Kopf majestätisch hochhalten kannst, hier meine Schwägerinnen-Komplimente: Du bist ein interessanter Mann, siehst nicht nur zum Anbeißen aus, sondern bist auch charmant und gütig. Und obwohl du dir auf dich und deinen Erfolg etwas einbilden könntest, bist du überhaupt nicht arrogant“, legte Bea nun freimütig ihre Wahrnehmung dar, während ihre Wangen eine leichte Rötung bekommen hatten. „Ich hoffe jetzt nur, dass du nach meinen Worten nicht doch noch total abhebst und ich das mit der Arroganz zurücknehmen muss“, lachte sie.
„Nun!“, grinste Manuel und um seine Augen zogen sich Lachfältchen. „Es kann durchaus sein, dass ich nach diesen Worten heute schon zum Altar schwebe.“ Dann nahm er seine Fast-Schwägerin liebevoll in die Arme.
„Danke Bea für deine Worte. Und keine Angst: Ich behalte die Bodenhaftung. Und selbst wenn nicht, wird deine Schwester schon dafür sorgen. Sie erdet mich“, schwärmte er. „Und trotzdem lässt sie mich fliegen“, schob er nach.
Bea beobachtete Manuel und erinnerte sich wieder daran, wie sie ihn kennengelernt hatte. Damals, vor zwei Jahren, als Birgit ihren neuen Freund vorgestellt hatte.
Wow, hatte sie damals gedacht.
Bea war zu der Zeit noch ein 16 Jahre alter Backfisch gewesen und hatte sich gewundert, warum ihre Schwester gar so hingerissen war.
Manuel hin.
Manuel her.
Mein Gott, er kann doch auch nur seine Nase mitten im Gesicht haben, waren die Schwärmereien ihrer Schwester für sie damals kaum auszuhalten gewesen.
Bevor sie ihn selbst gesehen hatte. Danach hatte sie ihre Schwester verstanden.
Für Birgit und Manuel war es Liebe auf den ersten Blick gewesen und die beiden waren so verliebt ineinander, dass es direkt knisterte, wenn man in deren Nähe kam.
Manuel trug damals sein dunkles, leicht gelocktes Haar fast schulterlang und seine glutäugigen, braunen Augen mit den langen, dichten Wimpern, ließen einem in dieses ebenmäßige Gesicht eintauchen und regelrecht versinken.
Bea jedenfalls hatte sofort gewusst, was dieser Mann in ihrer Schwester ausgelöst hatte.
Inzwischen trug Manuel sein Haar kurz, doch seine Ausstrahlung war noch immer die Gleiche.
„Danke, Bea! Auch für das Aspirin“, stellte er das Glas zur Seite. „Es wirkt schon. Der Kopfschmerz lässt nach. Jetzt kann ich mich noch mehr auf alles freuen, was kommt.“
„Da musst du dich danach bei deiner Frau bedanken. Sie hat mir die Schmerzmittel für dich mitgegeben. Birgit hat gewusst, wie feuchtfröhlich so ein Junggesellenabschied sein kann.“
„Verstehst du jetzt, warum ich so ein Glückspilz bin?“, wies er wieder darauf hin, wie sehr er um Birgit zu beneiden war.
„Ja, das bist du!“, zupfte ihm Bea abermals eine winzige Faser von seinem Ärmel.
„Sag mal, meine kleine Schwägerin“, bekam sein Blick nun einen spitzbübischen Ausdruck und er nahm Bea an den Schultern. „Wie sieht sie im Hochzeitskleid aus? Du hast sie doch sicherlich schon darin gesehen.“
Doch Bea schüttelte den Kopf und wippte mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum.
„Glaubst du wirklich, du kriegst aus mir auch nur ein Sterbenswörtchen raus?“
„Na, komm, nur einige kleine Details!“, bat er.
„Nein, nicht ein einziges!“, blieb sie streng und entschied sich dann doch dazu, ihm eine Auskunft zu geben, die aber an sich doch eigentlich gar keine war.
„Es ist weiß!“, grinste sie, nachdem sie ihm dieses wertlose Detail verraten hatte.
„Danke für die aufschlussreiche und wirklich überraschende Auskunft“, erkannte er, dass er bei Bea wohl auf Granit biss. „Du kleiner Frechdachs weißt doch ganz genau, dass ich etwas über den Schnitt wissen wollte“, tippte er ihr liebevoll auf die Nase.
„Ach, das willst du doch gar nicht wissen“, lächelte sie nun verschmitzt und erinnerte ihn: „Weißt du denn nicht, dass es Unglück bringt, die Braut vor der Hochzeit zu sehen?“
„Ich sehe sie ja nicht“, protestierte er. „Ich will doch nur wissen, wie sie im Brautkleid aussieht!“, hoffte er noch immer auf kleine Hinweise.
„Schön! Wie sonst?“, grinste Bea allerdings und ließ keine Informationen aus.
„Ach, Bea, das ist bei Birgit doch klar. Aber wie sieht denn nun ihr Kleid aus? Ist es schmal geschnitten oder hat sie sich für einen weiten Taftrock entschieden? Ist die Ausführung schlicht oder trägt sie Spitzen?“, trommelten seine Fragen förmlich auf sie ein.
„Du bist ja wirklich ganz ungeduldig“, grinste sie.
