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Die schockierende Geschichte einer missbrauchten Kinderseele: Annabelle ist gerade sieben Jahre alt, als sie durch ihre Mutter in die Fänge einer Sekte gerät. In einem kleinen Ort in Wales führt sie zehn Jahre lang ein schreckliches Doppelleben: Tagsüber spielt sie das unbekümmerte Schulmädchen, nachts die Sexsklavin des brutalen Sektenführers. Erst als sie schwanger wird, findet sie die Kraft, aus der Hölle auszubrechen: Um keinen Preis darf ihre eigene Tochter dasselbe durchmachen wie sie ...
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Seitenzahl: 376
Annabelle Forest ist ein Pseudonym. Mehr als zehn Jahre war die junge Frau Teil der Cul-de-Sac-Sekte. Nach ihrer erfolgreichen Flucht half sie, Colin Batley, den Anführer der in Großbritannien berüchtigten Psycho-Sekte, zu fassen und durch ihre Zeugenaussage zu verurteilen. Heute lebt sie mit ihrem Lebensgefährten und ihren zwei Kindern glücklich in der Nähe von London.
Annabelle Forest
mit Katy Weitz
Der Teufel vor meiner Tür
Zehn Jahre missbraucht und manipuliert.Wie ich der Hölle meiner Kindheit entkam
Aus dem Englischen übersetzt von Axel Plantiko
BASTEI ENTERTAINMENT
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Annabelle Forest & Katy Weitz
Titel der englischen Originalausgabe: »The Devil on the Doorstep.
My Escape from a Satanic Sex Cult«
Originalverlag: Simon & Schuster UK Ltd., London
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen
Titelmotiv: © shutterstock/altanaka
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-1405-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Was das Böse für seinen Triumph braucht,ist einzig das Nichtstun der guten Menschen.
Edmund Burke
Halt! Überlege. Atme, befehle ich mir.
Ich muss mich beruhigen. Die Tränen brennen mir in den Augen. Mein Herz rast wie verrückt, und ich ringe um Atem. Wo ist sie? WOISTSIE?
Es ist halb acht Uhr morgens, ein normaler Schultag. Vor ein paar Sekunden war alles noch in Ordnung. Ich war in Emilys Zimmer gehuscht, um sie zu wecken, hatte das Licht angemacht und war dann ins Bad gegangen. Meine siebenjährige Tochter ist eine Langschläferin. Schon von klein auf. Während andere Eltern morgens zu unchristlichen Zeiten geweckt werden und ihre Kinder um ein paar weitere Minuten im Bett bitten, schlummerte Emily schon immer gern ein bisschen länger. Mit vier Monaten schlief sie bereits regelmäßig durch, und seitdem ist es dabei geblieben. Ich bin ständig vor ihr wach. Daher gönne ich ihr gerne ein paar Minuten, um in ihren Kissen zu sich zu kommen, bevor wir uns zum Frühstück in die Küche begeben.
Als ich wieder in ihr Schlafzimmer gehe, ist sie immer noch nicht auf. Deshalb beuge ich mich über ihre weiche cremefarbene Bettdecke. Doch statt die Schulter meiner schlafenden Tochter zu berühren, versinkt meine Hand in der weichen Daunendecke, bis auf die Matratze. Ich ahne Schreckliches und reiße die Decke vom Bett. Leer.
Mit einem Mal beginnt sich die ganze Welt um mich zu drehen. Ich spüre, wie mir schlecht wird.
Wo ist sie? Wurde sie entführt? Wie lange ist sie schon weg?
Jetzt spüre ich, wie mir das Blut in den Schläfen pocht, während ich auf die Knie sinke und unter das Bett spähe. Panik ergreift mich, Arme und Beine beginnen zu zittern. Ich möchte mich zusammenrollen und erst mal wieder zu mir kommen. Doch ich muss Emily finden.
Plötzlich höre ich ein vertrautes leises Kichern hinter mir.
Mein Gott! Emily!
Am liebsten würde ich sie anschreien, schütteln, weil sie mich einer solchen Tortur ausgesetzt hat, doch ich lasse es. Stattdessen schließe ich die Augen, senke den Kopf und komme wieder auf die Beine. Erleichterung macht sich in mir breit. Ich atme tief durch.
Dann sage ich mit hoffentlich neckischem Unterton: »Nun, wo hat sich Emily an diesem Morgen herumgetrieben?«
Erneutes Kichern.
»Wo zum Teufel steckt sie nur? Vielleicht hinter der Gardine?« Ich tue so, als ob ich nach meiner Tochter suche, und mache ihr Versteckspiel mit, wie es eine normale Mutter getan hätte, obwohl ich jetzt natürlich genau weiß, dass sie wohlbehalten und sicher hinter der Tür steht.
Später, nachdem sie in die Schule gegangen ist, weine ich vor mich hin. Aus Erleichterung, Erleichterung darüber, dass es ihr gut geht. Sind dies die Reaktionen einer normalen Mutter?
Bin ich normal?
Ich weiß es nicht.
Es ist schwer zu beschreiben, welche Gefühle ich für meine Tochter Emily habe. Sie sind unglaublich tief. Ich liebe sie so sehr, dass es schon schmerzt. Sie ist mein Ein und Alles – sie lässt mich lachen, macht mich wütend, bringt mir Glück und verletzt mich. Emily ist der Mittelpunkt meiner Gefühlswelt. Um sie kreisen alle meine Emotionen. Meine Geschichte wäre kaum zu verstehen ohne das Wissen darüber, wie sie in diese Welt gekommen ist.
Die Wahrheit ist, dass ich nie erwartet hatte, dass ich Emily lieben kann. Ich wollte sie nicht einmal. Emily ist ein Kind des Schmerzes – eine Frucht von Nötigung, Vergewaltigung und Missbrauch. Sie ist die Verkörperung all des Leids, das mir seit meinem siebten Lebensjahr angetan wurde. Mit achtzehn, als ich mein Kind zur Welt brachte, war ich eine leere Muschel – mein Leben war bedeutungslos für mich. Ich fühlte nichts, interessierte mich für niemanden und wollte mit nichts etwas zu tun haben. Bis ich meine Tochter zu Gesicht bekam. In diesem Moment zerbröselte der harte Stein, der sich um mein Herz gelegt hatte, und ich wusste endlich, was Liebe bedeutet. Es gab jemanden, für den ich leben, den ich lieben konnte. Emily schenkte mir mein Leben zurück.
