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Auf Schloss Stollenberg wird eine Frauenleiche gefunden. Es ist bereits der zweite Mord innerhalb weniger Wochen und auch dieses Mal hinterlässt der Mörder in den gefalteten Händen des Opfers eine Wildrose. War das die Tat eines religiösen Fanatikers? Der alte Baron Frederik von Stollenberg versucht der Polizei bei der Aufklärung behilflich zu sein … bis seine Söhne Philipp und Stefan in das Visier der Ermittlungen geraten. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die 22-jährige Monika, die zu beiden Söhnen ein nahes Verhältnis zu haben scheint. Bringt sie diese Verbindung in tödliche Gefahr? Fesselnd und einfühlsam gewährt dieser Roman tiefe Einblicke in verletzte Seelen. Ein romantischer Krimi über die Kraft der Wünsche, die Macht der Worte aber in erster Linie ein Buch über die Liebe.
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Das Kätzchen
Wildrose in der Hand
Der Wunschbrunnen
Gut, wir kommen
Der Junker
Wem es beliebt
Sie ist da, oder nicht
Kann ich mich verlassen?
Läufige Hündin
Alibi
Falsch gedacht
Das Ansehen der Familie
Wenn er nicht redet
Gott will mich bestrafen?
Bitte nicht!
Faschierte Männer
Das waren wir
Auf ein Wort
Essigwickel
Beichte
Picknick
Du kannst dichten?
Das Böse ausradieren
Prinzipien über Bord
Wolke mit Wurzeln
Jausenpaket
Früher vielleicht einmal
Unnötige Angst
Aphrodisiakum
Nie ein böses Wort
Appetit
Vertrauen verloren
Olga von der Wolga
Motorengeräusche
Freudenspendende Natur
Tickende Zeitbombe
Fettnäpfchen
Eros und Agape
Offenheit
Das Gebetbüchlein
Sonne des Lebens
Eine Kommune?
Wenn du weißt, was ich meine
Schmutzige Kniescheiben
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Danksagung
Brigitte Kaindl
Der Mörder und die Wildrose
Das Geheimnis des Wunschbrunnens
Roman
Buch
Auf Schloss Stollenberg wird eine Frauenleiche gefunden. Es ist bereits der zweite Mord innerhalb weniger Wochen und auch dieses Mal hinterlässt der Mörder in den gefalteten Händen des Opfers eine Wildrose. War das die Tat eines religiösen Fanatikers?
Der alte Baron Frederik von Stollenberg versucht der Polizei bei der Aufklärung behilflich zu sein … bis seine Söhne Philipp und Stefan in das Visier der Ermittlungen geraten. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die 22-jährige Monika, die zu beiden Söhnen ein nahes Verhältnis zu haben scheint. Bringt sie diese Verbindung in tödliche Gefahr?
Fesselnd und einfühlsam gewährt dieser Roman tiefe Einblicke in verletzte Seelen. Ein romantischer Krimi über die Kraft der Wünsche, die Macht der Worte aber in erster Linie ein Buch über die Liebe.
Autorin
Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie Romane mit sozialkritischem Hintergrund.
Ihre bisherigen Bücher:
„Mein Weg aus dem Fegefeuer“, Untertitel: „Missbrauch, Leid in der Dunkelheit“, (2018 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“), Autobiografie
„Die zwei Wölfe“, Untertitel: „Jenseits des Fegefeuers“, (2024 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“), Autobiografie
„Das Echo des Herzens“, (2019), Roman
„Das Echo des Rosenmordes“ (2020), Roman
„Das Echo von Gottlieb“ (2020), Roman
„Christians Geheimnis“ (2020), 3 Romane der Echo-Trilogie
„Mann, oh Mann!“ (2020), Humorvolle Unterhaltungsliteratur
„Der Tote und das Gänseblümchen“ (2021), Roman
„Der Tod der Braut“ (2021), Roman
„In einem Meer voll Tränen“ (2021), Roman
„Der Tod des Bräutigams“ (2023), Roman
Impressum
Urheberrechtlich geschütztes Material
Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl
www.brigittekaindl.at
Alle Rechte vorbehalten
Autor: Brigitte Kaindl
© Urheberrechtlich geschütztes Material
Umschlaggestaltung, Illustration: Brigitte Kaindl
Der Rose Dorn, gebogen, fest.
Den Stich dir nie vergessen lässt.
Fidi rallala, Fidi rallala,
Fidi rallalallala
Die Frau trat aufs Gaspedal. Die Straße war sehr kurvig und die regennasse Fahrbahn vertrug so hohe Geschwindigkeiten gar nicht. Doch sie dachte nicht an die Gefahren der Straße.
Die Gefahr, vor der sie flüchtete, war viel größer. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, weil sie ihr die Sicht nahmen und fuhr trotzdem wie von wilden Furien gehetzt weiter.
Da nahm sie im Rückspiegel näherkommende Lichter wahr. Automatisch zuckte sie zusammen.
Du bist doch nicht die Einzige auf der Straße, mahnte sie sich zur Ruhe und versuchte die Lichter nicht ernst zu nehmen, blickte wieder konzentriert auf die Straße.
Erst als die Scheinwerfer des Fahrzeuges hinter ihr näher und näher kamen, wurde sie unruhig. Also, noch unruhiger, als sie sowieso bereits war. Sie starrte in den Rückspiegel und erschrak.
Das Auto hinter ihr fuhr immer schneller, näherte sich ihr ziemlich rasch und die Scheinwerfer blendeten sie bereits.
Warum überholt er nicht, wenn er es so eilig hat? Und wieso hat der Fahrer sein Fernlicht eingeschaltet?
Automatisch kippte sie den Rückspiegel, damit sie nicht so stark geblendet wurde und erkannte plötzlich das Fahrzeug sowie den Fahrer, der mit verbissener Miene das Lenkrad hielt.
Oh, mein Gott!
Er ist es!
Er verfolgt mich!
Er hat mich also doch gesehen!
Ihr Herz schlug ihr vor Angst bis zum Hals. Sie kannte sich in dieser Gegend aus, war schon oft zu Fuß hierhergekommen.
Doch noch nie war sie diese Straße mit den engen Kurven in der Nacht gefahren.
Wie kann ich ihn abschütteln?, überlegte sie panisch. Es war dunkel und die Gegend war menschenleer. Hier gab es keine Siedlung, keine Häuser.
Seit sie verfolgt wurde, sah sie vor sich nur die regennasse, kurvige Straße und außer dem Auto hinter ihr war niemand unterwegs. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also stieg sie automatisch noch mehr aufs Gaspedal, denn ihr Verfolger wollte offenbar in das Heck ihres Autos krachen.
Er will mich umbringen!
Er will mich von der Straße abdrängen!, überschlugen sich ihre Gedanken.
Sie war nun mit dem Fuß am Anschlag und nahm in diesem Moment die scharfe Linkskurve wahr. Der Wagen begann zu rutschen, doch sie riss das Lenkrad herum, versuchte dem Schleudern gegenzusteuern. Trotzdem schlingerte das Auto auf der regennassen Fahrbahn.
Im Affekt stieg sie auf die Bremse, doch das machte es bloß schlimmer. Nun drehte sich der Wagen um die eigene Achse und schlitterte auf den Abgrund zu. Ohne Kontrolle.
Mit schreckgeweiteten Augen merkte sie, wie ihr Auto auf der Beifahrerseite mit einem grässlichen Krachen die Leitschiene durchbrach und auf den Abgrund zuschoss.
Wie in Zeitlupe spielte sich dieses Schreckensszenario ab und sie war vollkommen hilflos und machtlos. Die Lenkung reagierte nicht mehr auf ihre verzweifelten Versuche, das Auto auf der Straße halten zu können. Als sie den Abhang auf sich zukommen sah und in die Tiefe stürzte, konnte sie nur mehr schreien.
August 1981
Die achtjährige Ina lief so schnell sie konnte. Ihre dunklen Locken sprangen um ihr Gesicht und sie hielt ein kleines Kätzchen liebevoll an sich gedrückt. Gut, dass sie das Gespräch ihrer Eltern in der Früh belauscht hatte.
„Ich habe heute mit der Grete telefoniert. Sie hat mir erzählt, dass die Mieze im Stall schon wieder geworfen hat und so viele Mäuse gibt es gar nicht, wie die jetzt Katzen haben“, hatte Inas Mama ihrem Vater erzählt.
„Aber was geschieht denn mit den kleinen Kätzchen?“, hatte Ina ihre Mutter gefragt, wonach ihr Vater geantwortet hatte: „Die werden ertränkt! Das ist auf einem Bauernhof Usus.“
Die Mutter hatte ihn streng angesehen, als sie das erschrockene Gesicht ihrer Tochter wahrgenommen hatte.
„Ist ja so!“, hatte er lediglich mit der Schulter gezuckt. Er war doch nur ehrlich. Was sollte daran falsch sein?
„Kann ich mir dann ein Kätzchen nehmen?“, hatte Ina daraufhin zu betteln begonnen. „Bitte, Mama, ich hätte so gerne ein Kätzchen und wenn sie sie am Bauernhof nicht haben wollen? Bitte, darf ich mir dann eines holen?“
Inas Mutter hatte ihren Vater angesehen und er hatte lediglich genickt.
„Na gut, dann hol dir halt eines von der Tante Grete“, konnte er seiner Tochter sowieso nie einen Wunsch abschlagen.
Ina war sofort den zwei Kilometer langen Forstweg zu der Schweinezuchtfarm hochgelaufen, auf der ihre Tante arbeitete. Grete hatte das kleine Mädchen in den Stall geführt, wo sie die Katze mit ihren Jungen wusste.