„Ist das nicht verständlich?“
„Stimmt. Für jeden anderen Bräutigam ist das Brautkleid mehr oder weniger fast eine Nebensache. Aber ich habe ganz vergessen, dass es den Modeschöpfer scheinbar fast wahnsinnig macht, dass er als Einziger in dieses Geheimnis in Weiß nicht eingeweiht ist.“
„Na, endlich verstehst du mich!“, rief er. „Ich muss ja gestehen, dass ich mich am liebsten über alle Traditionen hinweggesetzt hätte und wollte das Kleid speziell nur für sie entwerfen. In meinen Gedanken hatte ich ein schlichtes, schmalgeschnittenes Seidenkleid im Kopf gehabt, mit einem etwas tieferen Rückenausschnitt, der ihren grazilen Körper und ihre feminine Ausstrahlung unterstrichen hätte“, schwärmte er und wusste nicht, dass er eigentlich soeben Birgits Brautkleid beschrieben hatte.
Bea musste sich förmlich auf die Zunge beißen, um ihre Gedanken nicht auszusprechen. Schweigend wunderte sie sich bloß, wie gut die beiden doch harmonierten. Wenn sich Birgit intuitiv sogar für ein Kleid entschieden hatte, das er genauso für sie entworfen hätte.
Obwohl.
Entworfen hatte er ihr Kleid doch sowieso. Nur hatte Manuel bei diesem Entwurf noch keine Ahnung gehabt, dass es Jahre später das Brautkleid seiner künftigen Frau werden würde. Bea entschloss sich demnach, Manuel noch einen kleinen Hinweis zu geben.
„Birgits Kleid ist traumhaft schön. Und es ist natürlich eine Graf-Kreation!“, grinste sie.
„Auch das ist nicht verwunderlich!“, wusste Manuel doch bereits, dass Birgit ihr Hochzeitskleid in seinem Modehaus anfertigen hatte lassen.
Tina, seine Sekretärin hatte tagelang die besten Entwürfe zusammengetragen und zwischen Birgit und der Näherei vermittelt, ohne ihrem Chef auch nur ein Sterbenswörtchen über die Wahl seiner Zukünftigen zu verraten.
Tina hatte aber nicht nur das Brautkleid organisiert und nach Maß nähen lassen, sondern die gesamte Hochzeit geplant. Mit Feuereifer hatte sie sich angeboten, auch die private Feier ihres Chefs zu organisieren.
„Ich mag Ihre Braut so sehr, das mache ich wirklich gern!“, hatte sie erklärt, als Manuel und Birgit einen professionellen Hochzeitsplaner beauftragen wollten. „Das kann ich doch genauso gut! Sie werden sehen: Das wird eine Traumhochzeit!“, bot sie überschwänglich ihre Dienste an und Manuel hatte das Gefühl, dass er sie kränken würde, hätte er ihr Angebot nicht angenommen.
Nachdem sie eine hervorragende Organisatorin war und sehr gute Ideen hatte, wurde sie die Hochzeitsplanerin. Tina wusste demnach über jeden Schritt der Braut Bescheid und Manuel hatte aufgrund ihrer Verschwiegenheit tatsächlich nicht einmal eine Ahnung, wie das Brautkleid aussah.
So, wie es eben auch sein sollte.
Auch wenn der Bräutigam vor Neugierde fast umkam.
Damen unter sich hielten eben dicht.
Daran konnte er nichts ändern.
Und nun hielt sich auch noch Bea bedeckt. Dabei hatte er gehofft, dass er ihr irgendwelche Details entlocken konnte.
„Und mehr wirst du von mir auch nicht erfahren!“, tötete Bea somit seine letzte Hoffnung wie eine Zigarettenkippe, die am Asphalt ausgetreten wurde, ab. „Übe dich in Gelassenheit. In wenigen Stunden wirst du sie sowieso sehen und jetzt halte deine Ungeduld ein wenig in Schach!“
„Du hast ja recht!“, nickte Manuel und zupfte nervös abermals an seinem Anzugärmel, der perfekter doch gar nicht sitzen konnte.
Da läutete Beas Handy.
Sie nahm den Anruf entgegen und Manuel beobachtete, wie plötzlich alles Weiche und Fröhliche aus Beas Gesicht verschwand.
„Nein!“, stammelte sie gepresst und wurde totenblass. „Nein, Mama, das gibt es doch nicht!“
Sie begann zu wanken und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Was ist passiert?“, fragte Manuel irritiert, als Bea das Handy aus der Hand fiel.
Bea antwortete nicht. Sie stierte mit glasigen, ungläubigen Augen auf den Boden und in ihre Augen traten Tränen.
Sie konnte nicht antworten.
Manuel bückte sich daher nach dem Handy und hielt es an sein Ohr. Er hörte die tränenerstickte Stimme seiner zukünftigen Schwiegermutter.
„Bea, bist du noch da?“, rief sie. „Bitte, du musst es Manuel sagen. Ich kann es nicht!“, hörte er die Stimme von Birgits Mutter.
„Hier ist Manuel!“, meldete er sich und hörte plötzlich nur mehr markerschütterndes Schluchzen am anderen Ende der Leitung.
„Was soll mir Bea sagen?“, fragte er daher mit heiserer Stimme und sein Magen zog sich krampfhaft zusammen. Eine grauenhafte Vorahnung erfasste ihn, als er Birgits sonst so gelassene Mutter so fassungslos klagen hörte.