Sie sehen also, dass meine Liebe für meine Tochter nicht normal ist. Ich weiß, dass ich sie zu oft herze und küsse; so oft, dass sie mich manchmal wegstößt, weil meine ständige stürmische Zuwendung ihr auf den Geist geht. Ich weiß, dass ich einen Schutzwall um sie aufbaue, so sehr, dass es für uns beide ungesund ist. Und ich weiß, dass der normale Alltag, den die meisten Eltern genießen – das Versteckspiel, das Jagen im Park oder das Suchen in den Gängen eines Supermarkts –, für mich keine Freude ist. Das sind höllische Momente, die mir das Herz stillstehen lassen, die Kehle zuschnüren. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich Emily jemals verlieren sollte. Dass das geschieht, ist meine größte Angst.
Natürlich werde ich Emily irgendwann davon erzählen, wie sie gezeugt wurde, von dem Mann, der ihr biologischer Vater ist, Colin Batley. Es sind Dinge, die ich ihr eigentlich nicht sagen möchte, die ich selbst kaum ertrage, doch ich werde sie nicht vor der Wahrheit schützen können. Ich werde sie nicht abschirmen können gegen die Erkenntnis und den Schmerz, den sie verursachen werden. Es hilft, dass Emily mir ähnelt – dass sie meine Mandelaugen, meinen kleinen schmalen Mund, die sommersprossigen Wangen und die Stupsnase hat. Würde sie ihm ähneln, wäre unser Leben sehr viel härter.
Wenn ich meine Tochter anschaue und spüre, wie mir das Herz überquillt, will es mir einfach nicht in den Kopf, dass es auf dieser Welt Leute wie meine eigene Mutter gibt – eine Frau, die imstande ist, ihrem eigen Fleisch und Blut das Leid anzutun, das sie mir zugemutet hat. Wenn eine Mutter ihre eigene Tochter dem ausliefern kann, dann kann jeder jedem alles antun. Daher traue ich niemandem. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich meine Tochter nicht wie eine Glucke verhätscheln und vor dieser Welt schützen darf. Ich möchte, dass sie stark ist, immer in der Lage, gegen Ungerechtigkeit aufzustehen und für sich selbst zu kämpfen. Sie soll wissen, dass sie auch ohne mich überleben kann. Daher nehme ich mit ihr die Ziele in Angriff, von denen ich weiß, dass Emily sie erreichen muss – während ich noch den Kapiteln ihrer Kindheit nachtrauere, die sie jetzt schon hinter sich gelassen hat.
Werde nicht zu schnell erwachsen, flüstere ich und erinnere mich voll Wonne an die Momente, als sie sich klein und hilflos an mich, ihre Mama, kuschelte. Da sie trotz allem noch ein Kind ist, gehört sie mir, ganz mir. Und ja, wahrscheinlich knuddle ich sie zu viel, küsse sie zu oft, mache mir zu viele Sorgen und weine zu häufig. Aber das ist schließlich das Privileg einer Mutter, und nachdem Sie diese Geschichte gelesen haben, werden Sie vielleicht verstehen, weshalb ich so bin. Weshalb ich jeden Tag nach dem Aufwachen in Emilys Zimmer laufe, gierig darauf, ihr Gesicht zu sehen und mich an ihrer Liebe zu erfreuen. Weshalb ich ihr von Herzen dafür danke, dass ich mein Leben wieder lebenswert finde, dass sie mir gezeigt hat, dass ich lieben kann, nachdem ich die Hölle durchlaufen musste. Weshalb ich Emily keine Sekunde aus den Augen verliere. Weshalb ich sie immer im Blick habe.
Dies ist ihre Geschichte und gleichzeitig meine.
»Komm mit.«
Die Stimme meiner Mutter drang in meinen Traum.
Warm und mollig unter der Bettdecke zu einer Kugel gerollt, gab ich ein leises Seufzen von mir. Mir war, als habe ich mich gerade erst hingelegt, doch ich musste wohl eingeschlafen sein, denn draußen war es schon dunkel. Als ich blinzelnd die Augen öffnete, sah ich nur die große Silhouette meiner Mutter im Gegenlicht des Flurs. Ich war irritiert. Es war noch Nacht.
»Beeil dich«, drängte sie mich. »Steh auf und komm mit.«
Widerwillig krabbelte ich aus dem Bett und setzte die Füße auf die alten Holzdielen. In der Ecke des Zimmers schlief meine zwei Jahre alte Schwester Olivia tief und fest in ihrem Kinderbett. Mama wartete, bis ich aufgestanden war, dann drehte sie sich um und ging die Treppe hinab.
Es war Juli, Hochsommer, doch in diesem Haus schien es immer kalt zu sein. Ich zitterte in meinem dünnen gelbrosa geblümten Nachthemd. Vor wenigen Wochen erst waren wir aus unserer Wohnung in Ost-London in dieses Doppelhaus in Wales gezogen, aber ich hasste es bereits. Das Haus war abscheulich: schmutzig-braune Tapeten lösten sich von den Wänden, es gab keine Teppiche, nur blanke Holzbohlen, an manchen Stellen sogar bloß Zement als Fußboden. Alles war dunkel und abgenutzt. Es wirkte wie das Haus eines alten Mannes.
Barfuß trottete ich hinter meiner Mutter die knarrende Treppe hinab zum Wohnzimmer, das nur durch eine Kerze auf dem Fernseher in der Ecke beleuchtet wurde. Ich linste in den hinteren Teil des Raums, wo ich gerade noch die Umrisse eines Mannes ausmachen konnte. Er saß in einem dunkelroten Sessel in einer Nische.
»Komm her«, befahl eine tiefe Stimme.
Unwillig ging ich in Richtung der Stimme. Meine Mutter kniete sich neben den Mann. Während ich näher kam, konnte ich im flackernden Kerzenlicht nur sein Gesicht erkennen – schwarzes Haar fiel lang und fettig an seinen knochigen Wangen herab. Er hatte einen breiten Mund, schmale Lippen und eine große viereckige schwarze Brille. Als er sprach, sah ich, dass er kaum Zähne hatte. Genau genommen wirkte es, als habe er sogar nur einen Zahn. Die senfgelben Gardinen bauschten sich, als eine Brise ins Zimmer fuhr – und ich begann erneut zu zittern.
»Komm her, Annabelle«, wiederholte der Mann.
