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1992 im Indischen Ozean. Die 22-jährige Melanie unternimmt mit ihrer jüngeren Schwester Ella eine Kreuzfahrt, auf der sie und ihr Verlobter heiraten wollen. Doch einen Tag vor der Hochzeit stürzt ihr Bräutigam über Bord. Ella wird Zeuge des Unglücks und versucht danach ihrer Schwester beizustehen. Gemeinsam mit Thomas, der beiden Frauen sehr nahesteht ... Doch Melanie versinkt in ihrer Trauer und nur der Gedanke an ihr Ungeborenes gibt ihr die nötige Kraft zum Weiterleben. 2018 in Wien. Vor Melanies Wohnungstür wird ein Nachbar niedergestochen. Als sie sich um den Schwerverletzten kümmert, weiß sie noch nicht, dass in den kommenden Stunden ihr gesamtes Weltbild aus den Fugen geraten wird. Romantischer Thriller über eine unsterbliche Liebe sowie die starke Bindung zweier Schwestern, die ein traumatisches Schicksal eint.
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Verletzt
Klatschende Geräusche
Er ist tot
Kaum ansprechbar
Wilhelm Busch-Wettbewerb
Gleich kommt Hilfe
Die dichtende Schwester
Er lebt noch
Überschäumende Fantasie
Noch in der Nähe?
Lüge oder Wahrheit
Mission beendet
Lediglich gedichtet
Heimfahren
Großes Herz
Ausgerechnet
Noch ein kleines Mädchen
Höfliche Distanz
Total verschwommen
Keine Ahnung
Zum Positiven
Keine Milch
Kaiserschmarrn
Was ist?
Andere Gedanken
Ihrem Freund
Er ist nicht du!
Gern gescheh´n
Letzte Nacht
Am Küchentisch
Sturm
Wie Anna
Nasse Schuhe
Tickende Zeitbombe
Es hat mich getreten
Polizeieinsatz
Verschließe dich nicht
Usambaraveilchen
Was denn?
Niemand hier
Immer schon
Gießkanne
Labsal
Kissen
Der Basilisk
Noch jemand gesehen?
Du hast das geglaubt?
Prinzessin Melanie
Nicht vertraut
Spießiges Leben
Eigenes Netzwerk
Schwer von Begriff
Nicht du
Spiegel
Ausgleichende Gerechtigkeit
Kleines Äffchen
Danksagung
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Impressum
Brigitte Kaindl
Der Tod des Bräutigams
Roman
Der Tod des Bräutigams
1992 im Indischen Ozean. Die 22-jährige Melanie unternimmt mit ihrer jüngeren Schwester Ella eine Kreuzfahrt, auf der sie und ihr Verlobter heiraten wollen. Doch einen Tag vor der Hochzeit stürzt ihr Bräutigam über Bord. Ella wird Zeuge des Unglücks und versucht danach ihrer Schwester beizustehen. Doch Melanie versinkt in ihrer Trauer und nur der Gedanke an ihr Ungeborenes gibt ihr die nötige Kraft zum Weiterleben.
2018 in Wien. Vor Melanies Wohnungstür wird ein Nachbar niedergestochen. Als sie sich um den Schwerverletzten kümmert, weiß sie noch nicht, dass in den kommenden Stunden ihr gesamtes Weltbild aus den Fugen geraten wird.
Autorin
Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie "Mein Weg aus dem Fegefeuer" schrieb sie unter dem Pseudonym ‘Brenda Leb’. Danach veröffentlichte sie humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie Romane mit sozialkritischem Hintergrund.
Bisherige Bücher:
„Mein Weg aus dem Fegefeuer“, Untertitel: „Missbrauch, Leid in der Dunkelheit“, (2018 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie
„Die zwei Wölfe“, Untertitel: „Jenseits des Fegefeuers“, (2024 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie
„Das Echo des Herzens“ (2019), Roman
„Das Echo des Rosenmordes“ (2020), Roman
„Das Echo von Gottlieb“ (2020), Roman
„Christians Geheimnis“ (2020), 3 Romane der Echo-Trilogie
„Mann, oh Mann!“ (2020), Humorvolle Unterhaltungsliteratur
„Der Tote und das Gänseblümchen“ (2021), Roman
„Der Tod der Braut“ (2021), Roman
„In einem Meer voll Tränen“ (2021), Roman
„Der Mörder und die Wildrose“ (2022), Roman
Impressum
© urheberrechtlich geschütztes Material
Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl
www.brigittekaindl.at
Alle Rechte vorbehalten
Autor: Brigitte Kaindl
Umschlaggestaltung: Brigitte Kaindl
„Helene“, sprach der Onkel Nolte.
„Was ich schon immer sagen wollte:
Ich warne dich als Mensch und Christ:
Oh, hüte dich vor allem Bösen!
Es macht Pläsier, wenn man es ist,
es macht Verdruss, wenn man´s gewesen!“
Aus ‘Die fromme Helene’ von Wilhelm Busch
Juli 1992, La Reunion
„Hilfe! Hilfe! Hilfe!“
Gellende Schreie hallten durch die stürmische Nacht.
Ella schrie sich die Seele aus dem Leib und hastete an der Reling entlang, lief in den Innenraum des Schiffes.
Sie riss den ersten Menschen, der ihr in die Quere kam am Arm und schrie: „Draußen ist ein Unglück passiert! Der Bräutigam meiner Schwester ist über Bord gegangen! Helfen Sie! Bitte, helfen Sie doch oder holen Sie Hilfe!“, begann sie den Mann zu schütteln.
Der alte Herr blickte die junge Frau jedoch unverwandt und mit einem seltsam in sich gekehrten Blick an. Da erst merkte Ella, dass er offenbar mit Übelkeit kämpfte.
Wie fast jeder an Bord.
Seine Haut war weiß wie die Wand und sein Blick ähnelte dem ihrer Schwester, die eine Stunde zuvor auf die Toilette gelaufen war und sich nun in ihrer Kabine erholte.
Das Schiff schwankte heftig und kaum jemand an Bord war nicht seekrank.
Nachdem Ella erkannte, wie sinnlos es war, von diesem Mann Hilfe zu erwarten, ließ sie ihn achtlos stehen und rannte wieder nach draußen.
Ein Matrose lief an ihr vorbei, hastete mit einer Taschenlampe in der Hand Richtung Bug.
Sie hetzte ihm nach, fasste nach seiner Hand und zerrte ihn wortlos mit sich. Der zarte Jüngling war völlig überrumpelt und bevor er fragen konnte, was das sollte, zeigte Ella in die Tiefe und schrie den jungen Mann an: „Hier ist zuvor ein Mann über Bord gegangen! Helfen Sie!“
Der junge Mann riss geschockt seine Augen auf und reagierte erst einmal wie eine Eidechse in Schockstarre. Nämlich gar nicht. Doch dann sickerte die Botschaft in sein Bewusstsein und er lief in der nächsten Sekunde wie gehetzt zu seinen Kollegen, um die Rettungskette in Gang zu setzen.
Doch gleichzeitig wusste Ella, dass es sicherlich bereits zu spät war.
Mit langsamen Schritten wankte Ella zurück in das Innere des Schiffes.
Sie musste zu ihrer Schwester.
20. Juli 2018 – 11 Uhr, Wien
Melanie Richter suchte ihre Schlüssel.
Sie hingen nicht wie sonst im Vorzimmer auf der dafür vorgesehenen Ablage und das machte sie nervös. Hektisch suchte sie in ihrer Handtasche.
Dann in ihrer Jackentasche.
Nichts!
Da fiel ihr ein, dass sie zuvor ein Handygespräch geführt hatte. Ihre Tochter hatte angerufen.
„Mama, ich habe überraschend Besuch bekommen und keine Milch für den Kaffee“, hatte Anna nachgefragt, ob sie sich Milch leihen konnte.
Melanie war daher mit dem Handy am Ohr in die Küche zurückgegangen und hatte im Kühlschrank nachgesehen, ob sie aushelfen konnte.
„Ja, mein Schatz! Ich habe genug Milch. Du kannst jederzeit kommen.“
Wahrscheinlich liegt der Schlüssel neben dem Kühlschrank, fiel Melanie demnach ein und lief soeben in die Küche zurück, als sie die Türklingel hörte.
Geistesgegenwärtig schnappte sie sich den Schlüsselbund, der tatsächlich auf der Arbeitsplatte lag und lief wieder in das Vorzimmer.
Anna ist jetzt aber regelrecht heruntergeflogen, dachte Melanie, während sie zur Eingangstür eilte.
Ihre 22-jährige Tochter wohnte seit zwei Jahren einen Stock höher in einer kleinen Einzimmerwohnung und es war für Mutter und Tochter angenehm, getrennt leben und doch weiterhin in der Nähe zueinander wohnen zu können.
Und nicht nur, weil Mutters Kühlschrank stets gut gefüllt war.
Wieso läutet sie, wenn sie doch einen Schlüssel hat, wunderte sich Melanie, öffnete aber trotzdem mit einem breiten Grinsen die Tür.
Da erstarb automatisch ihr Lächeln. Gänsehaut überzog ihren Körper und sie schrie geschockt auf.
Vor ihrer Tür lag ein blutüberströmter Mann.
Er krümmte sich vor Schmerzen und hielt sich seinen Bauch. Seine Hände drückte er dabei auf eine stark blutende Wunde.
Offenbar hatte er mit letzter Kraft an ihrer Tür geläutet und war dann zusammengesackt.
Juli 1980
„Meli, Ella, Essen ist fertig! Kommt zu Tisch, aber rasch! Wie oft soll ich euch noch rufen?“
Die beiden Mädchen fuhren zusammen.
Sie hatten soeben mit ihren Barbiepuppen gespielt und den ersten Ruf der Mutter gar nicht gehört. Doch nun schien es, als wäre Mutter bereits ziemlich nervös.