„Birgit ist ... Birgit ist ...“
„Was ist mit Birgit?“, schrie er nun und eine lähmende Furcht griff nach seinem Herzen.
„Sie ist von einem Auto angefahren worden, als sie den Friseur verlassen hat“, stammelte Birgits Mutter.
„Ist sie verletzt?“, brüllte er und ihm trat der Schweiß auf die Stirn.
„Sie ist ...“ Er verstand zwischen den heftigen Schluchzern kaum die Worte, die Birgits Mutter von sich gab.
Doch dann vernahm er sie doch.
„Sie ist tot!“
Magistra Emma Graf wankte mit zerrissener Strumpfhose zu ihrem Auto. Die Laufmaschen liefen in Zweierreihen vom Knie ausgehend in beide Richtungen.
Sie hatte ihre Stöckelschuhe ausgezogen und trug sie in der Hand, damit sie schneller vorwärtskam.
Und auch, um sie zu schonen. Die Louboutin-Highheels hatte sie zu Weihnachten von ihrem Vater bekommen. Sie wusste, dass sich der Preis der Schuhe im hohen, dreistelligen Bereich befand.
Wer weiß, wann sich Paps wieder zu solch einem erlesenen Geschenk überreden ließ?
Manuel Graf war zwar nicht knausrig. Wirklich nicht! Und reich war er auch. Sein Modehaus florierte. Auch liebte er seine Tochter über alles. Aber genau aus diesem Grund bekam Emma nicht alles, was sie sich wünschte.
Leider.
Daher musste sie derart wertvolle Geschenke, wie diese ganz besonderen Schuhe auch so sorgsam behandeln. Das war das Unangenehme daran, wenn man einen reichen Papa hat, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet hatte.
Solche Leute blieben ein Leben lang dankbar, sparsam und unangenehm bescheiden.
Emma konnte von Glück reden, dass zuvor bloß ihre Strumpfhose daran glauben hatte müssen.
Und ihre Knie!
Puh, die waren ziemlich aufgeschlagen. Miniröcke würde sie einige Wochen nicht tragen können.
Das Blut lief inzwischen mit den Laufmaschen der Strumpfhose um die Wette. Klarer Sieger: Der klebrige, rote Körpersaft.
Aber Emma tropfte nicht nur aus ihren Knien.
Auch aus den Augen liefen Tränen und zogen sicherlich schon schwarze Linien über die Wangen. Es war zu befürchten, dass auch ihre Schminke total im Eimer war.
„Super, jetzt kann ich mich auch noch neu umziehen“, wusste sie, nachdem sie ihren Handspiegel aus der Handtasche gekramt und einen Blick riskiert hatte.
Sie zupfte an ihren roten Locken, die sowieso immer wirr um ihr Gesicht sprangen. Doch ihre Frisur war soeben das kleinste Problem. Als sie ihr verheultes Gesicht und den zerronnenen Eyeliner sah, wusste sie, dass sie sich nicht nur neu umziehen, sondern tatsächlich auch völlig neu schminken musste.
So konnte die 22-jährige Jungakademikerin jedenfalls nicht zu einem Seminar erscheinen. Sie sah doch aus, als hätte sie in der Gosse geschlafen.
Und eigentlich fühlte sie sich auch so.
Das hat sich ja wirklich ausgezahlt, dachte sie, als sie an Ben dachte.
Wieso habe ich es ihm nur gesagt?, ärgerte sie sich über ihre unerklärliche und eigentlich nur blöde Ehrlichkeit und ließ den soeben vorangegangenen Streit Revue passieren.
Dieser idiotische Streit, der nicht nur ihre Schminke und Strumpfhose, sondern auch ihren gesamten Tag versaut hatte, denn mit Sicherheit kam sie zu diesem Seminar nun auch zu spät.
Ben hatte bereits um sieben Uhr Früh bei ihr angerufen und gefragt, wo sie am Vorabend gewesen war. Aber in was für einem Ton!
Aggressiv, lauernd und anklagend!
Die Art, wie er seine Frage gestellt hatte, hatte ihr überhaupt nicht gefallen.
So redete niemand mit ihr.
Wer war er denn?
Benjamin Fischbach, ein gelernter Zahntechniker, den sie seit der Schulzeit kannte.
Der zwei Jahre ältere Ben kam aus einfachen Verhältnissen und war eigentlich immer liebevoll zu ihr gewesen.
Das wohl!
In der Schule und auch später, als sie sich bei einem Schülertreffen wiedergesehen hatten. Hals über Kopf hatten sie sich ineinander verliebt und ausgesprochen heftig war der Beginn ihrer Beziehung gewesen.
Heftig, zärtlich und leidenschaftlich.
Seither waren sie ein Paar und Emma hatte sich bei ihm immer ausgesprochen wohlgefühlt.
Ben hatte so etwas Beschützendes und Liebevolles an sich. Er war so ganz anders als die versnobten Studienkollegen, die sie an der Uni kennengelernt hatte. Ben war bodenständig und hatte immer versucht, ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen zu können.
Also die, die er ihr aufgrund seiner mageren finanziellen Möglichkeiten überhaupt erfüllen konnte.
Und ja, er war tatsächlich ihre erste, ganz große Liebe.
Aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, sich zu viel herauszunehmen.
Daher hatte sie beschlossen, noch kurz vor dem Seminar bei ihm vorbeizufahren und etwas gebührenden Respekt einzufordern. Und so nebenbei würde sie ihm halt auch erklären, wo sie am Vortag gewesen war.
Immerhin war das doch der Grund für seine aggressive Frage gewesen.
Sie hatte kein Problem damit, es ihm zu sagen. Es war ja im Grunde nichts Besonderes gewesen.
Für sie jedenfalls.
Und wenn Ben nicht so ein Langweiler wäre, hätte sie den Abend sowieso mit ihm verbracht. Doch der gute Ben hielt ja nichts von diesem tollen Nachtclub, in dem sie gewesen war.
Sie hingegen schon!
Und wenn er das nicht verstand, war das doch sein Problem. Nicht ihres. Und das galt es, ihm verständlich zu machen.
So ihr Plan.
Und ihre Umsetzung.
Und dann die Realität.
Ben hatte eine andere Sichtweise. Für ihn war es offenbar schon etwas Besonderes gewesen. Und als sie die etwas pikanten Details des Abends freimütig zugegeben hatte, hatte er prompt mit ihr Schluss gemacht.
Einfach so.
Wegen. Eigentlich. Nichts.
Das hatte sie anfänglich wahnsinnig geärgert.
Doch dann hatte sie auf einmal diesen irren Schmerz gefühlt, diese Verlustangst und die Sorge, ihn womöglich tatsächlich verloren zu haben.
Damit hatte sie doch gar nicht gerechnet. Sie wollte lediglich ihre Unabhängigkeit behalten und respektvoll behandelt werden.
Nicht mehr und nicht weniger! Und nun das?
Weiß der Teufel, warum, aber plötzlich fing sie zu schluchzen an und konnte nicht fassen, dass Ben es offenbar tatsächlich ernst meinte!
Ihr Ben!
Ihr Fels in der Brandung! Der liebe Junge, der immer alles für sie getan hatte, machte auf einmal mit ihr Schluss!
Das wollte ihr nicht in den Kopf.
Das konnte sie nicht hinnehmen.
Völlig irritiert fragte sie sich, wie die Situation so ins andere Extrem hatte kippen können.
„Ben, das kannst du doch nicht machen!“, hatte sie geschrien.
Und doch war es so!
Sie hatte in dieses vertraute und geliebte Gesicht geblickt, das plötzlich jede Weichheit und Liebe verloren zu haben schien.
Bens graublaue Augen waren auf einmal mit einer Kühle auf sie gerichtet gewesen, die ihr fremd war.
„Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben. Verschwinde!“, hatte er gesagt und sich von ihr abgewendet.
Das war der Moment, in dem sich die Situation gewandelt hatte.
Emma hatte sich Ben in einem Anfall hilfloser Ungläubigkeit regelrecht an den Hals werfen wollen und dabei ihren Stolz über Bord geworfen.
Er hatte sie jedoch angeblickt, als konnte er ihre Gegenwart gar nicht mehr ertragen. Und demgemäß hatte er sich auch verhalten. Er hatte ihr Näherkommen mit den Armen abgeblockt und war mit einem angewiderten Blick einen Schritt zurückgetreten.
Dadurch hatte Emma aber auf ihren zehn Zentimeter hohen Highheels die Bodenhaftung verloren.
Sie war gestolpert und auf ihre Knie gekracht, was die dünne Nylonstrumpfhose natürlich nicht ausgehalten hatte.
Ben hatte ihr nicht einmal auf die Beine geholfen, sondern war einfach aus dem Raum gegangen.
Da war sie aufgesprungen und ihm nachgelaufen.
Sie hatte ihn am Arm gerissen und angeschrien: „Aber, das kannst du doch nicht machen! Du weißt doch, dass ich dich liebe! Das gestern hat mir doch überhaupt nichts bedeutet!“
Doch Ben hatte sie mit einem angeekelten und gleichzeitig so kalten Blick angesehen und lediglich gesagt: „Das hättest du vorher bedenken müssen“, und war einfach gegangen.
Seinen rotblonden Haarschopf hatte sie bloß noch von hinten gesehen und ihr hatte es schmerzhaft das Herz zusammengekrampft.
***
Und jetzt saß sie in ihrem Auto, musste nun wieder heimfahren und aus sich selbst wieder einen herzeigbaren Menschen machen. Sie versuchte nicht mehr zu weinen, damit ihre Augen nicht wie die eines Frosches aus den Höhlen traten.
Erste Anzeichen gab es sowieso bereits. Sie blickte in den Rückspiegel und sah ihre verschwollenen Augen. Schon zu spät.
Kermit ließ grüßen.
Gut, jetzt musste sie aber wirklich mit der Heulerei aufhören.
„So ein Blödmann“, tobte sie. Indem sie sich über Ben ärgerte, hoffte sie ihre Trauer und ihren Schmerz verdrängen zu können.
Und das wirkte recht gut! Also schimpfte sie wie ein Rohrspatz weiter, während sie startete.
Fluchend legte sie einen so heftigen Kavalierstart hin, dass die alte Frau, die soeben neben ihrem Auto mit ihrem Hündchen Gassi ging, zusammenfuhr. Aber auch ihr Pudel wurde vor Schreck zehn Zentimeter in die Höhe katapultiert und riss seine schwarzen Knopfaugen auf.