Ich wollte nicht noch näher treten. Mir gefiel dieser Mann nicht. Er machte mir Angst. Ich blieb einfach einige Meter von ihm entfernt stehen und ließ die Arme hängen. Er sagte: »Du weißt doch, dass deine Familie hierhergekommen ist, um Teil von etwas Besonderem zu werden.«
Seine Stimme rumpelte über mich hinweg wie ein Zug, der langsam einen Bahnhof durchquert. Ich war schläfrig und verstand überhaupt nichts. Ich wollte nur zurück ins Bett, mich einkuscheln und dem Schlaf überlassen. Doch die Stimme des Mannes rumpelte weiter: »Nun beginnt dein Leben in der Kirche. Du betrittst einen anderen Pfad. Das gilt auch für deine Mutter und deine Schwester. Und es ist wichtig, dass du lernst, was von dir erwartet wird, um deinem Pfad getreu deinem eigenen Willen zu folgen. Wir in der Kirche werden dir zu helfen versuchen, dein Leben auf die richtige Weise zu führen, doch es ist dein Pfad, und du musst deine Entscheidungen sorgfältig überlegen.«
Seine Worte erreichten mich kaum. Ich schwankte leicht und kämpfte gegen die Müdigkeit, während ich mich auf den Mann vor mir zu konzentrieren versuchte. Wer war er? Sein Körper schien sehr groß zu sein, da seine langen, dünnen Gliedmaßen aus allen Winkeln des Sessels hervorzuragen schienen. Er trug eine graue Trainingshose, Turnschuhe, das Hemd eines Fußballvereins und eine schwarze Lederjacke. Er redete und redete, aber für mich ergab das, was er sagte, keinen Sinn.
»Die Kirche wird dich auf deinen Pfad führen, doch es liegt an dir selbst, ob du den Weg zum Palast wählst«, fuhr er fort. »Nur du kannst deinen Weg zum Palast finden und die ewigen Qualen der Hölle vermeiden. Die Kirche wird fortan dein Leben sein, und jeder innerhalb der Kirche wird auf dasselbe Ziel hinarbeiten wie du. Um deinem Pfad gerecht zu werden, musst du den Gesetzen der Kirche gehorchen und danach streben, den Weg in den Palast zu vollenden. Du hast jetzt die Chance, etwas Besonderes zu sein, etwas aus deinem Leben zu machen …«
So ging es immer weiter. Ein oder zwei Mal spürte ich, wie mir bei seinem Gerede die Augen zufielen, doch dann machte der Mann unvermittelt mit der Hand eine kleine Geste in Richtung meiner Mutter. Sie hockte ihm gegenüber auf den Knien und schaute ihn an. Plötzlich griff er mit der anderen Hand in seinen Schritt und riss den Bund seiner Trainingshose herunter. Mama rutschte auf den Knien zu ihm hin und legte den Kopf zwischen seine Beine. Dann begann sie, sich auf seinem Schoß auf und nieder zu bewegen. Es war fast dunkel, und im flackernden Kerzenlicht konnte ich nur die Rückseite ihres Kopfes und ihr langes dunkles Haar um ihre Schultern sehen, während ihr Kopf auf und ab ging.
Er sprach noch immer: »Die Götter wachen über dich, Annabelle. Sie wachen jederzeit über uns alle.«
Was geht hier vor? Es ist gruselig und unheimlich.
Ich wollte mich nur noch umdrehen und weglaufen, zurück ins Bett, die Augen schließen und schlafen.
»Komm näher, Annabelle.« Jetzt hielt der Mann mir die Hand ausgestreckt entgegen, doch ich wollte nicht zu ihm. Ich war erstarrt, stand wie angewurzelt da.
Dies ist ein böser Traum. Es kann nicht wahr sein.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Annabelle«, sagte er. »Das Einzige, was du in dieser Welt fürchten musst, ist, was geschieht, wenn du deinem eigenen Willen nicht folgst und den Palast nicht erreichst. Die Welt ist ein natürlicher und von Instinkten geprägter Ort, und wir müssen unseren Platz darin einnehmen. Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern. Jede Zahl ist unendlich. Es gibt keinen Unterschied. Komm zu mir.«
Diesmal klang die Aufforderung strenger. Durch die Art, wie er es sagte, bekam ich das Gefühl, keine Wahl zu haben. Ich hatte Angst, und doch bewegte ich mich Zentimeter für Zentimeter auf ihn zu.
»Komm heran, oh Kind der Sterne, und hole dir deinen Anteil an Liebe!« Seine Stimme war jetzt lauter. »Komm heran, Annabelle. Du bist die Auserwählte. Komm heran!«
Ich wusste nicht, was er mit all dem meinte. Doch seine Stimme nahm einen scharfen Ton an. Ich hatte Angst vor dem, was er tun würde, falls ich nicht zu ihm trat. Daher schlich ich auf Zehenspitzen noch ein wenig näher. Als ich ihm nahe genug gekommen war, um den schalen Zigarettengestank seines Atems zu riechen, griff er nach meinen Beinen, schlang einen Arm um meine Knie und zog mich ganz zu sich heran.
Ich stolperte, verlor das Gleichgewicht und stieß einen kleinen Schrei aus.
Mama hörte nicht auf mit dem, was sie tat. Was tat sie?
Der Mann grinste, während sein Blick an mir auf und ab wanderte. Er bemerkte, dass ich nun nahe genug stand, um zu erkennen, was Mama tat. Das Ding des Mannes ragte aus der Trainingshose, und Mama hatte es in ihrem Mund. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr war anscheinend nicht bewusst, dass ich ihr nun von nahem zusah.
Ich wollte sie anschreien: Hör auf damit!
Doch ich brachte keinen Ton heraus. Meine Angst war zu groß. Das alles ergab keinen Sinn für mich. Ich war erst sieben Jahre alt, und vor ein paar Minuten hatte ich noch friedlich in meinem Bett gelegen.
Der Mann schien sich an meinem Missbehagen zu ergötzen. Er schaute mich streng an, und ich wand mich unter seinem Blick, verlegen und verwirrt. Schließlich sagte er: »Eines Tages werde ich dich haben, Annabelle.« Seine Stimme war nur wenig mehr als ein Flüstern. »Eines Tages, wenn du deine Periode bekommst, werde ich dich haben.«
Der Moment schien ewig zu dauern. Ich stand in dem halbdunklen Zimmer und beobachtete meine Mutter, der Mann grinste mich an, und seine knochigen kalten Finger rieben an der Rückseite meiner nackten Beine. Schließlich ließ er seinen Arm sinken und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Treppe: »Du kannst jetzt ins Bett gehen.«
Und schon stürzte ich davon. Mein Herz schlug wie wild, als ich die Treppe hinaufflog und ins Bett kroch, mir die Bettdecke über den Kopf zog und die Augen ganz fest schloss. Ich wollte sofort einschlafen, den Mann und das, was ich gerade gesehen und gehört hatte, vergessen. Doch es brauchte eine ganze Weile, bis ich mich beruhigt hatte und entspannen konnte. Die Bilder der Nacht gingen mir immer wieder durch den Kopf. Ich verstand nicht, was ich da gesehen hatte, und auch nichts von dem, was der Mann gesagt hatte. Aber ich war entsetzt.
