In einem Meer voll Tränen - Brigitte Kaindl - E-Book
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In einem Meer voll Tränen E-Book

Brigitte Kaindl

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Beschreibung

Wien, in den frühen 70-er Jahren. Die 19-jährige Linda wird von ihrem Vater wie eine Gefangene in ihrem Elternhaus eingesperrt. Niemand ahnt etwas von der Tragödie, die sich hinter verschlossenen Türen abspielt. Als das eingeschüchterte Mädchen Robin, den 32-jährigen, charismatischen Leadsänger der Lance-Holeman-Singers kennenlernt, ändert sich ihr Leben auf dramatische Weise. Jahrzehnte später wird ein Obdachloser bewusstlos in einem Abbruchhaus gefunden ...

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Inhaltsverzeichnis

Buch

Prolog 2003

Angst

Blitzschlag 1974

Keine Widerrede!

Kein Bier 1974

Rein ins Leben 1974

Auch einmal?

Glitschiges Seifenwasser 1974

Das Lied vom Tod 1970

Kaum Puls 2003

Seezunge 1974

Geschwächt 2003

Scham 1974

Reisepass 1974

Peggy-Kleid 1974

Dumpfer Aufprall 1974

Angebrannter Tee 1974

Maskerade 1974

Die Party 1974

Das Meer voll Tränen 1974

Frauenportrait 1974

Man wird dir glauben 1974

Wirklich frei 1974

Harmloser Scherz? 1974

Nicht gesellschaftsfähig 1974

Korbwarenhandel 1974

Der Felsen am Meer 1974

Die Metamorphose 1974

Polaroid 1974

Über dem Berg 1974

Noch etwas 1974

Der Brief 1974

Immer gewesen 1974

Kein Namensschild 2003

Seelen-Magnetismus 2003

Friseur 2003

Für Großvater 2015

Stolz 2003

Seelenmord 2003

Nobody knows 2003

Persönliches und Danksagung

Mehr von Brigitte Kaindl

Brigitte Kaindl

In einem Meer voll Tränen

Inzest

Roman

Buch

Wien in den frühen 70-er Jahren. 

Die 19-jährige Linda wird von ihrem Vater wie eine Gefangene in ihrem Elternhaus eingesperrt. Niemand ahnt etwas von der Tragödie, die sich hinter verschlossenen Türen abspielt. Als das eingeschüchterte Mädchen Robin, den 32-jährigen, charismatischen Leadsänger der Lance-Holeman-Singers kennenlernt, ändert sich ihr Leben auf dramatische Weise.

Jahrzehnte später wird ein Obdachloser bewusstlos in einem Abbruchhaus gefunden ...

Autorin

Brigitte Kaindl wurde 1960 in Wien geboren. Die Autorin und Musikerin ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

Ihre bisherigen Bücher:

„Mein Weg aus dem Fegefeuer“, Untertitel: „Missbrauch, Leid in der Dunkelheit“, (2018 unter dem Pseudonym „Brenda Leb“) Autobiografie

„Das Echo des Herzens“, (2019), Roman

„Das Echo des Rosenmordes“ (2020), Roman

„Das Echo von Gottlieb“ (2020), Roman

„Christians Geheimnis“ (2020) 3 Romane der Echo-Trilogie

„Mann, oh Mann!“ (2020), Humorvolle Unterhaltungsliteratur

„Der Tote und das Gänseblümchen“ (2021), Roman

„Der Tod der Braut“ (2021), Roman

„Der Mörder und die Wildrose“ (2022), Roman

„Der Tod des Bräutigams“ (2023), Roman

„Die zwei Wölfe“ (2024), Autobiografie (Pseudonym: „Brenda Leb“)

Impressum

© Urheberrechtlich geschütztes Material

Text von Brigitte Kaindl

Besuchen Sie mich auf meiner Homepage: www.brigittekaindl.at

Niemand kennt das Leid, das ich gesehen habe.

Nobody knows the trouble I´ve seen

Nobody knows, but Jesus

Nobody knows the trouble I´ve seen

Glory Hallelujah!

Amerikanisches Spiritual, Verfasser unbekannt

Prolog 2003

Die zwei Buben liefen mit der Flasche Gin in der Hand in das alte Abbruchhaus und sahen sich vorsichtig um.

„Ist uns jemand gefolgt?“

„Nein!“

Als sie die Schwelle überschritten, bekam es der Ältere mit der Angst zu tun.

„Hier ist es aber ganz schön dunkel!“, rief er. Er hielt die Flasche in der Hand, die er aus der Bar seines Vaters mitgehen hatte lassen und drückte sie plötzlich fest an sich, als bräuchte er Schutz und die Flasche könnte ihn behüten.

Für den ersten Rausch seines Lebens wollte er mit seinem Freund ungestört sein. Daher hatten sie sich dieses alte, verfallene Haus als willkommene Stätte ausgesucht, um sich in Ruhe einige Drinks genehmigen zu können.

Nun war er sich nicht mehr sicher, ob das wirklich so eine gute Idee war.

Allein waren sie hier zwar mit Sicherheit. Obwohl: Hatte sein Vater nicht unlängst erwähnt, dass hier Obdachlose übernachteten?

Gut, es war Nachmittag. Mit Sicherheit suchte derzeit noch niemand seine Nachtruhe. Trotzdem war es gruselig und es roch auch sehr streng.

Sein Freund, der ihm auf den Fersen war, hatte die gleiche Empfindung.

„Pfui Teufel, hier stinkt es ja wie auf einer öffentlichen Toilette!“, stieß er aus.

„Lass uns wieder abhauen!“, rief der Ältere. „Bei dem Gestank krieg ich doch keinen Schluck runter. Wir können uns ja draußen hinter die Mauer setzen. Da sieht uns auch niemand!“

„Gute Idee!“, sagte der Jüngere. „Doch wenn ich schon einmal hier bin, werde ich mich gleich erleichtern. Mehr stinken kann es dann auch nicht“, machte er einen beherzten Schritt in das Haus und öffnete die Tür zu seiner Rechten.

„Ich bleibe hier!“, sagte der Ältere, der sich lieber zu einem Baum stellen wollte. Er konnte es gar nicht erwarten, von hier wieder zu verschwinden. Sein Freund trat jedoch beherzt in den Raum und eine Sekunde später hörte er einen ohrenbetäubenden, schrillen Schrei. Er lief daraufhin seinem Freund doch hinterher und ließ vor Schreck die Flasche fallen.

Vor ihnen lag ein greisenhafter Mann mit dichtem Bartwuchs und langen Haaren. Seine Glieder waren seltsam verrenkt und ihn hatte nicht einmal der gellende Schrei des Jungen aufgeweckt.

„Ist er tot?“, fragte der Jüngere, weil der alte Mann tatsächlich nicht lebendig aussah.

„Wie soll ich das denn wissen?“, rief der Ältere mit schreckgeweiteten Augen.

„Was sollen wir jetzt tun?“

„Hast du nicht zu Weihnachten ein Handy bekommen?“

„Warum fragst du?“

„Ruf die Rettung!“

Angst

Das 11-jährige Mädchen schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren starr vor Angst.

Es ekelte sie schrecklich, doch sie konnte nicht fliehen.

Sie durfte nicht fliehen.

Sie musste folgsam sein. Ungehorsam wurde bestraft. Streng bestraft!

Aber sie konnte darum bitten, dass er damit aufhörte. Vielleicht wusste er doch gar nicht, wie weh ihr das tat, was er mit ihr machte!

Und das tat sie. Sie flehte.

„Nein, Papa, bitte nicht! Es tut mir so schrecklich weh! Bitte, Papa, höre auf damit. Bitte!“

„Das ist nur am Anfang so!“

„Aber ich will das nicht, weil ich mich auch so fürchterlich schäme. Bitte hör auf damit. Bitte, Papa, es tut mir so stark weh!“, wiederholte sie ihre flehenden Worte, weil er sie vielleicht nur nicht richtig verstanden hatte.

