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Die 25-jährige Musikerin Dora blickt auf schmerzhafte Zeiten zurück. Jahre zuvor erlitt ihr Lebensgefährte Dieter auf offener Bühne einen Herzstillstand. Aber sie findet neuen Lebensmut und kann endlich wieder vor Publikum singen. Dora freut sich nach einem erfüllten Tag auf die Heimkehr zu ihrem Mann. Markus soll sie wie immer chauffieren, doch auf dieser Fahrt wird sie entführt und in einer einsamen Hütte am Waldrand festgehalten. Gemeinsam mit Markus. Dora hat den jungen Mann eigentlich immer gemocht, doch nun weiß sie nicht, ob sie ihm vertrauen kann. Irgendetwas scheint er zu verbergen ... Dieser Roman setzt sich mit Alkoholmissbrauch und Gewalt in der Familie auseinander. Erzählt wird eine bittersüße Geschichte über Freundschaft, Vertrauen und Liebe sowie die heilende Kraft der Musik.
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Inhaltsverzeichnis
Buch
Prolog Mai 2018
Straßenmusik Mai 2018
München April 2015
Die Eidechse 1998-2002
Volksbank 2001
Rettungsanker 1998-2002
Ausgezwitschert Mai 2018
Das Gänseblümchen 2002
Neues Leben Dezember 2016
Club 27 2007 - 2011
Autounfall
Prinzipien 2011-2013
Nummer 31 und 52 Februar 2010
Hermannskogel 2016 - 2017
Wie es abläuft Mai 2018
Biene Maya Mai 2018
Nein! Mai 2018
Freundschaftsdienst Mai 2018
Seltsamer Freund Mai 2018
Gegrillte Wühlmaus Mai 2018
Bier im Paradies Mai 2018
Nicht die Polizei Mai 2018
Das Wahre im Kleinen Mai 2018
Der Waldkauz Mai 2018
Musikalische Lurche Mai 2018
Der Fernseher Mai 2018
Schockierende Wahrheit Mai 2018
Ladekabel Mai 2018
Hast du das Geld? Mai 2018
Flucht aus dem Paradies Mai 2018
Lüge Mai 2018
Banges Warten Mai 2018
Tatort Mai 2018
Hartnäckiger Kaugummi Mai 2018
Leise Katze Mai 2018
Das Richtige Mai 2018
Zu den Akten Mai 2018
Nicht immer perfekt Juni 2018
Unheilvolle Ambivalenz Juni 2018
Besinnungslose Frau Juni 2018
Ludmilla? September 2018
Mehlwürmer September 2018
Wenn das Vertrauen fehlt September 2018
Der Brief Februar 2019
Gänseblümchen
Mehr von Brigitte Kaindl
Danksagung
Brigitte Kaindl
Der Tote und das Gänseblümchen
Roman
Ein Toter unter einer Brücke und eine Entführung mit Lösegeldforderung decken eine arglistige Hinterhältigkeit auf. Dieses Drama erzählt von der Suche nach Geborgenheit, bedingungsloser Aufopferung und herber Enttäuschung. Ein Roman, der sich kritisch mit dem Thema Alkoholmissbrauch und Gewalt in der Familie auseinandersetzt. Aber auch eine bittersüße Geschichte über Freundschaft, Vertrauen und Liebe.
Inhalt: Die 25-jährige Dora Bellis ist mit ihrer Band „Hells Angels“ erfolgreich auf Tournee. Nachdem Dieter, ihr Lebensgefährte und Gitarrist der Gruppe auf offener Bühne einen Herzstillstand erleidet, warten leidvolle Jahre auf die vermögende, aber unglückliche Frau. Als sie Jahre später wieder nach vorne zu blicken versucht, schlägt das Schicksal abermals mit voller Härte zu: Sie wird entführt und mit ihrem Chauffeur an einem einsamen Ort festgehalten. Hier offenbart sich eine schmerzhafte Wahrheit, die Doras Weltbild in den Grundfesten erschüttert. Wird sie je wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren können? Und wem kann sie überhaupt noch trauen?
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Doch ein elementarer Teil dieser Geschichte ist nach einer wahren Begebenheit.
Autorin
Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.
Ihre bisherigen Bücher:
„Mein Weg aus dem Fegefeuer“, Untertitel: „Missbrauch, Leid in der Dunkelheit“, (2018 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie
„Das Echo des Herzens“ (2019), Roman
„Das Echo des Rosenmordes“ (2020), Roman
„Das Echo von Gottlieb“ (2020), Roman
„Christians Geheimnis“ Sammelband, 3 Romane der Echo-Trilogie
„Mann, oh Mann!“ (2020), Humorvolle Unterhaltungsliteratur
„Der Tod der Braut“ (2021), Roman
„In einem Meer voll Tränen“ (2021), Roman
„Der Mörder und die Wildrose“ (2022), Roman
„Der Tod des Bräutigams“ (2023), Roman
„Die zwei Wölfe“ (2024 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie
Impressum
© urheberrechtlich geschütztes Material
Text von Brigitte Kaindl © Copyright by Brigitte Kaindl
www.brigittekaindl.at
Alle Rechte vorbehalten
Autor: Brigitte Kaindl
Umschlaggestaltung, Illustration: Brigitte Kaindl
Der alte Mann ging mit schweren Schritten an einer Mülltonne vorbei. In seiner Hand hielt er eine fast vollständig geleerte Flasche.
Er schlurfte zu seinem Schlafplatz unter der Brückenunterführung und machte einen letzten, tiefen Schluck. Danach warf er die unnütz gewordene Bouteille achtlos in die Tonne.
Exakt getroffen hatte er nicht.
Auch egal!
Scheppernd fiel die Glasflasche auf den Asphalt und zerbrach in tausend Scherben.
Er hörte gar nicht hin. Er war müde. Und völlig zugedröhnt.
Plötzlich stutzte er.
Das hier ist mein Schlafplatz!, ärgerte er sich. Hier schlief er bereits seit einigen Wochen. Was machte dieser Kerl hier? Wie ein schwerer Sack lag er genau vor der Radfahrrampe, unter der er seine Matratze vorsorglich ausgebreitet hatte.
Seine Matratze! Sein Schatz!
Es war überhaupt nicht einfach gewesen, dieses schwere, alte Ding von diesem Bahndamm, wo man sie achtlos entsorgt hatte, hierher zu schleppen. Und doch war es die Mühe wert gewesen. Seit Wochen schlief er zum ersten Mal wieder auf weichem Untergrund. Ein unbeschreiblicher Luxus.
Für ihn.
Der, der das alte Ikea-Ding einfach aus dem Auto gekippt hatte, lag nun wohl noch weicher und ohne Hausstaubmilbenkot.
Der alte Mann konnte sich solche Gedanken aber nicht mehr leisten. Er war froh gewesen, dass er die unhandliche Schlafunterlage gefunden und hierher ziehen hatte können. Und er war erleichtert, dass sie ihm bisher noch niemand entfernt hatte. Immerhin lag sein Schlafquartier auf sogenanntem öffentlichen Raum.
Kostenlos. Gut durchlüftet. Und geschützt vor Niederschlägen durch die Fahrradrampe. Das war fast Luxus, wie er aus Erfahrung wusste.
Allerdings auch frei zugängig.
Und natürlich ohne Badezimmer. Doch wild wucherndes, dichtes Gebüsch war auf der Donauinsel für körperliche Entsorgungen zur Genüge vorhanden.
Man durfte sich bloß nicht dabei erwischen lassen. Spaziergänger und Hundebesitzer hatten es nämlich nicht so gerne, wenn ihr genussvolles Flanieren durch penetrante Aromen getrübt wurde.
Aber das war auch schon das einzige Problem und von daher empfand er seine Bleibe tatsächlich fast schon als Luxusappartement.
In der warmen Jahreszeit. Im Winter würde es wohl auch hier ziemlich frostig werden.
Doch er hatte gelernt, nicht mehr zu weit in die Zukunft zu denken und plante daher auch nicht mehr. Er wusste ja gar nicht, ob er überhaupt eine hatte.
Eine Zukunft.
Er lebte im Hier und Jetzt. Und jetzt genau war er müde und nun lag dieser fremde Kerl unter der Wiener Reichsbrücke. Panisch blickte er unter die Rampe, ob seine Matratze noch da war.
Gottlob!
Sie war noch auf ihrem Platz. Er hatte im ersten Augenblick schon befürchtet, dieser Penner hätte sie ihm geklaut.
Gut, das war jetzt fast ein wenig paranoid, wurde ihm trotz seiner schweren Alkoholisierung klar. Immerhin hatte er sie doch gar nicht dabei und in seine Hosentasche passte das Riesending auch nicht.
Angewidert kam der alte Mann dem störenden Gesellen näher. Er lag mit dem Gesicht am Boden und machte keinen Mucks.
Hat wohl noch mehr gesoffen als ich, wenn er sogar mitten am Weg eingeschlafen ist!, dachte der alte Mann.
Okay! Sollte ihm recht sein. Doch nicht hier!
Er wollte jetzt in Ruhe seinen Schwips ausschlafen. Mürrisch stieß er daher mit seinem Fuß auf den Schuh des Regungslosen, um ihn aufzuwecken.
„Hey, Alter! Hau ab und schlaf deinen Rausch woanders aus. Das hier ist mein Appartement.“
Doch der Kerl rührte sich nicht.
Der alte Mann trat daher stärker gegen die Schuhsohle dieses Penners.
Wieder nichts.
Dann ging er zum Oberkörper des Schlafenden und fuhr zurück. Augenblicklich verflüchtigte sich sein Rausch ein wenig.
Lebendig wirkte der Kerl nicht mehr. Er lag in einer Blutlache und sein Kopf war eine große, blutverschmierte Kugel, aus der nach wie vor Blut sickerte.
„Scheiße!“, entfuhr dem alten Mann.