Dies war meine erste Begegnung mit Colin Batley. Ich sollte erst später erfahren, was er mit seinen Andeutungen gemeint hatte. Doch diese erste fürchterliche Nacht habe ich nie vergessen.
Ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem meine Mutter nett zu mir war. Meine jüngere Schwester und ich wurden nie geküsst oder umarmt. Sie brachte uns nicht ins Bett und sagte uns nie, dass sie uns liebte. Sie sprach nicht einmal viel mit uns. Sie las uns nichts vor oder spielte mit uns. Tatsächlich war meine Mutter derart wenig präsent, dass ich mich bis zu meinem siebten Lebensjahr kaum daran erinnere, dass sie überhaupt anwesend war. Groß und schlank mit langem goldbraunen Haar hatte Mama das Tattoo eines Hais auf der Schulter, und rückblickend war sie während dieser ersten Jahre genau wie dieser Fisch. Sie glitt geräuschlos wie ein Hai durch meine Kindheit: als geschmeidiges, dunkles und grübelndes Wesen; als leicht bedrohliche Silhouette am Horizont. Wenn ich gelegentlich einen inneren Blick auf meine Erinnerungen werfe und Mama zu erhaschen suche, ist dort nichts, sie ist weg. Nichts außer dem Kräuseln des Wassers als Zeichen, dass es sie überhaupt gab.
Mama war die mittlere von drei Schwestern aus Ost-London, und bevor wir nach Wales zogen, hielt ich mich immer in der Nähe des Hauses von Tante Becca auf, Mamas älterer Schwester. Tante Becca war anders als meine Mutter. Sie war mollig und warmherzig, während Mama dünn und kalt war. Und das Beste war, dass Tante Becca so lieb zu mir war – sie ging mit mir in den Park, und wir veranstalteten gemeinsame Picknicks. Wir schauten uns Filme an und kuschelten dabei auf dem Sofa, und sie nahm mich sogar in den Urlaub mit ihrem Partner Alex mit.
Einmal waren wir auf einem Campingplatz in Devon, und das gesamte Areal wurde von Wasser überflutet. Es war ein seltsamer Urlaub, die ganze Zeit in Gummistiefeln herumzulaufen, aber ich weiß noch, dass wir viel gelacht haben. Tante Becca verfügte über ein ansteckendes Lachen, und es kam oft und leicht.
Tante Becca hatte noch keine eigenen Kinder. Allerdings wusste ich, dass sie irgendwann welche haben wollte. Und sobald wir zusammen waren, übte sie sich als gute Mama, indem sie mich mit Liebe überschüttete. Ich genoss es von ganzem Herzen.
»Eigentlich bist du meine Tochter«, pflegte sie zu sagen und zwinkerte mir zu, bevor sie mich in die Arme schloss. Das war unser gemeinsamer Scherz – wir taten so, als sei Tante Becca meine richtige Mama, und Mama sei nur die Frau, bei der ich wohnte. Irgendwie erschien mir dies realistischer als die Wahrheit. Zu Hause gab es nie Picknicks, Filme oder Spaß. Ich kann mich nicht einmal erinnern, dass ich irgendwelches Spielzeug hatte. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zwei war, und ein paar Jahre später lernte Mama einen neuen Freund kennen, Alan. Er war sehr viel jünger als sie – gerade mal neunzehn, während sie vierundzwanzig war –, doch er war nett und süß. Zusammen bekamen sie meine Schwester Olivia, die fünf Jahre jünger ist als ich. Es war Alan, der mich jeden Tag von der Schule abholte und oft mit mir in den Park ging.
Alan war groß und stämmig und hatte einen geschorenen Kopf. Er war die überwiegende Zeit glücklich und munter. Ich mochte ihn. Alan begleitete mich am Wochenende zu meiner Tante und band mir die Schnürsenkel meiner knallroten Turnschuhe zu. Alan war es auch, der mich abends ins Bett brachte und mir einen Gutenachtkuss gab. Doch ich nannte ihn nicht »Papa« – ich kannte meinen richtigen Vater. Er hieß David, und ein oder zwei Mal im Monat holte er mich ab, damit ich einen Tag bei ihm zu Hause mit seiner neuen Frau und ihrem kleinen Jungen verbrachte.
Sie besaßen einen großen Garten mit einem Swingball-Gerät und einem Trampolin – in diesem Garten konnte ich stundenlang spielen. Jedes Mal, wenn mich mein Vater zu Fuß nach Hause brachte, hatte er Spaß daran, mir Furcht einzujagen, indem er erzählte, der Ort, wo man den neuen Docklands Light Bahnhof baue, sei eigentlich der geheime Schlupfwinkel des Schreckgespenstes Bogie Man. Ich schrie aus Leibeskräften. Natürlich empfand ich keine richtige Angst, es war vielmehr dieses lustige, genussvolle Schaudern, das man bei einer guten Schauergeschichte spürte. Wir riefen »Buh«, wenn jemand um die Ecke kam, wenn wir Achterbahn fuhren oder wenn wir jemanden die Treppe hochjagten. Erlebnisse, bei denen ich erst schreien musste, danach lachen. Damals wusste ich noch nicht, was echte Furcht ist.
Wenn mich mein Vater am Fuße des Häuserblocks verließ, mischte sich in sein Lächeln Traurigkeit.
»Wir sehen uns in Kürze wieder«, sagte er dann und streichelte mein Gesicht mit den Sommersprossen. »Spinnenkacke« nannte er sie, und danach lachte er sich halbtot, während ich mein Gesicht verzog und so tat, als müsse ich kotzen.
Das war mein Vater. Er war nett und närrisch, und ich liebte ihn. Doch im Gegensatz zu Alan war er nicht jeden Tag für mich da.
In Wirklichkeit fehlte es mir damals nicht an Liebe. Ich hatte meine Tanten, meinen Vater, und für alles andere gab es immer noch Oma und Opa. Oma war eine winzige kleine Lady. Selbst als kleines Mädchen konnte ich einschätzen, wie winzig und fürchterlich dünn sie war. Doch sie hatte die gleiche ungewöhnliche Haarfarbe wie ich – rötlich braun. Und sie war definitiv die Herrin im Haus.