Inas Herz hatte vor Entzücken jubiliert, als sie die kleinen Kätzchen gesehen hatte. Sie konnten noch gar nicht richtig miauen, maunzten lediglich. Das kleine Mädchen kniete sich zu den Katzenbabys und begann sie zu streicheln.
„Die sind ja alle so süß“, hatte sie sich gar nicht entscheiden können. „Am liebsten würde ich sie alle nehmen.“
„Da hätte deine Mama aber keine Freude“, sagte Grete im lauten, bayerischen Dialekt. „Also suche dir eine aus, und zwar ein bisserl rascher. Es sind ja nur Katzenviecher und ich muss heute noch weiterarbeiten!“, hatte sie es offenbar eilig.
Ina entschied sich für die kleinste Katze. Das Tigerkätzchen zuckte immer zusammen, wenn Grete sprach. Offenbar war es das scheuste Tier und Ina spürte, wie sich sofort eine innige Beziehung zwischen ihr und dem Kätzchen entwickelte. Sie nahm das zarte Tierchen hoch und es begann zu schnurren. Da wusste Ina, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.
Ina verließ soeben mit ihrem Schützling den Stall und wollte heimlaufen. Sie konnte es gar nicht erwarten, ihrer Mutter das kleine Kätzchen zu zeigen.
Als sie an dem kleinen Nebengebäude des Bauernhofes vorbeilief, in dem auch Tante Grete wohnte, kam sie jedoch aus heiterem Himmel zu Fall.
Das ausgestreckte Bein der kleinen Christl hatte sie nicht gesehen, denn sie hatte nur Augen für das kleine, schnurrende Lebewesen in ihrem Arm gehabt. Sie hatte ja nicht einmal ihre Cousine wahrgenommen.
Die sechsjährige Christl war auf der Bank vor dem Haus gesessen und als Ina an ihr vorbeigelaufen war, hatte sie der Teufel geritten. Es war so langweilig auf dem Hof, da wollte sie einmal etwas Tolles erleben. Und was gab es unterhaltsameres, als die ältere Cousine stürzen zu sehen? Für Christl nicht viel! Und wie spektakulär Ina hingefallen war. Sie hatte sich mit dem Gesicht regelrecht in den Kiesweg eingebaut, weil sie sich nicht abstützen konnte.
Ihre Hände hatte Ina während des Sturzes noch fester um das Kätzchen gelegt. Sie konnte sich daher gar nicht abstützen, denn sie musste die Katze beschützen. Nicht auszudenken, wenn sie auf das kleine Tier gefallen wäre.
Die blonde Christl hingegen fand den Anblick, den ihr Ina bot, köstlich.
„Hahaha!“, lachte sie lauthals, als Ina so unterhaltsam auf ihr Gesicht geknallt war.
„Blöde Ina, schleck, schleck schleck, jetzt liegst du herum im Dreck!“, hänselte sie Ina nun auch noch, anstatt ihr zu helfen.
Da hörte Ina Schritte näherkommen.
„Christl, warum hast du das getan?“, hörte sie eine männliche Stimme und spürte eine Hand auf ihrer Schulter, während sie bloß an ihr Kätzchen dachte.
Hoffentlich habe ich es nicht zerdrückt!
Doch Christl lachte nur.
„Hast du das gesehen? Es hat so lustig ausgeschaut!“, konnte sie nicht zu kichern aufhören.
„Aber der Sturz hätte das Mädchen verletzen können“, ermahnte der Besitzer der Stimme, die Ina noch nie gehört hatte. „Komm, ich helfe dir auf“, sagte er zu Ina. Sie blickte hoch, kannte den Burschen aber nicht, der sich zu ihr beugte.
„Ich bin der Fredi!“, stellte er sich vor. „Komm, gib mir deine Hand.“
„Aber mein Kätzchen!“, sagte Ina.
„Was denn für ein Kätzchen?“, fragte er, denn er konnte nichts sehen. Ina lag auf dem Bauch und hatte die Arme noch immer um ihre Katze geschlungen. Ihr schien nichts so wichtig zu sein, wie dieses kleine Fellknäuel.
„Das Katzenviech, das sie sich aus dem Stall geholt hat“, erklärte Christl und lachte weiterhin lauthals. „Wie kann man nur so blöd sein und ...“
Weiter kam Christl nicht, denn völlig überraschend stand ihre Mutter neben ihr. Tante Grete gab ihrer Tochter so eine schallende Ohrfeige, dass ihr die letzte Gehässigkeit nicht mehr über ihre Lippen kommen konnte.
„Christl, jetzt schleich dich aber! Was hast du denn schon wieder aufgeführt?“
„Nichts, Mama, die Ina ist nur hingefallen“, log Christl und hielt sich ihre schmerzende Backe.
„Weil du ihr das Bein gestellt hast“, dürfte Grete ihre Tochter hingegen offenbar beobachtet haben. „Du verlogenes Miststück gehst jetzt sofort auf das Zimmer, sonst hol ich den Teppichklopfer!“, schrie sie ihre Tochter an. Christl lief daraufhin in ihr Zimmer und Grete stellte sich vor Ina.
„Und du passe halt ein bisserl besser auf, wo du hinläufst!“, war für sie die Sache erledigt und ging wieder an ihre Arbeit.
Fredi hatte die Szene währenddessen stumm verfolgt. Als Tante Grete wieder im Stall war, nahm er das kleine Mädchen an der Schulter und zog es hoch. Sie saß nun am Boden und hielt die kleine Katze fest in ihrem Arm.
Das Tier war unversehrt. Inas Gesicht jedoch blutverschmiert.
„Du blutest im Gesicht. Das gehört gesäubert“, wusste er. „Komm, gib mir die Katze und wasche dich dort am Brunnen“, empfahl er.
„Nein, ich gebe mein Kätzchen nicht her.“
„Ich will es dir ja nicht wegnehmen, ich halte es nur, damit du das Blut abwaschen kannst.“
„Nein“, blieb sie eisern, denn sie hatte Angst, dass das Katzenjunge ertränkt werden würde, wenn sie es irgendjemandem in die Hand gäbe.
Ihr Papa hatte doch erzählt, dass das hier so mit kleinen Kätzchen gemacht wurde. Dieser Fredi sah zwar nicht so aus, als würde er so etwas tun, doch sie wollte es trotzdem nicht riskieren.
„Gut!“, nickte Fredi und zog ein weißes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche. Er ging zum Brunnen, befeuchtete es und kam zu Ina zurück.
Dann kniete er sich zu ihr und reinigte behutsam ihr Gesicht. Sie beobachtete ihn dabei und gewann Zutrauen zu ihm, als sie ihm zusah, wie konzentriert, aber auch wie sanft er ihr Gesicht säuberte. Er versuchte ihr nicht wehzutun, tupfte bloß, anstatt zu reiben.
Ich glaube, er hätte mein Kätzchen nicht umgebracht, dachte sie und hielt ihm vertrauensvoll ihr Gesicht entgegen.
„Es hat dich nur leicht erwischt“, lächelte er. „Es sind bloß ein paar Kratzer und in ein paar Tagen wirst du wahrscheinlich grün und blau im Gesicht werden. Aber bis du heiratest, ist alles wieder gut“, scherzte er. „Wie heißt du denn?“, fragte er, während er nun auch noch das Blut von ihrem aufgeschlagenen Knie abtupfte.
„Ich bin die Ina.“
„Und wie heißt deine kleine Freundin?“, deutete er auf das Kätzchen.
„Ich glaube, es ist ein Männchen“, erklärte Ina. „Zumindest hat das die Tante Grete gesagt.“
„Gut, und hast du schon einen Namen für ihn?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Nein, noch nicht. Ich habe ihn ja gerade erst geholt.“ Dann sah sie zu dem kleinen Kater und gleich danach zu Fredi.
Da hatte sie eine Idee.
„Ich werde ihn Fredi nennen, denn er hat genauso grüne Augen wie du“, erklärte sie.
„Echt?“, fragte Fredi und besah sich das Kätzchen genauer, strich über sein Köpfchen. Der Kater blickte hoch und Fredi nickte, als er die großen, grünen Katzenaugen sah. „Tatsächlich!“, nickte er. „Da habe ich jetzt aber einen sehr lieben Namensvetter“, lachte er, als er den kleinen Fredi unter seinem Kinn massierte, wodurch das Kätzchen seinen Hals lang machte und seine Lider hingebungsvoll schloss, um intensiver genießen zu können.
„Er mag dich“, sagte Ina.
„Ich glaube, er mag jeden, der ihn streichelt.“
„Nein! Jeden nicht! Vor Tante Grete hat er Angst gehabt!“, erklärte sie, warum sie sich ausgerechnet für diesen Kater entschieden hatte.
„Gut, vor Grete fürchte manchmal sogar ich mich!“, lachte Fredi und ging zum Brunnen, um sein blutiges Tuch auszuwaschen. Danach hing er es über eine Wäscheleine zum Trocknen und kam zu ihr zurück.
Sie saß noch immer am Boden und machte keine Anstalten, aufzustehen. Da erkannte er, dass sie es allein wohl gar nicht schaffte, weil sie das Kätzchen auf keinen Fall aus der Hand geben würde.
„Soll ich dir aufhelfen?“
„Nein, das geht schon“, lehnte sie entschlossen seine Hilfe ab. Doch dann merkte sie, dass es schwierig werden würde, nachdem sie sich nicht abstützen konnte. Also legte sie Fredi vertrauensvoll den kleinen Kater in seine Hände.