Die zehnjährige Melanie legte ihre Puppe zur Seite und nahm die Hand ihrer jüngeren Schwester. „Komm, wir sollten uns beeilen“, sagte sie und wollte Ella mit sich ziehen.
„Nein, ich habe meine Puppe noch nicht fertig angezogen“, sah ihre kleine Schwester keinen Grund zur Eile.
Sie wischte sich ihre dunklen Haare aus der Stirn und griff zu den winzigen, blauen Plastik-Stöckelschuhen, versuchte sie der Puppe überzustreifen. „Wir haben gerade ausgemacht, dass unsere Puppen heute ausgehen und ich muss noch …“
„Aber Ella, hast du nicht gehört, wie zornig Mama sich angehört hat? Die Schuhe können wir nachher doch noch immer unseren Puppen anziehen“, verstand Melanie nicht, wieso ihre Schwester so herumtrödelte.
Hatte sie nicht auch die nervöse Spannung in Mutters Stimme gehört?
„Ich will das aber nicht später, sondern jetzt sofort machen“, zuckte Ella mit den Schultern und präsentierte ihren ausgeprägten, kindlichen Dickkopf. „Außerdem gibt es wieder diesen grauenhaften Kohl und den mag ich sowieso nicht essen!“, erklärte die Achtjährige und versuchte der Puppe mit Gewalt die Schuhe auf die kleinen Füße zu stecken.
Melanie hatte jedoch die zu erwartenden Konsequenzen durch Ellas Ungehorsam im Kopf und versuchte ihrer Schwester zu helfen, damit sie schneller fertig wurde. Sie hob den winzigen Schuh, der durch Ellas hektisches Hantieren zu Boden gefallen war auf, um ihn der Puppe mit Geduld überzustreifen.
Da hörten sie auch schon das wütende Geschrei ihres Vaters.
„Was ist mit euch beiden? Soll ich euch holen oder kommt ihr jetzt endlich zu Tisch?“, brüllte er durch die Wohnung und Melanie warf die Schuhe in die Spielkiste, legte die Barbiepuppe auf das Bett.
„Es ist Sommer, da braucht sie keine Schuhe und barfuß gehen ist sowieso viel gesünder“, erklärte sie Ella, damit sie nicht weiter bockte. Dann zog sie ihre Schwester resolut hoch und schliff sie an der Hand in das angrenzende Esszimmer.
Vater saß mit einer Flasche Bier in der Hand bei Tisch und seinen glasigen Augen nach zu urteilen, war es nicht die erste dieses Tages.
Er blickte wütend auf seine beiden Töchter, während Melanie und Ella sich mit gesenkten Köpfen auf ihre Stühle schoben. Melanie versuchte ihren Vater nicht noch mehr zu reizen als er sowieso bereits war. Artig nahm sie daher ihren Löffel in die Hand.
Die kleinere Ella hingegen hob ihren Kopf und blickte mit einem ekelverzerrten Gesicht auf den Teller. Melanie verstand den angewiderten Ausdruck im Antlitz ihrer Schwester gut.
Sehr gut sogar.
Auch sie hasste Kohl.
Trotzdem drückte sie ihrer Schwester den Löffel in die Hand und sah sie mit einem ‘Augen-zu-und-durch‘-Blick an. Sie hoffte, dass Ella einmal, nur ein einziges Mal, einfach nur ohne zu jammern oder nörgeln, aß, was auf den Teller kam.
Melanie wusste aus Erfahrung, dass es doch sowieso keinen Sinn hatte, aufzubegehren.
„Gegessen wird, was auf den Teller kommt!“
Das war in diesem Hause Gesetz!
Mit diesem Spruch war schon der Herr Papa von seinem eigenen Vater zum unkommentierten Aufessen überredet worden.
Unterlegt mit dem wertvollen Hinweis, wie froh der Großvater in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen wäre, hätte er überhaupt etwas zu essen bekommen. Gefolgt von einer stimulierenden Ohrfeige war der väterliche Teller demnach in dessen Kindheit stets sehr rasch leer gewesen.
Nachdem sich diese Stalingradgeschichte so einprägsam in Vaters Gedächtnis eingebrannt hatte, hatte der Herr Papa dieses erfolgreiche Erziehungsmittel seines Vaters einfach übernommen und überzeugte nun auch seine Mädchen mit dieser Motivationshilfe.
Und natürlich erwartete der Herr Papa den gleichen Gehorsam von seinen Mädchen den auch er einst seinem Vater entgegengebracht hatte.
Melanie, die mit viel Anpassungsfähigkeit ausgestattet war und sich nicht gerne schlagen lassen wollte, verhandelte daher kaum noch, wenn ihr vor dem Essen ekelte.
Sie wusste, dass mit Willenskraft jede noch so grauenhafte Speise geschluckt werden konnte.
Ella hingegen rebellierte regelmäßig und schien auch durch Vaters schlagkräftige Argumente kaum bereit, sich seinem Willen zu beugen. Deshalb kam es im elterlichen Haushalt fast täglich zu einem bürgerkriegsähnlichen Spektakel.
Als Melanie in das gerötete Gesicht ihres Vaters blickte, ahnte sie, dass sich soeben wieder ein mittelschweres Gewitter zusammenbraute.
Doch es schmerzte sie fast körperlich, wenn ihre kleine Schwester geschlagen wurde. Sie konnte es kaum ertragen, wenn Vaters grobe Hand in das kleine Gesicht ihrer Schwester schlug.
Sie wollte ihr daher hilfreich beistehen und drückte Ella den Löffel resolut in die Hand. Mit einem aufmunternden Blick deutete sie ihrer Schwester, dass sie doch bitte essen sollte.
Ohne Gemurre.
Einfach nur: Mund auf und runter damit!
Doch Ella ignorierte den gutgemeinten Hinweis ihrer Schwester und war nicht bereit, den Löffel zu verwenden, bevor sie nicht ihre Diskussion begonnen hatte.
Obwohl Mutter den Teller bereits befüllt hatte, schüttelte Ella den Kopf.
„Kann ich nur die Kartoffel essen? Ich mag keinen Kohl!“, fragte sie und sah ihre Mutter bittend an.
„Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!“, antwortete stattdessen ihr Vater und blickte zu Ella, während die Adern auf seinen Schläfen heftiger zu zucken begannen.
Melanie wusste, was das bedeutete: Jetzt keine Widerrede mehr!
Still sein!
Aufessen!
„Quengle nicht ständig herum, was du magst und was du nicht magst. Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester und iss den Kohl!“, hob er drohend seinen Zeigefinger.
„Aber du weißt doch, dass mir davon schlecht wird!“, versuchte Ella weiter zu verhandeln.
„Und ich habe gesagt, dass du essen sollst!“, zischte ihr Vater zwischen seinen Lippen durch und sein Ton wurde drohend.
„Bitte, Ella, iss den Kohl!“, mischte sich nun ihre Mutter mit sanfterer Stimme ein. „Er ist gesund und dein Körper braucht doch auch Vitamine. Dir schmeckt ja leider überhaupt kein Gemüse, daher musst du dich schon ein wenig überwinden, denn man kann sich doch nicht ausschließlich von Hühnchen und Wurst ernähren.“
„Warum nicht?“, fragte Ella und blickte auf den Kater, der zu ihren Füßen saß und hoffnungsvoll, auf einen fetten Happen hoffend, zu den beiden Mädchen hochblickte. „Unsere Katze muss ja auch kein Gemüse fressen“, war Ella froh, mit jemandem in der Familie diskutieren zu können.
Aber nur kurz freute sie sich.
Melanie wurde vor Sorge fast schlecht, als sie die Gesichtsfarbe ihres Vaters beobachtete, die bereits ins Dunkelrot wechselte. Sie kannte dieses Anzeichen und wollte Ella warnen, indem sie ihr mit dem Fuß einen leichten, sanften Stoß gab.
Bitte iss und rede nicht weiter, sollte dieser kurze Schubs sagen, doch Ella empfand Melanies gutgemeinten Knuff als Angriff und trat voll Zorn auf den Fuß ihrer Schwester zurück.
Aber nicht so sanft wie es ihre Schwester getan hatte.
Ella trat mit voller Gewalt gegen das schwesterliche Schienbein.
Melanie schrie vor Schmerz auf, denn der Tritt kam für sie vollkommen überraschend und vor Schreck fiel ihr der eigene Löffel aus der Hand, planschte in den Kohl. Der grüne Eintopf spritzte in alle Richtungen und das Tischtuch sah aus wie ein Gemälde von Hermann Nitsch, dem das Blut ausgegangen war, weshalb er für seine Schüttbilder Gemüsebrei verwenden musste.
In diesem Moment spürte Melanie auch schon die väterliche Hand in ihrem Gesicht. Doch die Ohrfeige sollte bloß eine Einleitung gewesen sein. Vater sprang auf und begann zu wettern.
„Ich habe jetzt genug von euch beiden! Jeden Tag gibt es das gleiche Theater beim Essen! Jetzt fängt auch noch Melanie mit dem Geschrei bei Tisch an!“, griff Vater wütend nach dem Arm seiner Erstgeborenen und riss das Mädchen vom Stuhl.
Er zerrte sie zum Küchenschrank und griff nach einem Kochlöffel.
„Ich werde euch zeigen, wer hier im Haus das Sagen hat!“, schrie er und blickte zu Ella, während er die bibbernde Melanie so fest am Oberarm hielt, dass sich mit Sicherheit ein Bluterguss bilden würde.
„Ella: Sieh jetzt zu, wie es dir morgen geht, wenn du noch einmal so ein Theater aufführst“, schrie er, während er den hölzernen Kochlöffel auf Melanies Hinterteil tanzen ließ.