Das realisierte Emma allerdings kaum und interessierte sie bloß peripher.
Sie raste auf die Hauptstraße zu und steigerte sich so richtig in ihrem Zorn.
„Dass Ben aber auch immer aus jeder Mücke einen Elefanten machen muss!“, schrie sie den Rückspiegel an, um mit ihrem Spiegelbild ein Gespräch beginnen zu können. Irgendjemand musste sie doch verstehen, wenn es schon dieser engstirnige Ben nicht tat.
Machte einfach Schluss wegen so einer Lappalie!
Warf einfach die drei gemeinsamen Jahre weg! Drei wunderbare Jahre, in denen sie alles miteinander geteilt hatten!
Alles!
Sie waren zu Beginn der Beziehung so glücklich miteinander gewesen! So unglaublich glücklich! Der schüchterne, rotblonde Bursche mit den Sommersprossen war ein so toller Sportler und sie hatte ihn mit den Augen verschlungen, wenn er Tennisspielte.
Dass er sich für sie interessiert hatte, hatte ihr geschmeichelt, denn sie war sportlich nicht gerade eine Leuchte.
Darüber hatte er sich aber nie lustig gemacht. Im Gegenteil. Wenn sie beim Laufen Seitenstechen bekommen oder beim Tennisspielen einen Ball nach dem anderen auf den Nebenplatz gedonnert hatte, hatte er sie mit wertvollen Tipps unterstützt, die er genauso gut dem Tennisball geben hätte können. Die Wirksamkeit wäre die Gleiche gewesen.
Emma war schlicht und ergreifend untalentiert und daran konnten die besten Ratschläge nichts ändern.
Außerdem gaben ihr Laufen und Tennis überhaupt nichts, weshalb sie auch keinen außergewöhnlichen Ehrgeiz an den Tag legte.
Ihre große Leidenschaft war das Tanzen.
Und ausgerechnet dafür konnte sich Ben nun einmal überhaupt nicht erwärmen. Diesen ‘weiblichen Bewegungen’ konnte er nichts abgewinnen und Emma ärgerte sich über seine Sprüche. Die Bewegungen, die Ben als ‘weiblich’ bezeichnete, waren in ihren Augen nämlich einfach nur sexy.
Fand sie halt.
Und aus diesem Grund war sie auch allein in die Tanzschule gegangen.
Wenn er nicht wollte?
Und aus diesem Grund ging sie auch regelmäßig allein tanzen. Also, nicht allein, aber ohne Ben.
Wenn er nicht wollte?
Sollte sie tatsächlich auf ihr halbes Leben verzichten, nur, weil er so vieles nicht mochte?
Und ihm gefiel ja tatsächlich so vieles nicht!
Seit einem Jahr war das Zusammenleben mit ihm immer langweiliger geworden.
Er wollte nicht tanzen.
Er wollte nicht verreisen.
Er wollte auch nicht mit ihr in das Fitnesscenter gehen, das sie seit einem halben Jahr besuchte.
Dorthin ging Emma ausschließlich wegen der Zumba-Stunden, die ein feuriger Latino-Lehrer leitete. Puh, die heißen Rhythmen heizten ihr immer ein. Das machte doch wesentlich mehr Spaß als Bälle mit einem Schläger in der Gegend herumzupfeffern.
Es stimmte: Sie verbrachten aufgrund der unterschiedlichen Vorlieben immer weniger Zeit gemeinsam.
Aber Ben hätte ja ohne weiteres in das Fitnessstudio mitgehen und an den Geräten herumdrücken und ziehen können!
Das wäre gemeinsame Zeit gewesen.
Gut, zwar nicht wirklich gemeinsam, denn gesehen hätten sie sich ja auch dort nicht und eigentlich war die Mitgliedschaft auch relativ teuer.
Und genau da lag der Hund auch begraben.
Ben hatte nicht viel Geld.
Also, eigentlich hatte er fast gar keines, befand Emma. Er kam gerade so über die Runden und war mit seinem kargen Leben seltsamerweise aber trotzdem zufrieden.
Was er sich nicht leisten konnte, ging ihm nicht ab.
Dass er für luxuriöse Kreuzfahrten und eine Mitgliedschaft in einem teuren Fitnessstudio keine finanziellen Mittel übrighatte, störte ihn nicht einmal.
Er war daher auch nicht gewillt, sich von Emma unter die Arme greifen zu lassen.
Für sie wäre es finanziell kein Problem gewesen, denn sie war in einem begüterten Elternhaus aufgewachsen und kannte Geldsorgen lediglich vom langweiligen Jammern ihrer ehemaligen Studienkolleginnen.
„Das kommt gar nicht in Frage!“, war einer seiner Lieblingssprüche. „Was ich mir nicht leisten kann, brauche ich nicht. Ich lasse mich ganz sicher nicht von dir oder irgendjemandem aushalten. Ich kann für mich und meine eigenen Bedürfnisse selbst sorgen. Das, was ich brauche, habe ich und mehr will ich nicht!“
Er nicht!
Aber sie wollte mehr!
So gerne wäre sie mit ihm an Bord eines Kreuzfahrtschiffes in entfernte Länder gereist. Hawaii, Neuseeland, Polynesien. Alles wollte sie bereisen.