Er wusste, dass er heute Nacht wohl nicht viel Ruhe haben würde.
„How can you tell me, you are lonely”, sang die zierliche Straßensängerin und begleitete sich auf ihrer Gitarre.
‘Streets of London’ ging immer! Auch in einer Fußgängerzone in der Wiener Innenstadt zielte dieser Song direkt in die Herzen der Zuhörer.
Dora Bellis stand an diesem sonnigen Maitag auf der Kärntnerstraße und es wimmelte von hektisch eilenden Geschäftsleuten, Familien mit Kindern sowie posierenden und fotografierenden Touristen. Sie liebte es, dieses Treiben beobachten zu können und selbst nicht mehr Teil dieser Hektik zu sein.
Der geöffnete Gitarrenkoffer lag vor ihr und ihr unvergleichliches Timbre verströmte eine Melancholie, die viele Leute am Weiterhasten hinderte und vor ihr verharren ließ.
Es klimperte im Gitarrenkoffer.
Als der letzte Akkord verklang, applaudierten die Zuhörer. Männer, Frauen und Kinder klatschten ihr zu und sie verneigte sich vor der versammelten Menschenmenge. Es war ein ergreifendes Gefühl, vor Publikum singen und Menschen durch Musik berühren zu können.
Wieder.
„Sie singen richtig gut!“, sagte eine ältere Dame im feinen Kostüm, nachdem sie der jungen Sängerin einen Schein in den Gitarrenkoffer gelegt hatte. „Sie werden es einmal weit bringen, das sage ich Ihnen!“
„Danke!“, lächelte ihr Dora zu und entgegnete nichts.
Sie dachte daran, wie weit sie es tatsächlich bereits gebracht hatte.
‘Hells Angels’ war der Name der Rockgruppe, deren Leadsängerin sie einst gewesen war. Vor gar nicht so langer Zeit. Und doch lag das so weit zurück, dass es sich anfühlte, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.
War es auch!
Damals trug sie ihr Haar knallrot und zwei Zentimeter kurz. Die zum Rockeroutfit passende Lederkluft hing inzwischen nur noch als Erinnerung in Doras Schrank. Ihre Augen hatte sie auf der Bühne mit dickem Eyeliner umrandet und die Lippen mit dunkelviolettem Lippenstift bemalt. Niemand würde Dora, die Straßensängerin, die hier in der Fußgängerzone sang, mit dieser Hardrockerin von damals in Verbindung bringen!
Eine Ähnlichkeit war nicht einmal zu erahnen!
Selbst diejenigen, die damals ihre Konzerte besucht hatten, hätten Dora nicht wiedererkannt.
Also: Heute nicht erkannt. So, wie sie soeben eine schnulzige Ballade gesungen hatte.
Diese Frau war eine andere gewesen.
Diese Zeit war vorbei.
Endgültig.
Heute trug Dora ihr brünettes Haar lang und es fiel wie ein Wasserfall über ihre Schultern. Kaum geschminkt, in Jeans und kariertem Holzfällerhemd sah sie aus wie eine Countrysängerin, oder einfach nur das Mädchen von nebenan.
An die Rockröhre, die sie einst gewesen war, erinnerte nicht einmal mehr ihre Stimme. Früher druckvoll, laut und durch regelmäßigen Nikotingenuss leicht krächzend, klang ihre Stimme, seit sie nicht mehr rauchte, samtiger und fast weich.
Durchaus passend zu den Liedern, die sie inzwischen sang. Wahrscheinlich hätte auch niemand der früheren Fans ihre heutige Stimme erkannt.
Ja, sie hatte sich verändert.
Sie hatte sich ja förmlich verändern und anpassen müssen. An ihr Schicksal, das so gnadenlos zugeschlagen hatte, und gleichzeitig doch so gnädig gewesen war.
Es hätte nämlich schlimmer kommen können.
Viel schlimmer!
Sie war demnach zufrieden und blickte hoffnungsvoll nach vorne.
Es hatte eben alles seine Zeit und ihre war jetzt die der treusorgenden und pflegenden Ehefrau, die bloß noch ab und zu und zu ihrem persönlichen Vergnügen als Straßenmusikerin auftrat.
Die Entwicklung, die sie in den vergangenen Jahren durchgemacht hatte, erkannte man nicht nur an ihrem Äußeren. Sie zog auch den Wechsel des Musikgenres, ihres Lebensstils, ja, sogar des Klanges ihrer Stimme mit sich.
Es war ruhig geworden in ihrem Leben. Und das strahlte Dora mit ihrer gesamten Persönlichkeit aus, während sie, in sich ruhend, den Applaus entgegennahm.
Ruhig.
Ein ruhiges Leben. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, wenn sie an das Jahr 2015 dachte.
„Zugabe! Zugabe!“
Das Publikum schrie. Klatschte. Stampfte. Das Getöse wurde immer lauter. Dora und die Bandmitglieder, die verschwitzt backstage standen, sahen einander an.
Ludmilla, die gute Seele und gleichzeitig Doras Freundin, reichte dem Schlagzeuger, dem Bassisten und Dieter, dem Leadgitarristen, ein Handtuch. Doras Gesicht tupfte die zierliche Blondine selbst ab, damit ihre Schminke nicht verschmiert wurde.
Jeder wusste, dass sie noch einmal raus gingen.
Rausgehen mussten!
So eine Begeisterung war eine Aufforderung, die man nicht ignorieren konnte. Sie hatten bereits zwei Zugaben gegeben und das Publikum hatte noch nicht genug.
„Geht noch eine?“ fragte Dora und blickte in erster Linie Dieter an.
Er gefiel ihr heute gar nicht.
Und das, obwohl er ihr normalerweise gut gefiel.
Sehr gut sogar!
Sie und Dieter waren seit drei Jahren ein Paar und eine derart lange Beziehung zu führen, wollte in dieser Branche etwas heißen.
Dieter war Doras erste, wirklich große Liebe.
Es war für sie wie ein Blitzschlag gewesen, als er in die Band und in ihr Leben gestürmt war.
Diese verdammte Liebe auf den ersten Blick, hatte sie sich des Öfteren geärgert. Sie war ihm nämlich mit Haut und Haaren verfallen.
Was deshalb schmerzlich war, weil sie es mit ihm nicht immer leicht gehabt hatte.
Und bei jeder Krise hatte sie deutlich gespürt, dass der, der mehr liebte, der war, der auch mehr litt.
Bingo! Das bin ja dann ich!, war ihr immer klargewesen.
Sie war diejenige, die mehr geliebt und dadurch nicht mehr, sondern eigentlich fast immer gelitten hatte.
Während Dieter hemmungslos und freimütig immer getan hatte, wonach ihm gerade der Sinn gestanden hatte, hätte sie sich diese verdammte Liebe am liebsten aus dem Herzen reißen wollen.
Ohne Erfolg.
„Eine Leidenschaft ist nur eine Leidenschaft, wenn sie auch Leiden schafft, hat mir mein Mütterchen schon immer gesagt!“, hatte sie Ludmilla in ihrer so typisch lockeren Art stets zu trösten versucht.
„Ich weiß nicht, ob ich so viel Leidenschaft dann überhaupt möchte!“, hatte Dora dieser Ansicht jedoch nie viel abgewinnen können.
„Aber dafür spürst du, dass du lebst und Dieter tobt sich doch nur aus. Er ist halt ein Mann! Aber er liebt dich im Grunde seines Herzens und kommt immer zu dir zurück.“
„Würdest du das auch so sehen, wenn es dein fester Freund genauso täte?“
„Ich habe aus diesem Grund doch keinen festen Freund“, hatte Ludmilla geantwortet und ihre hüftlangen blonden Haare nach hinten geworfen und sie mit ihren grünen Augen angestrahlt.
„Aber wünscht du dir nicht auch einen ...?“
„Nein!“, hatte Ludmilla sie mit der ihr eigenen Freizügigkeit unterbrochen und mit ihrem so unverkennbaren, russischen Akzent ihre Lebenseinstellung gepriesen. „Ich will das Leben genießen und solange ich jung bin, möchte ich Spaß haben und mich nicht kränken wegen eines Mannes. Mach es doch auch so! Du bist so eine hübsche Frau. Alle Männer kriegen Stielaugen, wenn sie dich sehen. Merkst du das denn gar nicht? Anstatt dich zu kränken, solltest du es genauso machen, wie Dieter!“
„Aber das kann ich nicht. Und ich will es auch gar nicht können!“, hatte Dora geantwortet und damit Ludmilla wieder die Möglichkeit gegeben, sie als Spießerin zu sehen.
„Bist du dir wirklich sicher, dass du eine Rockerin bist? Mir kommst du eher wie eine alte Oma vor!“, hatte sie Ludmilla stets geneckt.
Dora wusste, dass sie anders war als ihre Bandkollegen. Aber diesem betont freizügigen Leben konnte sie einfach nichts abgewinnen.
Vielleicht wenn sie, wie die Musiker ihrer Band, ebenfalls allerhand bewusstseinsbeeinträchtigende Substanzen inhalieren würde?
Also, wie sie es früher eigentlich auch getan hatte. Als sie noch alles Hochprozentige geschluckt hatte, das ihr in die Finger gekommen war. Damals war auch sie locker gewesen.
Aber deshalb werde ich jetzt ganz sicher nicht mehr mit dem Saufen beginnen, dachte sie und wusste, dass sie die Sticheleien ihrer Kollegen und das süffisante Kopfschütteln Ludmillas würde einfach aushalten müssen. Genauso wie Dieters freizügige Auslegung von Treue.
Sie musste es deshalb aushalten, weil die Bandmitglieder, ihre Musikerkollegen und Ludmilla ihre Familie waren.
Die Einzige, die sie hatte.
Punkt. Aus.
Und daher hatte sie auch Dieter stets verziehen.
Alles!
Und da hatte es einiges gegeben!