Melanie blickte angstvoll zu ihrer Mutter und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Mutter ihre kleine Tochter aus dem Raum schieben und in Sicherheit bringen wollte. Auch der Vater merkte es.
„Du bleibst mit der kleinen Göre hier“, schrie er seine Frau an.
„Bitte, hör doch auf“, flehte sie daher mit sanfter Stimme, hoffte, ihren Mann besänftigen zu können.
Doch das Gegenteil geschah. Durch ihre leidenschaftliche Fürbitte fokussierte sich der väterliche Zorn auf seine Gattin.
„Du widersprichst mir vor den Kindern?“, schrie er sie an, hob seine Hand und hieb seiner Frau mit der Faust ins Gesicht.
„Ich habe dir doch ... nicht ... widersprochen“, begann sie mit devoter Stimme zu stammeln. „Ich habe dich doch nur gebeten ...“ Weiter kam sie nicht. Der zweite Schlag war noch stärker als der erste.
„Doch nicht vor den Kindern“, wimmerte sie, als ihr Kopf gegen den Küchenschrank knallte.
„Kinder, bitte, geht raus!“, rief sie daher und Melanie nahm daraufhin Ella bei der Hand, riss die kleine Schwester mit sich, warf die Tür hinter sich zu.
„Sollten wir ihr nicht helfen?“, fragte Ella, als die beiden zitternd im Vorzimmer standen. Sie hörten Vaters Gebrüll sowie klatschende Schläge, Möbelrücken und Mutters Schreie.
„Was können wir denn schon tun?“, fragte Melanie und versuchte erfolglos ihre Hände ruhig zu halten. Ihr ganzer Körper bebte vor Angst. Sie sorgte sich doch auch so sehr um ihre Mutter, fühlte sich aber so ohnmächtig.
„Wir können zurückschlagen!“, rief Ella trotzig. Ihre kindliche Unvernunft kannte offenbar keine Grenzen.
„Er ist doch viel zu stark!“, brachte sie Melanie auf den Boden der Realität zurück.
„Aber wir sind zu dritt!“
„Zwei kleine Mädchen und eine schwache Frau gegen einen starken Mann? Du spinnst!“, schüttelte Melanie den Kopf.
Da läutete es an der Tür.
„Um Gottes Willen! Wer ist das?“, wurde Melanies Blick panisch. Sie hörte soeben ihre Mutter aufschreien und danach war Stille.
„Vielleicht ein starker Mann, der uns helfen kann“, lief Ella zur Tür, bevor sie Melanie daran hindern konnte.
Papa bringt uns um, wenn wir ungefragt einfach jemanden in die Wohnung lassen, überschlugen sich Melanies Gedanken.
Sie lief daher ihrer Schwester nach, wollte sie zurückhalten.
„Aber, Ella, Papa wird uns ...!“
Sie konnte nicht mehr aussprechen, wovor sie sich so sehr fürchtete. Ihre kleine Schwester hatte bereits die Tür geöffnet und vor ihr stand ein junger Mann, den sie noch nie gesehen hatte.
„Sind Sie ein starker Mann?“, fragte Ella den rotblonden Burschen, der mit einer kleinen Schüssel vor der Tür stand.
Er blickte Ella irritiert an und in diesem Augenblick schob sich Melanie vor ihre kleine Schwester, schimpfte mit ihr.
„Ella, du kannst doch nicht einen fremden Menschen so einfach belästigen!“, tadelte sie die Kleine und wandte sich dem Besucher zu.
„Entschuldigen Sie bitte die Frage meiner Schwester, sie ist manchmal etwas vorlaut“, versuchte Melanie etwas zu erklären, was sie selbst nicht verstehen konnte. Sie wollte den Besucher soeben fragen, warum er geläutet hatte, da hörte sie schon wieder die Stimme ihrer kleinen Schwester.
„Aber, Melanie, wir brauchen doch Hilfe!“, schrie Ella, kam hinter Melanies Rücken hervor und zupfte den jungen Mann am Ärmel. „Kannst du uns helfen?“, fragte sie den unerwarteten Gast und wiederholte ihre zuvor gestellte Frage. „Du bist doch so dick. Da bist du doch sicherlich ein starker Mann. Oder?“
„Ich ... nun ja, ich weiß nicht, was du jetzt hören willst ... und ... und ... warum du das fragst ...“, begann der Bursche zu stottern, wusste offenbar nicht, was er auf diese Frage antworten sollte.
Er war nicht sehr groß und seine Gestalt wirkte keinesfalls athletisch. Wie ein Muskelprotz sieht er nicht aus, dachte Melanie, denn da, wo Vaters Bierbauch sein Hemd an die Grenze seiner Belastbarkeit brachte, spannte sich auch bei diesem jungen Mann das T-Shirt.
Dass ihn Ella zuvor als dick bezeichnet hatte, war zwar ausgesprochen unfreundlich gewesen und Meli hätte ihrer kleinen Schwester am liebsten einen Stoß gegeben, weil sie trotz ihrer acht Lebensjahre bereits wissen sollte, dass man gewisse Ausdrücke nicht so unbedacht und beleidigend über die Lippen fallen lassen sollte.
Auch wenn sie der Wahrheit entsprachen.
Und recht hatte sie. Der junge Mann schien tatsächlich mindestens zwanzig Kilo über seinem Idealgewicht zu liegen. Er hatte ein rundes Gesicht, trug eine dicke Hornbrille und blickte die beiden aus gutmütigen Augen an.
Verunsichert stellte er sich daher vor und erklärte, warum er geläutet hatte.
„Ich heiße Ricco und bin zu Besuch bei meiner Mutter. Sie wohnt gleich nebenan und hat zu wenig Zucker und da hat sie mich gebeten, ob ich mir bei euch etwas leihen kann“, erklärte er nun, warum er mit einer Schüssel vor der Tür stand.
Dann sah er in Melanies Gesicht und nahm erst in diesem Moment die geschwollene Lippe wahr aus der ein zarter Blutstrahl hervorquoll.
Melanie hatte es gar nicht bemerkt.
Der junge Mann schon.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte er irritiert und stellte die Schüssel auf einem Kästchen ab, trat über die Türschwelle. Er griff an Melanies Kinn und wollte soeben ihre aufgesprungene Lippe begutachten.
Melanie war von dieser sanften Berührung wie elektrisiert, wagte nicht, sich zu bewegen.
Sie blickte in die grünen, sanften Augen dieses Burschen und hielt still, als er mit zärtlichen Fingern ihr Kinn hielt, um ihre Wunde untersuchen zu können.
Gleichzeitig erfüllte sie Angst.
Ein Fremder in der Wohnung.
Ella zieht doch tatsächlich einen fremden Mann in unsere Probleme herein, hämmerte es in ihrem ängstlichen Mädchenkopf.
Das gibt Ärger, wusste sie. Das gibt mächtigen Ärger. Noch größeren, als wir sowieso bereits haben, dachte Melanie an die Konsequenzen von Ellas unüberlegtem Handeln.
Ella hingegen schien weiterhin bloß auf Schadensbegrenzung fokussiert zu sein und ähnliche Gedanken nicht einmal anzudenken.
„Nein, Melanie braucht keine Hilfe!“, erklärte Ella vorlaut und zupfte Ricco am Ärmel.
„Aber deine Schwester blutet!“, wirkte Ricco irritiert und sah zwischen den Mädchen hin und her.
Die eine blutet, die andere ruft um Hilfe. Doch die, die blutet, will offenbar gar keine Hilfe. Warum nicht? Aus Angst? Sie wirkt jedenfalls so. Ihre Augen sind ganz starr.Was ist hier los?, hämmerte es in seinem Kopf und er erinnerte sich daran, wie seine Mutter zuvor zusammengezuckt war, als sie verdächtige Geräusche aus der Nachbarwohnung gehört hatte.
Sie waren gerade gemütlich bei einem Apfelstrudel und einer Tasse Kaffee gesessen, als sie durch die Wand einen beängstigenden Tumult wahrgenommen hatten.
„Ich glaube, unser Nachbar zuckt schon wieder aus“, war Anna Schmid zusammengefahren. „Das geht schon seit einigen Monaten so. Ich glaube, er schlägt seine Kinder“, hatte sie den Kopf geschüttelt.
„Wieso glaubst du das?“, hatte Ricco gefragt. „Herr Doktor Richter ist doch ein gebildeter Mann und hat so feine Manieren. Aber auch seine Frau und die Kinder haben so eine schöne Sprache“, rezitierte Ricco die Worte seiner Mutter, mit der sie einst von dieser Familie so geschwärmt hatte. „Du selbst hast das doch immer gesagt und, erinnerst du dich? Du hast mir bei jedem Wort, das ich im Dialekt ausgesprochen habe, vorgehalten, wie schön sogar schon die kleinen Töchter des Nachbarn reden. Kannst du dich daran wirklich nicht mehr erinnern? Schönbrunner-Deutsch hast du es genannt, weil es in der Nachbarwohnung so ein vornehmes Benehmen geben soll. Und dieser kultivierte Mann soll seine Kinder schlagen?“, hatte er seine Mutter kopfschüttelnd angeblickt. „Also, Mama, wirklich: Ich kenne ja deine Nachbarn nicht, aber so wie du stets von dieser Familie geschwärmt hast, kann es hier doch gar keine Gewalt geben.“
„Ich weiß nicht“, hatte seine Mutter den Kopf gesenkt. „Inzwischen bin ich mir nicht mehr sicher, ob eine schöne Sprache wirklich ein Garant dafür ist, dass ...“
„Ich weiß, was du sagen willst“, hatte er sie unterbrochen. „Und genau das versuche ich dir doch schon seit ewigen Zeiten zu erklären, und nicht erst, seit ich hier vor einigen Jahren ausgezogen bin“, hatte er sie angestrahlt. „Nur, weil jemand schön spricht und ein gutes Benehmen an den Tag legt, muss er noch lange kein guter Mensch sein. Viele meiner Musikerkollegen reden wie ihnen der Schnabel gewachsen ist und du würdest sie wohl ständig verbessern“, konnte er sich diesen kleinen Seitenhieb nicht verbeißen, sprach aber sofort weiter. „Doch die meisten dieser ‘so einfachen’ Leute haben ein Herz aus Gold, was man von den Plattenbossen, die ‘schön’ sprechen“, das Wort ‘schön’ hatte er bei dieser flammenden Rede mit einem angedeuteten Gänsefüßchen unterlegt, „nicht behaupten kann. Überhaupt nicht! Über Herzensbildung, liebe Mama, sagt eine schöne Sprache und ein angelerntes oder eintrainiertes feines Benehmen, nämlich nichts aus. Gar nichts!“
„Das habe ich inzwischen ja auch schon erkannt. Da hast du recht“, hatte sie ihm lächelnd zugenickt. Er hatte ihr Lächeln erwidert und war zum Thema zurückgekehrt.