„Du wirst sehen, bald tut es nicht mehr weh! Glaube mir, das ist nur zu deinem Besten!“

Blitzschlag 1974

Linda stand mit leuchtenden Augen im Backstage Bereich hinter der Bühne. Die Beine der 19-Jährigen zuckten im Rhythmus und ihre langen, dunklen Haare klebten schon nach kurzer Zeit in ihrem Gesicht, weil sie mittanzte, als wäre sie selbst auf der Bühne.

Das geschah fast von allein. Bei diesen mitreißenden Songs konnte man nicht ruhig stehen. Zumindest sie schaffte es nicht.

Und wenn sie in das Publikum blickte, wusste sie, dass diese Musik niemanden kaltließ. Zumindest niemanden, der zu diesem Konzert gekommen war. Und das waren viele. Die Halle war ausverkauft.

Linda schob ihr Haar hoch und steckte es zu einem Knoten fest, damit es sich nicht wellen konnte. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, ihre starken Naturlocken glatt zu föhnen, wollte sie doch an diesem Abend besonders hübsch aussehen.

Afrolook war zwar derzeit große Mode. Doch bei Dunkelhäutigen. Wie bei der bildhübschen Sängerin aus Trinidad, die im bunten Kaftan und den riesigen, goldenen Kreolen fantastisch aussah. Ihr dunkles, krauses Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein Kranz und Linda befand, dass ihr diese Frisur passte. Doch so eine exotische Ausstrahlung hatte sie doch nicht.

Im Gegenteil.

Linda hatte weder so eine wunderschöne, gebräunte Haut, noch derart ausdrucksstarke Augen. Sie besaß ein biederes Gesicht mit gleichmäßigen Zügen, weshalb sie in der Schule stets Püppchen genannt wurde.

Sie selbst konnte nichts Aufregendes an ihrem Äußeren finden, weshalb sie ihre braunen Augen für diesen besonderen Anlass sorgfältig mit einem dicken Lidstrich geschminkt hatte.

Nun befand sie sich während des Auftrittes der Lance Holeman-Singers im Backstage Bereich, um in der Pause und nach Konzertende Getränke zu reichen. Der Sound fuhr ihr in die Adern und ließ sogar die Flaschen, die auf dem Getränkewagen standen, vibrieren.

Ein toller Job! Solange die zwölf Mitglieder dieser, als multiethnische Pop-Gospel-Chor auftretende Gesangsgruppe auf der Bühne waren, hatte sie nämlich nichts zu tun, außer zuzusehen.

Kostenlos!

In der ersten Reihe. Zwar seitlich, aber trotzdem!

Und sie hatte direkten Kontakt zu den Sängern. Das war ja noch besser, als sich für ein Autogramm anzustellen, was sie aufgrund ihrer Schüchternheit und vielen anderen Gründen, sowieso nie getan hätte.

Doch als die Cateringfirma, für die sie eigentlich im Büro arbeitete, ihr diesen Aushilfsjob angeboten hatte, hatte sie nicht lange nachgedacht, sondern sofort zugesagt.

Obwohl, eigentlich hatte sie sich sogar angeboten. Die Mitarbeiterin, die am Vortag diese Arbeit gemacht hatte, war nämlich erkrankt und man hatte so schnell keine Kellnerin finden können.

Als Linda die allgemeine Ratlosigkeit mitbekommen hatte, hatte sie den Vorschlag gemacht, dass sie die Tätigkeit gerne übernehmen würde. Ihre Vorgesetzten waren erleichtert gewesen und Linda wünschte der kranken Kollegin von Herzen gute Besserung.

Nun stand sie mit wippenden Hüften im Dunkeln und beobachtete das Treiben auf der hellbeleuchteten Bühne.

Die Teilnehmer der Gruppe aus nächster Nähe erleben zu können, war für sie unbeschreiblich. Die Gesichter, die sie bisher bloß vom Plattencover oder aus der Jugendzeitschrift kannte, nur wenige Meter entfernt sehen zu können, war für Linda ein unglaublicher Moment. Sie hätte sich am liebsten ständig gekniffen, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte und fühlte sich wie in einer anderen Welt.

Obwohl!

Sie war doch in einer anderen Welt. Einer schöneren. Einer bunteren. Einer fröhlicheren!

Linda war ein Fan der ersten Stunde und kannte jeden Sänger und jede Sängerin. Über ihrem Bett hing ein Poster der Gruppe und jeden Morgen beim Erwachen lachten sie die Teilnehmer an.

Dass sie dieses riesige Papierbild einfach mit Tixostreifen auf die Tapete geklebt hatte, hatte ihrem Vater gar nicht geschmeckt. Aber gut, ihm schmeckte sowieso nicht viel.

Und jetzt, in diesem Moment, wollte sie gar nicht an ihn denken. Dieses unglaubliche Erlebnis wollte sie zwanglos genießen können. Nur ein einziges Mal wollte sie ausgelassen sein. Und sie genoss es!

Wie elektrisiert sog sie die knisternde Stimmung auf der angrenzenden Bühne in sich auf.

Sie stand tatsächlich auf demselben Boden wie die Lance Holeman-Singers! Wie unglaublich war das? Sie konnte es nicht fassen.

Obwohl alle Sänger in ihren bunten Dressen, den grellen Tüchern und Kopfbedeckungen sowie der Fröhlichkeit, die sie verströmten, faszinierend waren, hatte Linda nur Augen für Robin.

Robert Burton, wie der gebürtige Brite hieß, war nicht nur der Leadsänger, der die größten Hits sang, sondern auch Arrangeur und Co-Autor der Band.

Gemeinsam mit Lance Holeman hatte er vor Jahren diese Formation gegründet. Das wusste aber kaum jemand, weil er sich lieber im Hintergrund hielt. Seine Bescheidenheit war genauso legendär wie seine Stimme. Rauchig und stark stand sie im krassen Gegensatz zu seinem Auftreten.

Robin war kein Spaßvogel wie die meisten, er wirkte fast scheu und genau das fand Linda so anziehend. Er hatte tiefgründige, warme Augen und sie glaubte in seinen Gesichtszügen einen Menschen mit tiefen Gefühlen zu erkennen, spürte aber auch viel Schmerz.

Seine Stimme war es, die sie diese Empfindungen erahnen ließ. Vor allem, wenn er Balladen sang.

„Nobody knows the trouble I´ve seen“, hatte er zuvor so gefühlvoll interpretiert, dass sich die Härchen auf ihrer Haut am ganzen Körper um Stehplätze gerauft hatten. Das war Gänsehaut pur gewesen!

Linda war wie elektrisiert an seinen Lippen gehangen, hatte sogar feuchte Augen bekommen. Obwohl, das hieß nicht viel, denn sie war nahe am Wasser gebaut. Aber sie traute sich wetten, dass jeder Mensch, der nur einen Funken Gefühl besaß, bei dieser Performance mit seinen Emotionen gekämpft hatte.

Robin hatte in dieses Lied nämlich so viel Gefühl und Schmerz gelegt, dass ihr tatsächlich die Tränen über die Wangen gelaufen waren. Er hatte dieses Lied nicht nur gesungen, sondern gefühlt. Die Interpretation dieses Gospelsongs war für Linda ein so einprägsames Erlebnis gewesen, dass sie diesen Moment mit Sicherheit nie vergessen würde.

Das wusste sie. Auch, weil sie diesen Song noch nie auf einer Platte der Gruppe gehört hatte.

Die Lance Holeman-Singers hatten inzwischen schon so viele Eigenkompositionen, die allesamt Hits geworden waren, dass dieser ganz besondere, amerikanische Spiritual wohl deshalb nicht auf eine Langspielplatte gepresst wurde.

Schade, dachte sie. Dieses Lied hätte sie sehr gerne daheim öfter gehört. Obwohl, dann hätte sie bloß noch mehr geheult, wusste sie im gleichen Augenblick, dass das vielleicht sowieso keine so gute Idee wäre.

