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Wolzogens gesellschaftskritischer Roman zeigt die Intrigen und Ränkespiele an einem typischen deutschen Fürstenhof des 19. Jahrhunderts auf.
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Seitenzahl: 414
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Der Thronfolger
Ernst von Wolzogen
Inhalt:
Ernst von Wolzogen – Biografie und Bibliografie
Der Thronfolger
Erstes Kapitel. In welchem die Katz eine Nase und die allgemeine Neugier reichlich Nahrung bekommt. Ein Stern geht auf.
Zweites Kapitel. Näheres über den Stern und seine Umwelt. Hans Jochen wird ausgeholt und der Thronfolger bekennt Farbe.
Drittes Kapitel. Treysas ziehen. Stillleben in der Hofjägerei.
Viertes Kapitel. Handelt von Schlittenrecht und anderem Unfug mehr.
Fünftes Kapitel. Handelt von Herbsttrieben, Hof-, Stadt- und Coulissenklatsch.
Sechstes Kapitel. Eine ernste Stunde.
Siebentes Kapitel. Hans Jochen versucht Abschied zu nehmen.
Achtes Kapitel. In welchem sowohl die Liebe der klugen Prinzessin, wie auch die Vorlesung des dicken Kammerherrn ein Ende mit Schrecken nimmt.
Neuntes Kapitel. Im Trauerhause. Zwei Kabinettsschreiben. Wie sie es alle tragen.
Zehntes Kapitel. Ein hoher Kondolenzbesuch
Elftes Kapitel. In welchem der Leser die Bekanntschaft Kospoths des Aelteren macht und Hans Jochen ein Abenteuer mit einer schmählich verkannten kleinen Dame hat.
Zwölftes Kapitel. In welchem die Hochzeitsglocken läuten, das Großherzgl. Hoftheater sich verjüngt und die Katz den Wolf stellt.
Dreizehntes Kapitel. Der Thronfolger benimmt sich auffallend.
Vierzehntes Kapitel. In welchem viel gute Worte in den Wind gesprochen werden.
Fünfzehntes Kapitel. Des alten Jägers letzter Schuß. Abrechnung zwischen zwei Zeitaltern.
Der Thronfolger, E. von Wolzogen
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849639235
www.jazzybee-verlag.de
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Ernst Freiherr von Wolzogen, Schriftsteller, Stiefbruder des vorigen, geb. 23. April 1855 in Breslau, wurde bis zum Tode seiner Mutter (1863), einer Engländerin, ganz als Engländer erzogen, studierte 1876 bis 1879 in Straßburg und Leipzig deutsche Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte und verlebte hierauf mehrere Jahre in Weimar. 1882 ließ er sich in Berlin, später in München nieder, jetzt hat er seinen Wohnsitz in Darmstadt. W. hat sich besonders als munterer, leichtflüssiger Erzähler, der in maßvoller Weise der modernen realistischen Richtung Rechnung trägt, und auch als Lustspieldichter vorteilhaft bekannt gemacht. Es erschienen von ihm die (teilweise oft ausgelegten) Erzählungen und Romane: »Um 13 Uhr in der Christnacht« (Leipz. 1879), »Immakulata« (das. 1881), »Der Mieter des Herrn Thaddäus« (das. 1886), »Heiteres und Weiteres« (Stuttg. 1886), »Basilla«, ein »Thüringer Roman« (das. 1887), »Die rote Franz« (Berl. 1888), »Er photographiert«, Humoreske (das. 1890), »Erlebtes, Erlauschtes und Erlogenes« (das. 1892), »Die Entgleisten« (das. 1894), »Das gute Krokodil und andre Geschichten« (das. 1893), »Fahnenflucht« (das. 1894), »Ecce Ego. Erst komme ich« (das. 1895), »Die Gloriahose« (das. 1897), »Geschichten von lieben süßen Mädeln« (das. 1897), »Vom Peperl und andern Raritäten« (Münch. 1897), »Das Wunderbare« (Berl. 1898), »Das dritte Geschlecht« (das. 1899, 150. Tausend 1903), »Was Onkel Oskar mit seiner Schwiegermutter in Amerika passierte« (das. 1904), »Seltsame Geschichten« (das. 1906), »Der Topf der Danaiden« (das. 1906), »Der Bibelhase« (Stuttg. 1908); ferner (seit 1888) in »Engelhorns Romanbibliothek«: »Die Kinder der Exzellenz«, »Die tolle Komtesse«, »Die kühle Blonde«, »Blau-Blut« (3 Bde.), »Die Erbschleicherinnen«, »Der Thronfolger«, »Der Kraft-Mayr«, ein humoristischer Musikantenroman, dem Andenken Franz Liszts gewidmet (1897, 2 Bde.; als Lustspiel bearbeitet mit E. Haller, Berl. 1906) und »Die arme Sünderin« (1901, 2 Bde.). Auf dramatischem Gebiete schrieb W. das Festspiel: »Das Gastgeschenk der Phantasie« (1882), die Lustspiele: »Der letzte Zopf« (1884), »Die Kinder der Exzellenz« (mit W. Schumann, 1890), »Das Lumpengesindel«, Tragikomödie (Berl. 1892, 2. Aufl. 1902), »Ein unbeschriebenes Blatt« (1896), »Unjamwewe« (1897), die Schauspiele: »Daniela Weert« (Berl. 1894), »Der Bastard« (1903); die Operntexte: »Feuersnot« (Berl. 1901, 9. Aufl. 1902; in Musik gesetzt von Richard Strauß), »Die bösen Buben von Sevilla« (1903) und »Die Bäder von Lucca« (1903, nach Heine). Seine Gedichte veröffentlichte W. u. d. T.: »Verse aus meinem Leben« (Berl. 1907); mit seiner Gattin Elsa, geborne Seemann (geb. 5. Aug. 1876 in Dresden), verfaßte er das »Eheliche Andichtbüchlein« (das. 1903). Außerdem veröffentlichte W. noch biographisch-kritische Studien: »George Eliot«, »Wilkie Collins« (beide Leipz. 1885), die Flugschrift: »Linksum kehrt schwenkt-Trab. Ein ernstes Mahnwort an die herrschenden Klassen« (1.–4. Aufl., Berl. 1895), »Ansichten und Aussichten. Gesammelte Studien über Musik, Literatur und Theater« (das. 1908) und gab die »Eigene Lebensbeschreibung des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen« (Leipz. 1885; 2. Aufl., Berl. 1907) heraus. Ende der 1890er Jahre schuf W. das sogen. Überbrettl (s. d.) und veranstaltete Aufführungen in zahlreichen deutschen Städten; auch setzt er sie noch jetzt als musikalisch-deklamatorische Unterhaltungen fort, wobei ihn seine Gattin durch ihren eindrucksvollen Vortrag von Liedern zur Laute unterstützt.
Der weiße Saal des großherzoglichen Schlosses erstrahlte im Glanze mehrerer hundert Wachskerzen. In den unzähligen Prismen der krystallenen Kronleuchter brach sich ihr mildes Licht und auf dem milchweißen Marmor der Säulenreihen, die sich an beiden Schmalseiten des herrlichen Prunkraumes hinzogen, auf den Spiegelflächen zwischen den hohen Bogenfenstern, wie auf dem eisglatten Fußboden zitterte der Wiederschein in leisem Wellenspiele. Und weiter zerstob die Lichtflut in Strahlenbüschel und lustiges Funkenfeuerwerk, wo es sich in dem Brillantschmuck der Damen, in den Goldstickereien der Uniformen und in dem blitzenden Ordensfirmamente verfing, womit der größte Teil der Herren vom Hofe sich festlich brüsten konnte.