So viele Groupies hatte sie aus seiner Garderobe kommen sehen. Doch wenn er sie mit seinen tiefgründigen braunen Augen angelächelt und in seine Arme gezogen hatte, war sie einfach nur glücklich gewesen: Weil er die Nacht mit ihr verbracht hatte.
Und das hatte er immer. Die Nächte gehörten ihr.
Sie war sein Hafen gewesen. Und er ihrer.
Dieter war eine faszinierende und aufregende Erscheinung. Sie verschlang ihn noch immer mit ihren Augen. Wenn er mit seinem lässigen Gang auf sie zukam, spürte sie hunderte Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern. Heute genauso wie am ersten Tag. Das war einfach so.
Heute allerdings war seine Lässigkeit einer stumpfen Schwerfälligkeit gewichen. Die sechs Stufen zur Bühne war er nicht, wie sonst, gelaufen, sondern hatte nach jeder zweiten Stufe pausiert und sich am Geländer angeklammert.
„Ist alles in Ordnung?“, hatte sie ihn alarmiert gefragt.
„Alles cool“, war seine Antwort gewesen, doch Dora hatte den Schweiß auf seiner Stirn erkannt. Und auch seinen schweren Atem.
Er war erschöpft und völlig geschwächt.
So wie sie alle eigentlich. Niemand war mehr so frisch und energiegeladen wie zu Beginn der Tournee.
Doch Dieter war es mehr!
Wesentlich mehr! Und vor allem: Anders! Er wirkte krank, nicht bloß entkräftet.
Dora hatte jedoch keine Zeit mehr gehabt, sich um seinen Zustand Sorgen zu machen, denn die Bühnenarbeiter hatten bereits den Vorhang zur Seite geschoben und die Band war im gleichen Augenblick unter lautem Aufjaulen des Publikums auf die Bretter gestoben.
Das war vor zwei Stunden gewesen.
Nun war das Konzert zu Ende.
Zwei Zugaben waren gespielt und das Publikum brüllte nach der dritten.
Dieter schien mit sich zu kämpfen. Er wusste, dass es an ihm hing, ob sie noch einmal rausgingen.
Eine Gruppe ist immer so stark wie sein schwächstes Glied, wusste er. An jenem Tag war er es. Und das behagte ihm nicht.
„Wir müssen nicht!“, sagte zudem Dora und wollte ihm die Entscheidung abnehmen.
Ein Weichei war er aber noch nie gewesen! Und er war es auch jetzt nicht! In seinem Gesicht blitzte wilder Kampfgeist auf.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, warf Ludmilla das Handtuch zu und lief auf die Bühne. Als Erster. Damit ihn niemand aufhalten konnte.
Kaum auf der Bühne, riss er die Arme hoch, zeigte dem Publikum das Victory-Zeichen und griff nach seiner Gitarre.
Die anderen Bandmitglieder kamen ihm hinterhergelaufen.
Der Schlagzeuger nahm inmitten seiner Drums und Hi-Hats Platz, der Bassist und auch Dora schlangen sich ihre Gitarren um.
Dora lief zum Mikrofonständer und fragte das Publikum: „Ihr wollt noch mehr?“
„Ja!“, begann die Menge zu rufen.
Der Jubel wurde um einige Dezibel lauter. Dora blickte zum Schlagzeuger und nickte. Er legte los.
‘Highway to hell’ coverten sie meistens bei ihrer dritten Zugabe, so auch dieses Mal.
Dora brachte mit ihrem Gesang und ihrer Bühnenshow die Menge zum Toben. Die Masse grölte den Refrain mit und die Scheinwerfer flitzten über die Köpfe und Hände der Menschenherde, die zu Doras Füßen ebenso rockte wie sie und ihre Bandkollegen auf der Bühne.
Wieder ausverkauft!
Was für ein berauschendes Gefühl!
Beeindruckt und wissend, dass es der letzte Abend der Tournee war, sog sie dieses unglaubliche Gefühl in sich auf, vor so vielen Menschen spielen und eine derartige Begeisterung teilen zu können.
In Doras Adern sprudelte das pure Adrenalin. Sie ging zwei Schritte zurück und ließ den Leadgitarristen nach vorne.
Dieter trat vor und spielte sein Solo.
Das weibliche Publikum schrie auf, als er an den Bühnenrand trat. Sein schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, seine schlanken Finger flogen flink über die Saiten. Er spielte mit freiem Oberkörper und Dora nahm seine Schwäche in diesem Moment fast nicht mehr wahr.
Fehlerlos spielte er seinen anspruchsvollen Part und seine vermehrte Schweißproduktion konnte genauso gut von den Scheinwerfern stammen.
Jedem auf der Bühne rann das Wasser in Strömen in den Kragen, den gesamten Körper runter, bis in die Schuhe.
Auch Dora. Sie verlor bei jedem Auftritt einige Pfund an Körpergewicht.
Sie stand schräg hinter Dieter und beobachtete das Muskelspiel seiner Bizepse, war, wie seine kreischenden weiblichen Fans, fasziniert von seiner männlichen Ausstrahlung.
Bei seinem letzten Akkord merkte Dora, wie seine Hand zu zittern begann.
Er wankte einen Schritt zurück und das Plektron fiel ihm aus der Hand. Dem Publikum fiel es allerdings nicht auf, weil Dora sofort nach vorne gesprungen war.
Sie stellte sich vor Dieter, riss den Mikrofonständer an sich und während sie weitersang, lief sie auf die andere Seite der Bühne, sodass ihr die Scheinwerfer folgten.
Die Ecke, in die Dieter zurückgewankt und soeben einen Schwächeanfall erlitten hatte, war somit unbeleuchtet.
Dora hatte, trotz seiner perfekten Darbietung bereits während seines Solos gespürt, dass er nicht so energievoll spielte, wie sonst. Sie kannte ihn nach so vielen Jahren wie ihre Westentasche und war erleichtert, dass der heutige Auftritt der letzte der großen Deutschlandtour war.
So konnte es mit Dieter doch nicht weitergehen!
Er brauchte dringend ärztliche Hilfe. Sie würde bereits am ersten Tag daheim einen Termin bei ihrem Internisten für Dieter vereinbaren. Wahrscheinlich waren die vergangenen Wochen zu viel für ihn gewesen.
Diese Tournee war in der Tat eine außerordentlich aufreibende Zeit gewesen.
Erschöpfend, stressig, aber auch sehr erfolgreich.
Ja! Dieses mehrwöchige Gastspiel war ein voller Triumpf gewesen.
Der Erfolg forderte allerdings seinen Tribut.
Für jeden von ihnen.
Alle zwei bis drei Tage in einer anderen großen Stadt aufzutreten, war Schwerstarbeit.
In allen großen Städten waren sie ausverkauft gewesen und das Publikum hatte demnach vollen, körperlichen Einsatz verdient. Jeder in der Band gab daher sein Bestes und Letztes.
Da gab es kein Kränkeln oder mal einen schlechten Tag haben. Wer sich nicht wohl fühlte, wurde vom mitreisenden Arzt fitgespritzt.
The show must go on!
Und sie haben durchgezogen: Berlin, Hamburg, Stuttgart, Hannover, Mannheim, Köln, Frankfurt. Dora hatte irgendwann den Überblick verloren, wo sie überall aufgetreten waren und wie viele Städte sie bespielt hatten.
Dafür war aber auch der Tour-Manager zuständig. Solange er die Übersicht behielt, war alles gut.
Und es war alles gut.
Die Organisation hatte hervorragend geklappt. Die Hotelbetten und Bühnen waren perfekt gewesen und glichen sich in jeder Stadt.
Stadtbesichtigungen machen oder einkaufen gehen? Dafür fehlte die Zeit! Zum Bummeln, Relaxen oder Abschalten waren sie seit Monaten nicht mehr gekommen.
Und das zehrte an jedem von ihnen.
Der heutige Gig in München war der letzte und sowohl die Bandmitglieder als auch Dora hatten das Ende der Tournee inzwischen herbeigesehnt.
Dora war ausgebrannt. Völlig leer.
Nicht nur Dieter.
Doch um ihn hatte sie sich seit den letzten beiden Konzerten zusätzlich auch noch Sorgen machen müssen. Er hatte merkbar an Energie verloren und eigentlich schon seit längerem immer wieder an Kurzatmigkeit gelitten.
Entgegen seiner Art hatte er sich nach den letzten beiden Konzerten, anstatt danach zu feiern, sofort niedergelegt.
Sie hatte die Alarmsignale besorgt wahrgenommen, auch wenn Dieter seinen Zustand versucht hatte, kleinzureden. Er wollte über seine Schwäche nicht sprechen und hatte sich sogar geweigert, den mitreisenden Arzt aufzusuchen.
Gut, das werde ich ab morgen selbst in die Hand nehmen, wusste Dora.
Dieters: „Alles cool!“, konnte sie nicht länger zur Kenntnis nehmen. Seine Schwäche musste abgeklärt werden.
Obwohl sie ihn teilweise sogar verstand. Während der Tournee war es tatsächlich kaum möglich, aus Krankheitsgründen auszusteigen.
Aufgeben gab es einfach nicht.
Selbst mit dem Kopf unter dem Arm hätte der Tour-Manager von Dieter verlangt, dass er noch spielte.
Er war ein toller Gitarrist und es wäre unmöglich gewesen, einen Ersatz aufzutreiben, der nicht nur Dieters Können besaß, sondern auch noch von jetzt auf gleich bereitstand.
Außerdem war Dieter ehrgeizig und immer mit Herz und Seele bei der Sache.
So wie vorhin.
Das Solo, das er gespielt hatte, war beeindruckend gewesen.
Bis ihm eben das Plektron aus der Hand gefallen war.
Beim Schlussapplaus war er nicht mehr auf der Bühne.
Dora hatte aus dem Augenwinkel mitbekommen, dass aufmerksame Bühnenarbeiter Dieter hektisch nach hinten in den Backstage-Bereich gebracht hatten.