„Willst du ihn so lange halten?“, fragte sie, weil sie inzwischen wusste, dass er ihrem kleinen Liebling nichts tun würde.
„Ja!“, nahm er den kleinen Katzen-Fredi in seine riesigen Pranken. Er drückte den Kater an sich und streichelte ihn, sodass er ohne Unterbrechung weiterschnurrte. Ina stand währenddessen auf.
„Tut dir etwas weh?“, fragte er, weil ihr Knie, auf das sie gefallen war, ziemlich aufgeschunden war.
„Nur ein bisschen“, antwortete sie tapfer und klopfte ihr Kleid ab. Dann streckte sie die Arme nach ihrem kleinen Liebling aus und er legte ihr das Kätzchen wieder vorsichtig in die Arme.
„Wohnst du weit weg? Ich habe ein Fahrrad. Soll ich dich damit heimfahren?“, bot er an.
„Nein, danke“, lehnte sie ab. „Es ist nicht sehr weit und ich könnte mich ja gar nicht festhalten“, war sie scheinbar nur auf das Kätzchen fixiert. Sie küsste das Katzenköpfchen und humpelte los. Dann drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihn an.
„Danke, Fredi! Du bist wirklich sehr lieb“, sagte sie und machte sich mit ihrem kleinen Fredi auf den Heimweg.
6. Oktober 2018
Monika Dolar trat in die frische Morgenluft. Der Oktober zeigte sich von seiner schönsten Seite, denn die vor kurzem aufgegangene Sonne versprach wieder einen warmen Herbsttag. Sie blinzelte in die Sonne, schloss kurz ihre Augen und sog die würzige Morgenluft ein.
Die 22-jährige Angestellte wollte nicht ständig grinsen und doch bekam sie dieses Dauerlächeln nicht aus ihrem Gesicht. Sie konnte es nämlich noch immer nicht fassen. Hätte Philipps Einladung nicht mit ‘Liebe Monika’ begonnen, hätte sie an einen Irrtum gedacht.
Nicht aus mangelndem Selbstwertgefühl.
Gut, vielleicht doch auch ein wenig. Monika war zwar eine selbstsichere Frau, die ihre Rundungen dort hatte, wo sie sein sollten. Ihr dunkelblondes, schulterlanges Haar trug sie meist offen und ihr hübsches Gesicht mit den blauen Augen schminkte sie dezent. Sie wusste demnach, dass sie sich über ihr Aussehen nicht beklagen durfte.
Und doch hatte Philipp bislang kaum Notiz von ihr genommen und diese Nichtbeachtung hatte Stück für Stück von ihrer Selbstsicherheit weggeknabbert. Bis sie sich irgendwann gefragt hatte, was denn an ihr nicht stimmte.
Dann das piepsende Handy in den heutigen Morgenstunden, das eine eingehende Textnachricht anzeigte: Philipp! Er hatte sie zum Abendessen eingeladen!
Unglaublich!
Glücklich summend eilte sie zu ihrem Auto, das in der Garage des Schlosses geparkt war.
„Na, warum so glücklich heute?“, hörte sie plötzlich eine männliche Stimme. Der grauhaarige Jakob stand mit seiner Gartenschere am Wildrosenstrauch und grüßte zu ihr herüber. Sie hatte ihn in ihrer Euphorie gar nicht gesehen.
„Einfach so!“, lachte Monika daher dem alten Mann zu und hob ihre Hand zum Gruß. Sie mochte den Gärtner zwar, aber den Grund für ihre heitere Stimmung würde sie für sich behalten.
Und nicht nur, weil der hochgewachsene Gärtner seit dem Tod seiner Liebsten jeden Menschen ausfragte, der des Weges kam. Nicht wirklich aufdringlich! Aber man merkte, wie sehr ihm seine Familie fehlte und wie intensiv er nach menschlicher Gesellschaft gierte, seit er ganz allein war.
Seine Emotionen pendelten immerzu zwischen Trauer und Hoffnungslosigkeit. Trotzdem wollte er niemanden mit seiner Schwermut belasten.
Also hielt er sich ständig dort auf, wo man ihn nicht übersehen konnte, und freute sich über jedes Gespräch, auch wenn es noch so kurz war.
Obwohl früher eher schweigsam, hatte sein Sehnen nach Geselligkeit aus ihm einen neugierigen Menschen gemacht. Das geschah intuitiv. Wenn er Fragen stellte, wurden die Gespräche länger und die Einsamkeit kürzer. Doch diese Fragerei mochte Monika nicht besonders. Bei niemandem.
Obwohl sie Jakob verstand. Er war einsam. Einfach nur einsam seit dem schrecklichen Mord an seiner Tochter und dem unfassbaren Autounfall, bei dem er auch seine geliebte Frau verloren hatte.
Trotzdem: Der Grund für Monikas euphorische Stimmung ging ihn nichts an. Es ging ihn einfach nichts an!
Seit sie Philipp zum Abendessen eingeladen hatte, flog sie wie auf Wolken. Sie hatte sich daher kurzfristig zu einem Friseurbesuch entschieden und war soeben auf dem Weg in den Salon.
Das erste Mal, dass Philipp sie ausführen wollte! Sie, die bereits seit Jahren in der Kanzlei des Barons arbeitete!
Monika kannte die beiden Söhne des Barons, seit sie ein kleines Mädchen war. Mit Stefan, dem jüngeren Bruder Philipps, war sie während der Schulzeit in die gleiche Klasse gegangen. Den scheuen, in sich gekehrten Burschen hatte sie immer gemocht, weil er ihr sehr ähnlich war. Gleiche Interessen und dieselbe Ernsthaftigkeit verband die beiden und sie waren seit ewigen Zeiten beste Freunde.
Als nach Monikas Abitur auf Schloss Stollenberg eine neue Buchhalterin gesucht worden war, hatte Stefan bei seinem Vater für seine eifrige, loyale und pflichtbewusste Freundin ein gutes Wort eingelegt. Seither arbeitete Monika in der Kanzlei des Barons und bewohnte eine hübsche, kleine Dienstwohnung im Westflügel des riesigen Anwesens. Dadurch konnte sie Stefan regelmäßig sehen und sie verbrachten viel Zeit miteinander.
Stefans zwei Jahre älteren Bruder Philipp hingegen hatte Monika immer schon vergöttert. Der junge Mann, der stets so eine unnahbare Vornehmheit ausstrahlte, hatte sie als Mädchen jedoch immer ignoriert.
Auch, als sie auf Schloss Stollenberg zu arbeiten begonnen hatte, hatte Philipp von ihr keine Notiz genommen.
Bis zum heutigen Morgen.
„Schöne Monika: Heute Abend? 19 Uhr Candle-Light-Dinner? Darf ich auf ein ‘Ja’ hoffen?“, waren kurz und nüchtern diese unerwarteten Zeilen auf ihrem Handydisplay aufgeblitzt.
„Ja, darfst du!“, war ihre Antwort gewesen. Dafür hatte sie sich allerdings zehn Minuten Zeit gelassen. Er sollte nicht glauben, sie hätte auf so eine Einladung gewartet oder gehofft.
Nein, diesen Eindruck wollte sie nicht erwecken. Wie sehr sie sich darüber gefreut hatte, musste er nicht wissen.
Auf ihre Antwort hatte Philipp allerdings sofort mit einem lächelnden Smiley geantwortet.
Philipp!
Groß. Schlank. Wahnsinnig gutaussehend. Grüne Augen, dunkles, glattes Haar und immer so elegant. Sie schwärmte von ihm, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte so eine ganz besondere Ausstrahlung. So etwas Erhabenes. Vielleicht war es seine rätselhafte Ausstrahlung, die so eine enorme Wirkung erzielte.
Ganz anders als sein jüngerer Bruder.
Ihn kannte sie in- und auswendig. Und er sie. Stefan sah zwar auch gut aus, aber er war nicht so eine imposante Erscheinung wie Philipp. Vielleicht weil er so natürlich war. Mit ihm konnte sie reden und lachen. Er war etwas kleiner als sein Bruder und hatte die braunen Augen und dunklen Locken seiner Mutter geerbt. Stefan trug sein Haar meist etwas zu lang und zwang die Locken nicht mit Gelatine in eine Form, wie es sein Bruder tat.
Philipps Scheitel war immer schnurgerade und kein Härchen trat aus seinem Schopf.
Monika mochte die beiden. Jeden auf seine Weise.
Sie liebte Stefan wie einen Bruder. Doch Philipp war in ihren Träumen, seit sie denken konnte. Und nun schienen ihre Träume offenbar wahr zu werden.
Doch das würde sie ganz sicherlich Jakob nicht auf die Nase binden. Unfreundlich sein wollte sie aber auch nicht, denn der alte Gärtner war im Grunde zu ihr doch immer sehr höflich und entgegenkommend.
Daher brachte sie das Thema auf die herrlichen Rosen.
Weil sie nun einmal gerade so schön blühten.
„Diese Rosen sind aber wirklich eine Pracht“, strahlte sie Jakob entgegen. Er blickte zum immer größer werdenden Strauch und strahlte.
„Ja, du hast recht. Und das bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr. Das ist ungewöhnlich. Wenn man bedenkt, dass das nur eine Wildrose ist?“
„Was heißt: Nur?“, schüttelte Monika den Kopf. „Ich persönlich finde diese zarten Röschen viel schöner als jede Edelrose“, sagte sie und meinte es aufrichtig.
„Das hat meine Rosina auch immer gesagt. Daher habe ich ihr auch immer welche mitgebracht, wenn gerade Blütezeit war.“
Sein Blick wurde wieder leer und Monikas gute Laune verflog augenblicklich. Das hatte sie nicht gewollt. Dass Jakob wieder in Trauerstimmung verfiel, tat ihr leid. Wieso hatte sie das nur mit den Rosen gesagt?