Opa sah mit seinem altmodischen Schnurrbart aus wie Blakey in der Filmkomödie Aufruhr im Busdepot – immer großkotzig und laut und voller Witz. An den Wochenenden nahmen mich die beiden mit zu ihren Bowl-Turnieren, und ich schaute ihnen gerne zu, wenn sie in ihren engen weißen Hemden und Hosen spielten. Sie waren wahrlich gut, und ihr Haus war voll mit Medaillen und Pokalen, die sie im Laufe der Jahre gewonnen hatten.
Weihnachten feierten wir immer in ihrem Haus, und Opa schob dann sämtliche Tische zusammen, um für die ganze Familie Platz fürs Festessen zu schaffen. Er nannte es den »Raumschiff-Enterprise-Tisch«. Opa liebte seinen Drink. Er genoss es, den Clown zu spielen, indem er so tat, als laufe er gegen eine Tür, oder er stotterte, damit ich zu lachen begann und meinen Saft ausspuckte.
Ich fand es toll, mit meinem Opa zusammen zu sein. In den Ferien nahm er mich mit an den Strand in Southend, und dann saßen wir dort und schleckten das schmelzende Eis von unseren klebrigen Händen. Oder wir machten uns nach London auf, um Museen zu besuchen, und anschließend setzte er mich auf seine Schultern und zeigte mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Opa arbeitete am Empfang einer Universität, und manchmal durfte ich ihn in dieses große und sehr belebte Gebäude begleiten. Auf dem Nachhauseweg spielten wir in der U-Bahn I-Spy, bis ich völlig erschöpft war und ausgestreckt auf seinen Beinen einnickte.
Später schlichen wir dann zusammen in die Küche und stürzten uns auf den Kühlschrank – wir aßen gekochten Schinken direkt aus der Packung, obwohl wir wussten, dass Oma das hasste. Oma und Opa hatten immer herrliche Sachen im Kühlschrank – Schinken, Cocktail-Würstchen und leckere Käse-Snacks. Die Törtchen waren mit Kirschen gefüllt. Ich liebte Kirschen.
Ich kann mich nicht erinnern, bei uns zu Hause leckeres Essen bekommen zu haben. Es gab nur Billigware aus dem Discounter Asda. Alan nannte unsere Wohnung immer das »Kopfsteh-Haus«, weil die Schlafzimmer unten und das Wohnzimmer oben waren. Dabei war es überhaupt kein Haus; es war eine Maisonette-Wohnung in einer Siedlung von Hochhäusern. Wir wohnten im 14. Stock, und ich fuhr jeden Tag mit dem Fahrstuhl rauf und runter.
Wenn ich an diese Zeit denke, halte ich auch immer Ausschau nach meiner Mutter. Doch ich kann sie nirgends entdecken. In unserem »Kopfsteh-Haus« sehe ich sie nicht, am »Raumschiff-Enterprise-Tisch« zu Weihnachten ist sie auch nicht, und im Park in der Nähe unserer Wohnung finde ich sie ebenfalls nicht. Einzig ihren Schatten nehme ich wahr. Man erzählt mir, in London sei sie eine gute Mutter gewesen, sie habe sich sehr um mich und meine Schwester gekümmert. Ich glaube, für eine gewisse Zeit arbeitete sie sogar als Zahnarzthelferin. Aber aus der Zeit vor unserem Umzug nach Wales, bevor Colin Batley in unser Leben trat, habe ich so gut wie keine Erinnerung an sie. Daher weiß ich nicht, ob sie sich geändert hat, nachdem sie Colin begegnete, oder ob ich mich nur nicht an die guten Dinge erinnere, weil sie durch alles Spätere überlagert werden. Mit Sicherheit kann ich lediglich sagen, dass Mama für mein Leben erst von Bedeutung zu werden begann, nachdem Colin auf der Bildfläche erschienen war. Und das spricht nicht für sie.
Einige Tage nach der mitternächtlichen Begegnung wachte ich auf, weil ich dringend pinkeln musste. Das Haus, in dem wir damals wohnten, war nicht nur spärlich ausgestattet, es war auch seltsam geschnitten. Es gab nur eine Toilette, die man nur durch das Wohnzimmer erreichen konnte. Aus irgendeinem Grund befand sich an der Wohnzimmertür ein Riegel. Ich rannte die Treppe hinab und wollte das Wohnzimmer betreten – es war verschlossen. Daher lief ich wieder nach oben und öffnete Mamas Tür. Sie lag im Bett, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, das lange Haar um ihren Kopf drapiert.
»Mama, ich muss aufs Klo«, flüsterte ich flehend.
»Hm?«, murmelte Mama, doch sie hielt die Augen geschlossen. Ich kroch neben ihren Kopf und begann zu zucken, da der Druck meiner Blase immer stärker wurde.
»Bitte, Mama, öffne bitte die Wohnzimmertür. Ich muss Klein. Es ist wirklich dringend.«
Mama drehte den Kopf. »Geh weg.«
»Aber ich muss. Ich muss ganz, ganz dringend.«
Ich war verzweifelt. Ich verschränkte die Beine und versuchte das Pinkeln mit aller Macht zu unterdrücken.
»Gleich«, murmelte sie.
»Mama, bitte!«, bettelte ich. Ich ging in die Knie, stand wieder auf und klemmte beide Hände zwischen die Beine. Verzweifelt versuchte ich, das Pipi zurückzuhalten.
»Geh jetzt. Ich komme in einer Minute«, grummelte sie. Die ganze Zeit hatte sie nicht einmal die Augen geöffnet. Ich versuchte, die Beine noch stärker zusammenzupressen, doch es war zwecklos.
»Bitte, Mama! Ich muss wirklich!«, rief ich ein letztes Mal. Dann spürte ich, wie das warme Nass an meinem Bein hinabzutröpfeln begann, und nachdem es einmal angefangen hatte, konnte ich es nicht mehr halten. Ich stand entsetzt da, während sich zu meinen Füßen eine große Pfütze Urin sammelte.
Es verging etwa eine Minute. Mama musste gespürt haben, dass ich noch da war. Sie setzte sich auf und fuhr sich schlaftrunken mit der Hand durchs Haar. Sie strich sich Strähnen von den Augen weg. Nun schaute sie mich an, wie ich nass und beschämt neben ihrem Bett stand.