Es galt die Feier des Neujahrstages. Am Vormittage hatte für die Herren eine Gratulationscour stattgefunden. Für den Abend war die ganze Hofgesellschaft der Residenz samt den hervorragenderen Vertretern der Kunst und Wissenschaft des engeren Vaterländchens, die Offiziere benachbarter Garnisonen, sowie endlich diejenigen Mitglieder des eingeborenen Landadels, welche eine Hofcharge bekleideten, zum Konzert eingeladen. Dieses Hofkonzert am Neujahrsabend war für die gesamte adlige Gesellschaft des Großherzogtums ein bedeutungsvoller Tag, dem besonders die Herzen der Damenwelt mit fiebernder Erwartung entgegenzuschlagen pflegten. Altem Herkommen gemäß wurden nämlich bei dieser Gelegenheit die jungen Mädchen, die das ball- und heiratsfähige Alter erreicht hatten, den höchsten Herrschaften vorgestellt und dadurch feierlichst als in die Gesellschaft aufgenommen erklärt.
Außer dieser alljährlich wiederkehrenden Aufregung gab es aber diesmal noch einen ganz besonderen Anlaß zu ungewöhnlicher Spannung der Erwartung. Seine Königliche Hoheit der Erbgroßherzog, welcher erst in den Weihnachtsfeiertagen von einer fast zwei Jahre währenden Bildungsreise heimgekehrt war, wollte sich heute zum erstenmal wieder in dem größeren Kreise der Hofgesellschaft sehen lassen. Eigentümliche Gerüchte von einer seltsamen Wandlung, die durch jene Reise in dem Wesen ihres jungen Thronfolgers vorgegangen, waren durch die Herren, welche bereits den Vorzug gehabt hatten, mit ihm zusammenzukommen, in der Stadt verbreitet worden. Georg Friedrich, hieß es, sei auffallend ernst geworden im Vergleich zu seiner früheren kavaliermäßig oberflächlichen Art und Weise. Bei dem Liebesmahl im Offizierkasino, zu welchem er die Einladung huldvollst angenommen, habe er sich zwar kameradschaftlich ungezwungen, aber durchaus nicht mehr in jener etwas burschikosen, die Vertraulichkeit herausfordernden Weise von früher benommen. Er habe recht beredt von seinen Reisen, besonders von seinem Aufenthalt im Orient, zu erzählen gewußt, aber die frivolen Anspielungen des gemütlichen dicken Majors von Bomst mit einer so kalten Entschiedenheit zurückgewiesen, daß alles starr gewesen sei. Auch hätten er und besonders sein Reisebegleiter, ein Baron von Kospoth, von dem kein Mensch recht etwas wisse und der nicht einmal Reserveoffizier sei, über gewisse exotische Verhältnisse Ansichten geäußert, welche denen, die ein guter Christ und Staatsbürger, besonders aber einer von Adel, zu hegen verpflichtet sei, bedenklich widersprochen hätten. Man wisse vorderhand noch gar nicht, wie man sich in Zukunft gegen den Erbgroßherzog zu verhalten haben werde – jedenfalls habe sein erstes Auftreten unter den Offizieren eine unbehaglich gespannte Stimmung erzeugt.
Die Neugier der Damenwelt war durch diese Aussprengungen in höchstem Grade erregt. Hatte sie sich vorher nur gefragt: wie wird der Prinz aussehen, wird ihn die Tropensonne recht braun gebrannt, wird er uns, wie er versprach, etwas Schönes mitgebracht haben? so stieg jetzt der bange Zweifel in so manchem jungen Busen auf, ob er überhaupt noch als der allzeit verliebte Schäferprinz zurückgekehrt sei, mit dem sich früher ein so gefährlich süßes Spiel treiben ließ. Es hatten dem galanten, bei Antritt seiner Reise erst zweiundzwanzigjährigen Erbgroßherzog nicht nur etwelche kleine Bürgermädchen nachgeweint, mit denen er etwas weit gegangen war; nein, es hatten auch einige Fräulein aus der Hofgesellschaft während seiner langen Abwesenheit mit bangem Seufzen und heimlichem Erröten sein gedacht. Wie mancher hatte er nicht beim Tanz oder beim Eislauf gar berauschende Heimlichkeiten in das angstvoll lauschende Ohr geflüstert, Dinge, die zu sagen sie keinem andern Kavalier verstattet hätten – aber freilich, mit einem so hochgeborenen Anbeter muß man ja wohl oder übel eine Ausnahme machen! Und zudem, man konnte nicht wissen, wozu es am Ende doch gut war. Die Beispiele von Neigungsheiraten, ja selbst von Thronentsagungen erlauchter Sprößlinge fürstlicher Häuser wurden ja gerade in der neuesten Geschichte immer weniger selten.
Da war besonders das Fräulein Wally von Katz, die jüngste Hofdame der Prinzessin Eleonore, welche in süßer Erinnerung der empfangenen unzweideutigen Beweise zärtlichster Gewogenheit von seiten des Thronfolgers mit Herzklopfen, aber doch mit kecker Zuversicht die Gelegenheit zu einer Aussprache mit dem angeschwärmten Prinzen herbeisehnte. Diese Sehnsucht hatte sie sogar vermocht, auf die Nachricht von der überraschenden Ankunft des Prinzen hin, den Weihnachtsurlaub abzukürzen und sich an der Neujahrsfestlichkeit zu beteiligen, trotzdem sie sich noch gar nicht zum Dienst zurückgemeldet hatte. Wie ein aufgeregtes Vögelchen im Bauer hüpfte und schwirrte das zierliche, kleine Fräulein, das sich wohlweislich einen Eckplatz gesichert hatte, in dem Mittelgange zwischen den Stuhlreihen hin und her, ihre alten Freunde und Freundinnen mit kleinen Neckereien begrüßend und mit affektiert naiver Dreistigkeit die neuen Erscheinungen musternd. Nur ein einziges unter diesen jungen Mädchen erschien ihrem Scharfblick als möglicherweise gefahrdrohend, und das war dasselbe junge Mädchen, welches sofort bei seinem Eintritt aller Blicke auf sich gelenkt hatte.
Da saß sie an der Seite ihres Vaters, des schneeweißen Generals von Treysa, und blickte mit ihren großen braunen Augen aufmerksam um sich, wie um die vielen fremden Gesichter vorläufig in einige wenige Klassen einzuordnen. Da sie zufällig zwischen lauter Herrschaften saß, bei denen ihr Vater sie noch nicht eingeführt hatte, so wurde sie nicht ins Gespräch gezogen, und der alte General neben ihr blickte auch unter seinen buschigen weißen Brauen so drohend hervor, daß sich jedermann von einem nicht gewünschten Annäherungsversuche abgeschreckt fühlen mußte. Desto eifriger richteten sich aus der Ferne alle bewaffneten und unbewaffneten Augen auf das Fräulein von Treysa, und die Herrenwelt zum mindesten war darin einig, daß hier ein neuer Stern am Himmel des großherzoglichen Hofes im Aufgehen begriffen sei.