„Aber trotzdem bin ich überrascht, dass du glaubst, es gäbe Gewalt in dieser Familie“, konnte der junge Mann die Worte seiner Mutter nicht verstehen. „Ist er nicht Jurist und in der Bank in leitender Position beschäftigt? Solche Menschen halte nicht einmal ich für gewalttätig.“
„Ja, das stimmt. Seine Frau hat mir einmal erzählt, dass er Leiter der internen Revision ist.“ Sie hatte kurz gezögert und dann fortgesetzt. „Oder war!“
„Wieso war?“, hatte Ricco irritiert geblickt, doch dann fiel ihm ein, dass die Bankfiliale, in der Mutters Nachbar beschäftigt war, vor Monaten geschlossen worden ist. „Ach, ich weiß, was du meinst“, legte er seine Hand auf ihren Unterarm. „Du denkst, dass er seinen Job verloren hat, weil die Filiale zugesperrt hat?“
„Ja, das glaube ich. Und ich glaube auch, dass in dieser Familie seither irgendetwas nicht stimmt“, hatte seine Mutter tief geseufzt und zur Wand gestarrt, durch die soeben abermals polternde Geräusche zu vernehmen waren. Automatisch war sie zusammengezuckt und hatte monoton weitergesprochen.
„Er dürfte offenbar wirklich arbeitslos sein, weil er seit Wochen nicht mehr in den Morgenstunden das Haus verlässt. Daher glaube ich, dass er andere Probleme auch noch hat. Wenn ich ihn am Gang sehe, wirkt er meist ziemlich ...“ Sie zögerte, suchte nach dem passenden Wort. „Mitgenommen“, murmelte sie abschließend.
„Mitgenommen?“, verstand Ricco nicht, was seine Mutter damit hatte ausdrücken wollen. „Ist er krank?“
„Nun, vielleicht. Aber nein, das denke ich eher nicht. Aber er ist jetzt immer so nachlässig gekleidet, dabei war er früher stets adrett unterwegs. Er hat ja in der Bank gearbeitet, trug Anzug und Krawatte. Auch war er früher immer so höflich, doch seit einigen Wochen ist er vollkommen verändert. Er grüßt kaum mehr, sein Gesicht wirkt aufgedunsen und ich sehe ihn fast nur mehr in Jogging-Hosen und unsicher wirkendem Gang herumlaufen.“
„Trinkt er?“, bekam Ricco eine vage Vorstellung, was seine Mutter mit diesen Umschreibungen eigentlich ausdrücken wollte.
„Ich weiß es nicht. Aber ich glaube schon. Und seit einiger Zeit höre ich diese Geräusche.“
Man hatte wieder männliches Gebrüll und gleich danach knarrende Geräusche gehört. So, als würden Stühle verrückt werden oder wenn jemand gegen ein Möbelstück kracht.
„Die Frau und die beiden Mädchen tun mir richtig leid. Aber ich habe mir die ganze Zeit gedacht, dass man sich da besser nicht einmischen sollte“, hatte sie ihren Kopf gesenkt und sich für ihre Feigheit offenbar geschämt.
Da wurde durch die Wand noch lauteres, männliches Geschrei, klatschende Geräusche und weibliches Gewinsel hörbar.
„Hast du das gehört?“, hatte sie ihren Zeigefinger hochgehoben und war aufgesprungen. „Ich kann da einfach nicht mehr wegsehen“, hatte sie die Wohnung verlassen wollen.
„Lass nur, Mama“, hatte Ricco gesagt. „Ich gehe rüber!“
Er nahm ein leeres Schüsselchen aus dem Küchenschrank und verließ die Wohnung. „Du bleibst da!“, wies er sie an, noch bevor sie protestieren hatte können.
Nun stand er in der nachbarlichen Wohnung und als er soeben Melanies Gesicht sah, wusste er, dass sich seine Mutter nicht geirrt hatte.
„Tut es weh?“, fragte er Melanie, doch das Mädchen schüttelte bloß den Kopf.
„Aber das ist doch nicht so schlimm“, mischte sich nun ihre kleine Schwester ein. Sie wirkte ziemlich abgebrüht. „Meli braucht wegen diesem Kratzer doch keine Hilfe. Aber mein Papa haut gerade meine Mama ganz stark“, erklärte Ella und zupfte Ricco am Ärmel. „Und sie hat uns aus der Küche geschickt, daher können wir jetzt nicht rein.“
Ricco ignorierte die kleine Ella, weil er sich um ihre Schwester sorgte. Er betrachtete weiterhin Melanies aufgesprungene Lippe aus der Blut tropfte, griff in seine Hosentasche und reichte ihr ein Papiertaschentuch.
„Danke“, flüsterte Melanie und tupfte das Blut von ihrem Kinn.
„Hat er dich auch geschlagen?“, fragte Ricco.
„Ja, er hat zuerst Melanie geschlagen und jetzt Mama!“, antwortete Ella, weil Melanie lediglich den Kopf senkte und vor Angst bereits Magenschmerzen bekam.
„Wo ist euer Papa?“, fragte Ricco und Ella deutete auf die geschlossene Esszimmertür.
Der Bursche lief los und öffnete die Tür.
„Aber Ella, wie hast du das nur einem Fremden alles sagen können? Du weißt doch, dass Papa uns das verboten hat.“
„Aber er kann Mama vielleicht helfen! Du hast doch gerade selbst gesagt, dass wir zu schwach sind. Dieser dicke Ricco ist aber erwachsen und kann Papa eine auf die Birne hauen“, verstand Ella ihre Schwester nicht.
Melanie machte sich jedoch Sorgen um Ricco.
„Und was ist, wenn Papa diesem netten Mann auch etwas antut?“, hörte Melanie im Nebenzimmer heftiges Gepolter und Vaters Geschrei.
Auf einmal stand Frau Schmid, die liebe Nachbarin, in der Tür.
Sie trat zaghaft ein und blickte auf die beiden verängstigten Mädchen.
„Ist bei euch alles in Ordnung?“, fragte sie und als sie Melanies blutende Lippe sah, wusste sie, was zu tun war.
„Ich rufe die Polizei“, sagte sie und verschwand in ihrer Wohnung.
Juli 1992
Ella kam in die Kabine ihrer Schwester. Melanie lag mit blasser Gesichtsfarbe auf dem Bett und hatte den Arm um ihre Augen gelegt.
„Geht es dir etwas besser?“, fragte Ella liebevoll und strich der Älteren über den Unterarm.
„Ja, ein wenig.“ Sie blickte ihre Schwester aus glanzlosen Augen an. „Bis ich morgen heirate, ist alles wieder gut“, versuchte Melanie ein tapferes Lächeln. Ihr war zuvor so übel gewesen und sie hatte den gesamten Mageninhalt auf der Toilette gelassen.
Nun erholte sich ihr Körper wieder etwas, doch sie fühlte sich unheimlich schwach. Der Sturm hatte sich gottlob etwas gelegt und das Schiff schwankte nicht mehr so heftig.
Melanies Übelkeit war demnach am Verschwinden.
„Ella!“, hauchte Melanie, setzte sich auf und sah ihre jüngere Schwester fragend an. „Was ist mit dir? Ist dir auch übel?“ Ihre Schwester war ebenfalls weiß wie die Wand.
„Nein, Meli, mir ist nicht übel, aber ...“
„Was aber?“
„Melanie, ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll!“
„Was?“, verstand Melanie nicht und deutete ihrer Schwester, dass sie sich auf die Bettkante setzen sollte.
Ella nahm Platz und griff nach der Hand ihrer Schwester.
„Dein Bräutigam ...“, begann sie leise zu reden, konnte aber nicht weitersprechen. Sie erwähnte nicht einmal seinen Namen, weil es dann vielleicht wahrer werden würde.
„Mein Gott, warum muss ich dir jetzt so weh tun?“, rief sie gequält und nahm Melanie in die Arme. Sie strich ihrer Schwester über den Rücken und versuchte die passenden Worte zu finden.
„Ella, was ist mit ihm?“, fragte Melanie und verbesserte dann ihre Schwester. „Er ist außerdem erst morgen mein Bräutigam. Wir heiraten doch noch nicht heute“, versuchte sie ein zaghaftes Lächeln und fuhr fort. „Gottlob, denn bei diesem Sturm hätte ich ihm mein ‘Ja’ wohl eher entgegengekotzt als gesagt.“
Sie wartete darauf, dass Ella bei dieser Formulierung lachte, weil sie bewusst die Sprache ihrer Schwester gewählt hatte, um sie zum Schmunzeln bringen zu können.
Doch Ella lachte nicht. Warum war sie denn gar so ernst?
Melanie kam daher zum Thema zurück. „Er spielt wohl noch“, wusste Melanie, dass die Musiker auch an diesem Abend auftraten.