Aber nicht als Rucksacktouristin.
Nein, gemütlich in einer luxuriösen Balkonkabine mit einem Glas Malibu Orange in der Hand. In ihren Träumen sah sie sich, fein gekleidet, an Bens Arm in den prunkvollen Speisesaal treten und ein fünfgängiges Mahl genießen, während sie ihren Schmuck ausführen hätte können.
Doch derlei konnte sie vergessen.
Kreuzfahrten lehnte Ben schon allein deshalb ab, weil er sie für langweilige Fresserei-Reisen hielt, die lediglich großkotzige Angeber machten.
So ein Idiot, hatte sie sich über diese Sprüche stets geärgert.
So ein Macho, hatte sie sich über Bens unerträgliche Sturheit wahnsinnig gewurmt.
Aber gut, mit viel gutem Willen war sein Verhalten für Emma durchaus noch mit männlichem Stolz zu erklären, und mit noch mehr Augenzwinkern, auch zu verstehen gewesen.
Doch tanzen hätte er mit ihr gehen können! So ein Tanzkurs kostete nicht die Welt.
Aber nein! Nicht einmal das wollte er! Und nur, weil sie sich am Vorabend etwas amüsiert hatte, zuckte er so aus!
Ja! Okay! Es stimmte! Sie hatte sich ohne ihn vergnügt.
Und vielleicht war sie auch tatsächlich etwas zu weit gegangen.
Aber warum war er dann nicht mit ihr in den Nachtclub gegangen?
Es war doch nicht ihre Schuld, dass er so ein Langweiler war!
Und nur deshalb hatte er jetzt mit ihr Schluss gemacht? Einfach so?
Nur deshalb?
Ja, deshalb!
Dieser machogetränkte Vollidiot, steigerte sie sich nun so richtig in ihren Zorn hinein.
Vielleicht ist es wirklich besser so, dachte sie, als sie sich vor der Villa ihrer Eltern einparkte und versuchte, ihrer Mutter nicht in die Arme zu laufen.
Manuel saß im breiten Lederstuhl seines Büros und stierte mit tiefliegenden Augen vor sich hin. Die unerträgliche Stille des Feierabends lähmte ihn.
Schlagartig war diese grausame Energielosigkeit mit dem letzten Mitarbeiter, der sein Büro verlassen hatte, in seine Glieder gefahren.
Wie jeden Tag.
Es war 20 Uhr. Seine mühsam aufgebrachte, nur durch eiserne Disziplin erlangte Aktivität, die ihn über den Arbeitstag brachte, war einer stumpfen Lethargie gewichen. Nun begann die schlimmste Zeit des Tages. Die, wonach er nicht mehr durch seine Tätigkeit, Meetings, Kollegen oder Telefonate abgelenkt wurde.
Die, wo er allein war.
Seine Mitarbeiter waren bereits alle nach Hause gegangen. Zu ihren Familien.
Er hingegen saß zusammengesunken in seinem Büro und hatte keine Lust heimzugehen.
Die vergangenen fünf Wochen waren wie ein einziger Albtraum gewesen. Er wartete manchmal noch immer darauf, dass er aufwachte und sich herausstellte, dass das alles gar nicht wirklich geschehen war.
Doch er wachte nicht auf.
Die vergangenen Wochen waren kein schlechter Traum.
Sie waren Realität.
Birgit war tot.
Vor drei Wochen hatte er hinter Birgits Sarg gehen und einen Strauß roter Rosen in das kalte Grab werfen müssen.
Die weiße Rose, die ihm Bea an Birgits Todestag an den Revers gesteckt hatte, lag inzwischen auf seinem Nachtkästchen.
Verdorrt.
Bea hatte sich während des Begräbnisses an seine Hand geklammert. Er hätte ihre zarten Finger fast zerdrückt, so sehr hatten sie versucht, sich gegenseitig Halt zu geben.
Erfolglos.
Nach dem Begräbnis ging Bea mit ihren Eltern heim.
„Komm mit uns!“, hatte sie Manuel eingeladen, mitzukommen. „Du sollst nicht allein sein“, hatte sie ihn förmlich beschworen.
Sie dachte dabei auch an Birgits letzte Worte, damals, als Bea sie beim Friseur zum letzten Mal gesehen hatte.
Auf diesem Friseurstuhl.
Lachend.
Voll Vorfreude.
Wie hätte Bea damals ahnen können, dass die geliebte Schwester eine Stunde später tot sein würde?
Daher hatten sich Birgits letzte Worte auch so sehr in Beas Gedächtnis gebrannt: „Manuel mag dich so. Ich bin sicher, ihn schmerzt der Verlust seiner eigenen Familie nicht so sehr, wenn du bei ihm bist.“
Mit diesen Worten hatte Birgit ihrer Schwester die Verantwortung für Manuel übertragen. Birgits letzten Wunsch empfand Bea daher fast als Verpflichtung.
Nach Birgits Tod umso mehr.
Jetzt war er nämlich wirklich ganz allein.
Bea wollte ihm daher das Gefühl geben, für ihn da zu sein. Es war aber nicht nur der letzte Wunsch ihrer Schwester, der sie dazu drängte.
Es war auch die Hoffnung, im gemeinsamen Schmerz etwas Trost zu finden. Geteiltes Leid ist halbes Leid, hatte sie irgendwo einmal gelesen. Vielleicht stimmte es!