»Alle Wetter!« schnalzte der dicke Kammerherr von der Rast, dessen feucht schimmernde Aeuglein schon geraume Zeit in stummem Entzücken auf dem weißen Nacken, den weich gerundeten Schultern und recht üppigen Oberarmen der jungen Schönheit geruht hatten, und legte dabei seine dicken, kurzen Finger um den Arm eines neben ihm stehenden Infanteriehauptmanns. »Was sagen Sie, Kapitän? Hören Sie, mir wird für meinen behaglichen Witwerstand bange! Dieser alte Eisbär von einem Papa verdiente nach Sibirien geschickt zu werden dafür, daß er uns seinen Schatz so lange vorenthalten hat. Das Mädel ist doch entschieden schon ein paar Jahre ballreif. Sehen Sie bloß diese saftige Fülle – Pfirsich, ganz Pfirsich!« Und dabei kniff er die Aeuglein zusammen und sog die Luft durch den gespitzten Mund ein, wie wenn er den Saft der gedachten Frucht einschlürfte.
»Wässert Ihnen schon wieder der Mund, alter Faun?« versetzte der Hauptmann, dessen angenehmes Soldatengesicht die Verachtung, die er im Grunde für diesen feisten Schranzen mit dem ewigen satten Nachtischlächeln hegte, nicht ganz verbergen konnte. »Sagen Sie mal, dieser alte General von Treysa ist ja wohl zu den seligen Bundestagszeiten Höchstkommandierender unsres Kontingents gewesen?«
»Ja gewiß! In der grünen Galerie können Sie sein Porträt aus seinen Glanztagen bewundern. Erinnern Sie sich nicht? Spinatgrüner Waffenrock mit kolossalen goldenen Epaulettes und einem gestickten Kragen, zwei Handbreiten hoch, ein glattrasiertes strenges Gesicht mit ein Paar feurigen Augen darin und auf dem Kopfe ein Zweimaster mit einem riesigen Pompon darauf, der vom Rahmen mitten durchschnitten wird. Ist Ihnen denn das Bild noch nicht aufgefallen? Ich dächte doch, die Aehnlichkeit ...« Herr von der Rast verzog seine wulstigen Lippen zu dem gewohnten breiten Lächeln und fuhr, als der Hauptmann die Achseln zuckte, sich seinem Ohre nähernd, fort: »Man merkt es recht, daß Sie aus dem Auslande kommen, Sie Preuße, Sie! In unsrer vaterländischen Geschichte scheinen Sie noch gar nicht bewandert. O, ich kann Ihnen sagen, es kommen recht pikante Passagen darin vor! Der alte Treysa ist nämlich sozusagen ein Onkel unsres allergnädigsten Herrn – ein Sohn seines hochseligen Großvaters und der damals berühmten Sängerin Demoiselle Caffarelli. Als sie in den wohlverdienten Ruhestand trat, schenkte ihr der Herzog Schloß und Herrschaft Treysa da oben im Walde. Ach ja, derartige Schönheiten gehen doch immer nur aus solcher pikanten Blutmischung hervor! Da, da, sehen Sie doch: Jetzt kehrt sie uns ihr Profil zu! Mannifik – was?! Ein Porträt der Caffarelli, von Angelika Kaufmann gemalt, hängt übrigens auch in der grünen Galerie. Wollen wir uns doch mal daraufhin ansehen.«
Unterdessen tuschelte das Fräulein von Katz mit der langaufgeschossenen, hageren Komtesse Murbach.
»Mit neunzehn Jahren schon so dick zu sein!« zischelte die kleine Hofdame – sie meinte natürlich die Melanie von Treysa. »Das heißt, wenn es wirklich wahr ist, daß sie erst neunzehn ist! Ich finde, ihr liegt schon so eine vierundzwanzigjährige Säuerlichkeit um die Mundwinkel. Die hat der alte Brummbär gewiß nur an den Hof gebracht, damit sie sich ihren Ueberfluß ein bißchen abtanzen soll!«
»Ich muß sagen, ich finde es beinahe unanständig!« gab die Murbach zurück, indem sie dabei die schmalen Schultern zusammenzog, so daß die spitzknochigen Achseln mit bedrohlicher Schärfe aus den Aermellöchern des Kleides hervortauchten. Die mitleidlose Hofsitte zwang diese arme Komtesse, bei solchen festlichen Gelegenheiten als ein lebendiger Protest gegen die Verschwendungssucht der Natur aufzutreten, und die bösen Lieutenants hängten ihr den Spottnamen »Mene Tekel« an, was bekanntlich bedeutet: Gewogen und zu leicht befunden!
Wally von Katz hatte selbstverständlich nicht ohne eine kleine boshafte Nebenabsicht gerade die Murbach zu einer Meinungsäußerung über die frische Fülle der neuen Erscheinung herausgefordert. Um der entrüsteten Komtesse nicht ins Gesicht zu lachen, schwirrte sie davon und begrüßte auf der andern Seite den zierlichen Lieutenant von Ungerstein, um sich von ihm Auskunft zu holen über die interessante Erscheinung der Herrenwelt, den jungen Freund des Thronfolgers, Baron Kospoth, welchen sie just einsam an einer Säule nahe dem Eingang stehen sah.
Herr von Ungerstein hatte eben seinen hochwichtigen Bericht über den Verlauf des neulichen Liebesmahles beendet, als das Aufpochen der Marschallstäbe das Herannahen der höchsten Herrschaften mit ihrem Gefolge verkündete. Das Fräulein von Katz huschte wie ein Schulmädchen, das durch den Eintritt der Lehrerin überrascht wird, auf ihren Platz zurück. Der Herr Hofkapellmeister gab das Zeichen zum dreimaligen Tusch, und unter dem Geschmetter der Trompeten, den Läufern und Trillern der Holzbläser und dem Wirbeln der Pauken betraten die Herrschaften den Festsaal.
Die beiden Hofmarschälle eröffneten den Zug mit ihren Stäben; ihnen folgten die sechs Pagen, hübsche Jungen in scharlachroten Röcken, weißseidenen Kniehosen und Strümpfen, die mit Schwan verbrämten Dreimaster im Arme tragend, die zierlichen Galanteriedegen an dem breiten Bandelier zur Linken; dann kam der Großherzog, seine hohe Gemahlin am Arme führend – das »hohe« jedoch nur bildlich verstanden, denn die erlauchte Landesmutter war kaum von Mittelgröße! unmittelbar hinter dem Herrscher schritt dessen Sohn und Erbe Georg Friedrich, ihm zur Seite seine noch unvermählte Schwester, die Prinzessin Eleonore; einsam, würdevoll, klein und mißvergnügt wandelte die Prinzessin Georgine, das letzte Reis eines im Aussterben begriffenen Seitenzweiges des großherzoglichen Hauses, hinter ihren souveränen Anverwandten her, und den Beschluß machte das Gefolge von Adjutanten, Kammerherren, Staatsdamen und Fräulein.