„Nein, Meli, die Band spielt nicht.“
„Wegen des Sturms?“
Ella brach in Tränen aus.
Da wurde Melanie unruhig.
Ihre Schwester derart aufgewühlt zu erleben, war ungewöhnlich. Normalerweise war Ella stark, weinte fast nie und trotzte tapfer und stur jedem Ungemach.
Ja, Ella wirkte emotional ziemlich gefestigt und brauchte selbst bei den schnulzigsten Liebesfilmen kein Taschentuch. Sie nun so empfindsam zu erleben, stimmte Melanie fast ein wenig ängstlich.
„Ella, was ist denn?“, fragte Meli sie daher verstört und sah ihrer Schwester tief in die Augen, damit sie endlich sagte, was los war.
„Meli ... dein ... dein Bräutigam“, Ella schniefte. „Ich glaube, er ist tot.“
„Was sagst du da?“, schrie Meli und begann am ganzen Körper zu zittern. „Er hat doch vorhin noch gespielt!“, verstand sie nicht.
„Nein, Meli! Die Musiker haben heute nicht spielen können!“
„Was ist mit ihm?“, brüllte Meli ihre Schwester an.
„Er ... er ... er ist ... über Bord gegangen!“
20. Juli 2018 – 11 Uhr 05
Melanie stieg in den Krankenwagen, nachdem sie behauptet hatte, sie wäre die Freundin des verletzten Mannes.
Das stimmte zwar nicht, doch sie kannte diesen Herrn tatsächlich.
Zumindest ein wenig.
Vom Sehen.
Er war ihr schon einmal im Stiegenhaus begegnet und hatte sie mit einem sehr netten Lächeln gegrüßt.
Offenbar war er ein Nachbar, der erst vor kurzer Zeit in ihrem Wohnhaus eingezogen war. Wo er wohnte, wusste sie allerdings nicht, denn sie hatte es am Tag ihres Kennenlernens eilig gehabt und war an ihm vorbei auf die Straße gehetzt.
Nun saß sie im Rettungsfahrzeug und beobachtete die hektische Betriebsamkeit der Sanitäter. Sie hatte das Wort ‘Stichverletzung’ gehört und ein eisiger Schrecken war ihr durch die Glieder gefahren.
Dem Mann war in den Bauch gestochen worden? Deshalb hatte er so stark geblutet.
Aber wieso hatte er an ihre Tür geläutet?
Und wieso fuhr sie jetzt mit ihm mit? Es hätte doch völlig gereicht, was sie im ersten Augenblick getan hatte. Sie hatte die Rettung gerufen, ein Handtuch auf seine blutende Wunde gelegt und auf ihn beruhigend eingeredet, während sie auf medizinische Hilfe gewartet hatte.
Er war kaum ansprechbar gewesen und seine Augen waren ihm immer wieder zugefallen. Doch sie hatte das Gefühl gehabt, dass er ihre beruhigenden Worte, wenn schon nicht verstanden, dann zumindest teilweise, wenigstens gehört hatte. Das mutmaßte sie deshalb, weil er einmal versucht hatte, zu lächeln.
Doch gleich darauf hatte er vor Schmerz das Gesicht verzogen und sie hatte ihm geraten, sich nicht zu bewegen. Auch nicht seine Lippen. Scheinbar war er sehr schwer verletzt und Melanie betete im Stillen, dass er überleben würde.
1981
„Mama, Papa!“ Melanie ließ ihre Schultasche bereits im Vorzimmer von der Schulter gleiten und lief wie ein Wirbelwind in das Wohnzimmer.
„Ich habe den ersten Preis bekommen!“, rief sie voller Begeisterung und wusste gar nicht, ob ihr überhaupt jemand zuhörte.
Doch sie barst vor Stolz und musste ihre Freude einfach teilen. Daher stand sie nun mit hochroten Wangen neben ihrer Mutter und strahlte über das gesamte Gesicht. Die braunen Augen der Elfjährigen hatten selten so ein Leuchten und ihr Temperamentsausbruch war auch ungewöhnlich, denn Melanie war meist ruhig und in sich gekehrt.
Derart überschäumend kannte Mutter nur ihre Zweitgeborene. Ella war die lebhafte der beiden Schwestern und als ihre Ältere soeben wie ein Hurrikan in das Wohnzimmer gestürmt war, bremste sie ihre Tochter gleich einmal ein.
„Meli, sei bitte leise“, ermahnte sie Melanie und legte ihren Zeigefinger an ihre Lippen. Sie deutete auf die Tür, die ins angrenzende Schlafzimmer führte. „Dein Papa hat sich mit Kopfschmerzen niedergelegt. Wecke ihn bitte nicht!“
Als sie die Enttäuschung in den Augen der Tochter sah, wurde ihr Blick sanfter.
„Du kannst es mir ja trotzdem erzählen. Nur halt etwas leiser. Also: Was für einen ersten Preis hast du gewonnen?“, fragte Mutter, die Wäsche bügelte und nun das Bügeleisen aufstellte, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
„Na, ich habe doch bei diesem Wettbewerb in der Schule mitgemacht. Du weißt schon! Der Wilhelm Busch-Wettbewerb!“
Melanie schien anzunehmen, dass jeder davon wusste und demnach genauso begeistert war wie sie. Was, wenn man den irritierten Blick der Mutter richtig deutete, nicht der Fall war.
Mutter wirkte sogar völlig ahnungslos.
Sie schüttelte mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf und verstand offenbar nur ‘Bahnhof’.
„Meli, bitte, erzähle mir doch, was das für ein Wettbewerb ist. Ich gebe zu, ich habe in den vergangenen Wochen mit deiner kleinen Schwester genug um die Ohren gehabt. Ich will nicht auch noch bei dir herumraten müssen, was los ist“, hörte sie sich frustriert an.
Melanie wusste, was Mutter meinte.
Und ihr überschäumender Freudentaumel verflog zusehends. Das Strahlen verschwand aus ihren Augen.
Im vergangenen Jahr war Mutter fast wöchentlich in die Schule zitiert worden, weil Ella ständig Unfug trieb. Sie machte ihre Hausaufgaben nicht, belog sowohl Lehrer als auch Eltern und war auch durch Vaters brutale Prügel nicht zu zähmen.
Im Gegenteil.
Je härter er seine kleine Tochter anfasste, desto sturer wurde sie. Und auch immer verhaltensauffälliger.
Melanie hob, in der Hoffnung, dass ihr aber nun doch auch etwas Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ihr Gedicht in die Höhe und stellte sich vor Mutters Bügeltisch.
„Aber darum geht es ja gerade“, begann sie zu reden. Allerdings leise, wie von Mutter gefordert. „Wir haben in der Schule diesen Wilhelm Busch-Wettbewerb gehabt und ich habe mitgemacht, weil wir etwas aus dem eigenen Leben in Versform beschreiben sollten. So wie Max und Moritz! Das sind ja auch Geschichten aus dem Leben und ich habe daher einfach ...“
„Was haben denn Max und Moritz mit uns zu tun?“, unterbrach Mutter das für sie scheinbar anstrengende Geplapper ihrer Tochter und wünschte sich, sie hätte nur einmal in ihrem Leben einfach mal eine halbe Stunde für sich allein, um durchatmen zu können.
„Na, sehr viel!“, war Melanie nun wieder aufgeregt. Sie war durch Mutters Frage nun nicht mehr zu bremsen und hielt ihrer Mutter das Heft vor die Nase.
„Lies!“, rief sie. „Dafür habe ich den ersten Preis im Wilhelm-Busch-Wettbewerb bekommen!“
Nun wusste Mutter, dass sie das Bügeln vergessen konnte. Sie schaltete das Bügeleisen aus und setzte sich auf den Stuhl.
„Na, dann lass mich halt mal lesen!“, murmelte sie und plötzlich stand auch Ella neben ihrer Mutter.
Sie hatte bis dato mit ihrer Puppe gespielt. Doch plötzlich hatte sie dem hübschen Püppchen eine Ohrfeige gegeben und die Puppe in eine Ecke gestellt.
„Da bleibst du stehen, bis du wieder brav bist“, hatte sie ihr Püppchen angeschrien. Auf diese Weise schien die kleine Ella ihre Erlebnisse in diesem Elternhaus aufzuarbeiten. Ihre Puppe stand ziemlich oft in der Ecke.
„Lies laut, Mama!“, bat Ella, als sie auf einen Stuhl kletterte.
„Ach, bist du wohl auch stolz auf deine große Schwester?“, schmunzelte Mutter.
„Wieso stolz? Nur, weil sie so einen doofen Wettbewerb gewonnen hat? Sie hat wahrscheinlich nur angeben wollen!“
„Ella!“, war Mutter entrüstet. „Wieso sagst du so etwas?“
Auch Melanie blickte überrascht. Sie wollte nicht angeben! Sie war doch nur stolz auf ihre Leistung und freute sich über die erhaltene Auszeichnung! Wer wäre das nicht, wenn er einen Wettbewerb gewinnt?
„Na, weil es doch wahr ist! Kein Mensch schreibt Gedichte!“, war für Ella klar, dass Melanie bloß angeben hatte wollen.
„Aber Meli ist wirklich sehr talentiert“, schüttelte Mutter lediglich den Kopf, beschloss aber das neidvolle Verhalten ihrer kleineren Tochter zu ignorieren und sich endlich dem Werk Melanies zuzuwenden.
Laut begann sie zu lesen.
„Die Schwester“, las sie die Überschrift vor und blickte zu Ella. „Na, siehst du, sie hat das Gedicht sogar über dich geschrieben. Ist das nicht lieb?“, strich sie ihrer älteren Tochter liebevoll über die Wange und zwinkerte Ella zu, bevor sie mit getragener Stimme das Gedicht vorzulesen begann.