Es war schon gut so, dass auf den Langspielplatten dieser Gruppe eher fröhliche, beschwingte und mitreißende Lieder zu hören waren. Die Musik der Lance Holeman-Singers brachte Linda daheim nämlich zum Tanzen, schenkte ihr fröhliche Momente.

Und das war bei ihrer depressiven Grundstimmung eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit, denn das schaffte ansonsten nichts und niemand.

Die Schwermut, die Linda in ihrem Elternhaus niederdrückte, verschwand aber in dem Moment, in dem sich der Plattenarm auf die Vinylplatte senkte.

Wenn Robin ‘Jericho’ sang, musste sie automatisch mitsingen, lachen und tanzen. Die Lance Holeman-Singers und Robins Stimme waren Lindas Glückstankstelle geworden.

Ihre einzige!

Als die Gruppe zuvor auf die Bühne gelaufen war, hatte Linda Robin daher mit den Augen gesucht. Er war der Letzte gewesen, der in das Rampenlicht getreten war.

Eigentlich war die blonde Peggy hinter ihm gewesen. Doch er hatte auf sie gewartet, ihr den Vortritt gelassen und sie mit einer sanften Berührung am Rücken vor sich auf die Bühne geschoben.

Dabei hatte sein Blick den ihren getroffen und augenblicklich hatte Linda einen Stich in ihrem Herzen gespürt, der sich wie ein Blitzschlag im ganzen Körper ausgebreitet hatte.

So kurz der Augenblick auch gewesen war. Da war etwas in ihr geschehen.

Etwas ganz Heftiges.

Etwas total Intensives.

Das hatte sie deutlich gespürt. Ihr Körper war plötzlich in Flammen gestanden und sie hatte sich eingebildet, dass es ihm zumindest ähnlich gegangen sein musste.

Er hatte seine Augen nämlich förmlich abwenden müssen. Sie hatte ihm hinterhergeblickt und wahrgenommen, dass er sich, kurz bevor er in das grelle Licht der Scheinwerfer rausgelaufen war, noch einmal zu ihr umgedreht hatte.

Als sich ihre Blicke abermals getroffen hatten, hatte er kurz und irgendwie fast scheu gelächelt, sich umgedreht und war hinter Peggy in das Rampenlicht gelaufen.

Er gliederte sich in die Gruppe ein, begann, wie die Bandkollegen zu klatschen und singen und blieb dabei im Hintergrund oder an der Seite stehen.

Lance, der den Singers den Namen gegeben hatte, saß am Klavier. Er war derjenige, der in der Gruppe das Sagen hatte. Lance führte die Interviews und war der Boss.

Auch wenn Robin mit ihm gemeinsam die Gruppe gegründet und viele Hits komponiert hatte, schien er keinen Wert darauf zu legen, sich in irgendeiner Weise hervorzutun. Im Gegensatz zu Lance. Er liebte die Rolle des Oberhaupts.

Seit fünf Jahren gab es die Lance Holeman-Singers und ihre ersten Hits erinnerten ein wenig an die Gospels der Edwin Hawkins-Singers. Doch mit den Jahren ließen Robin und Lance auch andere, rockigere Elemente in die Musik einfließen und komponierten eigene Songs.

Die Musiknummern der Gruppe wurden poppig und entsprachen dadurch dem Zeitgeist, der noch von der Hippiewelle der 60-er-Jahre dominiert wurde.

Kurz vor der Pause kam der größte Hit der Gruppe. Robin löste sich mit dem Mikrofon in der Hand aus der zweiten Reihe und trat an den Bühnenrand. Das war sein Song.

„Jericho!“

Dieses Lied führte seit vielen Wochen die Hitparade der Charts an und der Aufschrei des Publikums, als er zu singen begann, war ohrenbetäubend.

Linda stand nun fast beim Bühnenausgang. Sie konnte ihre Augen nicht von ihm wenden und ihr Körper wurde von Glückshormonen förmlich überschwemmt. So einen Rausch der Sinne hatte sie noch nie erlebt. Die peitschende Musik und die Bässe, die durch die riesigen Boxen in ihren Adern weiterschwangen, katapultierten sie förmlich in einen Ausnahmezustand.

Und Robin!

Ihn aus nächster Nähe zu sehen, war unbeschreiblich! Er hatte im wahren Leben eine Ausstrahlung, die sie vollkommen überwältigte.

Sie kannte dieses Gefühl nicht, von dem sie soeben heimgesucht wurde. Dieser Druck in der Magengegend war ihr vollkommen fremd. Aber es war ein schönes Gefühl. So berauschend und aufregend.

Sie genoss ihre Empfindungen daher mit all ihren Sinnen. Sie sah, hörte und fühlte.

Und sie ließ sich gehen. Am Bühneneingang stehend, tanzte, sang und strahlte sie.

Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie musste fast würgen, wenn er zufällig in ihre Richtung sah.

Und er schaute ziemlich oft zu ihr.

Linda war kein unreifer Backfisch, der sich in einen Sänger verliebte.

Nein. Sicher nicht!

Robin war ein Star. Und ein erwachsener Mann. Sie hingegen ein 19-jähriges Küken mit keinerlei Erfahrung, worin auch immer.

Sie war sich deshalb so sicher, nicht verliebt zu sein, weil sie wusste, wie sich das anfühlte.

Anders!

Sie war nämlich schon einmal verliebt gewesen.

Als Mädchen hatte sie sich in einen Jungen verguckt. Mehr als das. Sie hatte diesen Burschen wirklich liebgehabt und von ihm geträumt.

Jahrelang.

Eigentlich noch immer. Doch diese Verliebtheit war unschuldig und scheu gewesen. Und es war überhaupt nichts daraus geworden. Außer diesen jahrelangen Träumen und einer unerfüllten Sehnsucht.

Doch das, was sie soeben empfand, als sie Robin mit den Augen verschlang, war etwas ganz anderes.

Er sah genauso aus wie auf dem Cover der Langspielplatte, die sie unlängst gekauft hatte: Sein Pony war lang und hing ihm fast in die Augen. Seine braunen, gewellten Haare fielen ihm bis zur Schulter. Er trug ein kanariengelbes Hemd und eine schwarze Glockenhose, wie sie derzeit so modern war.

Seine Taille dominierte eine riesige, silberfarbene Gürtelschnalle und an seinem Handgelenk glitzerte ein Bettelarmband.

Er sah so sexy aus!

Dabei war Robin nicht im eigentlichen Sinne schön. Es gab in der Gruppe größere und attraktivere Männer. Doch er hatte etwas, das Linda berührte.

Manchmal hatte er zuvor, als er noch in der Gruppe gestanden war, in ihre Richtung geblickt, also zum Backstage-Bereich.

Sucht er mich mit den Augen?, hatte sie sich gefragt, aber sogleich gewusst, dass das mit Sicherheit nicht der Fall war.

Doch als er ‘Jericho’ sang, hatte er tatsächlich öfter mal hinter die Bühne geblickt. Das hatte sie sich nicht eingebildet. Und jedes Mal war ein Blitzschlag durch ihren Körper gejagt.

Keine Widerrede!

Das 12-jährige Mädchen schluchzte bitterlich.

Sie hatte zuvor mit einem kleinen Jungen am Spielplatz Fangen gespielt. Er war zwar der Schnellere, doch er hatte sie gewinnen lassen.

Sie konnte den blonden Buben mit den süßen Sommersprossen sehr gut leiden. Offenbar ging es ihm aber auch so, denn wenn sie ohne ihre Freundinnen in den Park kam, ging er nicht mit seinen Freunden zum Fußballplatz, sondern spielte mit ihr. Und das, obwohl es für Burschen total uncool war, sich mit Mädchen abzugeben.

Nachdem sie vom Fangenspielen außer Atem war, hatte sie den Vorschlag gemacht, lieber Verstecken zu spielen.

Der Bursche war einverstanden gewesen und hatte bis dreißig gezählt.