Manuel hatte jedoch wie versteinert geblickt, als sie ihn gebeten hatte, mit ihr und ihren Eltern mitzukommen.
„Danke, lieb von dir und deinen Eltern. Aber ich kann nicht!“, hatte er abgelehnt und sich vollkommen zurückgezogen.
Am Tag darauf hatte er wieder seine Arbeit aufgenommen. Die Tätigkeit war das Einzige gewesen, das ihn ein wenig abgelenkt hatte. Er war in seiner Beschäftigung regelrecht versunken.
Doch nun war Dienstschluss. Es war ruhig im Haus. Kein Telefonklingeln mehr, keine Schritte am Gang.
Alle Angestellten waren heimgegangen und er erhob sich schwerfällig und nahm sich aus der Bar seinen ersten Whiskey.
Wie jeden Abend. Seit drei Wochen. Gut, dass er nicht heimfahren musste.
Er hatte in seinem Büro eine Verbindungstür, die in ein vollständig eingerichtetes Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer führte. Seit dem Begräbnis war es für ihn zur Gewohnheit geworden, gar nicht mehr heimzufahren, sondern im Büro zu übernachten.
Wozu hätte er heimfahren sollen?
Es wartete doch niemand auf ihn. Was hätte er demnach in seiner einsamen Villa tun sollen?
In diesem Bett, das nie wieder nach Birgit duften würde? So sehr er seine Nase auch in ihr Kissen vergraben hatte, ihr Duft hatte sich irgendwann verflüchtigt.
Als Berta, seine Haushaltshilfe, die Betten neu überzogen hatte, hatte es für ihn keinen Grund mehr gegeben, weiterhin in diesem Schlafzimmer zu übernachten. Zu viele schöne, aber auch so schmerzhafte Erinnerungen quälten ihn.
Es war einfacher, wenn er gleich im Büro blieb. Einfacher und nicht so leidvoll.
Seit drei Wochen genehmigte er sich nach dem Arbeitstag einige Drinks und fiel irgendwann völlig benommen in das Bett, um sich am nächsten Morgen nach einer kühlen Dusche gleich wieder an den Schreibtisch setzen zu können.
Nur so hatte er die vergangenen Wochen überhaupt aushalten können und er versuchte demnach nicht an diesen schrecklichen Tag zu denken. Und doch verirrten sich seine Gedanken immer wieder dorthin.
Dann aber spürte er ihn wieder, diesen gefräßigen Schmerz, der ihn beinahe verschlingen wollte.
Und doch konnte er es nicht lassen, ständig an Birgits letzte Minuten zu denken. Jeden Abend, wenn er noch nicht betrunken genug war, quälte er sich mit den zerstörerischen Gedanken nach dem ‘Warum’.
Und dann sah er sie im Geiste wieder ganz allein auf dieser Straße in den Tod laufen. Ein Gedanke, der ihm im Nachhinein so weh tat.
Niemand war in den letzten Minuten ihres Lebens bei Birgit gewesen.
Als sie starb, hatte er wohl gerade das Kopfwehpulver, das sie ihm durch Bea geschickt hatte, geschluckt, während Birgits Eltern immer ungeduldiger auf sie gewartet hatten.
Ja, es war niemand bei ihr gewesen. Sie starb ganz allein auf dieser Bundesstraße. Und seither verging kein Tag, an dem er nicht vor seinem geistigen Auge sah, wie sie den Friseurladen verlassen hatte.
Gutgelaunt und wunderschön mit ihrer kunstvollen Hochsteckfrisur.
Birgit musste nur eine einzige, kaum befahrene Straße in ihrem winzigen Heimatort überqueren.
Und doch gab es diesen einen Autofahrer, der sie genau in dem Moment angefahren hatte, als Birgit die Fahrbahn überquerte.
Er muss mit erhöhter Geschwindigkeit unterwegs gewesen sein, denn Birgit wurde fast hundert Meter durch die Luft geschleudert, bis sie mit tödlichen Schädelverletzungen auf dem harten Asphalt liegen geblieben war. Der Autofahrer beging danach Fahrerflucht.
Das Unfallauto war zu diesem Zeitpunkt wohl das einzige Fahrzeug auf der Straße und Fußgänger waren in diesem verschlafenen Ort sowieso fast nie unterwegs.
Daher gab es auch keine Augenzeugen des Unfallherganges.
Als Birgit nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause gekommen war, hatte sich ihre Mutter Sorgen gemacht und war von ihrem Wohnhaus zum Friseur gelaufen.
Sie hatte ihre Tochter auf der Straße liegend gefunden. Die Sanitäter, die sehr rasch am Unfallort gewesen waren, hatten jedoch nur mehr Birgits Tod feststellen können.
Danach war alles aus Manuels Erinnerung ausgeblendet.
Er wusste bloß noch, dass er in den kommenden Tagen fast täglich zu der Unfallstelle gefahren war. Stundenlang hatte er das mit roter Farbe gemalte Markierungskreuz angestarrt, wo Birgits Körper aufgeprallt war.
Bis ihn Bea aufgefordert hatte, damit aufzuhören.
„Manuel, das bringt sie uns nicht zurück, treibt dich aber irgendwann in den Wahnsinn“, hatte sie sich Sorgen gemacht.