20. Juli 2018 – 11 Uhr 10
Der Mann tat Melanie so leid. Irgendwie berührte es sie, dass er an ihre Tür geläutet hatte, und aus diesem Grund fühlte sie sich ein wenig für ihn verantwortlich.
Wahrscheinlich hatte sie ihn deshalb nicht allein ins Krankenhaus fahren lassen wollen und begleitete ihn im Rettungswagen.
Melanie hatte während der Wartezeit versucht ruhig zu bleiben, um ihn nicht aufzuregen.
Sie war es nämlich.
Sehr sogar.
Sie hatte sich noch nie um einen schwer verletzten Menschen kümmern müssen und hatte daher auch keine Ahnung, was sie tun musste. Ja, sie hatte einmal einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, doch das war schon so lange her.
Daher hatte sie insgeheim gehofft, dass irgendjemand im Stiegenhaus aufkreuzen würde. Irgendein Nachbar oder ein Postbote, mit dem sie die Verantwortung teilen konnte. Doch während der gesamten Wartezeit war niemand im Stiegenhaus zu hören oder sehen gewesen.
Vielleicht auch deshalb, weil die Rettung tatsächlich ziemlich rasch gekommen war. Auch wenn ihr die wenigen Minuten, in denen sie mit dem Verletzten im Stiegenhaus gekauert war, durch ihre Unruhe wie Stunden vorgekommen sind.
Als sie dann aber endlich das sich nähernde Folgetonhorn gehört hatte, hatte sie beruhigend über die Hand des Mannes gestrichen.
„Gleich ist Hilfe da. Sie werden sehen, gleich wird Ihnen geholfen. Halten Sie durch!“
1981
Als eines Tag´s der Herr Papa
darüber gar nicht glücklich war,
dass irgendjemand hat verklebt
das Schlüsselloch, wodurch vergeht
die Möglichkeit, das Schloss zu nutzen,
das ließ den Vater damals stutzen.
Voll Ärger stellte er die Frage,
wer daran ein Verschulden trage.
Ich hab´ die Schuld von mir gewiesen,
doch auch die Schwester hat gepriesen,
wie schuldlos sie doch wirklich war.
Als reiner Engel schien sie gar.
Der Vater, zornig, schlug nun beide,
auf, dass die Täterin sich zeige!
Er drohte, das so lang´ zu tun,
und wollte vorher auch nicht ruh´n,
bis die, die dieses Werk vollbracht
gestand, warum sie das gemacht.
Ich habe es ganz klar bestritten,
tät´ ich doch nie ein Schloss zupicken!
Doch auch die Schwester stritt es ab,
wodurch entstand ein klares Patt.
Doch Vater wollte uns bezwingen,
´ne Beichte hofft´ er zu erringen,
indem er weiter heftig schlug,
auf, dass sie hatte bald genug:
Diejenige, die das getan!
Genau das war des Vaters Plan.
Doch steinern schwieg das Schwesterherz,
ertrug nicht nur den eig´nen Schmerz.
Es war ihr völlig einerlei,
dass auch ich litt – was war dabei?
Sie hat es weiterhin bestritten,
ließ zu, dass wir nun beide litten.
Und hätte demnach nie gestanden,
auch wenn die Prügel fortbestanden.
Das habe ich bald registriert
Und daher hab´ ich reagiert.
Gestand daher, dass ich es war,
und Vater glaubte es sogar!
Die Prügel, die ich dann bekommen,
denen die Schwester war entronnen,
die waren deshalb gar so schlimm,
weil Vater war so voller Grimm:
Weil ich das arme Schwesterherz
erleiden ließ gar so viel Schmerz,
bevor ich endlich eingestand,
dass ich es war – wie uncharmant!
Wie boshaft und gewissenlos,
wie tadelnswert und würdelos.
Nein, so ein Tun war so gemein,
und Vater fiel dazu nur ein:
Er drosch mich deshalb gar so schlimm,
damit ich für mich übernimm:
Erfahrungswerte, die besagen,
dass dieses schändliche Betragen
sich nicht gehört und böse ist,
weil stiftet Schmerz und sehr viel Zwist.
Danach ich sollte lange knien
und musste zu der Schwester seh´n,
die, mit dem Vater, sehr vergnügt
im Spiel versank, weil ihr geglückt,
dass ihr die Strafe blieb verwehrt,
die ihr doch eigentlich gehört.
Sie schien voll Freude, hörte zu,
als Vater ihr erklärte: „Du,
mein Töchterlein, ich sage dir:
Versprich in Zukunft ganz fest mir:
Dass du aus dieser Sache lernst,
nimm meine Worte wirklich ernst:
Denn Lügen haben kurze Beine,
du weißt nun sicher, was ich meine.
Sieh nur zu deiner Schwester hin:
und wisse, warum gar so schlimm,
die Strafe für sie war so arg:
Die Lüge wars, die ich nicht mag!
Hätt´ sie die Wahrheit gleich gesagt,
als ich euch erstmals hab´ befragt,
dann wäre nie so schlimm gekommen,
wie ich sie jetzt hab´ hergenommen.“
Die Schwester nickte, lernbereit,
von Skrupel schien sie ganz befreit.
Gewissensbisse schienen weit.
Ihr tat tatsächlich gar nichts leid.
Sie lachte froh bei Vaters Spiel,
zeigte, wie sehr es ihr gefiel,
dass sie mal Vaters Liebling war,
auch wenn es ihr Verdienst nicht war.
Der Schwester Leid war ihr egal,
Gewissensbisse? Wie banal!
Der Lüge stand sie seltsam nah,
was Vater bald sehr deutlich sah ...
In uns´rem weit´ren Leben dann
ich mehr und mehr dahinterkam,
dass bald es auch der Vater sah,
dass Schwester sehr verlogen war.
Auch wussten meine Eltern schon,
dass ständig sie stand unter Strom.
Die Schwester war ein Teufelsbraten
und außer Rand und Band geraten.
Sehr eindrucksvoll war das gescheh´n –
und wirklich jeder konnt´ es seh´n,
wie schnell sie war der Lüge nah,
als sie ein kleines Schulkind war.
Dem Lernen nicht sehr aufgeschlossen,
und Hausaufgaben nicht genossen
verzichtete sie ganz darauf,
fiel lieber durch Getratsche auf.
Als Lehrerin dann wollte seh´n
die Hausarbeit, die nicht gescheh´n.
Da wollte sie nicht eingesteh´n,
dass es doch gar nichts gab zu seh´n!
Stattdessen fiel ihr nunmehr ein:
Die Lehrkraft war leicht zu zerstreuen.
Und hurtig hat sie dann betont,
dass doch ihr Heft schon bei ihr wohnt.
„Frau Lehrerin: Ich habe doch
am Morgen, ja, das weiß ich noch,
mein Heft gelegt auf Ihren Tresen!
Ist´s möglich, dass Sie das vergessen?“
Die Lehrerin, total verwirrt
fand nun kein Heft! War irritiert!
Konnte es wirklich möglich sein,
dass sie verlor´ das Heftelein?
Nachdem sie unfair wollt´ nicht sein,
gestand sie zähneknirschend ein,
dass sie das Heft wohl selbst verlegt,
bat um Verzeihung – sehr bewegt.
Nach Jahren wurde renoviert,
die Wohnung ganz neu ausstaffiert.
Der Teppich, der schon sehr zerschlissen
wurde daher herausgerissen.
Und was kam dabei an das Licht?
Mama traute den Augen nicht!
Das Heft, in dem nichts drinnen stand
und deshalb einfach hier verschwand.
Derlei Geschichten gab es viel
und alle hatten nur ein Ziel:
Um von der Wahrheit abzulenken!
Die Menschen sollten nicht das denken,
was ziemlich offensichtlich war:
Dass Schwester nicht ganz ehrlich war.
20. Juli 2018 - 11 Uhr 15
Melanie saß im Rettungswagen und fragte sich, warum der Mann ausgerechnet bei ihrer Tür geläutet hatte.
Dann aber wusste sie: Weil er Hilfe gesucht hatte. Das war demnach eine logische Tat gewesen und sie hätte an seiner Stelle mit Sicherheit genauso gehandelt.
Und warum fuhr sie mit ihm mit? Mit einem wildfremden Menschen?
Ja, warum eigentlich?
Weil sie ein hilfsbereiter Mensch war und den alten Mann nicht allein lassen wollte.
Alt? War er überhaupt alt? Sie hätte ihn auf Sechzig geschätzt. Also war er kein Greis. Aber auch kein Jüngling mehr. Seine Gestalt war zart und feingliedrig und sehr schlanke Menschen haben einfach tiefere Falten, weshalb sie älter wirkten.
Sie dachte an den Spruch ihrer Großmutter: Beim Älterwerden muss sich eine Frau für Gesicht oder Po entscheiden. Sie hatte sich für das Gesicht entschieden.
Oder besser formuliert: Diese Entscheidung war ihr von Mutter Natur abgenommen worden. Als junge Frau immer rank und schlank, hatte Melanie jenseits der Vierzig jährlich ein Kilo dazubekommen.
Auf dieses Klimakterium-Geschenk hätte sie zwar verzichten können, doch zurückgeben konnte sie die Fettdepots auch nicht mehr. Sie waren gekommen, um zu bleiben.
Wie festgeklebt.
Ja, die Schöpfung hatte für sie entschieden, dass sie mit einem fast faltenlosen Gesicht, dafür aber mit einem gut gepolsterten Po ihren fünfzigsten Geburtstag feiern sollte.
In zwei Jahren also!
Sie verdrängte diesen Gedanken gleich wieder, weil sie noch immer nicht fassen konnte, wie schnell die Zeit doch dahingaloppiert war. Eben noch war sie ein junges Mädchen gewesen – nun war sie ...
Beim Gedanken an die verflossene Zeit und ihre bereits erwachsene Tochter fiel ihr ein, dass genau diese nun wohl gerade vor ihrer Tür stand.