Sie war erleichtert, dass er versorgt wurde, gleichzeitig aber auch besorgt.
Gemerkt hatte ihr Publikum davon nichts.
Dafür war sie zu sehr Profi.
Auf der Bühne wirkte es, als wäre alles in Ordnung. Sie sang energievoll zu Ende und bedankte sich überschwänglich beim Publikum.
„Ich danke euch, liebe Münchner! Ihr wart ein großartiges Publikum!“, rief sie zum Abschied und legte bei der abschließenden Verneigung ihre Hand auf ihr Herz.
Um eine Minute später backstage festzustellen, dass das von Dieter ausgesetzt hatte.
Als sie von der Bühne kam, lag Dieter, umringt von Ärzten und medizinischem Personal, im Vorraum und wurde wiederbelebt.
Ihr blieb vor Schreck ebenfalls fast das Herz stehen.
Was danach folgte, war so schrecklich, dass sie sich im Detail gar nicht mehr erinnern konnte. Den Abtransport ins Krankenhaus beispielsweise hatte sie völlig ausgeblendet.
Sie stand zu sehr unter Schock.
Lediglich das Jahr danach war wieder in ihrer Erinnerung vorhanden, wenn auch verschwommen.
Untersuchungen.
Krankenhausaufenthalte.
Befundbesprechungen. Ein Ergebnis war schlimmer als das nächste gewesen, bis es endlich Klarheit gegeben hatte.
Dieter würde sterben, wenn er kein passendes Spenderherz bekäme.
Danach hatte das lange, zermürbende Warten begonnen, während Dieter immer schwächer geworden war. Von seinem muskulösen Körper und seinem strahlenden Lächeln war nur mehr ein hohlwangiger, ausgemergelter Mann übriggeblieben, der lediglich mit einer Sauerstoffbrille atmen konnte.
„Willst du mich heiraten?“, hatte Dieter eines Tages gefragt, dem dieses Wort früher nie über die Lippen gekommen wäre.
Im Spital war mit zwei Krankenschwestern als Trauzeugen geheiratet worden. Mit Kamillentee in Sektgläsern war auf das junge Glück, von dem niemand gewusst hatte, ob es ein langes werden würde, angestoßen worden.
Dora hatte ihren Namen behalten, doch mehr war von Dora Bellis nicht geblieben.
Nur ein Name.
Die Rocksängerin gab es nicht mehr. Doch das war für sie verkraftbar.
Aber auch die Musikerin gab es nicht mehr. Und das war unerträglich schmerzhaft.
Musik war schon als Kind alles für Dora gewesen.
Ihr Anker und ihre Heimat, denn in ihrem Elternhaus bekam sie nichts davon.
Doras Vater war ein alkoholkranker Despot, der leider nicht, wie die meisten Herren dieser durstigen Spezies, in Gasthäusern herumhing.
Wie froh wäre Dora darüber gewesen, wenn er erst spät in der Nacht heimgekommen wäre. Sie hätte dann bereits geschlafen und vielleicht nicht so viel von seinem Gepolter und seinen Aggressionen mitbekommen.
Doch nein, ihr Herr Papa schüttete daheim regelmäßig so viel in sich hinein, bis er kaum noch gehen konnte. Danach prügelte er jeden nieder, der sich ihm in den Weg stellte.
Situationsbezogen waren das seine kleine Tochter und Gerda, seine Ehefrau. Doras Mutter bekam aber auch dann mit ihrem Gemahl Stress, wenn das vorhandene Schnapslager nicht gut genug gefüllt war.
Oder aber, wenn er den Nachschub nicht gleich fand.
Oder aber, ihn zwar fand, beim Zugreifen mit den zitternden Fingern aber sein Gesöff fallen ließ.
Oder aber im Suff über seine eigenen Beine stolperte. Oder aber ... oder aber ...
Es gab unzählige ‘Oder aber’ und selbstverständlich waren immer alle anderen schuld. An allem!
Also die, die sich im Haushalt mit ihm befanden. Und rechtmachen konnte man dem Herrn Papa nie etwas. Nie!
Obwohl sich sowohl Dora als auch ihre Mutter sehr bemüht hatten. Dora war schon als kleines Mädchen darauf trainiert, wie ein kleines, leises Mäuschen in der Wohnung herumzuhuschen.
Nur nicht dem Vater in die Nähe kommen!
Still sein!
Doras zierliche, kleine Mutter hatte indes Flaschen in rauen Mengen herangeschleppt. Vaters ansteigender Konsum machte es allerdings nicht leicht, das Lager stets ausreichend gefüllt zu halten.
Gerda Bellis war eine still duldende, schwache Frau.
Sie wurde mit den Jahren immer durchsichtiger und unauffälliger. Irgendwann lief sie bloß noch wie ein ausgemergeltes Gespenst herum und versuchte ihren Gemahl nicht zu reizen. Eine andere Lebensaufgabe gab es in ihrem Leben nicht mehr.
Verhalte dich still.
Halte deine Tochter ruhig! Vielleicht fallen die Prügel dann nicht so heftig aus.
Dora hingegen hatte irgendwann in ihrer kindlichen Kreativität eine Strategie entwickelt, um zumindest hin und wieder den fliegenden Fäusten ihres torkelnden Vaters zu entkommen.
Sie hüpfte einfach zur Seite, wenn er nach ihr dreschen wollte. Das clevere Mädchen hatte bald erkannt, dass es um seinen Gleichgewichtssinn nicht gut bestellt war, wenn er einen bestimmten Pegel hatte.
Und der war ja schon ziemlich bald erreicht!
Wenn er demnach zum Schlag ausholte, durch Doras eleganten Seitwärtssprung allerdings ins Leere schlug, brachte ihn das aus seiner Umlaufbahn, weil die bremsende Wirkung des Gesichtes fehlte.
Reines Glück war, wenn er sich nach so einem Blindschlag noch an einem Türrahmen oder Tisch festkrallen konnte.
Doch einmal war ihm dieses Glück nicht hold gewesen.
An jenem Tag knallte er ungebremst mit dem Gesicht auf den Boden. Er landete zwar am flauschigen Teppich und die zusätzliche Schwellung und Rötung in seinem Gesicht fiel kaum auf, denn seine Nase war schon zuvor rot und vom Saufen aufgeschwollen gewesen. Dora hatte es demnach auch nicht sonderlich leidgetan.
Eigentlich gar nicht!
Im Gegenteil! Als er auf sein rotgeflecktes Gesicht und die knollige Säufernase gekracht und regungslos wie ein Kuhfladen am Boden liegen geblieben war, hätte sie beinahe losgebrüllt. Der Papa hatte einfach zu lächerlich ausgesehen.
Und es geschah ihm außerdem auch recht! Sie hatte damals absolut kein schlechtes Gewissen gehabt.
In ihr hatte sich stattdessen ein anderes, ausgesprochen erhebendes Gefühl breitgemacht: Genugtuung!
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich in jenem Moment ein wenig mächtig gefühlt. Dass sie diesem Tyrannen mit ihren acht Jahren Paroli bieten hatte können, linderte ihre kindliche Hilflosigkeit ein wenig.
Doch ihr Lachen hatte sie trotzdem erfolgreich unterdrückt. Ein offensichtlicher Jubel wäre ihrer Gesundheit nicht zuträglich gewesen. Das hatte sie gewusst. Außerdem: So mutig und unerschrocken war sie beileibe nicht!
Stattdessen war sie in ihr Zimmer gelaufen und hatte die Tür zugesperrt.
Danach hatte es allerdings ihre Mutter mit ihm zu tun bekommen und das hatte ihr dann schon leidgetan.
Sehr sogar.
Aber warum hatte sie sich nicht auch gewehrt? Mutter brauchte sich doch bloß ebenfalls auf die Hinterbeine zu stellen!
Was die kleine Tochter zuwege brachte, musste die erwachsene Mutter doch auch schaffen! Sie hätte sich aufgrund ihrer Körpergröße und Erwachsenenkraft sogar noch viel leichter wehren können, war Dora überzeugt gewesen.
Vater hatte doch bereits eine so weichgesoffene Birne und war allein kaum noch lebensfähig. Dora konnte daher einfach nicht verstehen, dass ein dermaßen minderbemittelter Mensch sein gesamtes Umfeld tyrannisieren konnte.
Ja, so traurig es war, aber derart geringschätzig waren Doras Gedanken schon als 8-Jährige gewesen, wenn sie an ihren Vater gedacht hatte.
Dabei war das kleine Mädchen keinesfalls bösartig. Sie war lediglich klug und ihr Geistesgut war einzig und allein das Resultat ihrer Erfahrungen.
Vater war für sie keine Respektsperson.
Nie gewesen!
Seit sie denken konnte, hatte er getrunken. Er hatte schon als Jugendlicher begonnen und nie aufgehört.
Für Dora war das Wort ‘Vater’, gleichbedeutend mit ‘Jemand-vor-dem-man-Angst-haben-muss’.
Dass es liebevolle Väter gab, hatte sie gar nicht gewusst! Bis sie die ersten kennengelernt hatte.
In der Schule.
Bei ihren Mitschülerinnen. Sie war überrascht und verwundert, wie liebenswürdig und fürsorglich Väter sein konnten.
Also, die anderen!
Diese Beobachtung machte sie nachdenklich und immer kritischer hinterfragte sie Mutters Duldsamkeit.
Dadurch machte sie den Vater doch erst stark! Was bliebe ihr erspart, wenn Mutter sich nicht alles gefallen ließe!
Was bliebe Mutter selbst erspart, wenn sie endlich handeln würde! Immerhin konnte Vater nur durch Mutters Stillschweigen und Dulden weitersaufen und weiterprügeln!
Doch, wenn sie nicht mehr mitspielte?
Für Dora war klar, dass es nur eine Konsequenz gab: Weg von ihm!