»Was zum Teufel hast du gemacht, du blöde Göre?«, brüllte sie. »Ich habe dir doch gesagt, dass du eine Minute warten sollst. Warum konntest du nicht warten und musstest mir den ganzen verfluchten Fußboden vollpissen?«
Ich konnte ihr nicht in die Augen schauen.
»Ich habe es wirklich versucht, aber der Druck war zu groß«, antwortete ich leise und voller Scham. Jetzt begannen die Tränen zu fließen. Auch sie konnte ich nicht zurückhalten. Sie flossen ganz von alleine.
»Dein blödes Flennen kannst du dir sparen, du kleines Flittchen!«, schrie sie und sprang aus dem Bett. Sie sah zu, wie die rasch erkaltende Flüssigkeit in den Dielen versank.
»Schau, was du angerichtet hast!« Sie versetze mir einen harten Schlag auf den Hinterkopf. »Sieh dir an, was du getan hast!« Und dann schlug sie mich erneut, diesmal so kräftig, dass ich vorwärtsstolperte und in mein Pipi trat. Dadurch wurden die Hosenbeine meines Schlafanzugs nass. Sie schlug immer weiter auf meinen Kopf und den Rücken ein, während ich unter ihr kauerte und mich mit Armen und Beinen zu schützen versuchte. Die Tränen flossen immer noch über mein Gesicht. Ich rannte in mein Zimmer, mit nasser und an den Beinen klebender Schlafanzughose, und winselte: »Ich konnte nichts dafür. Ich konnte es nicht verhindern.«
Wales mochte ich von Anfang an nicht. Gegenüber unserem früheren Leben war es eine große Veränderung. Zu Beginn lebten wir zusammen mit einer anderen Familie, doch nach einer Weile zogen wir in das Haus, in dem ich Colin zum ersten Mal begegnete und später auf den Boden machte. Das Haus war abscheulich, und ein paar Monate später zogen wir wieder um. Inzwischen besuchte ich eine neue Grundschule, doch es fiel mir schwer, mich daran zu gewöhnen. Ich vermisste mein altes Leben, die vertraute Umgebung und die ganze Verwandtschaft, die wir in London zurückgelassen hatten.
Anfangs rief mein Vater jeden Samstag an, um mit mir zu reden. Mit der Zeit meldete er sich aber nicht mehr so oft. Jedenfalls erzählte mir das meine Mutter. Manchmal hörte ich das Telefon klingeln, und Mama nahm den Hörer schnell ab. Dann vernahm ich wütendes Flüstern und Sekunden später, wie der Hörer auf den Apparat geknallt wurde.
»War das mein Papa?«, fragte ich.
»Nee!«, antwortete sie.
Niemand besuchte uns, daher vermisste ich meine Oma, Opa und meine Tanten. Anfänglich war Alan noch da und erleichterte mir die Umstellung, doch nach einiger Zeit verschwand auch er. Als ich meine Mama fragte, wo er sei, sagte sie, er sei abgereist, um in Oxford zu arbeiten. Ab und an kreuzte er mal auf, doch die Abstände zwischen seinen Besuchen wurden größer und größer. Ich verstand das nicht. Ich weiß, dass ich nicht sein Kind war, aber Olivia war seine Tochter. Weshalb kümmerte er sich nicht mehr um uns? Jetzt übernahm Mama seine Rolle und versorgte uns. Allerdings war sie zu faul, um viel zu unternehmen. Daher gab es nun keine Ausflüge in den Park oder Versteckspiele mehr. Und ganz gewiss keine Gutenachtküsse.
Mama arbeitete nicht – sie bezog Sozialhilfe. Dennoch schien sie keine Zeit für irgendetwas oder irgendwen zu haben als für diesen Menschen, dem ich in jener seltsamen Nacht im Juli begegnet war. Ich erfuhr, dass er Colin hieß. Er kam nun häufig vorbei, und dann verschwanden die beiden für Stunden in Mamas Zimmer. Sie war völlig mit ihm beschäftigt, und das Wenige, das sie für uns tat, erledigte sie mit Widerwillen. Die Backofen-Pommes-Frites, die sie machte, waren oft verbrannt, und die Bohnen waren kalt. Sie nahm uns nirgendwo mit hin und traf auch keine neuen Menschen, und wenn Colin nicht da war, hing sie meistens auf dem Sofa herum und schaute Fernsehen oder schlief in ihrem Bett. Die Folge war, dass ich mich unglücklich und einsam fühlte.
Eines Sonntagmorgens, erst wenige Monate nach unserem Umzug, kam ich zu dem Schluss, jetzt sei es genug. Ich wollte mich aufmachen und meinen Vater finden. Daher stopfte ich ein paar Kleidungsstücke in eine Plastiktüte, zog meinen grauen Mantel an und ging nach unten. Mama schaute kurz vom Fernseher auf – sie rauchte und sah Live & Kicking, während meine Schwester durch das Zimmer watschelte. Mamas Blick richtete sich auf die Tüte in meiner Hand.
»Wohin willst du?«, fragte sie.
»Ich will bei Papa wohnen.«
Ich sagte nicht, was ich bei mir dachte: dass ich sie nicht mehr mochte. Dass sie nicht nett zu mir war und auch zu faul zu sein schien, um irgendetwas für mich und meine Schwestern zu tun.
»Na gut«, sagte sie, »ich werde das regeln.«
Ich brachte die Tüte mit der Kleidung in den Flur und setzte mich in meinem Mantel auf das Sofa im Wohnzimmer, bereit zum Aufbruch. Auch wenn es mich überraschte, wie ruhig sie reagierte, glaubte ich wirklich, Mama würde mir helfen, zu meinem Vater zu gelangen. Sie stand auch tatsächlich auf und ging in die Küche, wo ich sie leise telefonieren hörte. Doch ungefähr eine Stunde später erschien dieser seltsame Mann namens Colin im Haus und setzte sich neben mich aufs Sofa.
Wie beim ersten Mal, als ich ihn sah, fielen mir die Lücken in seinem Gebiss auf, sobald er zu reden begann:
»Also, ich habe mit deiner Mama gesprochen. Sag mir, weshalb willst du zu deinem Papa?«
Er lehnte sich mit seinem langen Oberkörper ins Sofa zurück, sodass ich mich umdrehen musste, um ihn anschauen zu können.