Die höchsten Herrschaften machten vor der glänzenden Versammlung der Gäste Front und begrüßten sie durch huldvolle Verneigungen nach allen Seiten, welche von der andern Seite durch dreimalige tiefe Verbeugung erwidert wurde – wobei es die Damen nur schwer vermeiden konnten sich nicht zugleich dreimal auf ihre Stühle zu setzen. Dann traten die Pagen hinter die Sessel der Herrschaften und überreichten, nachdem jene Platz genommen, das Programm der Musikaufführung. Ein allgemeines Rücken der Stühle, ein Rauschen der Kleider, Klirren der Sporen, Rasseln und Klappern der Säbel – dann trat allgemeine Stille ein; der Großherzog nickte dem Hofkapellmeister freundlich zu und das Orchester begann die Ouvertüre zu »Euryanthe«.
Von der großen Mehrheit der Geladenen wurde die Musik bei solchen Gelegenheiten weniger als eine angenehme Unterhaltung, denn als eine Störung angenehmer Unterhaltung angesehen. Webers herrliches Musikstück war zudem jedermann so bekannt, daß bereits nach wenigen Takten zahlreiche abgebrochene Gespräche wieder angeknüpft wurden.
Prinz Usingen, der Flügeladjutant des Großherzogs, eine hohe, echt vornehme Erscheinung, neigte sich zu dem Ohre des neben ihm sitzenden Hoftheaterintendanten Baron von Camp und flüsterte ihm zu: »Sie hatten uns doch für heute die Malten versprochen – und nun sehe ich, daß unsre brave Frau Lindner an deren Stelle uns wieder mit ihrer schrecklich langweiligen Arie aus ›Jessonda‹ erfreuen wird!«
Der dicke kleine Intendant zog seine schwarzen Brauen hoch in die niedrige Stirn herauf und zuckte bedauernd die Achseln. »Ich habe mein Möglichstes gethan, aber Morbis hat natürlich wieder kontreminiert! Jedenfalls hat ihm die biedere Thea zu verstehen gegeben, daß sie notwendig ein neues Armband brauche. Daraufhin ist Seine Excellenz bei Serenissimo dahin vorstellig geworden, daß die Malten horrend teuer sei, während ich positiv weiß, daß sie es schon für die kleine goldene Medaille gethan hätte – und die ist jedenfalls billiger als ein Armband für die Lindner – besonders, wenn es Morbis aussuchen darf!«
»Echt Morbis! Ich glaube, Excellenz warten mit Sehnsucht auf den Hintritt des alten Hanswurstes, um dann Frau Thea samt ihren sechs Kindern heimzuführen!«
Graf Morbis war der Oberhofmarschall, und sein ebenso zärtliches als platonisches Verhältnis zu der schon recht gesetzten Primadonna, der Gattin des Lokalkomikers Lindner, war ein stadtbekanntes und vielbespötteltes. Der Zauber, den diese verblühte Schönheit auf den sonst so unzugänglichen Grafen ausübte, ein Zauber, welcher sogar dessen sehr fest schließendes Portemonnaie zu ihren und ihrer zahlreichen Familie Gunsten nur allzu leicht zu öffnen wußte, war und blieb ein psycho- oder, vielleicht besser gesagt, ein physiologisches Rätsel. Und selbst der Großherzog, der schon lange gern eine jüngere Kraft an Frau Lindners Stelle gesehen hätte, schonte die Schwäche seines treuen Dieners und ließ sich dadurch bewegen, die Pensionierung der kinderreichen Circe immer wieder hinauszuschieben und über die kleinen Theaterintriguen, zu welchen die Gunst des Oberhofmarschalls sie ermutigte, ein Auge zuzudrücken.
In der ersten Pause, während die Orchestermitglieder mit wahrem Hyänenhunger das für sie in einem der Vorzimmer aufgestellte Büffett stürmten, traten die Herrschaften einen Rundgang durch den weißen Saal an, und bei dieser Gelegenheit erfolgte die Vorstellung der bei Hofe neu einzuführenden Damen und Herren.
Die Oberhofmeisterin Gräfin Hendl von Rottenhan ließ ihre scharfen, etwas streng blickenden Augen durch die Reihen der Damen hinschweifen und entbot durch Fächerwink die jungen Fräulein zu sich, welche sie heute der Gunst der erhabenen Landesmutter anempfehlen sollte.
Inzwischen hatte der Großherzog schon selbst die hohe Gestalt und das ungemein charakteristische Gesicht des Generals von Treysa entdeckt und war ihm mit Lebhaftigkeit entgegengeschritten. Noch während der alte Herr sich beeilte, mit seiner Tochter zwischen den Stühlen hindurch auf den freien Mittelgang zu kommen, rief ihm sein gnädiger Fürst zu: »Ah, was seh' ich! Ein seltener Gast! Sind Sie es denn wirklich, mein lieber General? Wissen Sie, daß ich allen Grund hätte, mich ernstlich über Sie zu beklagen? Eine solche Vernachlässigung ... Hahaha!«
Nur den steifen Nacken ein wenig seitwärts hinabgebeugt, stand der alte Kriegsmann in seiner schlotternden, wie aus der Maskengarderobe entliehenen Uniform vor seinem Landesherrn und brummte schier unverständlich in seinen struppigen weißen Bart: »Königliche Hoheit wissen ja – seit Dingsda ... hna! Unsinn! hmummumm ... Siebzig und so weiter! Will mir nicht mehr in den Kopf ... Deutsches Reich und so weiter ... mwa!«
Die Umstehenden spitzten gar sehr die Ohren, um zu verstehen, was der alte Partikularist denn da in seiner wunderlich abgerissenen, von eigentümlich gemummelten und gegrunzten Interjektionen unterbrochenen Redeweise seinem gnädigen Fürsten erwiderte. Und als er wirklich es nicht unterlassen konnte, gleich mit seinen ersten Worten an den wunden Punkt zu rühren, da wandten sich aller Blicke voll spöttischer Neugier auf den Großherzog.
Um nicht noch mehr in Verlegenheit gesetzt zu werden, unterbrach der Fürst rasch das bedenkliche Gestotter des Greises, indem er lächelnd ausrief: »Ah, ich sehe, Sie haben uns da etwas Schönes mitgebracht! Ihre Enkelin?«
»Nein, pardon! meine Tochter – von meiner dritten Frau!« versetzte der Greis, sich stolz aufrichtend. »Meine Frau bittet unterthänigst um Entschuldigung ... hmummumm – sie ist nicht ganz wohl und so weiter. Da mußt' ich schon selbst dran glauben! Die Mädel wollen doch nu mal tanzen und so weiter. Das ist meine einzige Entschuldigung ... mwa! Sonst hätte ich alter Dachs Königliche Hoheit nicht mehr ... Dingsda ... mwa! inkommodiert und so weiter!«
Da der Großherzog selbst über diese überaus komisch hervorgepolterte Rede in ein herzliches Gelächter ausbrach, so fühlten sich auch die umstehenden Herren und Damen berechtigt, ihrer Heiterkeit, wenn auch in höfisch abgedämpfter Weise, die Zügel schießen zu lassen.
Auch Melanie von Treysa lächelte unbefangen über ihres Vaters derbe, unfreiwillig komische Ausdrucksweise und half sich dadurch aufs beste über die Verlegenheit fort, in welche wohl jedes andre junge Mädchen als der Mittelpunkt so allgemeiner Heiterkeit versetzt worden wäre. Mit ihren großen braunen Augen blickte sie unbefangen dem lachenden Landesfürsten gerade ins Gesicht und nötigte ihn dadurch, sie anzureden.