Als sich das Mädchen gerade hinter einem großen Rosenbusch verstecken wollte, stand plötzlich ihr Vater vor ihr. Er hatte sie an der Hand genommen und gezwungen, mit nach Hause zu kommen. Sie wollte aber nicht und begann zu weinen.

„Ich will jetzt keine Widerrede hören“, hatte er jedoch gebrüllt und sie weggezerrt.

„Aber ... Papa ... ich will mich wenigstens noch verabschieden“, stammelte das Mädchen und blickte zurück, suchte ihren Freund mit den Augen.

„Schau gefälligst nach vorne und gehorche, sonst setzt es was!“, hatte ihr Vater wutentbrannt geschrien und verängstigt war sie ihm dann doch nach Hause gefolgt.

Daheim bekam sie für ihren Ungehorsam gleich einmal eine schallende Ohrfeige, damit sie nicht glaubte, diesen Eigensinn würde er ihr durchgehen lassen.

Dann machte er sie mit den neuen Regeln vertraut.

„Du gehst mir dort nicht mehr hin! Ich verbiete dir, jemals wieder in den Park zu gehen.“

„Aber warum? Ich habe doch nur mit meinem Freund Verstecken gespielt!“

„Ja, das sagst du jetzt. Doch ich weiß es besser.“

„Was denn, Papa?“

„Diese jungen Leute mit den langen Haaren bringen dich womöglich auf die schiefe Bahn. Ich verbiete dir daher den Umgang mit diesem Pack. Du gehst mir dort nicht mehr hin. Und aus!“

„Auch nicht mehr mit meiner Freundin?“

„Gar nicht mehr, hab ich gesagt!“

„Aber, Papa, bitte nimm mir doch nicht ...“

Weiter kam sie nicht. Wie wichtig ihr die Freunde waren, konnte sie nicht mehr erwähnen. Der Schlag, der ihren Kopf zur Seite schmetterte, hinterließ alle fünf Finger der väterlichen Hand auf ihrer Wange. Sie rieb sich die schmerzende Backe und senkte ihren Blick.

Linda war in den vergangenen Monaten so unglücklich gewesen und nur das gemeinsame Spiel mit Gleichaltrigen hatte sie ein wenig von all dem Schrecklichen, das sie fast täglich tun musste, ablenken können.

Und nun wurden ihr die Freunde genommen?

Alle?

„Widersprich mir nie wieder!“, zischte ihr Vater und hob drohend seinen Zeigefinger, als er sich in seiner gesamten Größe vor ihr aufbäumte.

„Tu ich doch nicht, Papa! Ich habe dich ja nur bitten wollen, ob ich weiterhin spielen gehen darf. Papa, bitte!“

„Und ich habe ‘nein’ gesagt. Glaubst du, ich weiß nicht, was du vorhast? Und dieser blonde Halbwüchsige will das Gleiche. Der bekommt doch einen Ständer, wenn er dich sieht.“

„Aber Papa, das stimmt ja gar nicht! Wir spielen doch nur gemeinsam“, erschrak das Mädchen. Sie konnte die Gedanken ihres Vaters nicht nachvollziehen.

Ihr Spielkamerad war etwas kleiner als Linda, auch wenn er ein wenig älter war. Aber er war noch ein Kind, genau wie sie selbst.

Ein richtiges Kind!

Und alles, was sie wollte, war spielen. Sie wollte das, was ihr Vater soeben durchblicken hatte lassen, wirklich nicht.

Mit niemandem!

Mit wirklich überhaupt niemandem!

Wieso glaubte ihr Vater das nicht?

Er packte das Mädchen am Arm und zog sie zu sich hoch, um ihr die nächsten Worte eindringlich einbläuen zu können.

„Ich weiß, was ich gesehen habe und will jetzt keine Widerrede mehr hören“, bekamen seine Augen einen drohenden Blick, während er ihr erklärte, wie sie sich in der nächsten Zeit zu verhalten hätte.

„Du kommst künftig nach der Schule sofort nach Hause und wehe dir, du kommst auch nur eine Minute zu spät! Wage es nicht, mich zu hintergehen! Ich beobachte dich! Ich werde doch nicht zulassen, dass dir so ein pickeliger Onanierer womöglich noch ein Kind anhängt! Dann hätte ich doch alles, was ich für dich getan habe, umsonst getan!“

Kein Bier 1974

Linda stand während des gesamten Konzertes vollkommen unter Strom.

Als die Pause kam, wurde es im Backstage-Bereich hektisch. Die Musiker liefen nach hinten, krallten sich im Vorbeigehen Getränke und verschwanden offenbar in ihren Kabinen. Kurz danach kamen sie frisch geduscht, geföhnt und neu eingekleidet wieder zurück, um den zweiten Teil des Konzertes zu singen.

Die blonde Peggy war als Erste wieder vor dem Bühnenausgang. Sie stellte sich zu Linda und begann mit ihr zu plaudern, als wären sie gute Freunde.

„Dein Kleid gefällt mir. Das ist wirklich toll!“, schwärmte Peggy, als sie sich noch eine Cola nahm. „Wo hast du es gekauft?“

„Es gefällt dir wirklich?“, fragte Linda überrascht, denn es war sehr günstig gewesen und Peggys Bühnenoutfit war sicherlich wesentlich wertvoller.

„Ja, dieser Schnitt und die bunten Farben sind genau mein Geschmack“, bestätigte Peggy und Linda wollte ihr soeben erzählen, was es mit diesem Kleid auf sich hatte. Da strömten auch schon die anderen Sänger in den Vorraum und machten sich fertig für den Auftritt.

Einige machten Stimmübungen, andere lockerten ihre Muskeln, doch insgesamt waren sie sehr konzentriert, während sie auf und ab gingen. Nur Peggy schien keine Vorbereitungszeit zu benötigen. Sie war die Einzige, die sich mit Linda unterhielt und völlig locker war.

Nach zwanzigminütiger Pause kündigte der Lautsprecher den zweiten Teil der Show an und die Sänger liefen wieder raus.

Robin war die ganze Zeit nicht im Vorraum gewesen. Er kam, als die ersten Sänger bereits auf die Bühne liefen.

Als er an Linda vorbeiging, lächelte er ihr zu. Sie nickte und spürte plötzlich hunderte Schmetterlinge in ihrem Bauch flattern.

Hat er mich jetzt tatsächlich gegrüßt?, fragte sie sich, als sie wieder allein im Dunkeln war und ihn beobachtete.

Ja! Natürlich hat er mich gegrüßt. Mich! Sie konnte es gar nicht fassen.

Hatte sie schon im ersten Teil des Konzertes fast nur Augen für ihn gehabt, so hatte sie nun, nach der Pause, ihren Blick ausschließlich auf ihn gerichtet.

Gegen Ende des Konzertes kam wieder ein Hit, den Robin als Leadsänger vortrug.

Er kam in rhythmischen Bewegungen mit dem Mikrofon an den Bühnenrand und seit er im Scheinwerferlicht stand und sein Solo sang, strahlte er förmlich. Er spielte mit dem Publikum, lachte und wippte mit den Hüften.

Zuvor war er die meiste Zeit fast unscheinbar im Hintergrund gestanden. Während die anderen um ihn herum das Scheinwerferlicht zu lieben schienen, wirkte er nicht wie jemand, den es ins grelle Licht zog.

Doch nun, als er singend am Bühnenrand stand, konnte sie von der Seite sein Profil beobachten und vernahm die Begeisterung, die er auslöste.

Es ging also nicht nur ihr so. Er hatte Charisma. Und was für eines!

Und vor allem hatte er diese unverwechselbare, leicht rauchige Stimme, in der so viel Soul mitschwang. Robin gab seine Seele beim Singen und das konnte man hören und spüren. Sein kraftvoller Gesang, die vom rhythmischen Chorgesang der Singers getragen wurde, ließ die Halle beben.

Das Publikum stampfte, klatschte und sang mit. Die Begeisterung kannte kaum noch Grenzen.

Keine Frage: Dieses Konzert war ein voller Erfolg. Wie alle anderen bisher und auch sicherlich die nächsten Auftritte.