»Einfach so«, erwiderte ich. »Ich möchte meinen Papa sehen. Mir gefällt es in London. Hier gefällt es mir nicht.«
»Nun, weißt du, wenn du nach London willst, dann ist das in Ordnung«, sagte Colin und zog eine Zigarette aus der Packung, die er aus der Jackentasche genommen hatte. »Es ist deine Entscheidung, und ich bringe dich selbst sofort dorthin, wenn du willst. Wir fahren mit meinem Auto. Heute.«
Dann schaute er mich erwartungsvoll an, als brauchte ich nur das Zauberwort zu sagen, und er würde aufspringen und mich nach London begleiten. Doch ich ahnte, dass da ein Haken war. Er klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie sich mit einem schwarzen Plastikfeuerzeug an, das er aus dem Trainingsanzug hervorgeholt hatte, und nahm einen kräftigen Zug.
»Aber du weißt, dass es schrecklich sein wird, bei deinem Papa zu wohnen.« Colin blies mir eine dichte Rauchwolke ins Gesicht. »Die Sache ist die, dass sich dein Papa nicht wirklich ordentlich um dich kümmern wird. Nicht wie deine Mama. Er wird keine Lust haben, für dich zu sorgen, dir Essen zu kochen, deine Kleidung zu waschen und dich zur Schule zu bringen. Aber wie gesagt, die Entscheidung liegt bei dir, und wenn du willst, bringe ich dich jetzt hin.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte – ich wollte weg und zu meinem Papa. Ich glaubte, dass mein Vater mich liebte. Doch ich hatte schon seit geraumer Zeit nichts mehr von ihm gehört, und durch die Art, wie Colin zu mir sprach, fing ich an, an meinen Gefühlen zu zweifeln. Schließlich konnte ich mich nicht erinnern, wann Papa zum letzten Mal an einem Samstagabend mit mir hatte telefonieren wollen. Vielleicht hatte Colin Recht; vielleicht würde sich mein Vater wirklich nicht richtig um mich kümmern. Er hatte ja jetzt eine andere Familie. Und wenn ich wegging, wie würde ich es ohne meine Mutter schaffen?
Colin fixierte mich, eine Augenbraue hob sich in Erwartung einer Antwort. Er trug dieselbe Trainingshose wie beim ersten Mal, dieselbe Lederjacke, heute war es nur ein anderes Fußballtrikot.
»Nun? Möchtest du, dass ich dich jetzt zu deinem Papa fahre?«
Was er sagte, klang weniger wie eine Frage, sondern wie eine Drohung. Ich fühlte mich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Ich schaute zu meiner Mutter hoch, die mit verschränkten Armen in der Ecke stand, uns beobachtete und kein Wort sagte. Weshalb redete sie nicht? Ich verstand es nicht.
Sag etwas!, schrie ich sie im Geiste an. SAGENDLICHETWAS!
Aber nein, sie stand einfach nur da und beäugte mich. Ich saß in der Zwickmühle und wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wollte meinen Papa wirklich wiedersehen. Zumindest wollte ich mit ihm reden, doch ich wusste nicht, wie ich diesem Fremden das erklären sollte. Ich war mir doch noch nicht mal sicher, was Colin mit meinem Leben zu tun hatte. Wo war Alan? Wo waren Oma und Opa? Mir fiel es schwer, nicht in Tränen auszubrechen.
Ich spürte nur Angst. Angst vor diesem Mann und Angst davor, Mama zu verlassen. Was, wenn Colin Recht behielt und Papa sich wirklich nicht um mich kümmerte? Wer würde mich dann versorgen?
»Willst du weg?«, fragte er erneut.
Ich schüttelte den Kopf.
»Dann bleibst du also hier?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Ich, äh, ich glaube, ich bleibe hier.«
»Gutes Mädchen. Ich finde, du hast die richtige Entscheidung getroffen.«
Dann schlug er auf das Sofapolster, als wolle er damit anzeigen, dass die Sache nun klar und unser Gespräch beendet sei. Danach erhob er sich und marschierte in die Küche, mit meiner Mutter im Schlepptau.
Nachdem er schließlich gegangen war, fühlte ich mich verwirrt und wütend. Ich hatte die Chance gehabt, von hier zu verschwinden, doch er hatte mich überzeugt zu bleiben. Ich wollte wirklich weg, aber ich hatte zu viel Angst. Ich holte die Tüte mit den Kleidern, ging wieder nach oben, und als ich die Tür meines Schlafzimmers erreichte, begann ich zu weinen. Ich war immer noch unglücklich, sogar schlimmer als zuvor, denn jetzt glaubte ich nicht, dass mein Papa mich noch liebte. Und ich war hier endgültig gefangen, ohne Hoffnung auf ein Entkommen.
Anfangs zogen wir häufig um, doch schließlich, nach einem Jahr, erhielten wir unsere eigene Sozialwohnung in einer kleinen Sackgasse namens Clos Yr Onnen. Diesen Straßennamen konnte ich nie aussprechen. Anscheinend war das die walisische Bezeichnung für Eschenbaum-Sackgasse. Seltsam war, dass die Wohnung direkt neben Colins Haus lag. Erst als wir einzogen, kam ich dahinter, dass er eine eigene Familie hatte. Es gab da seine Frau Elaine, die nett und mütterlich war und herrliches Essen kochte, sowie mehrere Söhne, die alle erheblich älter waren als ich. Außerdem war da noch eine Tochter, Hope, die ich schon in der Schule gesehen hatte, aber sie war eine Klasse über mir, und wir hatten noch nie miteinander gesprochen.
Als ich Hope kennenlernte, stand ich bei uns im Vorgarten, und sie tauchte plötzlich aus einem Loch in der Hecke auf. Das Loch führte zu einer Gasse, die man als Abkürzung zur Hauptstraße nehmen konnte. Auf jeder Seite der kleinen Straße standen jeweils zwanzig Häuser. Jemand hatte ihr den Spitznamen »Die Vierziger« gegeben.
»Hallo!«, rief Hope mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Sie war etwa so groß wie ich, hatte langes honigblondes Haar und sah sehr hübsch aus. Ich mochte sie auf Anhieb, mit ihrem zu einem wippenden Pferdeschwanz zurückgebundenen Haar, dem offenen Lachen und den glänzenden Augen.
»Hi«, sagte ich schüchtern.
»Ihr seid hier also direkt neben uns eingezogen?« Sie deutete mit dem Kopf auf unsere Doppelhaushälfte.
Ich nickte.
»Also, hast du Lust, reinzukommen und in meinem Zimmer zu spielen?«, fragte sie, und schon verschwand sie in ihrem Haus.