Gut, sie hatte nicht gewusst, wie sehr seine verstorbene Frau diese Wildrosen mochte. Trotzdem. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre sie schuld daran, dass der Gärtner nun so niedergeschlagen war.
Sie wollte und konnte den alten Mann daher jetzt nicht so traurig hier stehen lassen und weiterhin gutgelaunt zum Friseur fahren. Obwohl sie doch bereits ziemlich in Eile war.
Nein, sie konnte jetzt nicht einfach fahren.
Also versuchte sie Jakob zu trösten und strich ihm über den braungebrannten Arm.
„Ach, Jakob, nicht doch“, flüsterte sie. „Das würde deine Rosina sicher nicht wollen, dass du hier bei ihren Rosen so traurig bist. Sie war so lebenslustig und wünschte sich sicher, dass du auch immer fröhlich bist.“
Sie stockte und hätte die letzten Worte am liebsten zurückgeschoben.
Wie kann man fröhlich sein, wenn man die liebsten Menschen verloren hat?, geißelte sie sich in Gedanken. „Gut, vielleicht will sie nicht gerade, dass du fröhlich bist, aber ganz sicher würde sie mit dir schimpfen, wenn du dich so hängen lässt“, verbesserte sie sich und hoffte, diesmal die richtigen Worte gefunden zu haben.
Ich habe ihm gerade vorgehalten, dass er sich falsch verhält! Wie soll ihm das denn helfen? Nun war sie noch weniger zufrieden mit sich.
Ach, es war so schwer, die richtigen Worte zu finden.
Sie umarmte Jakob daher und rechtfertigte sich. „Verzeih, ich rede nur dummes Zeug. Aber ich weiß leider nicht, wie ich dich trösten kann, dabei würde ich es so gerne.“
Als sie sich von ihm löste, lächelte er und nickte.
„Monika, du hast nicht dummes Zeug geredet. Rosina würde wirklich wollen, dass ich fröhlich bin. Da hast du schon rechtgehabt“, sagte er und riss sich aus seiner trüben Stimmung, hob die Gartenschere und schnitt eine Rose ab. „Ich will nicht ständig jedem mit meinem ewigen Jammern auf die Nerven gehen. Hier, Monika, nimm! Dieser Tag ist einfach viel zu schön, um Trübsal zu blasen. Genieße den Tag!“, sagte er und reichte ihr die Rose.
„Danke, Jakob! Ich wünsche dir auch einen schönen Tag. Bis später!“, lachte sie und ging die Garagenauffahrt hinunter.
Plötzlich gefror ihr das Blut in den Adern.
Genau vor der Garage lag jemand am Boden.
Automatisch begann sie zu laufen und als sie näherkam, bemerkte sie, dass es eine junge Frau war. Monika sprintete los und beugte sich hinunter.
„Verena“, rief Monika geschockt, denn sie kannte die junge Frau, die hier lag. Sie war die Tochter des Chauffeurs, der für den Baron arbeitete. Doch Verena hörte sie nicht mehr. Die Augen weit aufgerissen, lag sie mit seltsam verrenkten Gliedern am Boden.
Monikas Blick fiel auf die gefalteten Hände Verenas. Sie hatte eine Wildrose in der Hand.
Da begann Monika zu schreien.
Juli 1986
Simon Hader marschierte an der Spitze der Schülergruppe durch den Wald. Die zwanzig Kinder im Alter ab zehn Jahren schwatzten und lachten, als sie den leichten Anstieg durch den Wald nahmen.
Der junge Religionslehrer mit dem Wohlstandsbäuchlein und einer, trotz seiner Jugend beginnenden Glatze, hielt bei jeder Weggabelung an, um die Gruppe im Auge zu behalten.
Die ältesten Burschen hatten sich zwar bereit erklärt, den Abschluss zu machen. Sie sollten drauf achten, dass die jüngeren und kleineren Gruppenmitglieder auch bei der Schar blieben. Doch Simon wusste, dass junge Leute sehr leicht abzulenken waren. Überhaupt, wenn die Gruppe aus Mädchen und Burschen bestand.
Und gerade der hochgewachsene Fredi schien sowieso nur Augen für ein Mädchen zu haben. Die blonde Christina mit dem hübschen Gesicht hypnotisierte er regelrecht. Doch das frühreife Mädchen, das alle Christl nannten, nahm von ihm keine Notiz. An der Hand ihrer älteren Freundin alberte sie unentwegt, während nicht nur Fredi seine Augen nicht von den runden Brüsten des Mädchens abwenden konnte.
Die sie aber auch ausgesprochen offenherzig zur Schau stellte. Obwohl die blonde Lolita in einem Monat erst elf Jahre alt wurde, wirkte sie bereits wesentlich älter und schien sich ihrer erotischen Ausstrahlung auch bewusst zu sein.
Was muss dieses Mädchen bereits für Erfahrungen gesammelt haben, machte sich Simon um das jüngste Mädchen in der Gruppe Sorgen. Seiner Meinung nach sollte sie in ihrem zarten Alter noch nicht die Ausstrahlung haben, die sie hatte. Und schon gar nicht sollte ein so kleines Mädchen damit so offensichtlich Männerfantasien ankurbeln, wie Christl es tat.
Nachdem die älteren Burschen, die auf die Gruppe ein Auge haben sollten, demnach ziemlich abgelenkt wirkten, trug Simon lieber selbst dafür Sorge, dass die Schar zusammenblieb. Er war mit zwanzig Kindern in den Morgenstunden zu dieser Wanderung aufgebrochen und er wollte auf jeden Fall wieder mit zwanzig Kindern zum Feriencamp zurückkehren.
Nach einer halben Stunde blieb er stehen, obwohl es keine Weggabelung gab. Die Kinder hielten ebenfalls an und blickten suchend um sich.
Hier gab es nichts zu sehen.
Zu beiden Seiten des Pfades wucherten hohe, grüne Farne und dahinter gab es nur dichte Wälder. Auf der rechten Seite hingegen erhob sich eine felsige Wand, wodurch es nur beherzten Kletterern möglich wäre, in den Wald aufzusteigen. Nachdem die Jugendlichen mit leichten Sportschuhen unterwegs waren, hatte dazu mit Sicherheit niemand Lust.
Warum aber war der Lehrer dann ausgerechnet hier stehengeblieben?
„Was ist hier?“, fragte die 13-jährige Ina, die gleich hinter dem Lehrer gegangen war. Das zarte Mädchen mit den langen, dunklen Locken hatte vom Anstieg rote Wangen und blickte Simon aus großen, braunen Augen erwartungsvoll an.
„Ich sage es gleich, wenn alle hier sind“, deutete Simon Ina, geduldig zu sein. Er wartete, bis auch die letzten Teilnehmer bei der Gruppe waren. Dann scharte er die Jugendlichen um sich und das Geplauder verebbte.
Obwohl Simon Religionslehrer war, war er trotzdem bei den jungen Leuten beliebt. Das war deshalb verwunderlich, weil Religion in diesem Alter kein Thema mehr von besonderer Wichtigkeit war.
Und das wusste Simon.
Und darauf nahm er auch Rücksicht.
Er liebte Kinder.
Er liebte Menschen. Und er wusste, dass sich die Jugendlichen nur deshalb nicht durch die Erziehungsberechtigten vom Religionsunterricht abmelden hatten lassen, weil sie sich dadurch ohne Anstrengung eine gute Note im Zeugnis sicherten. Wer sich im Religionsunterricht nicht total daneben benahm, bekam eine Eins. Das wussten alle. Und jede geschenkte Eins wurde genommen. Allein schon wegen des Notendurchschnittes.
Und noch einen Grund gab es: Simon ‘übersah’ es geflissentlich, wenn Schüler in seiner Religionsstunde heimlich ihre Hausaufgaben machten und verzichtete darauf, Pubertierende in den höheren Schulstufen mit Bibeltexten zu quälen.
Er vermittelte stattdessen Wissen über unterschiedliche Weltanschauungen und diskutierte mit den Schülern über gesellschaftliche Entwicklungen sowie die persönlichen Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen.
Simon wusste um die Sorgen und Nöte der Heranwachsenden, weil er aufmerksam zuhören konnte. Nicht selten nahm sich der Lehrer auch Zeit, um mit einem Schüler oder einer Schülerin unter vier Augen zu sprechen, wenn ein Kind Sorgen hatte.
Die Jugendlichen schienen ihm zu vertrauen. Vor allem Ina, die sich während der gesamten Wanderung hinter Simon gehalten hatte. Als wollte sie etwas mit ihm besprechen und wartete nur auf den passenden Zeitpunkt, um sich zu öffnen. Simon drehte sich öfter nach ihr um und lächelte ihr entgegen, damit sie mit ihm reden konnte, falls sie das wollte. Doch das scheue Mädchen begann kein Gespräch. Und er auch nicht, wartete lieber, bis sie zu sprechen beginnen würde.
Er wusste, sie würde reden, wenn sie dazu bereit war. Und er würde zuhören. So, wie er es immer tat. Hier auf der Wanderung genauso wie in seinem Unterricht.
Simon wurde von seinen Lehrerkollegen oft belächelt, weil er so anders war als alle anderen Lehrer. Er ließ seinen Schülern viel Freiraum und zeigte wenig Autorität, wenn es im Unterricht zu laut wurde.
„Die Kinder tanzen dir doch auf der Nase herum!“, hörte er regelmäßig vom strengen, älteren Kollegen, der Mathematik unterrichtete. Doch Simon lächelte meist nachsichtig.