Mutter musste ihn verlassen!
Das war klar!
Also: Dora war das klar!
Ja, ihr Vater würde mit Sicherheit unter die Räder kommen.
Doras Mitleid hätte sich aber diesbezüglich sehr in Grenzen gehalten. Sie erkannte in ihrer kindlichen, von schlechten Erfahrungen geformten Sichtweise, dass er es doch gar nicht wert war, dass man sich um ihn sorgte.
In der Schule half sie jedem Mitschüler und jeder Kollegin. Bei ihrem Vater hatte sie diesen Mutter-Teresa-Gedanken nicht.
Er hatte doch in seinem ganzen Leben nichts bewerkstelligt oder getan, das ihn als wertvolles oder auch nur einigermaßen nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft auszeichnen würde.
Nach einer gerade noch geschafften Installateur-Lehre hatte er als Klempner gearbeitet. Seine Kollegen begannen ihn aufgrund seiner Trinkerei und damit verbundenen Streitsucht bald zu meiden, wodurch er noch mehr soff.
Private Freunde hatte er irgendwann auch keine mehr. Deshalb becherte er auch daheim und nicht mehr im Gasthaus. Nachdem er eines Tages nach einer Wirtshausrauferei mit einem ausgeschlagenen Vorderzahn heimgewankt war, hatte er die Gesellschaft anderer Männer gemieden.
Zu stark!
Gottlob gab es Schwächere in seinem Leben.
Und so lange Doras Mutter ihr Gesicht erwartungsvoll vor seine Faust hielt, oder Dora doch nicht rasch genug zur Seite hüpfen konnte, würde er auch weiter hinschlagen.
Und das tat er auch!
Warum Doras Mutter sich das alles aber so widerspruchslos gefallen ließ, hatte Dora einfach nie verstehen können.
Mutter konnte doch gerade gehen! Im Gegensatz zu Vater.
Sie konnte auch denken! Im Gegensatz zu ihm.
Warum tat sie es dann nicht?
Warum dachte sie nicht nach und ging einfach weg von ihm?
Verantwortungsgefühl? Anerzogene oder erworbene Duldsamkeit? Angst? Oder auch nur das Gefühl, dass man den Gemahl nicht im Stich ließ?
Was ihre Mutter in ihrer Märtyrerrolle verharren ließ, konnte Dora demnach als Kind überhaupt nicht verstehen.
Was das kleine Mädchen aber einfach noch nicht wissen konnte: Für Veränderung brauchte es Mut und ihrer Mutter fehlte dieses Quäntchen Courage, das sie gebraucht hätte, um ihr Leben zu ändern.
Im gewohnten Elend zu bleiben fiel ihr leichter, als ihre Not zu beenden.
Also blieb sie.
Duldsam, still und empfindungslos.
Dora hörte ihre Mutter nicht einmal mehr schreien, wenn sie geschlagen wurde. Offenbar hatte sie einen unsichtbaren, undurchdringlichen Schutzschild über ihren Körper und ihre Seele gestülpt.
Gerda Bellis schien irgendwann alle Gefühle aus ihrem Leben verbannt zu haben. Die Härte, die sie sich zulegen hatte müssen, um ihr Leben überhaupt aushalten zu können, hatte sie unempfindlich gemacht.
Und kalt!
Der Schutzschild wirkte hundertprozentig.
Er ließ keine Gefühle mehr von außen nach innen, aber auch nicht von innen nach außen strömen.
Diese Gefühlskälte spürte allerdings in schmerzhafter Weise ihre Tochter, die auf mütterliche Wärme, Liebe oder Gefühle gewartet hätte.
Nicht nur gewartet.
Diese auch gebraucht hätte! Doch Mutters Panzer war dicht. Nichts kam mehr durch.
Kein Schmerz, aber auch keine Freude.
Kein Kummer, aber auch keine Liebe.
Nichts! Absolut dicht!
Wie konnte ein kleines Mädchen so etwas aber verstehen? Ihr kleines Kinderherz lechzte nach Liebe und es war auch noch so voll davon.
Dora liebte ihre Mami und hatte es demnach nie verstehen können, warum ihre Mutter nicht einmal, nicht ein einziges Mal, zu ihr so gewesen war, wie die anderen, liebevollen Mamis zu ihren Kindern waren.
Die stolzen und behütenden Mütter ihrer Schulkolleginnen, die sich vor der Schule mit Küsschen und Umarmungen von ihren Kindern verabschiedeten.
Dora wusste gar nicht, wie sich das anfühlte. Sie wusste nicht einmal, dass die Arme ihrer Mutter eine andere Funktion hatten als die, um Vaters Schnapsflaschen heimzuschleppen.
Durch Zufall hatte Dora eines Tages mitbekommen, dass sie ein sogenannter ‘Unfall’ war.
Sie war damals am Wohnzimmer vorbeigegangen, und hatte gehört, wie Vater Mutter angeschrien hatte.
„Wenn du die Pille nicht vergessen hättest, gäbe es diesen Quälgeist nicht!“, hatte er gelallt. „Halte sie mir jetzt wenigstens vom Leib. Dieser Balg nervt!“
Dementsprechend ‘geliebt’ hatte sie sich in ihrem Elternhaus auch immer gefühlt.
Die Warmherzigkeit ihrer Mutter hatte immer schon in etwa die Wärmeleistung eines Tiefkühlschrankes gehabt.
Und ihr Beschützerinstinkt war auch nicht gerade stark ausgeprägt. Die Mütter der anderen Kinder kamen schon erbost in die Schule, wenn ihren Kindern bloß ein Bleistift stibitzt wurde.
Doras Mutter war nicht einmal gekommen, als sie einmal ein größerer Junge verprügelt hatte. Warum auch? Der Junge konnte doch gar nicht so fest zuschlagen wie Doras Vater.
Und das stimmte sogar.
Wie oft aber hatte Dora mit flehenden Blicken auf Unterstützung durch ihre Mutter gehofft. Doch ihr Hoffen blieb stets unbemerkt.
„Mama, warum gehen wir nicht weg?“, hatte Dora ihre Mutter irgendwann dann doch gefragt.
„Das geht nicht! Frage nicht so viel! Räume lieber dein Zimmer auf!“
„Aber Mama, das Zimmer ist aufgeräumt. Bitte, sage mir, warum das nicht geht? Vielleicht könnten wir ja zu Oma ziehen! Ich habe so große Angst. Bitte, ich möchte so gerne, dass wir von ihm weggehen!“ Doch Doras Mutter weigerte sich, mit ihrer Tochter zu reden.
Die Sorge, dass ihr Schutzschild durch Aussprechen einer unangenehmen Wahrheit einen Riss bekommen könnte, war wohl zu groß.
„Und ich habe gesagt, dass das nicht geht. Also sei still!“, war Mutters Antwort gewesen. Und: „Du solltest froh sein, dass du kein Scheidungskind bist!“
„Aber ihr seid doch gar nicht verheiratet“, wusste Dora zu dem Zeitpunkt schon, weil sie doch den Familiennamen ihrer Mutter und Großmutter trug.
„Außerdem wäre ich viel lieber ein Scheidungskind, als ständig windelweich geprügelt zu werden!“, hatte Dora damals geantwortet.
Und es sofort bereuen müssen.
So schnell hatte sie seinerzeit nämlich gar nicht schauen können, hatte sie für diese freche Antwort nun auch von ihrer Mutter eine Ohrfeige abgefangen.
Dabei hatte sie doch nur die Wahrheit gesagt!
Ihre gesamte Kindheit lang war es daher Doras Bestreben gewesen, ein artiges Kind zu sein, schon deshalb, weil sie nicht riskieren wollte, womöglich gar einmal gerechtfertigt verprügelt zu werden.
Wie ein geschlagener Hund hatte Dora sich bemüht, die Liebe ihrer Eltern durch besonders devotes Verhalten zu bekommen.
Ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt war. Doch die kleine Dora suchte die Fehler weiterhin bei sich. Immerhin hatten andere Kinder doch liebe Eltern. Wahrscheinlich machte sie etwas falsch!
Vielleicht war sie nicht brav genug?
Vielleicht war sie nicht lieb genug?
Vielleicht war sie nicht ordentlich genug?
Daheim war sie daher niemals frech, außer dieses eine Mal, als sie ihrer Mutter gesagt hatte, dass sie nicht gerne verprügelt wurde.
Dora hatte als Kind einmal in einem Tierfilm gesehen, wie eine Eisbärmama ihr Junges verstoßen hatte. Das Baby hatte kläglich nach der Mutter geschrien, wollte ihr nachkriechen. Doch es war zu klein, um ihrer Mutter folgen zu können und die Mutter war einfach weggegangen. Das Junge starb.
Dora hatte damals Rotz und Wasser geheult, weil der Sprecher dieser Dokumentation erklärt hatte, dass Muttertiere ihre Babys meist dann verstoßen, wenn das Junge krank sei. In der Tierwelt galt das Gesetz des Stärkeren und ein krankes Tier großzuziehen, lohnte den Aufwand offenbar nicht.
Sofort hatte sich Dora gefragt: Bin ich auch krank?
Doch dann war ihr klargeworden, dass ihre Mutter sie doch nicht verstoßen hatte. Zumindest nicht im räumlichen Sinn.
Vielleicht aber auch nur: Noch nicht!
Das Bild des kreischenden Eisbärenbabys ging ihr nicht aus dem Kopf und Dora strengte sich daher einfach noch mehr an.
Sie hatte sich regelrecht verbogen, um nur ja von der Mutter nicht wie das Eisbärenbaby verstoßen zu werden.
Dora hatte sich aber auch total verbiegen müssen, denn im Grunde ihres Wesens war sie leider schlampig. Und im Grunde ihres Wesens war sie auch ein wenig keck.
Und im Grunde ihres Wesens war sie auch überhaupt nicht devot. Das wusste sie deshalb so genau, weil ihr dieses Kriechen schon als Kind mächtig auf die Nerven gegangen war.