Neugierig folgte ich ihr. Drinnen war das Haus genauso geschnitten wie unseres. Von der Haustür ging es in eine Diele mit ebenerdiger Toilette, und auf der linken Seite lag das Wohnzimmer. Die Küche befand sich am Ende des Flurs, und oben gab es zwei Schlafzimmer, das Bad und einen Abstellraum. Hope hatte den Abstellraum für sich alleine, mit einem coolen Ausziehbett und Spielsachen in Hülle und Fülle. Es war die größte Ansammlung von Spielzeug, die ich je gesehen hatte. Plüschtiere und andere Figuren turnten auf Regalen, lugten aus Schubladen hervor und kletterten in ihrem Kleiderschrank herum. Sie besaß Dutzende Ausgaben von Mein Kleines Pony, Kuscheltiere und jede nur erdenkliche Barbiepuppe, einschließlich sämtlicher Accessoires. Die gesamte Barbie-Kleiderkollektion stand bei ihr rum: das Haus, Auto, Kutsche, einfach alles! Es war, als sei ich im größten Spielzeugladen der Welt gelandet.
»Woher hast du das alles?«, flüsterte ich ehrfürchtig, während ich versuchte, Barbies Arm durch dem Ärmel eines rosaroten paillettenbesetzten Ballkleides zu ziehen.
»Mein Vater besorgt mir die Sachen«, sagte sie lässig. »Papa bekommt alles, was ich haben will.«
Und weiß Gott: Sie hatte Recht. Als Nesthäkchen – mit all den Jungen, die vor ihr gekommen waren – war Hope die Herrscherin im Haus und ihres Vaters Augapfel. Es gab nichts, das er nicht für sie getan hätte.
Seit dem Moment, da ich Hope getroffen hatte, änderte sich mein Leben zum Besseren. Es dauerte nicht lange, bis ich total vergessen hatte, dass ich hatte fortlaufen wollen, und auch dieses seltsame Zusammentreffen mit Colin bei Kerzenschein verblasste. Jetzt begann ein neues Leben – Mama, Olivia und ich waren Teil von mehr als nur unserer kleinen Familie. Hopes Vater war der Leiter unserer Kirche, die sich Kirche der BPH nannte. Nie erklärte mir jemand, wofür das BPH eigentlich stand. Außer Hopes Familie und uns gab es noch zwei Frauen, die in unserer Sackgasse wohnten und ebenfalls zur Kirche gehörten. Außerdem waren da noch zwei weitere Familien, die in der Nähe lebten. So war es seit unserem Umzug in die Clos Yr Onnen mit meiner Einsamkeit vorbei.
Sandra wohnte auf der anderen Straßenseite, und von unserer Wohnung aus konnte ich ihr Haus sehen. Sie war nett und freundlich. Shelley hingegen wohnte am anderen Ende der Sackgasse, sie war laut und herrschsüchtig. In ihrem Wesen erinnerte sie mich an einen Mann. Sie hatten Colin in London kennengelernt, und mit der Zeit erfuhr ich, dass sie sich dort eine Zeit lang getroffen und dann gleichzeitig nach Wales umgezogen waren.
Außerdem gab es noch die anderen Kirchenmitglieder, die nicht in der Sackgasse wohnten, sich aber dennoch ständig in der Nähe aufhielten. Da war Orla, eine kleine Frau mit Brille, die zwei Töchter hatte – Millie und Fiona. Millie war so alt wie ich. Sie sah sehr sportlich und groß aus, während ihre ein Jahr ältere Schwester Fiona eher zurückhaltend war. Sie hatten außerdem noch einen Bruder, Thomas, den ich nur gelegentlich zu Gesicht bekam – er war ungefähr fünf Jahre älter als ich. Dann lernte ich noch Griff kennen, einen großen Kerl mit wucherndem Bart, der Colin verehrte. Griffs Sohn Pete hatte eine Behinderung, doch die war ihm nicht direkt anzusehen. Pete hatte Lernschwierigkeiten, war aber richtig süß, und ich beschäftigte mich gerne mit ihm, denn welches Spiel man auch mit ihm begann, er ließ einen immer gewinnen. Und er hatte das lustigste Lachen weit und breit.
Vom ersten Moment an waren die Familien der Kirche die ganze Zeit zusammen. Es gab also ständig Horden von Kindern, mit denen ich spielen konnte. Für mich war es so sehr viel angenehmer, als mit meiner Mutter ständig eingesperrt zu sein. Manchmal hatte ich das Gefühl, mehr Zeit in Hopes Haus zu verbringen als in unserer Wohnung. Es fiel mir auch leichter, ihre Mutter Elaine um etwas zu bitten als meine eigene. Ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen – wenn ich Hunger hatte, konnte ich zu Hope gehen und bekam dort etwas zu essen.
Anfangs betraten Hope und ich unsere Häuser jeweils durch die Haustür, doch nach einiger Zeit beseitigte Colin die Hecke zwischen unseren Gärten, und wir konnten über die Rückseite in die Häuser gelangen. Sehr schnell waren wir unzertrennlich. Hope war mehr als eine Freundin für mich; sie war eher eine Schwester, und die Kirche wurde zu meiner neuen Familie. Colin war nicht länger der seltsame, angsteinflößende Mann unseres ersten Aufeinandertreffens – er war der Vater meiner besten Freundin, jemand, der es sich gerne gut gehen ließ.
Besondere Feierlichkeiten wurden gemeinsam begangen. Colins Familie veranstaltete die Festtagsessen zu Weihnachten und Ostern und fuhr Braten im großen Stil auf, danach gab es von Elaine gebackenen Kuchen. Im Sommer baute Colin in unserem gemeinsamen Garten eine Hüpfburg auf, und am Abend wurde gegrillt. Colins Lieblingsfest des Jahres aber war Halloween. Halloween war etwas ganz Besonderes für ihn.
Jedes Jahr verkleideten wir uns und machten uns zu einer großen Party bei Colin auf. Im ersten Jahr ging ich als Hexe. Als ich damals das Haus betrat, konnte ich gar nicht glauben, was ich sah. Alles war mit künstlichen Spinnweben drapiert, Fledermäuse hingen an den Türrahmen, an den Wänden klebte künstliches Blut. In der Diele schaukelte ein riesiges Skelett. Das war für mich alles neu. Elaine hatte Unmengen herrliche Kuchen gebacken, es gab Musik und Tanz, und alle Kinder durften lange aufbleiben. Natürlich waren nur die Familien der Kirche dort, und niemand trank Alkohol. Das war eine der Regeln der Kirche, doch das machte uns nichts aus. Später veranstalteten wir Kinder eine Talentshow für die Erwachsenen. Hope und ich führten zusammen eine Tanznummer vor, und wir gewannen!