Als sich Lance Holeman eine halbe Stunde später vom Klavier erhob, mit einer tiefen Verbeugung beim Publikum verabschiedete und die Singers die Bühne verließen, kreischten die Fans nach einer Zugabe.

Die Sänger liefen trotz der tobenden Menge vorerst einmal in den Backstage Bereich und Linda reichte jedem ein Getränk, das die meisten gierig annahmen. Alle waren verschwitzt und vollkommen erschöpft. Doch sie strahlten.

Alle.

Außer dem Bandleader.

Lance Holeman hatte in dem Moment, als er die Bühne verlassen hatte, sein sonniges Lächeln abgelegt. Er trug einen weißen Anzug mit grüner Krawatte und hob sich durch diese elegante Kleidung vom Rest der Truppe ab.

Sein gescheiteltes Haar trug er zwar auch schulterlang, doch ordentlich gekämmt und glattgeföhnt. Inmitten seiner Sänger, die im Vergleich zu ihm wie Hippies in ihren bunten Kleidern, Hemden, Afrolook-Frisuren oder farbigen Kopfbedeckungen aussahen, wirkte er wie ein Schuldirektor, der seine Schüler beaufsichtigen musste.

Lance hieb Robin, der vor ihm ging, auf die Schulter und schrie los: „Peggy fliegt!“

„Wieso?“, fragte Robin und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus der Stirn.

„Sie hat heute zweimal den Einsatz verpasst.“

„Komm schon, Mann! Sie hat doch noch nie einen Einsatz verpasst. Jedenfalls nicht bei ihren Solos. Und wenn es ihm Background war ...“

„Willst du damit sagen, dass es dann weniger wichtig ist?“

„Nein! Aber, ganz ehrlich, du übertreibst!“

„Spinnst du?“, reagierte Lance sauer über Robins Lässigkeit und hielt ihn am Oberarm fest, damit er ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen ließ.

„Scheinbar bin ich wirklich der Einzige hier, der ein gutes Gehör hat und ich übertreibe kein bisschen! Auch im Background ist es wichtig, dass jeder Ton, jeder Halbton und jeder Einsatz hundertprozentig am Punkt ist.“

Er hieb mit seinem Zeigefinger in die Handfläche seiner anderen Hand und wiederholte: „Absolut on Point! Das ist sowieso die einzige Erwartung, die ich an die Sänger habe“, wollte er seine Großzügigkeit zum Ausdruck bringen.

Er blitzte die blonde Peggy an, die mit ihrem geblümten Minikleid, das gerade Mal ihr Höschen verdeckte, soeben von der Bühne kam. Sie hatte sich bei Roy eingehängt und lachte schallend.

Offenbar amüsierte sie sich gut und hatte keine Ahnung, dass das Damoklesschwert soeben heftig über ihrem Kopf hin und her baumelte.

Noch amüsierte sie sich.

Noch wusste sie nichts.

Robin hatte mitbekommen, dass Peggy im Monat zuvor des Öfteren aus Lances Kabine gekommen war.

Hat sie seine Launen womöglich satt und den Chef abserviert?, fragte er sich, als er den verbissenen Gesichtsausdruck des Bandleaders beobachtete.

Lances lüsterner Blick blieb an Peggys wohlgeformten Beinen hängen, während er schäumend und wohl zum hundertsten Mal seine Philosophie predigte.

„Du weißt, die Sänger haben bei mir alle Rechte, können auf der Bühne herumtanzen, wie sie wollen, sich anziehen, was sie möchten, egal ob sie Kleider oder Fetzen wählen. Ich schreibe ihnen nichts vor. Doch beim Gesang kenne ich kein Pardon!“

„Das wissen wir“, raunte Robin und verdrehte die Augen als Lance nicht mehr zu ihm sah. Dann wiederholte er etwas gelangweilt. „Das weiß inzwischen doch schon jeder, Lance!“, wollte er ihn scheinbar von seiner Giftwolke runterholen.

Offenbar kannte er diese Sprüche bereits sehr gut. Er ignorierte Lance in weiterer Folge und stellte sich vor Linda, nahm mit einem zutraulichen Nicken eine Cola entgegen. Wieder durchrieselte sie ein angenehmer, euphorischer Schauder, als sich ihre Blicke trafen.

Bilde ich mir das ein, oder hat er mir besonders tief und lange in die Augen gesehen?, war sich Linda nicht sicher, ob nun ihre Fantasie mit ihr durchging oder Robin tatsächlich mit ihr flirtete.

„Na, dann ist ja alles klar!“, polterte Lance hingegen weiter und griff ebenfalls nach einer Flasche, die Linda ihm reichte.

„Peggy fliegt!“, war Lances abschließendes Statement, das Robin unkommentiert ließ. Er wirkte abgelenkt.

Von Lindas Augen?

Von Lindas Augen!

Er versank in ihrem Blick und Linda war sich nun sicher, dass sie sich das nicht bloß einbildete. Robin wollte offenbar soeben etwas sagen. Er öffnete seine Lippen, doch im gleichen Augenblick dröhnte Lances Stimme in seinem Ohr.

„Was ist denn das für ein Gesöff?“, schrie er nun Linda an, als er die Flasche in seiner Hand herumdrehte, als hätte er noch nie einen Softdrink in der Hand gehabt. Offenbar wollte er nun seinen Ärger bei ihr abladen.

„Das ... das ist eine Cola“, stammelte Linda. Sie war vollkommen irritiert von Robins Blick und noch viel mehr von der Aggressivität, die ihr vom Bandleader nun so unvorbereitet ins Gesicht geblasen wurde.

Dann aber fasste sie sich, riss ihre Augen aus Robins Blick und machte Lance Vorschläge: „Wir hätten aber auch Fanta, Sprite oder Mineralwasser.“

„Kein Bier? Oder etwas für Erwachsene?“

„Also ... äh ... ich habe gehört, dass ...“, begann sie zu stottern und war etwas verwundert über diese Frage.

Im Speziellen aber, warum ihr ausgerechnet Lance diese Frage stellte.

Lindas Auftraggeber hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass während des Konzertes keine alkoholischen Getränke ausgegeben werden durften.

„Das hat Lance Holeman so angeordnet. Der Chef will offenbar nicht, dass seine Singvögelchen angesoffen herumjodeln“, war ihr von ihren Vorgesetzten eingetrichtert worden.

„Was hast du gehört, mein Püppchen?“

Ich bin doch nicht sein Püppchen!, kränkte sich Linda über Lances herablassende Art.

Weil sie jedoch an den nächsten Tagen auch noch gebucht werden wollte, antwortete sie: „Dass während des Konzertes keine alkoholischen Getränke ausgegeben werden dürfen.“

„Die andere Tante, die gestern noch hier gewesen ist, hat mir aber auch gegeben, was ich gewollt habe. Warum ist sie überhaupt nicht da? Und wer hat denn dich hierhergestellt? Gehörst du um die Zeit nicht ins Bett?“, schien er sie für ein Schulkind zu halten.

„Ich ... also ... ich bin 19“, stotterte sie, weil sie wusste, dass sie jünger wirkte. „Und ... und meine Kollegin ist krank und man hat mich gefragt, ob ich aushelfen will, und mein Vorgesetzter hat mir ausdrücklich gesagt, dass ...“

„Komm, hör schon mit dem Herumstottern auf!“, unterbrach er sie unwirsch. „Hast du nicht mitbekommen, dass das Konzert vorbei ist? Und heute hast du nur einen Chef! Und der bin ich!“

„Lance, jetzt krieg dich aber wieder ein“, stoppte ihn daraufhin Robin. „Die junge Frau weiß genauso gut wie wir, dass es Zugaben gibt. Du kannst sie doch nicht dafür verantwortlich machen, dass sie die Regeln einhält, die du selbst aufgestellt hast!“, nahm er Linda in Schutz, während Lance einen tiefen Schluck aus der Flasche nahm.

Auch, wenn es bloß Cola war.