„Ach, es sind Kinder! Sie wollen ihre Grenzen ausloten! Und das sollen sie auch können. Und zwar dort, wo es für sie keine negativen Konsequenzen hat. Ganz ehrlich: Hattest du einen strengen Religionslehrer?“ Der Mathematiker dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf.
„Ich auch nicht!“, pflichtete ihm Simon bei. „Warum sollte ich also dann damit beginnen?“ Er blickte mit seinen warmen und klugen Augen sein Visasvis an. „In den Hauptgegenständen müssen die Schüler sowieso ständig bewertbare Leistungen wie Schularbeiten erbringen. Doch ist es wirklich nötig, dass auch die, die nicht Theologie studieren wollen, Psalmen und Bibeltexte auswendig lernen?“
„Nun, wenn ich ehrlich bin, das erwartete mein seinerzeitiger Religionslehrer auch nicht von mir. Und gemerkt habe ich mir bis heute gerade mal die zehn Gebote“, gestand der Mathematiklehrer. „Aber, Simon, ich habe das Gefühl, als wäre ständig Party in deinem Unterricht.“
„Das glaubst du nur“, begegnete Simon der spürbaren Kritik seines Kollegen mit einem verbindlichen Lächeln. „Ich kann lediglich aufgrund meines Gegenstandes eine andere Unterrichtsmethode anwenden und nähere mich den Schülern, je älter sie werden, mehr als Seelsorger, denn als Lehrer.“
„Als Seelsorger?“
„Ja! Obwohl“, schränkte Simon ein, „ich bin ja eigentlich kein Geistlicher, daher ist dieses Wort falsch gewählt. Aber ich will nicht nur unterrichten, sondern auch helfen und beistehen“, erklärte Simon. „Viele dieser Kinder brauchen Halt und eine helfende Hand“, wurde Simons Blick nachdenklich.
„Dir öffnen sie sich?“, wunderte sich der strenge Lehrer, weil er von seinen Schülern lediglich deren Lerndefizite, und, wenn er zu überraschend in das Klassenzimmer kam, deren Repertoire an Schimpfworten kannte.
Ein Lexikon über die originellsten Dialektausdrücke der bayerischen Heimat könnte man mit dem befüllen, was da oft durch den Raum schallte. Ein Nachschlagewerk, das er gut gebrauchen könnte, wollte er als Norddeutscher so manche Spezialausdrücke in Oberbayern verstehen lernen. Was er sowieso nicht wollte.
Er blieb seinem wunderschönen Hochdeutsch treu. Der Sprache Goethes und Schillers. Und die Jugendlichen blieben distanziert. Noch nie hatte sich ein Schüler an ihn gewandt, außer er wollte wortreich erklären, dass er die Hausaufgabe nicht machen hatte können, weil der Familienhund verstorben, die Großmutter gestürzt oder das Kinderzimmer abgebrannt war.
Im Erfinden von Ausreden waren sie nicht nur kreativ, sondern auch kommunikativ. Doch persönliche Probleme hatte noch kein Schüler mit dem Mathematiker geteilt. Daher hatte er auch angenommen, es ginge jedem Lehrer so.
„Ja, in gewisser Weise erfahre ich viel von ihnen“, antwortete Simon.
„Wie?“
„Ich frage zu Beginn einer Stunde, ob jemand eine Frage hat, die er gerne im Unterricht besprechen würde. Egal, welches Thema. Völlig egal.“
„Und wenn sich niemand meldet?“, wusste der Mathematiker doch aus eigener Erfahrung, dass Kinder in diesem Alter ihre Probleme nicht nach außen kehrten. Und schon gar nicht vor einem Lehrer und schon überhaupt gar nicht vor der gesamten Klasse.
„Wenn sich niemand meldet, stelle ich selbst eine Frage, die wir dann diskutieren. Doch bisher habe ich erst zweimal selbst ein Thema vorgeben müssen und manchmal muss ich nicht einmal mehr fragen. Die Themen kommen zu Unterrichtsbeginn von selbst, denn die Schüler schleppen viele Schwierigkeiten und ungelöste Fragen mit sich herum.“
Dann bekam sein Blick einen schelmischen Glanz und mit den nächsten Worten bewies er, wie viel Einfühlungsvermögen er besaß.
„Die Probleme, über die die Kinder dann zu sprechen beginnen, betreffen selbstverständlich immer einen Freund oder eine Freundin“, lächelte Simon verschmitzt und zeichnete mit den Fingern bei den Worten ‘Freund’ oder ‘Freundin’ ein Gänsefüßchen in die Luft. „Und natürlich tu ich so, als glaubte ich es, denn so entsteht eine Diskussion an der sich mehrere, manchmal sogar alle Schüler beteiligen. Als Diskussionsleiter lenke ich die Themen dann natürlich in die Richtung, die meinem Unterrichtsfach entspricht“, grinste er nun über das gesamte Gesicht, wodurch sein Kopf noch runder und gütiger wirkte.
„Es hört sich also von außen nur so an, als wäre mein Unterricht ein Plauderstündchen, doch in diesen Gesprächen bringe ich der Jugend Nächstenliebe und moralisches Handeln näher. Also, mein Unterrichtsziel erreiche ich“, hörten sich Simons Worte inzwischen wie eine Rechtfertigung an.
„Ich verstehe“, nickte der Mathematiker. „Daher mögen dich die Schüler so!“, brachte er eine Tatsache auf den Punkt, die jeder im Ort bestätigen konnte.
Simon war beliebt.
Am meisten liebte ihn natürlich seine Frau mit der er eine glückliche, aber leider auch kinderlose Ehe führte.
Doch auch seine Kollegen mochten Simon. Vor allem, weil er sich jedes Jahr bereit erklärte, die Schülerbetreuung in den Sommerferien zu übernehmen.
Inzwischen war es in dem kleinen oberbayrischen Ort bereits Tradition, dass Schüler berufstätiger Eltern von Simon und seiner Frau in einem Nebengebäude des Pfarrhofs beaufsichtigt wurden. Die beiden organisierten in diesem Feriencamp gemeinsame Spiele sowie kleine Exkursionen oder Wanderungen.
So auch an diesem sonnigen Sommertag. Während Simon sich mit der 20-köpfigen Schar auf den Weg gemacht hatte, war seine Frau im Haus geblieben und hatte für die hungrigen Heimkehrer einen deftigen Schweinebraten ins Rohr geschoben.
Die Gruppe hatte sich soeben um Simon geschart und der Lehrer zeigte mit dem Finger auf die Felswand. Aus der Mitte des Steins plätscherte über ein verrostetes Eisenrohr ein kleiner Wasserstrahl, der so dünn war, dass man ihn erst sah, wenn man genau hinblickte.
Das kühle Nass sammelte sich in einer natürlichen, ausgehöhlten Felswanne, die aussah wie ein kleines Waschbecken. Das Wasser, das unaufhörlich aus dem Stein floss, sprudelte über den Rand des moosigen Beckens und das zarte, überschwappende Rinnsal bildete am felsigen Boden einen kleinen Bachlauf, floss in einer Senke den Hügel hinab.
„Eine Quelle“, staunte Ina.
„Ja, das ist eine Quelle“, stimmte ihr Simon zu. „Und aus dieser Quelle wird ein Bach und daraus ein Fluss. Aber das wisst ihr ja schon“, nickte er.
„Und was wissen wir noch nicht?“, fragte Christl, die wusste, dass Simon kein Biologielehrer war und nun sicherlich eine andere Erklärung parat hatte.
„Dieser Brunnen ist ein Wunschbrunnen!“, erklärte Simon und deutete mit der Hand auf die Felswanne, in der sich das Wasser sammelte.
„Was heißt das?“, riss Ina ihre Augen auf.
„Das bedeutet: Wenn ihr einen sehnlichen Wunsch habt, der in Erfüllung gehen soll, dann kommt hierher und formuliert den Wunsch bei diesem Brunnen.“
„Und dann geht der Wunsch in Erfüllung?“, fragte Christl und ließ in ihrer Verwunderung die Hand ihrer Freundin los, griff vorsichtig in das Wasser. Es war ganz normales Wasser. Kühl und nass.
Wasser eben!
„Ja“, nickte Simon. „Der Wunsch, den ihr hier bei dem Brunnen formuliert, wird in Erfüllung gehen!“, erklärte er und blickte in die Gesichter der jungen Leute.
„Das glaube ich nicht!“, sagte Fredi und schob seine Augenbrauen hoch.
„Tja, das ist so eine Sache mit dem Glauben“, lächelte Simon. „Aber genau deshalb habe ich euch hierhergeführt. Um euren Glauben zu festigen. Vor allen den Glauben an euch selbst und an die Kraft eurer Wünsche.“ Er blickte in die Runde, sah in jedes Gesicht.
„Sie werden jetzt sicherlich behaupten, dass ein Gebet das Ganze unterstützt“, erwähnte Fredi, weil er dachte, der Lehrer würde dieses Gespräch zu einer Religionsstunde machen.
„Nun, wo du es gerade erwähnst“, hob Simon seinen Zeigefinger, legte ihn sich auf seine Backe und blickte nach oben, als würde er nachdenken.
„Beinahe hätte ich darauf jetzt wohl vergessen.“ Dann sah er wieder zu Fredi und grinste. „Danke Fredi für die Erinnerung, denn natürlich hast du vollkommen recht“, ließ er es jetzt so dastehen, als hätte Fredi diesen Hinweis in das Gespräch eingebracht, weil es sein persönlicher Beitrag zu diesem Thema war. „Ein Gebet hilft tatsächlich immer!“, lachte Simon und wurde dann wieder ernst.