„Du hast recht“, hatte er ihr zugestimmt. Doch einige Tage lang war er trotzdem noch zum roten Kreuz gepilgert. Er wollte und musste an dem Ort sein, wo Birgits Seele ihren Körper verlassen hatte. Es war wie ein innerer Zwang gewesen.
Zwei Wochen lang. Bis zu Birgits Begräbnis.
Nachdem er wieder zu arbeiten begonnen hatte, war er nicht mehr dazugekommen, zum roten Kreuz zu fahren.
Frieden hatte ihm das Fernbleiben aber auch nicht gebracht.
Seine sich ständig im Kreis drehenden Gedanken hörten trotzdem nicht auf. Sie quälten ihn weiterhin. Diese peinigenden Gedanken, die nach dem ‘Warum’ fragten, schrien förmlich nach einer Antwort.
Es war nämlich so unfassbar!
Dieser Unfall war so unvorstellbar sinnlos!
Wie hatte das passieren können? Seine Gedanken überschlugen sich förmlich, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er betrachtete die reinen Fakten, die den Unfall so unfassbar machten.
Auf einer geraden Strecke!
Bei freier Sicht!
Am Vormittag!
Wieso hatte der Unfallfahrer Birgit bei diesen optimalen Sichtverhältnissen nicht gesehen?
Der schuldige Lenker konnte von der Polizei ausfindig gemacht werden.
Doch getröstet hatte das Manuel nicht.
Es war eine Genugtuung.
Aber kein Trost!
Und auch keine Erklärung, denn der Lenker war, laut eigenen Angaben, zum Unfallzeitpunkt weder betrunken noch durch Medikamente beeinträchtigt gewesen. Lediglich durch das Läuten seines Handys war er abgelenkt worden, hatte er zu Protokoll gegeben.
Und danach war er in Panik davongefahren. Geschockt, wie er behauptet hatte.
Sollte ihn das beruhigen? Besänftigen? Birgits Tod erklären?
Nichts davon konnte Manuel beruhigen, besänftigen oder Birgits Verlust erklären.
Er war seither wie betäubt und hatte bis zum Begräbnis einfach nur irgendwie körperlich funktioniert.
Zum ersten Mal, seit er die Firma gegründet hatte, war er nach dem Unfall nicht am Arbeitsplatz erschienen. Er hatte sich gar nicht bewegen können. Gemeinsam mit Birgits Eltern und Bea hatte er das Begräbnis organisiert und wie eine Marionette von Birgit Abschied genommen.
Ohne wirklich realisiert zu haben, was das tatsächlich für ihn bedeutete.
Nach dem Begräbnis war er erstmals wieder in die Firma gefahren und hatte dort so viel Ablenkung gefunden, dass er gar nicht mehr in seine Villa heimgekehrt war.
Die Arbeit tat ihm gut. Solange er unter Menschen war, war alles in Ordnung.
Oder zumindest erträglich.
Nun kam der Schmerz wieder und den galt es zu betäuben.
Manuel ließ einen Eiswürfel in das Glas fallen, schwenkte kurz das Glas und stürzte den Whiskey in einem Schluck hinunter. Dann schenkte er nach und hoffte auf die einsetzende Wirkung, hoffte auf ein rasches Vergessen.
Diese Minuten zwischen der hektischen Betriebsamkeit des Arbeitstages und der stillen Einsamkeit des Feierabends waren die schlimmsten des Tages.
In diesen Momenten wollte die Trauer wieder von ihm Besitz ergreifen und das musste er mit allen Mitteln verhindern.
Er konnte sich nicht damit auseinandersetzen, weil ihn dieser quälende Schmerz sonst zerrissen hätte.
Nicht einmal Birgits Gesicht konnte er sehen. Das Foto, das auf seinem Schreibtisch im Büro gestanden hatte, hatte er wegnehmen müssen, weil es einfach zu sehr schmerzte, ihre strahlenden blauen Augen zu sehen und zu wissen, dass sie ihn nie wieder anlächeln würde.
Am ersten Arbeitstag hatte er das gerahmte Foto zur Hand genommen und über das kalte Glas gestrichen. Er hatte gehofft, noch einmal die Weichheit ihrer blonden Haare zu fühlen und den Duft ihres Shampoos zu riechen. Doch alles, was er spürte, war ein grässlicher, unerträglicher, vernichtender Schmerz gewesen, der ihn augenblicklich dazu veranlasst hatte, das Foto in die Schreibtischlade zu werfen, um nie wieder an seinen Verlust erinnert zu werden.
Vergessen.
Einfach nur vergessen, war seine Devise, mit der er zu überleben versuchte.
Nun holte er das Foto abermals hervor und strich voll Sehnsucht über das Bild und augenblicklich schnürte es ihm wieder die Kehle zu. Ein heftiges, trockenes Schluchzen brach aus ihm hervor, als er erkannte, dass dieses Tun doch einer Selbstgeißelung glich.
Verzweifelt verstaute er das Bild wieder in der Schublade, trank wie ein Verdurstender das nächste Glas leer und füllte wieder nach.
Als er den leichten Schwindel, der ein Absinken in ein gnädiges Vergessen ankündigte, verspürte, nahm er sein Glas sowie die Flasche und begab sich in das angrenzende Schlafzimmer.