Aber gut, wer kroch schon gern? Ihr fiel eigentlich nur eine Eidechse ein, die als Kriechtier doch gar keine andere Möglichkeit hatte.
Vielleicht hätte aber sogar eine Echse lieber längere Beine und würde gerne wie eine Gazelle hüpfen, hinterfragte die wissensdurstige Dora sogar diese Tatsache.
Dora hatte längere Beine als eine Eidechse und damit wäre sie tatsächlich viel lieber fröhlich in der Wohnung herumgehüpft.
Doch sie tat es nicht! Sie wagte es nicht!
Trotzdem war ihre Suche nach mütterlicher Liebe, Geborgenheit oder Anerkennung ein einziger Misserfolg.
Bis sie irgendwann, als Jugendliche, auf nichts mehr gewartet und ihr Verhalten als sinnloses Bemühen erkannt hatte.
Sie hatte stattdessen erfasst, dass sie es trotzdem schlechter hätte erwischen können. Wenn sie nämlich völlig lieblos aufgewachsen wäre. Doch das war nicht so!
Es gab Liebe in ihrem Leben! Sie war doch nicht ganz allein! Je mehr sie sich dieser Liebe bewusstwurde, desto dankbar war sie dafür: Für die Liebe ihrer Großmutter.
Der großgewachsene Bursche mit den langen Haaren zog an seiner Zigarette.
„Was ist jetzt? Hast du schon einen Fahrer?“, fragte ihn sein Kumpel und entfernte mit seinem Klappmesser den Dreck unter seinen Fingernägeln.
„Noch nicht!“
„Was heißt: Noch nicht?“, schrie der Ältere und hatte sein Messer plötzlich anders in der Hand. Die scharfe Klinge kitzelte das Kinn des Langhaarigen.
„Glaubst du, die Bank sperrt für uns am Wochenende auf? Was ist denn mit deinem schwindeligen Bruder? Hat der nicht erst seinen Führerschein gemacht?“
„Ja, vor einem Monat!“
„Na, dann soll er uns fahren!“
„Ach, der ist doch viel zu dämlich!“
„Er muss ja auch keine Mathematiknachhilfestunden geben, sondern braucht bloß das Fluchtauto fahren. Sag ihm, dass wir ihn brauchen! Morgen soll er um 9 Uhr vor der Volksbank stehen!“
9 Uhr.
Volksbank.
Das Auto stand da.
Der Bruder nicht.
Das wird er mir büßen, schwor sich der Bruder. Das werde ich ihm heimzahlen!
Rosa Bellis war die Liebe in Person. Die weißhaarige, kultivierte Dame umarmte Dora, wenn sie kam und wenn sie ging und sehr oft auch dazwischen.
Dora konnte sich ihren Zärtlichkeiten gar nicht entziehen und meistens wollte sie das auch gar nicht.
Auf Großmutters Schoß hatte die kleine Dora Häkeln und Stricken gelernt. Oma war mit ihr an den Wochenenden in den Zoo und ins Kino gegangen.
Bei ihr hatte Dora Kind sein können. Hier durfte sie lebhaft und frech sein und bekam trotzdem keine übergebraten. Omi lächelte immer nur verständnisvoll, war sogar selbst manchmal keck. Und fröhlich! Was war Oma doch für eine humorvolle Person.
Als kleines Mädchen hatte Dora jedes Wochenende bei ihrer Großmutter übernachten dürfen. Oma hatte kein eigenes Bett für sie, daher schlief sie mit ihr im Doppelbett, das nach Großvaters Tod sowieso nur mehr zur Hälfte belegt war. Sich in Omas liebevolle, weiche Arme zu kuscheln, schenkte dem kleinen Mädchen so viel Behaglichkeit, Nestwärme und Geborgenheit.
Vor dem Zubettgehen hatte Oma ihre Zähne stets in ein Glas Wasser versenkt in der bereits eine Kukident-Tablette sprudelte.
„Kann ich meine Zähne auch rausnehmen?“, hatte Dora eines Tages gefragt.
„Aber natürlich!“, neckte sie ihre Oma und sah Dora lachend zu, wie sie versuchte, ihr Gebiss ebenfalls aus der Verankerung ziehen zu können.
„Ich schaffe es nicht!“, ärgerte sich die Kleine und hob verständnislos ihre Schultern.
„Na, dann probiere es einfach morgen weiter!“, hatte Oma nach Doras erfolglosen Versuchen schallend gelacht und die Bettdecke aufgeschlagen.
„So, jetzt ab ins warme Bettchen. Welche Geschichte möchtest du hören?“, fragte sie und drehte das Licht ab. Oma konnte alle Märchen auswendig.
„Schneewittchen!“, rief Dora. „Es ist so schön, wie gern die Zwerge Schneewittchen haben. Sie hat nämlich auch so eine böse Mutter, aber so viele liebe Freunde“, schien Dora eine Gemeinsamkeit zwischen ihr und Schneewittchen auszumachen.
Ihrer Großmutter schnitten diese Worte ins Herz, weil sie wusste, was das Mädchen meinte.
Sie litt mit ihrer kleinen Enkeltochter und konnte ihr doch nicht helfen.
Sie hatte einmal, ein einziges Mal, Doras Vater Einhalt bieten wollen, als ihm in ihrer Gegenwart die Hand ausgekommen war. Rosa war damals entsetzt gewesen und hatte ihren Schwiegersohn angeherrscht, dass er seine kleine Tochter doch nicht so grob schlagen könne.
Daraufhin hatte er sie des Hauses verwiesen und Gerda, ihre eigene Tochter, hatte ihre Mutter gebeten, zu gehen.
Rosa hatte danach mehrmals versucht, ihrer Tochter telefonisch ins Gewissen zu reden. Doch sie kam nicht mehr an sie ran.
Dabei hatte Doras Großmutter gar nicht gewusst, wie heftig und regelmäßig ihr Schwiegersohn seine Frau und Tochter in den eigenen Wänden tatsächlich verprügelt hatte.
Wenn Oma blaue Flecken an Doras Körper entdeckte, erzählte ihre Enkelin stets, dass sie sich gestoßen hatte oder gefallen war.
„Halte bloß deinen Mund und erzähle Oma nur ja keine Schauergeschichten von daheim, sonst lasse ich dich nicht mehr zu Großmutter gehen!“, hatte ihr ihre Mutter stets eingebläut.
Ihre Besuche bei Oma waren Dora jedoch heilig. Also schwieg sie. Und flunkerte über den Ursprung ihrer Verletzungen.
Nachdem Rosa mit ihrer eigenen Tochter nicht mehr reden konnte und spürte, wie schwermütig Dora manchmal war, half sie ihrer Enkeltochter auf die Art und Weise, die ihr möglich war. Durch ihre Liebe, die sie im Übermaß besaß.
Sie schenkte ihrer Enkelin die Nestwärme, die sie brauchte, um das seelische Manko, das die Kleine mit Sicherheit irgendwann spüren würde, so gering wie möglich zu halten.
Als Dora aber zuvor die Stiefmutter Schneewittchens als Mutter bezeichnet hatte, korrigierte sie ihre Enkeltochter.
„Schneewittchen hat eine Stiefmutter gehabt, ihre leibliche, liebevolle Mutter ist gestorben!“
Dora sah ihre Großmutter mit großen Augen an.
„Ist meine Mutter auch eine Stiefmutter und meine leibliche Mutter ist gestorben?“, blickte sie erschrocken.
„Nein“, antwortete Rosa und musste zugeben, dass Doras Frage durchaus gerechtfertigt war.
„Aber ich möchte auch so gerne so viele liebe Freunde haben wie Schneewittchen.“
Ihre Oma strich ihr zärtlich übers Haar und sagte: „Dora, mein Liebes, du wirst doch ganz genauso stark geliebt. Von mir und von deinen Freunden.“
„Wie von den sieben Zwergen?“
„Mindestens genauso stark wie von den sieben Zwergen!“, bestätigte Großmutter und das Gesicht ihrer Enkeltochter bekam ein seliges Lächeln, als ihre Oma zu erzählen begann.
„Es war einmal, mitten im Winter ...“
Während Omi erzählte, waren der kleinen Dora schon durch Omas Wärme die Augen zugefallen. Die Errettung aus dem Glassarg durch den verliebten Königssohn hatte sie gar nicht mehr gehört.
Wie wohlbehütet hatte Dora bei Oma schlafen können, ohne das beängstigende Poltern des Vaters im Nebenraum hören zu müssen. Bei Großmutter war es immer ruhig gewesen und Dora hatte nie Angst gehabt.
Es war ein Segen, dass Dora so viel Zeit bei ihr verbringen hatte dürfen, denn dadurch hatte sie von ihrer Großmutter die Liebe und benötigte Nestwärme bekommen, die sie gebraucht hatte, um überhaupt liebesfähig werden zu können.
Das emotionale Zuhause und die seelische Sicherheit, die Dora von ihrer Mutter nicht bekommen konnte, erhielt sie von ihrer Oma.
Das Urvertrauen, das ein Kind in den ersten Lebensmonaten entwickeln sollte, dieses Gefühl, dass man jedem Menschen vertrauen kann, hatte Dora in ihrem Elternhaus nicht entwickeln können. Doch die Liebe ihrer Oma hatte bewirkt, dass dieses positive Grundgefühl bei Dora dennoch entstehen hatte können.
Großmutter besaß aber noch etwas, das mindestens genauso wertvoll war, wie ihre Liebe.
Etwas, das Doras Leben bereichert hat und ihr jedes Unglück ertragen hatte lassen: Die Liebe zur Musik!
Oma war außerordentlich musikalisch. Sie hatte eine wunderschöne Stimme und konnte hervorragend Klavierspielen. In ihrem Wohnraum stand ein Flügel und Dora bat sie bereits als kleines Kind, ihr täglich vorzuspielen.