„Ich bin sicher, einige von euch werden demnächst hier raufsteigen“, lächelte er wissend und fuhr fort. „Ihr müsst aber wirklich Vorsicht walten lassen bei der Formulierung eures Wunsches. Die Kraft eurer Wünsche ist nämlich tatsächlich sehr stark und wenn der Wunsch in Erfüllung geht ...“
Er hielt inne, wartete und blickte in die Runde, sprach den folgenden Satz ganz langsam aus und machte eine längere Pause nach jedem Wort. „Dann ist er in Erfüllung gegangen“, stellte er eine Tatsache in den Raum, die sich durch die besondere Betonung nicht mehr wie eine unnötige Wiederholung des zuvor gesprochenen Satzes anhörte, sondern dadurch eine Botschaft transportierte, die er den jungen Leuten näherbringen wollte. Und die Schüler schienen ihn zu verstehen. Oder sie taten zumindest so, denn einige nickten.
„Versteht ihr wirklich, was ich damit meine?“, blickte er nun die kleine Ina an. „Ina, sage mir: Was ist ein Wunsch?“, fragte er sie, um eine philosophische Diskussion zu beginnen. Sie dachte kurz nach.
„Etwas, das ich möchte, das wahr wird“, antwortete sie.
„Das hast du sehr treffend formuliert, Ina!“, nickte Simon und blickte zu Fredi, der noch immer den Kopf schüttelte.
„Dir liegt etwas auf der Zunge, Fredi!“, erkannte Simon, wie es in dem jungen Mann arbeitete. Sein breites Kinn wirkte dadurch noch breiter. „Sprich es aus, lass uns an deinen Gedanken teilhaben!“
„Ich überlege nur die ganze Zeit“, begann Fredi zögerlich und stockte. Dann startete er anders. „Ich meine, was, wenn ich mir wünsche, dass mir eine dritte Hand wächst?“
„Das ist ja dann kein echter Wunsch, weil er gar nicht wahr werden kann!“, antwortete Ina wie aus der Pistole geschossen und Simon lächelte, weil die 13-Jährige das Wesentliche erkannt hatte.
Doch Fredi wollte weiter debattieren.
„Aber wenn ich mir nun einmal drei Hände wünsche?“
„Niemand wünscht sich drei Hände, denn niemand hat drei Hände!“, drehte sich nun Christl zu Fredi um und ihm blieb der Mund offen, einfach nur, weil die süße, kleine Christl ihn wahrgenommen und angesprochen hatte. Er wurde rot wie ein Krebs und verstummte.
„Das heißt, ein Wunsch ist nur dann ein Wunsch, wenn er auch erfüllbar sein kann?“, fragte Christls Freundin, die ebenfalls skeptisch dreinblickte.
„Wenn du willst, dass er in Erfüllung geht, dann ja!“, antwortete Simon. „Natürlich kannst du dir wünschen, dass der Himmel grün oder die Wiese blau wird. Aber dabei wird dir auch der Wunschbrunnen nicht helfen, allein schon deshalb, weil ich sicher bin, dass du diesen Wunsch bisher noch nie gehegt hast und es daher nicht ernsthaft willst.“ Er blickte wieder in die Runde.
„Wisst ihr, was ich damit ausdrücken will?“
„Ich glaube, ich weiß es! Es muss ein wirklicher Herzenswunsch sein“, sagte Ina und ihre Augen suchten Fredi, der allerdings gerade wieder Christl anstarrte. Ina sprach trotzdem weiter.
„Wenn ich mir wünsche, dass mich jemand liebhat, so wirklich liebhat, das ist ein Wunsch, der in Erfüllung gehen kann.“ Bei diesen Worten löste sich Fredis Blick von Christl und er sah Ina an. Er blickte ihr direkt in die Augen und sie lächelte ihm zu. Kaum merkbar hoben sich seine Mundwinkel ebenfalls.
Dann sah Ina wieder zum Lehrer.
„Und wenn ich diesen Wunsch hier beim Brunnen ausspreche, kann er dann in Erfüllung gehen?“, ließ sie ihren letzten Satz als Frage klingen. Sie schluckte und blickte Simon erwartungsvoll an.
„Ja, Ina, das habe ich gemeint und du hast vollkommen recht! Es muss ein echter Herzenswunsch sein“, sagte Simon mit weicher Stimme. „Ein Wunsch ist ein Begehren nach einer Sache oder einer besonderen Fähigkeit. Ein Wunsch ist ein Streben oder zumindest eine Hoffnung auf eine Veränderung der Realität“, zitierte er und blickte zu Fredi. „Und wenn dein einziger Wunsch tatsächlich der ist, dass dir eine dritte Hand wächst, was ich aber nicht annehme“, fügte er lächelnd hinzu, „dann könntest du dir den Aufstieg zum Wunschbrunnen eigentlich wirklich ersparen“, lächelte Simon.
„Ich glaube, ich weiß jetzt, was Sie meinen“, nickte Fredi. „Aber wie weiß ich denn, ob ein Wunsch erfüllbar ist?“, hakte er dann noch nach.
„Na, dein Wunsch nach drei Händen ist es nicht“, schnappte Christl wieder in Fredis Richtung und sprach lachend weiter. „Oder hast du dir vom Christkind irgendwann drei Hände gewünscht?“
Sie verdrehte die Augen, blickte in die Runde und erwartete sich Beifall für diesen Witz, den sie selbst als ausgesprochen gelungen empfand.
Einige lachten tatsächlich. Ina nicht.
„Christl, sei nicht so gemein“, sagte sie stattdessen.
Fredi hingegen erkannte den Spott in Christls Worten nicht einmal. Er hing schon wieder an ihren rosigen Lippen.
„Nein, ich habe immer nur von dir geträumt und mir gewünscht, dass du irgendwann mit mir sprichst!“, hätte Fredi am liebsten gesagt, denn sein größter Wunsch war soeben, zumindest teilweise, bereits in Erfüllung gegangen.
In diesem Moment begann auch er an den Wunschbrunnen zu glauben und nahm sich vor, so rasch wie möglich hier wieder hochzusteigen, um seinen sehnlichsten Wunsch dem Brunnen anzuvertrauen.
6. Oktober 2018
Kommissar Armin Baumann hatte die Morgenzeitung vor sich liegen und nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse.
Der 50-jährige Polizeibeamte hatte zwar mit seiner Frau gefrühstückt, doch ein zweiter Morgenkaffee brachte ihn meist erst so richtig in Fahrt.
Er kam daher stets sehr zeitig in die Dienststelle, damit diese liebgewordene Routine kein Telefonat und keine Hektik stören konnte. Wenn er sogar noch, wie soeben, einen Blick in die Zeitung werfen konnte, fing der Tag für ihn demnach richtig gut an.
An diesem Samstag erwartete er aber sowieso keine Unterbrechungen, denn er wollte Rückstände, die sich seit Monaten auf seinem Schreibtisch stapelten, aufarbeiten.
Sonja Martens hatte sich bereit erklärt, ihm dabei zu helfen. Die junge Kollegin stieß soeben die Tür auf und stürmte wie ein Wirbelwind in das Büro.
„Hallo, Armin!“, rief ihm seine gutgelaunte Assistentin zu. Sie balancierte in einer Hand einen Kaffeebecher und in der anderen ihr Smartphone, mit dem sie beinahe verwachsen schien.
Wie alle jungen Leute, dachte Armin an seine Kinder, die ohne dieses Ding nicht einmal mehr die Toilette besuchten. Er fand Handys zwar auch praktisch, hatte aber noch eine Zeit erlebt, wo das Leben ohne ständige Erreichbarkeit auch als Leben bezeichnet worden war.
Man sollte es nicht glauben. Und er hatte sogar gut gelebt! Vielleicht sogar besser, dachte er, wenn er Jugendliche im Park nebeneinandersitzen und bloß noch am Handy herumwischen sah. Er hatte als Kind mit seinen Freunden geredet und gespielt, wenn er sich mit ihnen getroffen hatte.
Ja, es war machbar gewesen. Aber sowohl Armins Kinder als auch Sonja würden wohl lieber ihr Augenlicht oder einige Gliedmaßen hergeben, bevor sie sich freiwillig von ihrem Smartphone trennten.
Sonja könnte wohl nicht einmal ihren Job erledigen. Ausführen schon. Irgendwie. Aber so hurtig und effizient, wie sie die ihr gestellten Herausforderungen und Aufgaben tagtäglich erledigte, ginge es ohne Smartphone tatsächlich nicht.
Das musste er neidlos zugeben, denn sie war eine gute, sogar eine ausgesprochen gute und zuverlässige Ermittlerin! Etwas emotional, manchmal noch zu stürmisch, aber ausgesprochen feinfühlig, schlau, engagiert und erfolgreich.
Sie vernetzte sich spielerisch mit Kollegen sowie Behörden, lieferte im Handumdrehen Fotos, Unterlagen und Links, hatte daher Recherche-Informationen und Auskünfte innerhalb kürzester Zeit auf ihrem Smartphone. Das beschleunigte und erleichterte die Arbeit ungemein.
Was Sonja alles mit diesem kleinen Ding bewerkstelligte, brachte ihn manchmal nur zum Staunen. Er bewunderte sie für diese Fertigkeit und profitierte dankbar davon.
„Woher nimmst du so früh am Morgen bereits diesen Schwung?“, wunderte er sich über die Lebendigkeit seiner jungen Kollegin, die ihre dunklen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz hochgebunden trug. „Und das noch dazu ohne Kaffee“, blickte er auf ihren Becher, der noch voll war.