»Mein liebes Fräulein,« sagte der Großherzog, indem er ihr die Hand entgegenstreckte, »ich will hoffen, daß Ihre Tanzlust nicht gar zu bald befriedigt ist, damit wir Zeit gewinnen, Ihren bösen Herrn Vater mit der neuen Ordnung der Dinge zu versöhnen – und auch damit unserm Hofe eine so reizende....« Der galante Fürst kam ins Stottern und suchte vergeblich nach einer passenden Vervollständigung des begonnenen Satzes. Vor dem leuchtenden Kinderblick der schönen Melanie mußte er in einiger Verwirrung die Augen abwenden. Er schaute über seine Schulter hinweg nach seiner Gemahlin, welche eben im Vordergrunde die Vorstellung der jungen Mädchen entgegennahm. »Kommen Sie, lieber General, die Großherzogin wird sich sehr freuen, daß Sie uns Ihre Tochter gebracht haben.« Mit dieser freundlichen Aufforderung, ihm zu folgen, schritt er dem alten Treysa und der schönen Melanie voran dem Kreise seiner Gemahlin zu.
Während der Großherzog und die Großherzogin vor dem Orchesterpodium ihren Cercle hielten, hatten sich die beiden jungen Herrschaften mehr in das Gewühl hineinbegeben, um so eine gerechtere Austeilung fürstlicher Huldbeweise auch an die Gäste niederen Grades vorzunehmen.
Das Fräulein von Katz hatte sich sogleich an ihre Herrin, die Prinzessin Eleonore, herangepirscht und sich eine ganz besonders scherzhafte Wirkung von ihrem plötzlichen Auftauchen versprochen. Die Prinzessin befand sich gerade in einem vertrauten Gespräche mit dem Hofkapellmeister, ihrem Lehrer in der musikalischen Theorie, als die kleine Hofdame an ihr in einiger Entfernung vorüberschritt und dabei in affektierter Aengstlichkeit einen durchaus unvorschriftsmäßigen, schüchternen Knix machte.
»Sie hier, Wally?« rief die Prinzessin und trat einen Schritt auf ihre listig lächelnde Hofspaßmacherin zu. »Sie haben sich ja gar nicht von Urlaub zurückgemeldet.«
»Hoheit verzeihen, ich befinde mich auch nur auf der Durchreise hier, sozusagen inkognito.«
Die Prinzessin wußte nicht recht, wie sie den Scherz des Fräuleins aufnehmen sollte. Sie erwiderte daher ziemlich kühl: »Ja, wie meinen Sie das? Wo wollen Sie denn von hier aus hin? Soviel ich weiß, haben Sie doch außer Ihrer Tante gar keine Verwandte in erreichbarer Nähe.«
»Ich will's nur gleich gestehen, Hoheit,« flüsterte die Katz schüchtern mit gesenkten Augenlidern. »Ich bekam so aufregende Briefe aus der Residenz, daß ich der Neugier nicht widerstehen konnte, hier, wenn ich so sagen darf, geschwind einmal ein bißchen durchs Schlüsselloch zu gucken. Der Löwe des Tages gibt, wie ich höre, leider hier nur ein kurzes Gastspiel – und da mußte ich doch.... Hoheit kennen ja meine Schwäche!«
»Löwe des Tages? Wen meinen Sie damit?« unterbrach sie die Prinzessin, sie mit ihren klugen Augen, die manchmal recht scharf blicken konnten, fest anschauend.
Das Hoffräulein lächelte immer noch und lispelte, der Hoheit näher tretend: »Hans Joachim heißt er ... hihi! Das hab' ich schon heraus, und seinen Geburtstag muß ich heute noch erfahren. Ich habe meine Chronik in der Tasche.« (Das Fräulein von Katz betrieb die Kenntnis der Vornamen und Geburtstage sämtlicher jüngerer Herren der Gesellschaft und im Zusammenhange damit das Abfassen anonymer neckischer Glückwünsche und andrer sinniger Scherze als Lieblingssport.) »Ich kenne bis jetzt leider nur sein Exterieur,« fuhr sie fort, »aber ich muß sagen, die blauen Augen und der tornisterblonde Bart stehen prachtvoll zu seinem berberbraunen Teint. Schade, daß er sich das Haar so schrecklich kurz hat scheren lassen. Sein Schädel sieht ja ordentlich nackt aus. Hoheit sollten ihm entschieden befehlen, künftighin im Fez zu erscheinen.«
»Ich habe dem Baron Kospoth gar nichts zu befehlen,« warf die Prinzessin ziemlich ärgerlich ein.
Die kleine Katz genoß zwar das Vorrecht der Hofnarren, sich allerlei herausnehmen zu dürfen, aber heute hatte sich doch das Maß zum Ueberlaufen gebracht – oder war Prinzessin Eleonore schlechter Laune? Kurz und gut, sie verbat sich sehr entschieden derlei Späße über den Freund ihres Bruders und fügte dann, als das kecke kleine Fräulein immer noch keine ernsthafte Zerknirschung in seinen Mienen zeigte, mit spitzer Betonung hinzu: »Uebrigens sagen Sie doch – wenn Sie sich nicht von Urlaub zurückgemeldet haben, wem verdanken Sie denn da Ihre Einladung für heute?«
Jetzt zeigte der Kobold doch eine recht sehr verdutzte Miene. So hatte ja die Prinzessin sie noch niemals angefahren! Sie war ja so abscheulicher Laune, als hätte ihr Graf Worbis wieder einmal einen seiner unmöglichen Prinzen in Vorschlag gebracht.
»Ich bitte sehr um Entschuldigung, Hoheit,« stotterte Wally von Katz. »Ich glaubte, in meiner Stellung ... dürfte ich wohl ...«
»In Ihrer Stellung dürfen Sie eben nicht glauben, sondern müssen wissen, was sich schickt,« unterbrach sie die Prinzessin streng. »Melden Sie sich morgen bei der Gräfin und machen Sie Ihre Entschuldigungen, so gut Sie können. Dann aber würde ich Ihnen doch raten, Ihren Urlaub vollends bei Ihrer Tante zu genießen!« Bei diesen harten Worten neigte die Prinzessin ein ganz klein wenig das Haupt und schritt davon, um sich dem Kreise ihrer Mutter zuzugesellen.
Ganz verdutzt blickte ihr die Gescholtene nach. Sie preßte die hübschen Lippen fest aufeinander und hatte offenbar Mühe, einige zornige Thränen zu unterdrücken. Da sah sie plötzlich einen drohenden Finger dicht vor ihren Augen: es war der freundliche Hofkapellmeister, welcher die kleine Scene mitangehört hatte und nun, gutmütig spottend, zu ihr trat.
»Ja, ja, kleines Fräulein! Das kommt davon! Mit Prinzessinnen soll man nie sich unterstehen zu scherzen. Hoheit ist sehr entzückt von diesem Baron Kospoth. Sie hat gestern einige Stunden mit ihm musiziert und mir eben erklärt, daß er einen wunderbar warmen Baryton besitze. Also: O rühret, rühret nicht daran!«
»Ach, carissimo maëstro, thun Sie mir nur die einzige Liebe und plaudern Sie nicht aus, was Sie hier eben gehört haben. Denken Sie doch bloß die Blamage – man hat so viele Neider!«
Der Kapellmeister legte den Zeigefinger auf die Lippen und versicherte lächelnd, er sei stumm wie das Grab.