Abwartend.
Wie bestellt, aber nicht abgeholt.
Verflixt, das hatte sie ganz vergessen.
Hektisch fischte sie ihr Handy aus der Handtasche und schrieb Ihrer Tochter eine SMS:
„Musste dringend weg, ein Verletzter lag im Stiegenhaus. Nimm dir ruhig die Milch. Bussi, Mama.“
„Oh, danke, bis später, Bussi, Anna“, kam postwendend die Antwort ihrer Tochter und Melanie war erleichtert.
Sie blickte wieder zu dem verletzten Mann, der mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und dessen Gesicht dadurch etwas sanfter wirkte.
Zuvor, als sie die Tür geöffnet hatte, hatte sie bloß seine schreckgeweiteten, panischen Augen wahrgenommen. Der Schock und die Schmerzen hatten seine Züge richtiggehend verzerrt.
Nun war sein Gesicht entspannt und sie überlegte, wer ihn wohl attackiert hatte.
Und warum?
War das ein Verbrechen im Suchtmilieu?
Wie ein Dealer oder ein Drogensüchtiger sah er nicht aus. Obwohl: Wie sah ein Junkie aus?
Dünn und abgezehrt?
Mager war er in der Tat.
Trotzdem sah er nicht wie ein Süchtiger aus. Gut, gerade jetzt, in diesem Augenblick konnte sie ja überhaupt nichts über sein Aussehen feststellen. Er hatte doch die Augen geschlossen.
Aber damals, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, als er sie im Stiegenhaus gegrüßt hatte, hatte er nicht wie ein Alkoholiker oder ein Drogensüchtiger ausgesehen.
Im Gegenteil.
Er hatte sympathisch gewirkt.
Und doch hatte ihn offenbar jemand ermorden wollen, denn wie sonst wäre er zu so einer stark blutenden Wunde gekommen?
Ein Unfall mit dem Brotmesser? Schwer vorstellbar, dass man sich beim Hantieren in der Küche mit dem Messer so tief in den eigenen Bauch säbelte. Nein, beim besten Willen konnte man sich selbst nicht so schwer verletzten.
Das war sicher kein Unfall gewesen, war Melanie klar. Diese Verletzung war dem Mann zugefügt worden. Seinem Angreifer war dieser Herr daher mit Sicherheit nicht sympathisch gewesen.
Aber warum? War der Attentäter vom Opfer provoziert worden? Oder war das eine Vergeltung? Für was auch immer? Hatte der Herr diesen Angriff vielleicht sogar verdient?
Nichts geschieht doch ohne Grund!
Gleichzeitig fragte sich Melanie, ob es überhaupt einen Grund gab, jemanden zu töten.
Nein, wusste sie im gleichen Moment.
Keinen!
Und doch muss es für den Angreifer dieses Mannes ein Motiv gegeben haben und Melanie wurde sich erst in diesem Moment bewusst, was da vor wenigen Minuten genau vor ihrer Wohnungstür geschehen war.
Während sie ihre Schlüssel gesucht hatte, hatte irgendjemand entschieden, dass dieser Mann nicht mehr weiterleben sollte.
Nur wenige Meter von ihrer Wohnungstür entfernt, wurde dieser Mann ermordet.
Nein, er lebt doch, korrigierte sie sich in Gedanken.
Ja, er lebte. Noch.
Als sie seine geschlossenen Augen, ihr durchgeblutetes Handtuch und das hektische Hantieren der Sanitäter realisierte, wusste sie jedoch, dass offenbar Lebensgefahr bestand.
Sie erschauderte.
Obwohl sie diesen Mann gar nicht kannte!
Es war eben doch etwas völlig anderes, von Morden und Verbrechen aus der Zeitung zu lesen, als plötzlich mit einer Bluttat konfrontiert zu werden. Die schrecklichen Geschichten aus den Medien waren sehr weit entfernt.
Dieser Mann aber war zuvor genau vor ihrer Tür gelegen und hatte ihre Hilfe gesucht. Was aber auch bedeutete, dass der Täter ebenfalls genau vor ihrer Tür gewesen sein musste.
Vor ihrer Tür oder nicht weit davon entfernt. Denn weit hatte der Mann mit dieser schweren Verletzung doch nicht gehen können.
Nun begann sie zu hyperventilieren.
1981
Die Mutter senkte das Heft mit bebenden Händen ab und war weiß wie die Wand. Sie sah Melanie fassungslos in ihr erwartungsvoll gespanntes Gesicht.
„Das hast du tatsächlich geschrieben?“, fragte sie mit tonloser Stimme.
„Ja!“, strahlte Melanie voller Stolz. „Gefällt es dir?“, bekam sie in ihrer kindlichen Hochstimmung gar nicht mit, dass das Gesicht ihrer Mutter nicht genauso vor Begeisterung leuchtete wie ihr eigenes.
Sie merkte nicht, dass die Reaktion ihrer Mutter überhaupt nicht so ausfiel, wie sie sie sich erhofft, nein, eigentlich ersehnt hatte.
Warum?
Weil sie sich sicher gewesen war, dass ihre Mutter mindestens genauso stolz auf sie sein würde, wie es ihre Klassenlehrerin gewesen war. Sie hatte Melanie vor der versammelten Klasse gelobt und erwähnt, dass dieses Werk einer jungen Poetin der Beweis sei, dass die Poesie auch heute noch einen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat und aus diesem Grund auch nicht aussterben würde.
Ihre Lehrerin hatte Melanie als Poetin bezeichnet!
Sie war so stolz gewesen und alle ihre Freundinnen hatten sie beglückwünscht. Melanie war sich daher sicher gewesen, dass ihre Mutter genauso begeistert sein würde.
„Und jeder in der Schule hat das gelesen?“, reagierte Mutter allerdings nicht erwartungsgemäß.
„Nur diejenigen, die diesen Wettbewerb bewertet haben!“, verstand Melanie Mutters Frage nicht und über ihr kleines Gesicht legte sich ein Schatten. Ihr Strahlen wurde weniger.
„Kind, bist du noch zu retten?“, schrie ihre Mutter da plötzlich los.
„Wieso? Was meinst du?“, verschwand nun jeder Glanz aus Melanies Gesichtszügen.
„Du kannst doch nicht solche Dinge schreiben!“, wurde die mütterliche Stimme schrill.
„Was für Dinge?“, verstand Melanie nicht. Sie hatte doch lediglich ein Gedicht geschrieben, das, wie Max und Moritz in humorvollen Worten die Streiche ihrer Schwester beschrieben hatte.
Aufgeregt überlegte sie eine Rechtfertigung. Nicht, weil sie sich schuldig fühlte, sondern weil Mutter eine Erklärung erwartete. Melanies Stimme wurde weinerlich. Sie verstand die Welt nicht mehr.
Sie blickte zu Ella, die ihre Puppe wieder aus der Ecke zerrte und mit der Faust in das Puppengesicht schlug.
„Bist du noch zu retten?“, schrie sie ihre Puppe an und spielte offenbar die Szene nach, die sie soeben mitbekommen hatte.
„Ella, sei leise! Ich habe doch gesagt, dass der Papa schläft!“, brüllte Mutter ihre kleinere Tochter an und blickte verängstigt zur Schlafzimmertür.
„Aber du bist doch viel lauter!“, konterte Ella und Mutter hob ihre Hand, wollte auf ihre jüngere Tochter einschlagen. „Davon kann er auch munter werden!“, legte Ella ihren kleinen Zeigefinger auf ihre geschürzten Lippen und mahnte Mutter dadurch genauso zur Ruhe, wie Mutter es zuvor bei Melanie getan hatte. Mutter war davon so entwaffnet, dass sie hilflos ihren Kopf schüttelte.
Melanie ließ ihre Schultern sinken. Es hätte nicht viel gefehlt und Mutter hätte ihre kleine Schwester geschlagen. Aus nichtigem Grund. Dabei prügelte Mama ihre Kinder selten. Und wenn sie es tat, dann meist aus Hilflosigkeit.
Also eigentlich aus dem gleichen Grund wie Papa.
Nur halt nicht so stark und daher taten ihre Schläge auch nicht so weh.
Mutters ‘Spezialität’ waren Ohrfeigen, die aus dem Affekt und ohne Vorwarnung in die kleinen Gesichter flogen. Dann, wenn Mutter gute Argumente ausgingen oder ihre Geduld am Ende war.
Ebenfalls aus den gleichen Gründen, warum so viele Eltern Backpfeifen austeilten.
Doch Mutters Schläge erzeugten bei ihren Töchtern lediglich einen Schreck oder Überraschung. Weil sie ansonsten liebevoll war. Und meist entschuldigte sie sich sogar für ihre Ohrfeigen. Daher fürchteten sich die beiden Mädchen auch nicht vor Mutter.
Trotzdem hätte Melanie nie damit gerechnet, dass ausgerechnet ihr Gedicht ein Grund für die soeben entstandene gereizte Stimmung werden würde.
Was hatte sie falsch gemacht?
Sie hatte sich so sehr aufs Nachhausekommen gefreut und nun sollte sie erklären, warum sie eine Schularbeit geschrieben hatte, die von der Schule ausgezeichnet worden war?
Ihre kleine Schwester musste sich so oft rechtfertigen, weil ihre Schularbeiten ungenügend waren.
Nun sollte sich Melanie für ausgezeichnete Schularbeiten ebenfalls rechtfertigen?
Wer sollte das verstehen?
Melanie tat es nicht!
Trotzdem versuchte sie es zumindest.
Weil ihre Mutter sie so erwartungsvoll anblickte.