Großmutter erfüllte ihr diesen Wunsch nur allzu gern, denn für sie war Musik nicht einfach nur das Spielen von Noten, sondern eine Glückstankstelle und ein Hafen der Freude und Gefühle. Und diese Ideologie gab sie an Dora weiter.
Wenn Großmutter ein Lied vortrug, spürte Dora die Botschaft, selbst wenn sie in einer anderen Sprache sang.
Dora liebte die Lieder ihrer Großmutter, konnte sie bald auswendig und begann mit ihr im Duett zu singen. Der klare Sopran des Mädchens und der tiefe Alt der Großmutter ergaben einen derart wohlklingenden Harmoniegesang, dass ihre Oma einige Lieder aufgenommen hatte.
Wenn Dora sich diese alten Aufnahmen anhörte, wurden ihr noch als Erwachsene die Augen nass. Auch, weil es die einzigen Tonaufnahmen waren, die sie von ihrer geliebten Oma besaß. Sie hütete diese daher wie einen Schatz.
„Möchtest du auch einmal?“ hatte Oma Dora eines Tages gefragt, als sie neben ihrem Klavierhocker gesessen und zu ihr hochgesehen hatte.
Natürlich wollte sie! Es war für Dora ein unvergessliches, erhebendes Gefühl gewesen, zum ersten Mal ihre kleinen Finger auf die Bernsteintasten legen zu können und in weiterer Folge von Oma Klavierunterricht zu bekommen.
„Ich hätte auch so gerne ein Klavier!“, wollte Dora daheim üben können.
Doch sie wusste, schon als sie diesen Wunsch ausgesprochen hatte, dass das nicht möglich war. Und nicht nur, weil in ihrem kleinen Zimmer für ein Piano gar kein Platz gewesen wäre.
Stattdessen hatte Dora von ihrer Großmutter als 12-Jährige zu Weihnachten eine Gitarre bekommen.
Als sie dieses edle Saiteninstrument in Händen gehalten hatte, wollte sie ihre Oma am Klavier am liebsten sofort begleiten.
Doch bis sie so weit gewesen war, dass Dora mit ihrer Großmutter musizieren hatte können, dauerte es!
Es war gar nicht so einfach, der Gitarre reine Klänge entlocken zu können. Dora legte ihre Finger, wie auf beigelegter Grifftabelle angeführt, auf die angezeigten Saiten und schlug nach unten.
Die knarrenden und knirschenden Töne, die Dora diesem Instrument beim ersten Kennenlernen allerdings entlockt hatte, glichen eher dem gequälten Aufschrei einer Katze, der man auf den Schwanz getreten war.
„Die Greiffinger musst du kraftvoll, von vorne aufsetzen und die nicht gegriffenen Saiten darfst du keinesfalls berühren“, wusste Omi.
Sie legte Doras Finger auf die Saiten und Dora presste ihre Fingerkuppen so fest auf die Saiten, dass es ihr das Wasser in die Augen drückte.
Es tat weh!
Verdammt weh! Aber plötzlich schwangen die Saiten wohlklingend!
Nachdem eine Saite demnach mit so viel schmerzhaftem Druck niedergedrückt werden musste, um einen klaren Klang zu erzeugen, hatte sich Dora gewundert, warum das bei all den Gitarrenspielern so simpel aussah.
„Übung, mein Kind! Das ist alles nur Übung!“, hatte Oma erklärt. „Bald wird es auch bei dir so leicht aussehen und niemand wird merken, wie viel Druck es braucht. Irgendwann wirst auch du die Schmerzen kaum mehr spüren“, hatte sie ihrer Enkeltochter gesagt.
„Du hast Talent, mein Kind. Aber ohne Fleiß, kein Preis!“, hatte ihr Oma liebevoll über das Haar gestrichen.
Und rechtbehalten.
Seither hatte Dora wie besessen geübt und die bald wild schmerzenden Fingerkuppen ohne mit der Wimper zu zucken, einfach ignoriert.
Wochenlang hatte sie die peinigenden Barré-Griffe geübt.
Mit eiserner Disziplin quetschte sie immer wieder den linken Zeigefinger über alle Saiten, in der Hoffnung, endlich einmal alle Saiten wohlklingend schwingen lassen zu können.
Bis die Muskeln ihrer Hand allerdings darauf trainiert waren, dass einzelne Saiten nicht trotzdem knarrten, schnarrten oder schepperten wie ein Blecheimer, hatte sie schon beinahe Hornhäute auf den Fingern.
Doch ihr Einsatz hatte sich gelohnt.
Irgendwann war sie mit dem Instrument förmlich verschmolzen. Und ab jenem Moment gab es für Dora, wenn sie nicht bei ihrer Oma sein konnte, nur mehr die Musik und ihre Gitarre.
Das war ab nun eine Einheit.
Nun hatte sie einen Rettungsanker.
Eine Zuflucht.
Wenn sie sich mit der Gitarre in ihre eigene Welt zurückziehen hatte können und in ihren eigenen vier Wänden gesungen hatte, war alles andere um sie herum unwichtig geworden.
Wer singt, spürt keine Angst, hatte sie damals festgestellt.
Außerdem war sie dabei ihrem Vater nicht im Weg gewesen. In ihr Zimmer kam er nämlich nicht.
Seine Alkoholvorräte waren im Wohnzimmer, Schlafzimmer oder in der Küche versteckt. Wo anders hatte das Leben für ihn keinen Sinn.
Bald waren die sechs Quadratmeter ihres Kinderzimmers zu ihrem Therapieraum geworden.
In der Musik lebte sie die Gefühle aus, die sie gelernt hatte, für sich zu behalten.
Die fehlende Mutterliebe, ihren prügelnden Vater und ihr frostiges Elternhaus verarbeitete die Zwölfjährige, indem sie Songs schrieb.
Die Worte und Melodien kamen aus ihrem Innersten hoch. Schwermütige, melancholische und gefühlvolle Balladen entstanden zu jener Zeit.
Der Mann in der Fußgängerzone beobachtete die Straßensängerin mit zusammengekniffenen Augen. Er stand in einer Passage auf der anderen Straßenseite und zwischen ihm und Dora waren so viele Leute unterwegs, dass er immer wieder den Blick auf sie verlor.
Doch hören konnte er sie immer.
So schaut sie also aus, dachte er, als er wieder einmal einen Blick auf die kleine, zierliche Person werfen konnte. So süß, wie sie ausschaut, wird er sie sicher so schnell wie möglich zurückhaben wollen und anständig blechen, schätzte er die Lage als lukrativ und gewinnbringend ein.
Das wird sicher ein leichtes Spiel, war er sich sicher und kratzte sich am stoppeligen Kinn.
Und der heutige Tag ist auch optimal, wusste er, als er seine Zigarette zu Ende rauchte und den Stummel achtlos auf die Straße warf.
Er hatte noch einiges zu tun und setzte sich daher in Bewegung. Als er an ihr vorbeiging, besah er sie etwas genauer.
Ja, sie ist wirklich süß, dachte er und als er die Fußgängerzone entlangging, hörte er ihre Stimme noch trällern, als er sie gar nicht mehr sehen konnte.
Das reiche Vögelchen wird bald ausgezwitscherthaben, dachte er mit einem grimmigen Lächeln.
So kleinlaut und unterwürfig sich Dora in ihrem Elternhaus zeigte: Außerhalb dieser vier Wände war die 12-Jährige keinesfalls schwermütig oder melancholisch.
Im Gegenteil.
Sie war ein kecker, schlagfertiger Teenager und eine gute Schülerin. Außerdem war sie beliebt, denn durch ihr humorvolles Wesen, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, scharten sich stets viele Freunde um sie.
Doch mit der rothaarigen, sportlichen Susanne und Mark, den blonden, schlaksigen Buben, der einen Faible für lateinische Blumennamen hatte, war sie bald unzertrennlich geworden.
Ab ihrem sechsten Lebensjahr besuchten die drei Freunde die Schule gemeinsam.
Nach dem Schulwechsel mit 10 Jahren hatten sie das große Glück gehabt, auch im Gymnasium wieder in der gleichen Klasse gelandet zu sein.
Marks Leidenschaft für Latein war dabei von Vorteil gewesen, denn aus diesem Grund besuchte er nicht, wie die meisten Burschen, das Realgymnasium. Indem er sich für den humanistischen Zweig entschied, blieben ihm seine beiden Freundinnen erhalten. Und Dora und Susanne ein brauchbarer Latein-Nachhilfelehrer. Auch wenn sie Marks Begeisterung für diese tote Sprache nie hatten verstehen können.
Die drei Freunde verbrachten die meiste Zeit gemeinsam und als sie eines Tages bei einem Schulausflug auf einer Blumenwiese tollten, pflückte Mark ein Gänseblümchen und überreichte es Dora.
„Das bist du!“, grinste der Junge mit den Sommersprossen.
„Wie meinst du das?“, fragte sie ihn und Susanne, die soeben einen Handstand übte, lachte so schallend, dass sie große Mühe hatte, auf den Händen stehen bleiben zu können.
„Wie kommst du denn da drauf?“, fragte Susanne und auch Dora schüttelte den Kopf.
„Bellis perennis heißt das Gänseblümchen!“, erklärte Mark. „Du heißt ja Bellis, also bist du unser Gänseblümchen!“
„Mark, was du immer für Sachen weißt!“, erkannte Susanne. „Du wirst sicher mal ein Lateinprofessor.“
„Und du Spider-Woman, weil du ständig turnst oder irgendwo herumkletterst“, gab er ihr einen Schubs, den Susanne dazu nutzte, um ihrem Handstand einen eleganten Salto anzuhängen. Mark und Dora applaudierten, als sie auf beiden Beinen in aufrechter Pose zu stehen kam und ihre Arme zu einem ‘V’ hochhielt.