»Wirklich? O, das wäre für einen so liederreichen Mund eine That der Selbstverleugnung – für die meine Dankbarkeit auch keine Grenzen kennen soll!« Mit dieser schmeichelhaften Wendung und einem zärtlichen Blick für den rotnasigen Meister zog sich Wally von Katz zurück. Sie verlor sich in dem Gedränge, das besonders unter den Säulengängen herrschte. Aber gerade als sie um die letzte Säule des linken Ganges herumbiegen wollte, sah sie sich dem Erbgroßherzog gegenüber, der hier im vertrauten Gespräche mit dem Baron Kospoth stand, fast als ob er sich vor der Menge verstecken wollte. Sie hörte gerade noch, wie der junge Baron zu dem Thronfolger sagte: »Dringen Sie nicht in mich, Prinz! Sie wissen, ich passe nicht an den Hof. Ich würde Sie ja auch mit meinen radikalen Anschauungen nur kompromittieren.«
Der Erbgroßherzog räusperte sich kurz und bedeutete dem Freunde, daß er schweigen möge, indem er mit den Augen nach dem jetzt eben sich tief vor ihm verneigenden Fräulein wies, »Ah, sieh da, unser Fräulein von Katz!« redete der Prinz sie leicht errötend an. »Wir haben uns ja noch gar nicht gesehen!« und dabei reichte er ihr ein wenig verlegen, wie es ihr schien, die Hand.
Wie schlug der kleinen Dame das Herz! Nun war die Gelegenheit gekommen, sie mußte Gewißheit darüber haben, ob sie noch dieselbe Stelle im Herzen des Thronfolgers einnehme wie vor seiner Reise. Und sie sah mit ihrem süßesten Blick zu ihm empor und wollte eben etwas erwidern, als der Prinz hastig fortfuhr: »Darf ich Ihnen nicht meinen Freund Baron Kospoth vorstellen? Unser immer heiteres Fräulein von Katz, Hofgrillenverscheucherin meiner Schwester.« Und dann wandte er sich wieder lächelnd an die durch seine kühle Begrüßung jetzt wirklich ernstlich aufgeregte kleine Dame und scherzte: »Denken Sie, mein gnädiges Fräulein, der Baron Kospoth will uns schon wieder verlassen! Er hat alle schnöden Vorurteile des Mittelalters abgestreift, um sich dafür desto fester an ein modernes zu klammern, daß nämlich wir Fürsten samt unsern Höfen und allem, was drum und dran hängt, eine erzlangweilige, in steifen Formen verknöcherte Gesellschaft seien. Ich glaube, es käme nur auf Ihresgleichen an, ihn eines Bessern zu belehren! Ich will einen eigenen Orden für Sie stiften, wenn Sie ihn mir festhalten!«
Wally wollte eben mit Lebhaftigkeit auf den Scherz des Thronfolgers eingehen, als zu ihrem größten Aerger der Adjutant des Erbgroßherzogs, ein zierlicher Husarenlieutenant, Namens Graf Wolf von Bracke, eilfertig herangeklirrt kam, um Georg Friedrich im Namen seiner Schwester nach vorn zu holen.
»Ja, was gibt's denn?« frug der Prinz.
»Die Remonten, Königliche Hoheit,« lächelte Graf Bracke. »Es ist ein süperbes Exemplar darunter, Melanie von Treysa heißt sie.«
»Ah, vortrefflich! Kommen Sie, Kospoth, das müssen Sie auch mitansehen, mit welcher Würde ich die Töchter des Landes willkommen zu heißen verstehe.«
Und die drei Herren schritten rasch davon, ohne Wally von Katz nur noch einen Blick zu gönnen.
Melanie von Treysa gefiel offenbar den höchsten Herrschaften ganz außerordentlich. Die eifersüchtige Damenwelt mußte die Beobachtung machen, daß die Frau Großherzogin mit keiner der Neuvorgestellten sich auch nur annähernd so lange aufgehalten hatte wie mit dieser so plötzlich aufgetauchten Tochter des verschollenen alten Generals. Und die Prinzessin Eleonore, die eben jetzt abseits von dem Gedränge mit dem schönen Mädchen im Gespräche stand, schien gar schon ganz vertraut mit ihr zu sein.
Jetzt trat der Erbgroßherzog an seine Schwester heran, während Baron Kospoth und der Adjutant ein paar Schritte zurückblieben. »Du hast gewünscht?« redete der Prinz seine Schwester an, und dann fügte er mit einem bewundernden Blick auf Fräulein von Treysa rasch hinzu: »Bitte, willst du mich der Dame vorstellen?«
Die Prinzessin erfüllte seinen Wunsch, und dann fuhr sie mit Lebhaftigkeit fort: »Denke dir, Fräulein von Treysa kennt hier keinen Menschen außer einem einzigen, der aber leider noch nicht zu den Unsrigen gehört.« Sie sprach die letzten Worte absichtlich lauter und richtete dabei einen freundlich einladenden Blick auf den Baron Kospoth, der sogleich näher trat.
Melanie wandte sich dem Baron zu und blickte mit einem trotzig schelmischen Lächeln zu ihm empor, als wollte sie sagen: »Ja, schau' mich nur verwundert an, ich bin es wirklich.« Und in seinem Gesichte stand deutlich staunende Ueberraschung zu lesen. Beide blieben sie, die Gegenwart der Herrschaften vergessend, einige Sekunden in stummer Betrachtung einander gegenüber stehen und gleichzeitig streckten sie sich dann auch die Hände zögernd entgegen und ließen sie mit leichtem Druck einen Augenblick ineinander ruhen.
»Ah, ich sehe, Sie sind alte Bekannte,« rief Georg Friedrich, dessen Augen mit unverhohlener Bewunderung auf dem schönen Mädchen ruhten.
»Ich könnte fast sagen Spielkameraden, mein Prinz, obwohl ich sieben Jahre älter bin,« versetzte Kospoth. »Meines Vaters Besitzung Volkramstein liegt kaum eine halbe Stunde von Treysa entfernt – allerdings im Auslande! Aber wir fühlten uns schon damals als Kosmopoliten, Der Herr General pflegte auf seinen täglichen Spazierfahrten mindestens einmal wöchentlich auf Schloß Volkramstein vorzusprechen und seine Kleine mitzubringen. Das arme Kind hatte weit und breit keine Freundinnen ihres Alters, und so war sie denn so gütig, mit mir altem Knaben vorlieb zu nehmen, besonders wenn ihr Stiefbruder, der Kadett, nicht zu Hause war. Der arme Junge ist Siebzig in einer der ersten Schlachten gefallen, und dann hat mich das kleine Fräulein sozusagen an seiner Statt adoptiert.
»Er war der beste Bruder auch nicht!« warf Melanie mit schalkhafter Drohung ein.