Sie hatte zuvor wissen wollen, warum Melanie solche Dinge schrieb und eigentlich verstand Melanie dieser Frage noch immer nicht, denn die Antwort war doch logisch: Weil diese Dinge passierten und sie diese Dinge in einem Gedicht, nachdem das die Vorgabe im Deutschunterricht gewesen war, mit viel Mühe und noch mehr Spaß am Reimen in humorvoller und poetischer Form niedergeschrieben hatte.
Wie Wilhelm Busch. Er war doch ihr großes Vorbild.
Hätte sie dieses Gedicht besser nicht schreiben sollen?
Ja, sie dachte durch Mutters unverständliche Reaktion tatsächlich darüber nach, ob sie einen Fehler gemacht hatte und dieser Gedanke war so desillusionierend, weil sie doch beim Schreiben das erfüllende Gefühl gehabt hatte, in einem Bereich ihres Lebens wirklich gut gewesen zu sein.
Ansonsten wurde sie in ihrem Elternhaus sowieso stets als ungeschickter, energieloser Tollpatsch verspottet. Melanie hatte nicht vieles, worüber sich ihre Eltern lobend äußerten.
Daher war sie auch so stolz auf diese schulische Auszeichnung gewesen, und hatte so sehr gehofft, nein, sogar damit gerechnet, von Mutter ein anerkennendes Wort zu hören.
Doch nun verstand Melanie die Welt tatsächlich überhaupt nicht mehr, lieferte ihrer Mutter aber trotzdem eine Rechtfertigung.
„In der Klasse haben beim Vorlesen alle Kinder hell aufgelacht und die Frau Lehrerin hat gesagt: ‘Melanie du hast aber wirklich eine überschäumende Fantasie, doch geschrieben ist das Gedicht hervorragend‘. Das hat die Frau Lehrerin gesagt und ich habe dafür sogar den ersten Preis gewonnen!“, wiederholte sie diese für sie so wichtige Tatsache und vor Enttäuschung liefen ihr nun Tränen über die Wangen.
„Aber du kannst doch nicht solche Sachen schreiben!“, wurde Mutters Stimme nun etwas sanfter, nachdem sie sah, dass ihre Tochter weinte. „Das, was du da beschrieben hast, geht doch niemanden etwas an!“, schüttelte sie den Kopf.
„Was heißt denn das: ‘Überschäumende Fantasie‘“, fragte hingegen Ella, die ihre Puppe wieder in die Ecke gesetzt hatte.
„Wieso fragst du das jetzt?“, blickte Mutter ihre Kleinere irritiert an.
„Na, weil Meli gerade erzählt hat, dass ihrer Lehrerin gesagt hat, dass sie eine überschäumende Fantasie hat!“
„Das hat sie gesagt?“, fragte Mutter und blickte zwischen Ella und Melanie hin und her. Sie war zuvor so aufgewühlt gewesen, dass diese Worte wohl an ihrer Wahrnehmung vorbeigerauscht waren.
„Ja, Mama, das habe ich gerade gesagt“, war Melanie inzwischen tränenüberströmt. „Hast du mir denn gar nicht zugehört?“
„Doch, mein Kind“, entschuldigte sich die Mutter. „Aber ich war so aufgeregt, weil du ...“
„Was heißt denn nun: ‘Überschäumende Fantasie?’“, unterbrach sie Ella unwirsch.
Sie forderte eine Antwort ein. Mutters Entschuldigungen interessierten sie nicht.
„Das heißt, also, das ...“ Mutter schien nachzudenken. „Das heißt, dass man sich vieles ausdenken kann. Fantasie ist etwas, das nicht wirklich existiert. Zumindest nicht im wahren Leben, sondern nur in der Einbildung des Menschen der viel Fantasie hat.“
„Also hat Melis Lehrerin gesagt, dass sie lügt?“, sah Ella es pragmatisch. Dass der Inhalt von Melanies Gedicht erlogen war, gefiel Ella sehr gut. Immerhin wollte sie ihre Kinderhaut retten und da kam ihr Mutters Erklärung gerade recht.
„Ich habe nicht gelogen“, rief Melanie empört und blitzte ihre Schwester wutentbrannt an. Immerhin hatte sich die erwähnte Geschichte genauso zugetragen.
Es waren reine Fakten, die sie zu Papier gebracht hatte.
„Aber wenn es sogar deine Frau Lehrerin so gesagt hat?“, zuckte Ella mit den Schultern und für sie war die Sache erledigt. Sie wandte sich wieder ihrer Puppe zu und folgte dem nachfolgenden Gespräch nicht weiter. Für sie war wichtig, dass sie nicht als Lügnerin abgekanzelt wurde. Was man über Meli dachte, tat ihr nicht weh.
„Das ist allerdings wahr“, murmelte Mutter und schien sich wieder etwas zu beruhigen. „Wenn es deine Lehrerin so gesehen hat, dann bleibe bitte dabei, Melanie!“, redete sie nun in sanften Worten auf ihre Tochter ein.
„Warum?“, schüttelte Melanie verständnislos den Kopf.
Wie konnte ihre Mutter sie dazu anleiten, die Lehrerin zu belügen?
„Es stimmt doch alles, was ich geschrieben habe, und du sagst doch selbst immer wieder, dass wir nicht lügen sollen!“
„Das stimmt! Aber, mein Kind, es wäre nun einmal überhaupt nicht gut, wenn herauskäme, dass das, was du in diesem Gedicht geschrieben hast ... also ... so etwas darf doch nicht nach außen dringen. Was ich meine, also, wenn klar werden würde, dass deine Worte nicht deiner Fantasie, sondern der Wahrheit entsprechen, wäre das ganz, ganz schlecht“, stotterte Mutter herum.
„Warum?“
„Darum! Und jetzt sei still, bevor Papa davon noch etwas mitbekommt. Ihm geht es heute sowieso nicht gut.“
„Er hat vorhin vom vielen Saufen Kopfweh gehabt“, erwähnte Ella, während sie ihrer Puppe die Haare frisierte. Damit wurde klar, dass sie sehr wohl dieser Konversation folgte, lediglich abwesend wirkte.
„Ella, wo hast du denn diese Ausdrücke her? Bitte, sprich nicht so über deinen Vater!“, echauffierte sich ihre Mutter.
„Weil bei uns in der Familie niemand die Wahrheit sagen darf?“, warf nun Melanie ein und ihr liefen dicke Tränen über die Wangen. Ihr kleines Gesicht bekam einen unglücklichen Ausdruck, als sie in das wütende Antlitz ihrer Mutter sah.
„Weißt du, Mama, ich habe mich heute so aufs Heimkommen gefreut. Ich habe einen Wettbewerb gewonnen! Weißt du, was das heißt? Ich war die Beste in der ganzen Schule und nicht nur in unserer Klasse. In der ganzen Schule!“, wiederholte sie und ihr Gesicht war nun dunkelrot. „Und ich bin so stolz darauf! Ich habe es gar nicht erwarten können, war so gespannt, was du dazu sagst. Doch du kannst immer nur schimpfen. Egal, was ich tu, du sagst nie, dass du auf mich stolz bist. Sogar meine Frau Lehrerin war stolz auf mich, doch du sagst mir nie, dass ich etwas gut gemacht habe. Wenn ich auf meine Schularbeiten eine Eins bekomme, unterschreibst du bloß, wenn Ella eine Fünf bekommt, schimpfst du. Und jetzt, nachdem ich den Wilhelm Busch-Wettbewerb gewonnen habe, sagst du nur, dass ich lügen und behaupten soll, dass alles nicht stimmt, was ich geschrieben habe. Dabei stimmt doch jedes Wort!“, rief sie und lief aufgebracht aus dem Zimmer.
20. Juli 2018 ... 11 Uhr 15
Melanies Gedanken begannen regelrecht zu rasen: War der Täter womöglich noch in der Nähe gewesen, als sie die Tür geöffnet hatte? Sie überlegte panisch, ob sie etwas bemerkt oder jemanden gesehen hatte.
Also jemanden anderen, außer den Verletzten.
Doch, nein!
Es war niemand im Stiegenhaus gewesen.
Aber möglicherweise hatte der Angriff auf offener Straße stattgefunden, der Mann hatte sich gerade noch in das Haus schleppen können und war vor ihrer Wohnungstür zusammengebrochen, hatte zuvor lediglich noch mit letzter Kraft klingeln können?
Sie wohnte doch im Erdgeschoß.
Das wäre schon möglich gewesen.
Er war so dünn, so schrecklich dünn. Wenn sie ihn nicht schon einmal in ihrem Wohnhaus gesehen hätte, hätte sie ihn vielleicht sogar für einen Obdachlosen gehalten.
Sein Gesicht wirkte eingefallen, tiefe Falten wanderten über seinen Hals bis zum Rundausschnitt seines T-Shirts.
Seine Hände waren die eines alten Mannes. Doch seine Finger waren zartgliedrig. Wie die eines Künstlers.
Das würde schon passen, fiel ihr ein. Künstler sind finanziell meist nicht auf Rosen gebettet und dass dieser Mann nicht begütert war, konnte sie an seiner Kleidung erkennen. Er trug eine ausgewaschene Jeans, die ihm zu weit war und mit einem Gürtel am Körper gehalten wurde.
Das graue T-Shirt war blutverschmiert und hochgeschoben, damit die Sanitäter seine Stichverletzung behandeln konnten.
Einer der beiden informierte soeben die Polizei und jetzt erst realisierte Melanie, dass der Angreifer wahrscheinlich noch immer frei herumlief.
In der Nähe ihrer Wohnung.
Und demnach auch in der Nähe ihrer Tochter, die sich wohl soeben aus ihrer Küche Milch holen wollte.
Oh, mein Gott, durchfuhr es sie.
Was, wenn der Täter noch im Stiegenhaus war?
Sie rief daher ihre Tochter an.
„Anna, mein Schätzchen. Bitte verlasse nicht deine Wohnung!“, kreischte sie in das Smartphone.