Von den anderen Mitschülern wurden Gänseblümchen, Spider-Woman und der Professor die drei Musketiere genannt.
Weil sie immer zusammenklebten.
Einer für alle.
Alle für einen.
Bis Mark die Schule verlassen musste, weil seine Mutter übersiedelte.
Dora hatte weder Marks Mutter noch seinen Vater jemals zu Gesicht bekommen. Genauso wie Susanne und Mark auch Doras Eltern nie kennengelernt hatten.
Wenn sich die drei Musketiere außerhalb der Schule getroffen hatten, dann in Susannes Elternhaus. Ihre Mutter war eine fröhliche und warmherzige Frau, die mit Zärtlichkeiten nicht sparsam umging.
Wenn die drei Teenager zur Tür reinkamen, mussten sie sich erst küssen lassen, noch bevor sie die Schuhe von den Füßen streifen konnten.
„Ich beneide dich um deine Mama!“, sagte Dora oft zu ihrer Freundin. Sie genoss die Zeit mit ihren besten Freunden in diesem liebevollen Zuhause.
Susannes Mutter hatte immer eine offene Tür, ein geöffnetes Herz und stets jede Menge Pizza, Lasagne oder Toasts für die drei Musketiere zur Hand.
In Susannes Zimmer machte ihnen Mark auch die traurige Mitteilung, dass er die Schule wechseln musste. Sie hörten wie immer Musik und lagen dabei zu dritt auf Susannes Bett.
Die beiden Mädchen plauderten ununterbrochen und bekamen dabei gar nicht mit, dass Mark ruhiger war als sonst.
Plötzlich sagte er ansatzlos: „Ich bin ab morgen in einer anderen Schule!“ Susanne und Dora setzten sich auf und starrten ihn mit großen Augen an.
„Warum?“ fragte Susanne erschrocken. Auch Dora spürte einen schmerzhaften Knoten in der Magengegend. Mark ging weg?
Das ging doch nicht!
„Meine Mutter übersiedelt und der Schulweg ist zu weit“, erklärte er in kurzen Worten, doch Dora verstand gar nichts.
Nur eines: Mark war ab morgen weg.
„Sehen wir dich dann nie wieder?“, stiegen in Doras Augen Tränen hoch und sie griff nach seiner Hand, wollte ihn nicht gehen lassen.
Sie waren doch die drei Musketiere!
„Aber sicher!“, sagte Mark und drückte ihr ein linkisches Küsschen auf die Wange.
„Auseinander, ihr zwei Turteltäubchen! Ihr seid schon wieder so rührselig!“, brauste Susanne auf. „Wir sind doch die drei Musketiere!“, rief sie und sprang vom Bett. Sie reichte Mark und Susanne die Hand und zog sie ebenfalls auf die Beine. Die Drei bildeten einen kleinen, innigen Kreis. Sie hoben ihre Hände hoch und riefen im Chor: „Einer für alle, alle für einen!“
„Und daher sehen wir einander auch wieder!“, rief Susanne und wischte sich ebenfalls, aber verstohlen, mit dem Ärmel eine Träne aus den Augen.
Dora und Susanne hatten Mark nicht mehr wiedergesehen.
Die drei Musketiere waren nur mehr zwei.
In der ersten Zeit nach Marks Schulabgang waren Susanne und Dora noch völlig am Boden zerstört. Doch schon nach einiger Zeit hatte sie der normale Schulalltag wieder.
Sie wurden älter und das andere Geschlecht begannen reizvoll zu werden. Da fehlte der alte Freund bald nicht mehr so sehr, weil es andere Burschen gab. Nicht so brave und liebe, wie Mark gewesen war. Böse, laute und wilde, die plötzlich sehr interessant wurden.
Mit 26 Jahren stand Dora vor den Scherben ihres Lebens.
Ein Jahr nach Dieters Zusammenbruch war alles, was sie sich aufgebaut und erarbeitet hatte, nicht mehr vorhanden.
Es schien, als wäre durch einen Reset-Schalter ihr Leben auf ‘Werkeinstellungen’ zurückgestellt worden.
Nichts war mehr, wie es zuvor gewesen war.
Nichts! Auch sie selbst nicht.
Gleichzeitig mit Dieter war auch Dora in der Versenkung verschwunden.
Sie funktionierte bloß noch. Ohne Hoffnung und wie eine seelenlose Marionette tat sie einfach nur, was von ihr erwartet wurde.
Und das war nicht mehr viel – rein objektiv betrachtet, wenn sie es mit dem Stress der Tournee verglich.
Doch subjektiv gesehen, war es die Hölle, durch die sie nun gehen musste!
Krankenhausbesuche waren nämlich ihr einziger Lebensinhalt geworden. Seit über einem Jahr! Täglich und stundenlang!
Es gab für sie nur mehr Krankenhausbesuche, wonach sie danach deprimiert war und Krankenhausbesuche, wonach sie danach völlig deprimiert war.
Um nicht vollkommen in Selbstmitleid zu versinken, führte sie sich stets vor Augen, dass sie diejenige war, der es dabei noch relativ gutging. Wirklich schlecht ging es Dieter und für ihn musste sie stark sein!
Optimistisch bleiben!
Hoffnung verströmen!
Wo aber gab es eine Bedienungsanleitung, die erklärte, wie man das mit leerem Tank überhaupt bewerkstelligen konnte?
Dora fühlte sich wie ein Auto ohne Benzin, das sie trotzdem einen Berghang hochzuschieben versuchte, um oben zu erkennen: Es wird nie wieder fahren! Bestenfalls nach unten rollen! Aber nie wieder fahren. Und wie das unbrauchbar gewordene Vehikel fühlte sie sich die meiste Zeit. Nach der kräfteraubenden Tournee war in ihren körperlichen Energietanks nämlich nur noch Vakuum.
Dora hätte so dringend Ruhe und Kraft tanken müssen!
Das Schicksal hatte ihr diese Möglichkeit aber nun einmal nicht gegeben. Und sie konnte auch nicht wie ein seelenloses Auto ohne Treibstoff einfach stehen bleiben. Es interessierte niemanden, ob sie die Kraft hatte, die sie brauchte. Von ihr wurde erwartet, dass sie funktionierte. Das war das Einzige, das zählte.
Also schob sie ihren Körper mit Gewalt den Berghang hoch. So zumindest fühlte sich der tägliche Gang ins Krankenhaus an, der Dora ihrer letzten Reserven beraubte.
Täglich wurde der Kraftaufwand größer, doch Dora begann ihre körperlichen Befindlichkeiten zu ignorieren.
Sie musste für Dieter da sein und sie war für Dieter da!
Aus! Schluss! Basta!
In dieser Situation merkte sie, wie viel ein Körper doch noch hergeben konnte, selbst wenn gar nichts mehr da war.
Bis sie eines Tages zusammenklappte.
Gottlob nicht an Dieters Bett, denn er konnte zusätzliche Aufregung nicht gebrauchen. Er benötigte doch eine optimistische und kräftige Hoffnungsspenderin.
Nein, verantwortungsbewusst kippte Dora am Gang vor Dieters Zimmer um. Ihre Beine hatten einfach nachgegeben.
Ein Arzt, der soeben aus Dieters Zimmer gekommen war, hatte rasch reagiert, als Dora plötzlich schwarz vor Augen geworden war.
In ihrer Erinnerung fehlten danach einige Minuten. Doch als sie wieder die Augen aufschlug, lag sie am Gang auf einem rollbaren Bett. In ihrem Arm steckte eine Nadel und über ihrem Kopf hing eine Plastikflasche, aus der Flüssigkeit tropfte.
„Sie hatten eine Synkope!“, erklärte die Krankenschwester, die Dora inzwischen schon sehr gut kannte.
Nachdem aber auch Dora bereits das gesamte medizinische Personal kannte, muss die Schwester angenommen haben, Dora sei bereits eine von ihnen, nachdem sie ihr diesen lateinischen Ausdruck zugeworfen hatte, mit dem Dora aber tatsächlich überhaupt nichts anfangen konnte.
„Ich hatte eine was?“, fragte sie daher und blickte völlig verwirrt.
„Verzeihung“, erklärte daraufhin die Schwester. „Sie hatten einen Kreislaufkollaps!“, erklärte sie, während sie ihren Arm tätschelte. „Aber Sie sind gottlob nicht gestürzt. Doktor Brauner hat sie auffangen können.“
„Ich muss aber ...“
„Ich weiß, Frau Bellis, wohin Sie müssen. Doch jetzt müssen Sie einmal wieder zu Kräften kommen, bevor Sie zu Ihrem Mann gehen!“, lächelte die junge Schwester, die ganz genau wusste, wohin sie wollte.
Jeder hier auf der Station kannte Dora.
Wahrscheinlich werde ich bald als Abschreibposten eine Inventarnummer bekommen, dachte Dora, als ihr klarwurde, dass sie sich nicht einmal ausweisen hatte müssen.
„Diese Infusion wird Sie stärken, doch nun ruhen Sie sich einmal aus! Ich werde Dieter Seller Bescheid geben, dass Sie in einer Stunde kommen!“
„Aber sagen Sie ihm bitte nicht, was mit mir passiert ist!“, bat Dora.
„Aber natürlich“, lächelte die junge Frau und verschwand in Dieters Zimmer.
„Danke“, hatte Dora geflüstert und die Augen geschlossen. Bis sie ihren Namen hörte.
„Dora?“
Sie blickte hoch und direkt in die Augen ihrer Schulfreundin.
„Susanne?“, glaubte sie, ihren Sinnen nicht trauen zu können. „Was machst du denn hier?“, fragte sie.
„Na, was wohl?“, fragte Susanne und zeigte auf ihr Gipsbein. „Ein Zirkeltraining unter erschwerten Voraussetzungen!“, grinste sie, während sie die Krücken an die Wand stellte und sich auf die Bettkante zu ihrer Freundin setzte.