Er arbeitete mit Sonja Martens erst seit vier Wochen zusammen, kannte sie aber bereits seit ihrer Kindheit. Sie war die Tochter eines Arbeitskollegen und er schätzte die ehrgeizige Beamtin, weil sie für diesen Beruf brannte.
Als Armins Assistentin vor einem Monat in den Ruhestand gegangen, und die 28-jährige Sonja kurz zuvor nach Stollenberg gezogen war, hatte es sich hervorragend gefügt, dass er sie als Kollegin bekommen hatte.
„Ich bin eben ein Morgenmensch“, lachte Sonja, stellte den Kaffeebecher ab und schlüpfte aus ihrer Jacke.
„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte sie und deutete auf die Zeitung.
„Nein, zumindest in der Zeitung steht nichts Aufregendes“, nahm er einen Schluck Kaffee, um auf den Energiestatus seiner Kollegin zu kommen. Da läutete das Telefon.
Sonja zog ihre Stirn in Falten und während sie zum Hörer griff, sagte sie: „Wenn das Telefon am Wochenende so zeitig läutet, gibt es offenbar doch Neuigkeiten.“
„Martens“, meldete sie sich und an ihrem Gesicht konnte Armin lesen, dass es mit der Ruhe vorbei war. Er blickte auf den Aktenberg und wusste, dass er an diesem Wochenende wohl wieder nicht kleiner wurde.
„Gut, wir kommen“, sagte sie und sah ihren Kollegen an.
„Ich hoffe, das Koffein wirkt bei dir bereits. Auf Schloss Stollenberg wurde eine junge Frau tot aufgefunden.“
Armin hob die Augenbrauen.
„Ja, im September ist dort ein Mord geschehen“, schüttelte er den Kopf. „Und wir sind sowieso noch immer dran. Gibt es vielleicht endlich neue Hinweise zu dem Fall?“, sah er sie irritiert an. „Und wieso sollen wir da jetzt sofort hinkommen?“, verstand er die Eile nicht.
„Weil ich nicht von dem Mordfall im September spreche“, antwortete sie und schlüpfte wieder in ihre Jacke. „Gerade eben ist eine junge Frau dort tot aufgefunden worden.“
„Schon wieder?“, riss er die Augen auf und nun brauchte er kein Koffein mehr.
Adrenalin hatte eine ebenso belebende Wirkung.
Der 18-jährige, schüchterne Bursche stand in Rosinas Stube.
„Reich mir doch eine Windel“, bat sie ihn. Er sah sich suchend in der Kammer um und erblickte auf der alten Holzkommode gestapelte Stoffwindeln.
„Die hier?“, fragte er und hatte einen knallroten Kopf. Er war zuvor in die Kammer der Köchin getreten, weil er Rosina darum bitten wollte, dass sie ihm eine Brotzeit richtete. Doch erst nach dem Eintreten hatte er mitbekommen, dass sie gerade ihr Baby stillte. Wie elektrisiert war er stehengeblieben.
So etwas hatte er noch nie gesehen.
„Ja, welche denn sonst, Junker?“, fragte Rosina und deutete ungeduldig mit der freien Hand zum Windelberg. „Die Kleine sabbert, dass es eine Freude ist, dabei komm ich sowieso nicht mehr mit der Arbeit nach“, seufzte sie. „Ich kann doch nicht nach jedem Stillen meine gesamte Wäsche wechseln, wo der Baron doch so erpicht drauf ist, dass immer alles blitzsauber ist“, verdrehte sie entnervt die Augen.
Der Junge griff nach einer Windel und reichte sie Rosina, die im breiten Dialekt weiterschimpfte, während sie die ausgeronnene Milch von ihrer karierten Bluse abtupfte. Dabei war die Brust aus dem Mündchen ihrer Tochter gerutscht und sein Blick heftete sich auf den aufgerichteten, harten Nippel, der sich aus der fleischigen Brust emporhob.
Rosina hob ihre eingeschlafene Tochter hoch, hievte sie mit geschickten, raschen Handgriffen auf ihre Schulter und tätschelte dem Baby mit der anderen Hand über den Rücken.
„Komm, mein Kleines, mach endlich dein Bäuerchen, damit ich weitermachen kann“, klopfte sie ungeduldig und prompt kam die zuviel geschluckte Luft aus dem kleinen Säuglingskörper hoch. Gleichzeitig mit einem Schwall eingespeichelter Muttermilch, die sich nicht nur über die mütterliche Bluse ergoss, sondern auch den dunkelblauen Rock beschmutzte.
„Meiner Seel! Was für eine Sauerei!“, schimpfte Rosina. „Jetzt muss ich mich doch umziehen, weil mein gesamtes Gewand versaut ist.“
„Hilf mir“, rief sie dem Jungen zu. „Leg die Kleine in den Stubenwagen, damit ich weiterkomm“, deutete sie zum Kinderbett und drückte ihm ihre Tochter in die Hand.
Der junge Mann hatte noch nie ein Baby gehalten. Angespannt hielt er das winzige Menschenkind in seinen Händen, hatte Angst, es zu zerdrücken. Mit angehaltenem Atem trug er die heikle Fracht wie eine zerbrechliche Vase zum Bettchen und legte das Kind vorsichtig auf die Matratze. Das Mädchen blieb schlafend liegen und er atmete erleichtert aus.
Gottlob!
Er hatte das Baby nicht verletzt.
Als er sich wieder zu Rosina umdrehte, stand sie in ihrem Schlüpfer mit nacktem Oberkörper vor dem Kasten und kramte nach Ersatzkleidung. Sie hatte die verschmutzte Bluse auf den Boden geworfen, holte eine frische aus dem Schrank. Als er die riesigen, rosigen Brüste sah, schwirrten ihm alle Sinne und sein Blut begann zu kochen.
„Ich komm gleich, Junker!“, rief sie und drehte sich um. Da sah sie den Jungen genauer an.
„Oh, ich merk schon“, schlich sich über ihre Gesichtszüge ein anzügliches Lächeln. „Du wohl auch!“, senkte sich ihr Blick auf seine ausgebeulte Hose.
Ihre Pupillen wurden dunkel.
„Na, komm, Junker!“, zog sie daraufhin ihren Schlüpfer aus. „Irgendwann musst du ja lernen, wie das geht und du tust mir jetzt so richtig leid, wie du da so schüchtern herumstehst.“
Er sah sie mit großen Augen an, wusste nicht, wie ihm geschah, brachte keinen Ton über seine Lippen.
„Na, komm schon!“, rief Rosina, griff nach seiner Hand und zog den Burschen sacht zu sich. Sie nestelte an seinem Gürtel und schob die Hose des Burschen mit geübten Griffen hinunter. Verschämt versuchte er seine Blöße mit den Händen abzudecken.
„Komm, sei doch nicht gar so schamhaft. Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Außerdem sehe ich doch, wie scharf du bist und ich muss zugeben, mich juckt es auch kräftig. Das muss halt nur unser Geheimnis bleiben. Gell, Junker?“, ließ sie ihre Zunge durch ihre Lippen blitzen, während sie die Hände des jungen Mannes zur Seite schob, um ihn betrachten zu können.
„Sakra! Da ist ja wirklich alles so, wie es sein soll“, lächelte sie und setzte sich auf das Bett.
„So, und jetzt komm“, sagte sie, ließ sich nach hinten fallen und spreizte ihre Beine. Als er wie angewurzelt und mit hochrotem Kopf stehenblieb, setzte sie sich wieder auf, griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich, zwischen ihre Beine.
Doch das, was sie zuvor noch stramm und mächtig wahrgenommen hatte, war mit einem Mal nicht mehr da. Also, da schon noch, nur halt nicht mehr in der Dimension, wie zuvor, als seine Hose beinahe gerissen wäre.
„Na, was ist denn, mein Junker? So wird das aber nichts werden!“, lachte sie und schob den Jungen sacht von sich hinunter.
Sie tätschelte ihm die Wange und stand auf, als wäre überhaupt nichts geschehen.
„Gut, ich hab´s eigentlich sowieso recht eilig“, bückte sie sich und zog ihren Schlüpfer wieder an. Während sie sich die Bluse überstreifte, plapperte sie unentwegt und hatte keine Antennen für die vernichtende Schmach, die der junge Mann soeben gerade verarbeiten musste.
Eine Lawine an unterschiedlichsten Gefühlen überrollte den Jüngling und er wusste damit überhaupt nicht umzugehen. In seinem Kopf schwirrte es regelrecht. Verwirrt, überreizt und verlegen kämpfte er mit den Tränen, wollte aber auf keinen Fall nun auch noch vor Rosina zu flennen beginnen. Mit zittrigen Händen griff er daher nach seiner Hose, zog sie wieder an und blieb schweigend am Bettrand sitzen.
Als die Köchin ebenfalls bekleidet war, reichte sie ihm die Hand.
„Komm, steh auf und mach dir nichts draus, du musst scheinbar noch üben und wegen mir, da mach dir keine Gedanken! Ich warte halt einfach auf meinen Alten. Jakob kann nämlich immer“, stach sie in die frische Wunde des Burschen und merkte es nicht einmal.
Sie ging zum Fenster, schob den Vorhang zur Seite, sah hinunter und war zufrieden, als sie merkte, dass ihr Mann mit dem Rasenmäher seine Bahnen zog. Der kräftige Gärtner blickte zufällig hoch, als spürte er, dass ihn seine Frau beobachtete. Jakob winkte Rosina zu und sie grüßte mit der Hand zurück, schob den Vorhang wieder zu.