„Danke!“, flüsterte Linda leise und fügte etwas lauter hinzu. „Ich heiße übrigens Linda!“, erklärte sie daraufhin.

„Freut mich Linda, ich bin Robin!“, reichte er ihr die Hand und ignorierte Lance nun vollkommen.

Seine Hand fühlt sich warm und weich, richtig angenehm an, dachte sie, als ihre Hände ineinandergriffen. Allerdings schüttelten sie die Hände nicht, hielten sie bloß. Sie nahm über diesen platonischen Körperkontakt etwas unerklärlich Intensives wahr. Ihr Körper prickelte, als hätte sie ein Glas Champagner getrunken.

„Ich weiß!“, lächelte sie und ließ ihre Hand in seiner. „Und ich bin ein großer Fan von dir!“

„Ich habe ein echtes Rehlein als Fan?“, fragte Robin mit einem sanften Lächeln.

„Rehlein?“

„Du erinnerst mich an ein scheues Reh mit deinen so wunderschönen Augen“, erklärte er und versank in ihrem Blick. Da wurde Lance ungeduldig.

„Ja, schon gut, Linda-Schätzchen. Ein Autogramm kann er dir später auf deinen süßen Busen geben und über Rehaugen könnt ihr danach noch immer reden!“, forderte Lance mit einem Blick in Lindas Ausschnitt wieder volle Aufmerksamkeit. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah sie verärgert an, blickte auf die Hände, die die beiden noch immer hielten.

„Was ist jetzt? Hast du etwas Anständiges für mich? Anderenfalls war das heute dein letzter Auftrag!“, versuchte er sie mit einer Drohung gleich einmal anständig unter Druck zu setzen.

Erfolgreich.

Sie zuckte zusammen.

Es waren ja seine Regeln und sie wollte schon gerne wiederkommen. Nicht wegen Lance. Wegen Robin.

Daher zog sie verängstigt ihre Hand wieder aus Robins und bückte sich, wollte soeben aus dem Kühlschrank ein Bier nehmen, als Bewegung in die Gruppe kam.

„Was zum Teufel?“, rief Lance, als er sah, dass Roy Peggy an die Hand genommen hatte und mit ihr auf die Bühne gelaufen war. „Was bildet Roy sich ein?“, schrie Lance, der offenbar vor der Zugabe gerne seinen Alkoholspiegel etwas erhöht hätte.

Doch dafür war es nun zu spät, denn der Rest der Gruppe lief ebenfalls auf die Bühne, nachdem das Publikum zu stampfen begonnen hatte.

Also setzte Lance wieder sein charmantestes Lächeln auf und lief mit seinen Sängern auf die Bühne.

„Wollt ihr zum Abschluss noch ‘Mama Do’ hören?“, fragte Lance und wirkte so fröhlich, als wäre er der sonnigste Mensch auf Gottes Erdboden. Er setzte sich hinter das Piano und spielte das Intro dieses Hits.

Das Publikum brüllte vor Begeisterung.

Der mehrstimmige Chorgesang fiel in das Intro ein, begleitete die Akkorde des Klaviers.

Als schließlich das Schlagzeug den Takt des Popsongs anschlug, kam Bewegung in die Gruppe. In leichten Tanzschritten wippten die Sänger mit den Beinen den Rhythmus mit, während sich die Lautstärke der Stimmen erhöhte. Der Gesang gewann merkbar an Druck und das Publikum sang begeistert die einfachen Textzeilen dieser mitreißenden Musiknummer mit.

Roy, der Sänger mit der besten männlichen Falsett-Stimme in der Gruppe schälte sich aus dem Chor, kam mit dem Mikrofon an den Bühnenrand und sang den Solopart dieses Songs, der wochenlang in den Hitparaden gewesen war.

Die Sänger im Hintergrund strahlten und lachten, sangen und tanzten. Die Gruppe wirkte ungezwungen und bestens gelaunt. Man sah keinem an, wie tief deren Kinnladen noch vor wenigen Sekunden gewesen waren, als sie den Jähzorn ihres Bandleaders mit versteinerter Miene mitverfolgt hatten.

Peggy rekelte sich neben dem Klavier, wippte ihre schmalen Hüften und umschmeichelte Lance. Er lächelte sie an, als wäre Peggy sein erklärter Liebling. Dass er sie noch vor einer Minute rauswerfen hatte wollen und es wahrscheinlich noch immer plante, sah man Lance keinesfalls an.

Wie doppelgesichtig, graute Linda.

Sie liebte dieses Lied ebenfalls. Sehr sogar. Doch in diesem Moment war sie wie versteinert.

Nicht einmal der Rhythmus kam ihr nahe und das wollte etwas heißen, denn dieser Song war wirklich mitreißend.

Doch Linda fühlte sich auf einmal wie betäubt. Sie blickte auf die strahlenden, lachenden Gesichter, auf die jungen Künstler, die fröhlich klatschten, tanzten und sangen und fragte sich: Wie konnten sie so vergnügt sein?

Nehmen sie Lance nicht ernst oder überspielen sie seine Launen bloß sehr gekonnt?, überlegte sie und bekam Mitleid mit den Sängern. Ihr fiel ein, dass es in der Gruppe eine hohe Fluktuation gab.

Immer schon gegeben hatte.

Es gab nur wenige Mitglieder, die von Beginn an dabei waren. Dazu gehörte Robin. Er hatte offenbar eine Strategie gefunden, um sich mit der Situation arrangieren zu können.

Aber welche?, fragte sich Linda und blickte in das Rampenlicht, sah Robin tanzen und merkte trotz seines Lächelns eine verborgene Qual in seinem Gesicht. Er zog zwar die Mundwinkel auseinander, doch sein Lachen erreichte die Augen nicht.

Alle anderen hatten die Gabe, sich ihren Frust nicht anmerken zu lassen. Bei Peggy beispielsweise hatte man das Gefühl, als wäre sie das fröhlichste Mädchen der Welt und stünde nicht bereits arbeitslos mit einem Fuß auf der Straße. Sie hat das Gepolter von Lance mit Sicherheit mitbekommen. Jeder hat doch sein lautes Geschrei hören können.

Gefeuert wegen eines angeblichen falschen Einsatzes.

Linda drehte es förmlich den Magen um, wenn sie an diese Begründung dachte. Ihr waren Lances wollüstigen Blicke nicht entgangen. Er hat Peggy richtiggehend in den Ausschnitt gestarrt, als sie an Roys Seite von der Bühne gekommen war.

War womöglich Peggys einziger falscher Einsatz der, dass sie nicht in Lances Bett landen wollte? Oder vielleicht nicht mehr? Und wollte Lance sie deshalb aus einem fadenscheinigen Grund rauswerfen?

Weil das Recht immer vom Stärkeren ausging? Und weil er es eben aus diesem Grund konnte? Wie alle Despoten, die sich in leitenden Stellen von Staaten, Firmen und Familien breitmachten?

Soviel sie wusste, war Lance verheiratet und seine wunderschöne Frau konnte ihn nicht auf Tour begleiten, weil sie beim gemeinsamen Kind zu Hause war.

Ob seine Frau Bescheid wusste?

Linda ekelte, als sie sich bewusstwurde, dass diese heile Welt gar nicht so heil war, wie sie noch zuvor gedacht hatte.

Diese Fröhlichkeit!

Diese vergnügte Begeisterung!

Alles nicht echt!

Sie fiel richtiggehend in sich zusammen, als sie auf dem Boden der Realität aufknallte. Die euphorische Stimmung, in die sie zuvor das Konzert versetzen hatte können, war plötzlich vollkommen verschwunden. Selbst die mitreißende Musik konnte daran nichts ändern. Mit einem Mal kam ihr alles so falsch und verlogen vor. Alles!

Als sie den, ach so fröhlich lachenden Lance beobachtete, wurde ihr richtiggehend übel und sie fragte sich: Wie kam ein einzelner Mensch dazu, andere so zu schikanieren?