»Ja, das mag wohl sein,« lachte Kospoth. »Zudem mußte ich ja auch auf das Gymnasium und dann auf die Universität – und auch das Fräulein von Treysa bezog die hohe Schule des Damentums in Gestalt eines Dresdener Pensionats. Wir sahen uns nur noch in den Ferien gelegentlich. Aber ich hatte das Unglück, ihr immer langweiliger zu werden, während sie. ...«
»Um Gotteswillen versuchen Sie mir kein Kompliment zu machen,« fiel Melanie rasch ein. »Dann müßte ich ja vollends daran zweifeln, daß Sie es selbst sind!«
»Nun, dann sollen Sie hier bei uns Muße finden, sich gegenseitig wieder kennen zu lernen,« nahm Prinzessin Eleonore lächelnd das Wort und dann klopfte sie ihren Bruder mit dem Fächer leicht auf den Arm, um ihn aus seiner bewundernden Versunkenheit aufzuwecken, und fuhr, halb zu Melanie, halb zu dem Baron gewendet, fort: »Welch ein glücklicher Zufall! Haben wir jetzt ein Mittel gefunden, Sie bei uns zu halten, Baron Kospoth? Sie können unmöglich nein sagen angesichts Ihrer reizenden Adoptivschwester! Oder mir könnten auch das Verhältnis umkehren und sagen: Wir behalten Sie als Geisel hier, damit uns Fräulein von Treysa nicht so bald wieder entschlüpft!«
Die beiden sahen sich mit verlegenem Lächeln an und vermochten nicht gleich zu antworten. »Hoheit überschätzen meine Macht gar sehr,« begann endlich Melanie errötend. »Herr von Kospoth ist sehr, sehr eigensinnig!«
»Und Fräulein von Treysa ist sehr ...« Der Baron unterbrach sich, um mit einer lächelnden Verbeugung vor Melanie zu schließen: »Nein, keine Retourkutschen! Sagen wir also – eigen sinnig!«
»Ah, sehr hübsch gesagt!« lachte die Prinzessin, »aber das hilft Ihnen alles nicht, wir liefern Sie eins dem andern mit gebundenen Händen aus und machen eins für das andre haftbar.«
»Ja, mein gnädiges Fräulein,« fiel der Erbgroßherzog ein. »Hans Joachim soll uns den Eid der Treue in Ihre schöne Hand ableisten.« Dabei ergriff er selbst Melanies Rechte, küßte sie auf den Handschuh und ließ dann langsam ihren schönen Arm wieder sinken, indem er ihr dabei tief aufatmend ins Gesicht schaute, um einen Blick von ihr zu erhaschen.
In diesem Augenblicke trat Graf Bracke mit einem verdienten Offizier a. D. an den Erbgroßherzog heran und nötigte ihn dadurch, die Unterhaltung abzubrechen. Auch Prinzeß Eleonore erinnerte sich ihrer fürstlichen Pflichten und verabschiedete sich vorläufig von Kospoth und Melanie ...
Die kleine Katz hatte sich dem Erbgroßherzog nach wieder nach vorn geschlichen und, von einer Marmorsäule gedeckt, die kleine Scene zwischen ihm und dem Fräulein von Treysa sehr gut beobachten können. Kein Blick des Prinzen war ihr entgangen.
Da fühlte sie plötzlich, wie eine kühle Hand ihren bloßen Arm berührte. Sie wandte sich erschrocken um und sah sich dem dicken Kammerherrn von der Rast gegenüber. Natürlich kein andrer als er konnte sich dergleichen herausnehmen!
»Ei der Tausend! Was hat's denn da gegeben?« flüsterte er ihr zu, seinen breiten Mund vertraulich ihrem Ohre nähernd. »Unsre kleine Miesekatz in solcher Aufregung? Und ich glaube gar – Thränen in Ihren süßen Rosinenäuglein!«
Die Treysas wohnten vorläufig noch im Hotel, da sie sich nach keiner Richtung hin binden wollten. Gefiel es ihrer Tochter nicht bei Hofe, fanden die möglichen Epouseurs keine Gnade vor ihren Augen, so gedachten sie nach wenigen Wochen der Residenz wieder den Rücken zu kehren. Sollte sich dagegen Melanie so gefesselt fühlen, daß ein längerer Aufenthalt ihr angenehm und nutzbringend erschien, so wollten sie eine möblierte Wohnung beziehen, wie sie in der Residenz fast stets saisonweise zu vermieten waren. Das weitläufig gebaute alte Hotel »Zum Europäischen Hof« war zwar das teuerste und vornehmste der Stadt, ließ aber doch in seinen Einrichtungen gar manche Bequemlichkeiten neueren Stils vermissen, besonders was die Möblierung der sogenannten Salons betraf, deren Sofas, Fauteuils, Konsolenspiegel, Vertikos u. s. w. meist noch aus jener stil- und geschmacklosen Mahagoniepoche stammten, welche bei uns in Deutschland erst durch den Aufschwung des Kunstgewerbes nach 1870 langsam zu Ende ging.
Dem alten General von Treysa war es nun zwar höchst gleichgültig, ob er sein Nachmittagsschläfchen auf einem Renaissance-, Rokoko- oder sonstwie stilisierten Sofa abhielt; aber daß in den drei Zimmern, die er im Europäischen Hof inne hatte, kein einziges Lotterbett zu finden war, auf dem er sich ordentlich auszustrecken vermochte, das ärgerte ihn denn doch gewaltig. Und noch weit mehr ärgerte es ihn, daß er hier schier den ganzen Tag anständig angezogen bleiben mußte, während er daheim auf Treysa stets in unendlich weiten Beinkleidern von hellem Lodenstoff und eben solchen, zum Teil uralten Joppen einherging und selbstverständlich den Gebrauch all der modernen Marterinstrumente, gesteifter Kragen, Manschetten und Oberhemden mit Entrüstung von sich wies. Er war es gewohnt, den lieben langen Tag die Pfeife oder die leichte Zigarre – das Stück zu fünf Pfennig – nicht ausgehen zu lassen. Hier war es ihm mit Rücksicht auf seine Damen wie auf die etwaigen Besucher streng verboten, im Salon, welcher Empfangszimmer, Boudoir und Schreibzimmer zusammen war, mehr als höchstens zwei Zigarren den Tag über zu rauchen, und zwar mußte das Aroma dieser Zigarren sich auch erst das Placet von Melanies empfindlicher Nase eingeholt haben. Das Schlimmste aber war, daß er hier die Gesellschaft seiner Hunde entbehren mußte, welche auf Schloß Treysa beständig um ihn waren und in seinem Zimmer sogar das behagliche alte Kanapee mit ihm teilen durften. Auch das Jagdwägelchen mit den beiden braunen Wallachen, in welchem er tagtäglich Frau, Tochter und auch wohl die Herren Hunde spazieren zu fahren pflegte, vermißte er schmerzlichst. Kein Wunder, wenn der alte Herr schon nach wenigen Tagen ihres Aufenthaltes den Europäischen wie den Großherzoglichen Hof auf das innigste verwünschte und seine saure Vaterpflicht mit sehr schlecht verhohlenem Mißvergnügen erfüllte.