Als sie den gesenkten Kopf des Burschen wahrnahm, setzte sie sich neben ihn und hob sein Kinn mit dem Finger hoch.
„Na, jetzt komm aber! Es ist doch nichts passiert! Wahrscheinlich warst du einfach nur ein bisschen nervös. Sowas passiert öfter als man glaubt. Mein Jakob hat beim ersten Mal auch nicht können und jetzt läuft es wie geschmiert. Also mach dir nichts draus! Das wird auch bei dir schon werden!“, klopfte sie ihm auf die Schulter und blickte sich im Raum um.
Während sie ihre Kleiderschürze suchte, murmelte sie mehr zu sich als zu ihm.
„Jetzt weiß ich wenigstens, dass du nichts herumerzählen wirst und ich werde sowieso mein Maul halten.“ Dann sah sie ihm verschwörerisch in die Augen und hob den Zeigefinger. „So eifersüchtig wie mein Alter ist, würde ich vorschlagen, vergessen wir das, was hier gerade passiert ist einfach. Was meinst du?“
Er nickte und wusste gleichzeitig, dass er es wohl nie vergessen würde. Die Scham und vor allem Rosinas Worte schwirrten in seinem Kopf. Ihr unbekümmertes Geplauder, wohl gar nicht beabsichtigt verletzend, drang tief in die jugendliche Seele.
„Na, dann ist ja alles klar“, war Rosina zufrieden. Sie wusste, dass Verschwiegenheit garantiert war und schickte sich an, den Raum zu verlassen.
Dann fiel ihr noch etwas ein.
Sie nahm eine Wildrose aus der Vase, die ihr Jakob am Vortag vom blühenden Busch auf der Garagenauffahrt mitgebracht hatte. Sie reichte dem Jüngling eine Blüte, der mit hochrotem, versteinertem Gesicht noch immer kein Wort über die Lippen brachte.
„Schau, Junker!“ Sie zeigte mit ihrem Finger auf einen steil aufsteigenden Dorn. „So muss er aussehen!“ Sie tippte zart, um sich nicht zu stechen, auf die harte Krümmung des Dorns. „So fest muss er sein! Nur so geht es!“
Lachend verließ sie die Kammer.
Oktober 2018
Frederik von Stollenberg stand mit verdrießlicher Miene in seiner Bibliothek, dem Herzstück seines feudalen Anwesens.
Das Besitztum im südlichen Bayern befand sich auf einer Anhöhe und war weithin sichtbar. Die glorreichsten Zeiten hatte das Schloss jedoch hinter sich und der Glanz vergangener Zeiten war lediglich noch in den Innenräumen zu erkennen.
Wie im Lieblingsraum des Gutsherrn, in dem er sich gerade befand. Die massiven Regale aus Mahagoniholz die bis zur hohen Decke ragten sowie die schweren, alten Bücher, verliehen diesem Raum eine edle Note.
Passend zum 63-jährigen Hausherrn. Der kultivierte Spross einer früher mal angesehenen Adelsfamilie repräsentierte eine Vornehmheit, die genauso überholt wirkte, wie der Adelstitel, den er voll Würde trug.
Baron Frederik von Stollenberg war sein vollständiger Titel und sein Stolz stützte sich auf die Tatsache, dass der österreichische Zweig seines Adelsgeschlechtes im benachbarten Tirol diesen Titel nicht mehr führen durfte. Seit dem Adelaufhebungsgesetz des Jahres 1919 war das Führen von Titeln in Österreich verboten.
Sich dieses Privilegs bewusst, trug Frederik seinen Titel daher mit der dementsprechenden Würde und anerzogenen Vornehmheit.
Adel verpflichtet!
Seine edle Herkunft und strenge Erziehung hatten Frederik gelehrt, dass ihn sein Stand nicht nur zu formvollendeter Noblesse, sondern auch zu ritterlicher Vorbildwirkung verpflichtete.
Überhebliches Verhalten oder Standesdünkel musste er bereits als Jugendlicher abstreifen. Noch bevor sich Hochmut in seinem Wesen entfalten konnte, hatte Frederiks Vater einer derartigen Entwicklung Einhalt geboten.
Vorausschauend.
Und mit Nachdruck.
Die sich ständig wiederholenden Worte seines Vaters klangen Frederik noch Jahre nach dessen Tod in seinem Ohr.
„Vergiss nie: Noblesse oblige! Unsere aristokratische Abstammung und die damit einhergehenden Privilegien wie Reichtum und Macht verpflichten uns, unanfechtbare Standards des Anstandes zu wahren. Wir haben ein respektables Vorbild zu sein. Respekt, mein Sohn, wird dir aber nicht geschenkt! Respekt gilt es, sich zu verdienen: Durch Humanität, Wohltätigkeit und Güte, nicht nur den eigenen Dienstboten, sondern allen Menschen gegenüber!“
Diese Worte hatte Frederik auch an seine Söhne weitergegeben.
Immer wieder. Bei jeder Gelegenheit. Allerdings mit überschaubarem Erfolg.
Vor allem bei seinem Erstgeborenen konnte er absolut keine positive Entwicklung erkennen. Die Schuld an dieser unerfreulichen Entwicklung sah Frederik im zweifelhaften Erziehungsstil seiner Gattin, die seinem stets entgegengesteuert hatte.
Katharina von Stollenberg. Die große Liebe seines Lebens und gleichzeitig auch sein größter Fehler.
Nur einmal hatte er sich gegen seinen Vater aufgelehnt. Damals, als er Katharina ehelichen wollte. Käthe, wie er sie nannte, war Dienstmagd am elterlichen Anwesen gewesen und Frederik war ihrer zarten Gestalt und ihren großen, braunen Augen vollkommen verfallen.
„Mein Sohn, du weißt so gut wie ich, dass diese Verbindung nicht standesgemäß ist“, hatte sein Vater seinerzeit getobt und gedroht, sein einziges Kind zu enterben. Doch der junge Mann hatte sich nicht beirren lassen.
Allerdings hatte das Schicksal damals eine überraschende Wende genommen. Noch bevor Frederiks Vater seinen gesamten Besitz der Kirche überschreiben konnte, hatten sich völlig unerwartet die Augen des alten Herren geschlossen.
Käthe wurde somit Katharina von Stollenberg und gebar zwei Söhne. Philipp und Stefan. Doch schon bald bereute Frederik, den Worten seines Vaters nicht Gehör geschenkt zu haben.
Käthe blieb ihren lockeren Umgangsformen und ihrer Natürlichkeit treu und zeigte kein Talent, nicht einmal ein ernsthaftes Bemühen, sich Frederiks erlauchten Stil anzueignen. Sie weigerte sich beharrlich, das erlesene Verhalten ihres Gemahls anzunehmen.
Aber nicht nur das!
„Mit deinem salbungsvollen Getue und deiner gestelzten Sprache bist du im vorigen Jahrhundert stecken geblieben. Ich werde sicherlich nicht Goethe-Balladen auswendig lernen, um genauso überkandidelt zu reden, wie du. Und meine Söhne werden von mir auch zu normalen Menschen erzogen!“, zeigte sie mit den Jahren eine immer größer anwachsende Respektlosigkeit, die den Baron förmlich sprachlos gemacht hatte.
Unbeeindruckt vom Missfallen ihres Gatten behielt Käthe in den Anfangsjahren ihrer Ehe ihre einfache Sprache bei, lachte, wenn ihr danach war und stillte sogar ihre Kinder selbst. Dabei wäre eine Amme zur Verfügung gestanden!
Sie verhätschelte die gemeinsamen Söhne und, bestärkt durch Katharinas despektierliches Vorbild, begannen die heranwachsenden Burschen über ihren Papa zu lächeln, wenn er seine Stimme erhob und über ’Noblesse oblige’ rezitierte. Ein Verhalten, das Frederik in seinen Grundfesten erschütterte und in tiefste Betrübnis stürzte.
Und, als wäre das nicht schon genug, war Käthe vor einiger Zeit auch noch grußlos abgereist. Einfach so! Gut, das war inzwischen Schnee von gestern und die ganze Angelegenheit kam Frederik eigentlich gar nicht so ungelegen.
Zumindest, solange er nicht daran dachte. Also meistens.
Er war ein Meister der Selbstbeherrschung und hatte gelernt, Herr über seine Gefühle zu bleiben. Wenn er sich entschlossen hatte, eine Angelegenheit als erledigt zu betrachten, dann war die Angelegenheit auch erledigt.
Wie die plötzliche Abreise seiner Gemahlin. Sie war Vergangenheit.
Punkt.
Nur: Seither stand er mit den beiden Söhnen allein da und musste erkennen, dass sie sich überhaupt nicht in seinem Sinne entwickelt hatten. Die über Generationen vererbten Werte, die er seinen Söhnen auf den Weg geben wollte, waren bei den jungen Männern nicht angekommen.
Nicht einmal ansatzweise!
Frederik versuchte zwar mit verbissener Vehemenz im Nachhinein regulierend einzugreifen.
Doch: Wie hieß es so schön? Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
Philipp war heuer 25 Jahre alt geworden und machte keine Anstalten, in den Hafen der Ehe zu steuern oder für Nachkommen zu sorgen. Eheliche Nachkommen wohlgemerkt! Möglicherweise tummelten sich bereits einige uneheliche Stollenbergs im Umfeld des umtriebigen jungen Mannes, denn ein Kostverächter schien er nicht gerade zu sein.
An den äußerlichen Vorzügen seines Erstgeborenen fand der Baron durchaus Gefallen und es erfüllte ihn mit Stolz, dass der charmante junge Mann ganz nach seinem Vater geraten war.
Von hinten könnte man die beiden glatt verwechseln.