Ihre eigene Vergangenheit stob hoch und sie hätte am liebsten aufgeschrien, weil ihre Hoffnung, dass es außerhalb der eigenen vier Wände eine andere, eine bessere Welt gab, soeben zerstört worden war.

Was ist das nur für eine Scheinwelt, in der ich lebe?, dachte sie, als sie die heitere Ausgelassenheit beobachtete und wusste, wie unecht diese Fröhlichkeit doch war.

Außen hui, innen pfui! Das kam ihr so bekannt vor!

Wieso nur hatte sie geglaubt, dass diese zur Show gestellte Lebensfreude echt war? Wenn sie doch am eigenen Leib tagtäglich erlebte, wie verlogen und geheuchelt die Welt war!

Wie sie soeben erkannte, nicht nur ihre eigene!

Wie leicht konnte man Menschen mit einer scheinheiligen Maskerade doch hinters Licht führen. Wie ahnungslos waren alle Außenstehenden auch bei ihrem Vater!

Niemand wusste, was hinter den verschlossenen Türen ihres eigenen, so gutbürgerlichen Elternhauses vor sich ging. Niemand kannte Lindas Vater wirklich.

Er war für seine Mitmenschen der fleißige Beamte, ein humorvoller Freund und hilfsbereiter Nachbar. Ein Mensch, mit dem man gerne seine Zeit verbrachte.

Außer, wenn man zum engsten Familienkreis gehörte. Wie Linda und ihre Mutter. Sie waren die einzigen Menschen auf der Welt, die ihn wirklich kannten. Doch sie waren zum Schweigen verurteilt.

Warum?

Weil der leitende Beamte das Familienoberhaupt war!

Rein ins Leben 1974

Zwei Stunden vor dem Rockkonzert

Linda föhnte ihre Haare. Als sie glatt waren, drehte sie die Spitzen ihres langen Ponys mit der Rundbürste seitlich nach außen.

Dann zog sie einen dunklen Lidstrich und besah sich kritisch im Spiegel. Das geblümte Minikleid mit dem tiefen Ausschnitt saß perfekt und sie schlüpfte in ihre modernen, hohen Plateauschuhe, die sie um zwei Zentimeter größer machten.

Sie wollte soeben das Haus verlassen, als sie das Unheil kommen hörte. In seinen Holzpantoffeln schlich er sich nämlich nicht gerade an.

Eigentlich hatte sie gedacht, Vater säße vor dem Fernseher. Doch plötzlich stand er hinter ihr und funkelte sie zornig an.

„Wo gehst du jetzt noch hin?“

„Ich habe einen Auftrag!“

„Was für einen?“

„Ich serviere Getränke hinter der Bühne eines Popkonzerts! Mein Dienstgeber hat mich gefragt, ob ich aushelfen kann, denn eine Mitarbeiterin ist krank geworden und ich ...“, verbog sie ein wenig die Wahrheit. Dass sie sich freiwillig gemeldet hatte, musste er doch nicht erfahren. Er unterbrach sie jedoch barsch.

„Du glaubst wirklich, ich lasse dich in diesem Aufzug unter die Leute gehen? Und das am Abend?“

„Aber Papa, das ist doch ein modernes Kleid!“

„Vielleicht für ein Flittchen!“, konterte er. „Keine anständige Frau trägt so etwas! Und es passt mir auch nicht, dass du heute noch außer Haus gehst. Für diese Abendveranstaltungen sollen sie Männer einteilen. Junge Mädchen haben am Abend nichts außer Haus verloren. Du bleibst daheim!“, entschied er in seinem, ihm so typischen Befehlston.

„Aber, Papa, das geht nicht. Ich habe schon zugesagt! Wenn ich nicht komme, verliere ich meinen Job!“, übertrieb sie bewusst, damit er sie gehen ließ.

Sie wusste, wie hoch die Moral in dieser Familie gehalten wurde. Also die, die man von außen sehen konnte! Ihr Vater würde demnach nie riskieren, dass seine Tochter Schande über seinen Namen brachte. Nicht, nachdem er sich so bemühte, seine kleine Familie im perfekten Licht strahlen zu lassen.

Das seit den 50-er Jahren anhaltende Wirtschaftswunder hatte dafür gesorgt, dass sich in dieser Zeit Arbeitswillige Jobs aussuchen konnten. Das Jahr 1973 wies die seit Jahren niedrigste Arbeitslosenzahl aus und wer in dieser Zeit nicht arbeiten ging, war entweder krank, asozial oder arbeitsunwillig.

Es gab daher für eine Familie keinen größeren Makel als einen gesunden Arbeitslosen in der Familie. Und daher gab es so etwas Verabscheuungswürdiges auch in Lindas Familie nicht.

Nämlich Arbeitslose!

Es gab zwar vieles, das in diesen vier Wänden nicht in Ordnung war. Doch auf staatliche Arbeitslosenunterstützung angewiesen, war niemand!

Die Mutter war beim Gemahl mitversicherte Hausfrau, wie fast alle Frauen jener Zeit. Sie war verantwortlich für Sauberkeit, Verköstigung sowie die Aufzucht des Kindes. Die wenigen Frauen, die in den 70-er-Jahren arbeiten gingen, waren entweder nicht unter die Haube gekommen oder deren Männer nicht fähig, eine Familie zu ernähren.

Lindas Vater gehörte nicht dazu.

Sein Lohn als Leiter der Haustischlerei im Innenministerium war sogar ausreichend, um einmal im Jahr mit dem Ford Taunus eine einwöchige Urlaubsreise nach Jesolo mit der Familie machen zu können. Mit einem befreundeten Ehepaar ging es jedes Jahr in das gleiche günstige Appartement und diese Urlaube waren der Höhepunkt des Arbeitsjahres. Die Frauen kochten zu Mittag Marillenknödel oder gefüllte Paprika, während die Kinder am Strand Sandburgen bauten und die Männer Boccia spielten.

Dass Lindas Eltern seit drei Jahren sogar einen Farbfernseher besaßen, war ein unbeschreiblicher Luxus und von daher war es auch gar nicht nötig, dass Lindas Mutter arbeiten ging.

Vaters Kollegen, dessen Gattinnen ebenfalls Hausfrauen waren, hätten mit dem Finger auf ihn gezeigt, hätte er die ab und zu aufkeimenden Selbstverwirklichungsgedanken seiner Frau nicht durch ein generelles Verbot abgestellt.

Als Haushaltsvorstand hatte er dazu das Recht. Er war der Herr im Haus, brachte das Geld heim und hatte daher das uneingeschränkte Sagen.

So wie es sich gehörte.

Das Töchterlein war gut behütet aufgewachsen. Sie wurde streng erzogen und vom Züchtigungsrecht machte Lindas Vater ausreichend Gebrauch. Dieses gesetzlich verankerte Recht befugte Eltern ihr ungehorsames Kind, das die häusliche Ordnung störte, auf eine nicht übertriebene und ihre Gesundheit störende Art, züchtigen zu können.

Diesen kleinen, letzten Zusatz im Gesetzestext dürfte Lindas Papa allerdings nicht gekannt haben. Aber gut, er war auch kein Advokat, sondern gelernter Tischler.

Im elterlichen Bücherregal stand das Buch ‘Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind’ von der Ärztin Johanna Haarer. Darin hatte ihr Vater öfter mal geblättert und sich offenbar Tipps geholt. Wenn Linda allein daheim gewesen war, hatte sie ebenfalls manchmal einen Blick in dieses Buch geworfen.

Darin empfahl die Autorin, die keine pädagogische Ausbildung, stattdessen aber eine spürbar braune Gesinnung besaß, Säuglinge schreien zu lassen und sie auf keinen Fall mit zu viel Liebe und Zärtlichkeit zu verwöhnen.

Dass die Lehren dieser Autorin schon zu Lebzeiten umstritten waren und wohl in erster Linie dazu gedient haben konnten durch diese sogenannte Erziehung fügsame Soldaten heranzuziehen, anstatt fühlender Menschen, dürfte Lindas Vater genauso wenig gewusst haben, wie die Tatsache, dass körperliche Züchtigung der Gesundheit des Kindes nicht schaden durfte.

Doch Lindas Eltern waren in guter Gesellschaft. Sprüche wie: ‘Schreien tut der Lunge gut’ oder ‘Schreiende Kinder trösten, verhätschelt bloß’, hörte Linda auch in vielen anderen Familien.

Nicht nur in der eigenen!

War auf der Straße ein Kind trotzig und die Eltern züchtigten das widerspenstige Kind nicht an Ort und Stelle, wurde ihnen von Älteren ein gutgemeinter, aber strenger Verweis erteilt: „Eine ordentliche Tracht Prügel hat noch keinem geschadet. Und Ihr Knirps braucht dringend eine hinter die Ohren, anderenfalls wird er ein missratenes Früchtchen!“

Das war Linda nicht geworden. Sie hatte unter der strengen väterlichen Hand fügsam und lenkbar werden können.

Wie die meisten Mädchen hatte sie brav Steno und Maschineschreiben gelernt und eine anständige Lehre als Bürokaufmann absolviert.

Eine solide Berufsausbildung war Lindas Eltern schon wichtig gewesen. Auch wenn das Töchterlein nach der Hochzeit sowieso eines Tages als Hausfrau beim Kinde bleiben würde.

Aber was, wenn sie keinen Mann abbekam?

Für diesen Fall war eine Ausbildung als Friseurin, Schneiderin oder Stenotypistin auch für Mädchen wichtig. Solange es keinen Ehemann am Radar gab, musste demnach auch das junge Fräulein brav zur Arbeit gehen.

Und das tat Linda.

Wie es eben sein sollte.

Lindas Hinweis auf drohende Arbeitslosigkeit, sollte Papa sie am Gehen hindern, war demnach auf fruchtbaren Boden gefallen. Im Gesicht ihres Vaters begann es zu zucken.

„Deinen Job darfst du natürlich nicht riskieren“, ging Lindas Rechnung auf. „Doch wie ein Flittchen läufst du nicht auf der Straße herum. So verlässt du ganz sicher nicht das Haus!“, schrie er Linda an. „Du ziehst dieses Fetzchen Stoff augenblicklich aus und schlüpfst in ein anständiges Gewand. Von mir aus ziehe diese grässlichen Glockenhosen an. Die sind doch jetzt angeblich auch so große Mode!“, deutete er mit dem Zeigefinger in das Kinderzimmer, wo sich seine Tochter umziehen sollte.

„Aber Papa, ich bin schon spät dran und darf auf keinen Fall zu spät kommen“, wollte Linda unbedingt in diesem Kleid zu dem Konzert gehen.

Unbedingt!

In so einem Kleid trat Peggy immer auf. Sie hatte fast immer genauso ein Kleid an. Es war ihr Stil. In der Boutique, in der Linda dieses gelbe Kleid mit den vielen bunten Blumen gekauft hatte, war es sogar als Peggy-Kleid verkauft worden.

Freilich, um ein Kleid als Peggy-Kleid verkaufen zu können, musste es in erster Linie kurz und bunt sein. Aber genau das war eben Peggys ganz persönlicher Stil und Linda wollte an diesem Abend signalisieren, dass sie dazugehörte.

Zu dieser Welt.

Zu den Lance Holeman-Singers. Gleiche Kleidung signalisierte gleiche Denkweise.

Und sie wollte modern wirken!

Außerdem wollte sie gesehen und wahrgenommen werden. Wer weiß, wann sie wieder die Gelegenheit bekam, diesen Stars so nah kommen zu können? Vielleicht nie wieder!

Wenn sie in Hose und Rollkragenpullover erschien, sahen die Künstler doch womöglich durch sie durch. Nein, es war wichtig, dass sie schon ein wenig aufreizend gekleidet war.

„In diesem Kleid hängt dir ja fast der ganze Busen raus!“, schrie Vater nun und seine Augäpfel quollen ihm fast aus den Höhlen. „Was hast du denn darin vor? Willst du dir einen jungen Stecher angeln?“

„Nein, ich will nur zur Arbeit gehen und kann mich jetzt auch nicht mehr umziehen, denn ich habe es bereits eilig“, sagte sie bestimmt. Sie wollte sich nicht von Vaters Sprüchen, die ihr schon zum Hals raushingen, aufhalten lassen. Wie eine Schallplatte hörte sie doch seit Jahren Vaters Monologe, die lediglich die kranke Gedankenwelt eines einfältigen, gewalttätigen Triebtäters offenbarten.

Sie konnte es schon nicht mehr hören und normalerweise tat sie trotzdem so, als würde sie ihn ernstnehmen. Schon allein deshalb, weil es so ungesund war, wenn sie ihm dieses Gefühl nicht vermittelte. Doch nun hatte sie es eilig und in ihrer Hast hatte sie die notwendige Unterwürfigkeit vergessen und sich tatsächlich etwas im Ton vergriffen. Die eigene Meinung resolut zu vertreten war in diesem Haushalt doch nicht erlaubt, wenn man weiblich war.

Ihre Worte bereute sie demgemäß auch in der nächsten Sekunde, denn Vater hatte ihr blitzartig und so kräftig eine gescheuert, dass ihr Kopf von der nahen Wand gebremst wurde und ihre Haare am Lippenstift kleben blieben. Sie löste sachte ihre Haare von den fettigen Lippen und hielt devot den schmerzenden Kopf gesenkt.

Nur keine neuerliche Provokation, bläute sie sich ein. Sie wusste, wenn sie jetzt ein einziges, falsches Wort sagte, schlug sie ihr Vater grün und blau.

Dann aber konnte sie den Abend vergessen. Es brauchte viel Makeup und noch viel mehr Zeit, um Blutergüsse und blaue Flecken zu überschminken. Das wusste sie bereits aus Erfahrung. Und Zeit hatte sie keine mehr.

„Ficken willst du!“, schrie ihr Vater jedoch los und steigerte sich so richtig in seine Wahnvorstellungen. „Du willst bloß in der Gegend herumhuren! Gib es doch zu, du verdammte Schlampe!“, brüllte er.

Da bremste er sich plötzlich ein.

Die Tür zum Vorzimmer wurde geöffnet.

Mutter tauchte hinter ihm auf. Sie ging wie ein Mäuschen auf die Toilette und verschwand danach wieder im Wohnzimmer.

Wortlos.

Wie immer.

Sie mischte sich nie ein.

Die perfekte Ehefrau für einen Mann dieses Kalibers.

Und obwohl sie sich so vorbildlich benahm und er durch ihr konsequentes Wegsehen jede Freiheit besaß, schien es Vater doch wichtig zu sein, dass sie nicht alles mitbekam.

Wie soeben.

Daher war er durch Mutters Auftauchen auch ein wenig abgelenkt und konnte nicht genauso weiterbrüllen, wie er es vorgehabt hatte. Und auch nicht so weiterdreschen.

Nicht, dass Mutter je etwas dagegen unternommen hätte. Nein, sie hatte ihn noch nie daran gehindert und würde es auch in Zukunft nicht wagen.

Doch es gab eben diese besonderen Dinge, die Vater trotzdem lieber vor ihr verbarg und das, was er Linda soeben noch an den Kopf werfen hatte wollen, hatte damit zu tun.

Linda wusste indes genau, was nun noch kommen würde und wollte nicht darauf warten, bis Vater wieder loslegte.

Mit dem Mut der Verzweiflung schnappte sie ihre Handtasche, die ihr durch Vaters Schlag aus der Hand gefallen war, vom Boden auf. In dem Moment, als Mutter wieder die Türklinke zum Wohnzimmer betätigte, lief Linda zur Wohnungstür und stürmte grußlos aus der Wohnung.

Sie klapperte mit den hohen Schuhen im Stiegenhaus die Treppen hinunter und als sie bereits einen Stock tiefer war, hörte sie ihren Vater durch das Treppenhaus brüllen.

---ENDE DER LESEPROBE---