Unter diesen Umständen empfand er es natürlich um so schmerzlicher, daß seine Gemahlin gleich nach ihrer Ankunft in der Residenz zu kränkeln begonnen hatte und durch hartnäckige Erkältungszustände ans Zimmer gefesselt blieb, so daß er genötigt war, die wichtigsten Besuche mit seiner Tochter allein zu machen und überhaupt den ganzen Tag, ja oft sogar die halben Nächte seinem reizenden Kinde zur Verfügung zu stellen. Er liebte Melanie zärtlichst und gab sich die größtmögliche Mühe, ihr kein Vergnügen zu versagen oder durch seine greisenhafte Grämlichkeit zu verleiden; dafür suchte er sich aber schadlos zu halten, indem er jeden dienstfreien einsamen Augenblick zu höchst erbaulichen Selbstgesprächen benutzte, welche in einer unzusammenhängenden Reihe von kräftigen Soldatenflüchen und geheimnisvollen Grunzlauten bestanden. Proben dieser Art konnte auch, mancher Residenzler zu hören bekommen, der dem alten Herrn bei seinen frühen Spaziergängen im Parke begegnete. Ach, und wie lange konnte die Qual der Entbehrung aller seiner Daseinsfreuden noch dauern! Der außerordentlich herzliche Empfang, der Melanie seitens des gesamten Hofes zu teil geworden war, die glänzende Rolle, die sie gleich bei dem ersten Balle spielte, der sich an jenes Neujahrskonzert angeschlossen, waren dem jungen Mädchen doch zu Kopfe gestiegen und hatten den lebhaftesten Durst in ihr erweckt, den goldnen Freudenbecher bis auf den Grund zu leeren, daraus der erste Schluck ihr gar so köstlich gemundet hatte.
Am Morgen nach dem Balle blieb Melanie bis elf Uhr im Bette liegen. Während sie bei ihrer Toilette war, beratschlagten ihre Eltern im Salon, ob man nun nicht sogleich dem ungemütlichen Hotelleben ein Ende machen und sich irgendwie häuslich einrichten sollte. Die Generalin fühlte sich heute etwas besser und hatte sich in der Erwartung, daß sehr wahrscheinlich manche der jüngeren Herren, die gestern mit Melanie getanzt hatten, ihnen ihren Besuch abstatten würden, dazu aufgerafft, ein gesellschaftsfähiges Gewand anzulegen. Sie bedauerte ungemein, den Triumph ihrer Tochter nicht miterlebt zu haben, und war wenig zufrieden mit dem Bericht des Gemahls, der gerade in Bezug auf den wesentlichsten Punkt, den Eindruck, den Melanie auf die junge Welt gemacht hatte, äußerst unvollkommen ausfiel. Dafür hatte aber auch das Kind trotz aller eignen Müdigkeit noch gestern in später Nacht der Mutter erzählt, was ihm das Wichtigste dünkte: die Begrüßung mit dem Jugendfreunde und die bezaubernde Galanterie des Erbgroßherzogs. Und heute früh hatte die Mutter lange vor dem Bett der tiefschlafenden Tochter gestanden und in dem durch die roten Vorhänge abgedämpften Morgenlicht voll zärtlicher Bewunderung das liebliche Lächeln beobachtet, das gleich dem Wiederschein eines glänzenden Traumglückes über Melanies weiche Züge huschte.
Die Generalin von Treysa war fünfundzwanzig Jahre jünger als ihr Gatte, dessen dritte Frau sie war. Er hatte sie in Paris kennen gelernt, wo sie als Tochter des hannoverschen Gesandten am kaiserlichen Hofe die letzten Maientage ihrer Jugend mit vollen Zügen genoß. Sie hatte die Bewerbung des hohen Fünfzigers – Herr von Treysa war auch damals schon General und befand sich in diplomatischer Sendung in Paris – sie hatte diese seltsame Bewerbung angenommen, weil sie als eine der zahlreichen Töchter nur mäßig begüterter Eltern, und überdies schon am Ausgang der Jugend befindlich, nicht darauf zählen durfte, innerhalb der glänzenden internationalen Gesellschaft des napoleonischen Hofes einen Freier zu finden. Und obwohl von ihrer Seite aus nur auf Grund vernünftiger Ueberlegung und ehrlicher Hochachtung eingegangen, schlug diese ungleiche Ehe dennoch zu beider Glück aus, wie es denn überhaupt für eine Frau von nicht gerade ausschweifenden Ansprüchen kaum möglich war, mit diesem Manne unglücklich zu werden. Er hatte seine beiden ersten Frauen, wie alle Welt sagte, auf Händen getragen und trug ebenso auch seine dritte, die kluge, gewandte, stets harmlos heitere Pariserin auf Händen. Er stand so sicher und fest in seiner charaktervollen Abgeschlossenheit da, daß keine Frau es wagte, ihm mit all dem Kleinkram weiblicher Laune lästig zu fallen, von dem das Glück der meisten Ehen abzuhängen pflegt, und er blieb, was immer ihm persönlich quer gehen mochte, seiner Frau gegenüber der Kavalier der alten Schule, der auch in der Vertraulichkeit des häuslichen Lebens immer jene zarten Schranken zu achten weiß, welche die seine Sitte gegen ein gefährliches Sichgehenlassen aufrichtet. In den ersten Jahren ihrer Ehe waren sie noch viel miteinander gereist und hatten genug des Interessanten gesehen und erlebt, um auf lange hinaus von Erinnerungen zehren zu können. Inzwischen näherte sie sich den Vierzig, er hatte die Sechzig überschritten – und so freuten sich beide wunschlos ihres schönen Ruhesitzes droben im Waldgebirge. In den Kriegen von 1866 und 70/71 wurden dem Gatten seine drei Söhne aus den beiden ersten Ehen entrissen. Der stumm getragene Schmerz machte ihn zum Greise – aber das reiche Gemüt seiner Gattin entfaltete erst jetzt die schönsten Blüten der Liebe, und er war, trotzdem sein Denken etwas wirr zu werden begann, doch noch im stande, diesen Blütenduft voll Dankbarkeit zu genießen. Freilich ward ihr Verhältnis zu ihm immer mehr das einer treuen Tochter, die ihren greisen Vater pflegt, aber im Besitze ihres herrlich aufblühenden Kindes vermißte sie nichts und blieb durchaus mit dem Lose, das sie gezogen, zufrieden. Heute morgen war sie zum erstenmal beim Anblick der schlafenden Tochter eine gewisse Wehmut überkommen, und sie hatte thronenden Auges ein stummes Gebet zum Himmel gerichtet, daß diesem schönen Kinde das Recht der Jugend ungeschmälert zu teil werden möge.
Wahrend die Eltern noch miteinander berieten, wurde Baron Kospoth angemeldet. Sie hießen ihn mit Freuden willkommen und empfingen ihn mit einem gelinden Vorwurf darüber, daß er sich nicht schon früher habe blicken lassen, wogegen er einwandte, daß er thatsächlich schon einmal habe vorsprechen wollen, dann aber doch nicht heraufgekommen sei, weil ihm schon unten gesagt worden, daß der General ausgegangen und die gnädige Frau unwohl sei.
»Ja, aber warum haben Sie sich da nicht bei Melanie melden lassen, lieber Hans Jochen?« sprach die Generalin.
Kospoth machte sich mit dem Ausziehen seiner Handschuhe zu thun, um eine leichte Verlegenheit zu verbergen. »Ja, das ... traute ich mich nicht! Hat Ihnen Fräulein Melanie nicht gesagt, daß wir damals als bitterböse Feinde auseinander gegangen sind?«
»Mein Gott! Das sind Kinderthorheiten. Melanie behauptete schon damals, als sie aus Dresden zurückkam, Sie waren ein gräßlicher alter Schulmeister.«
»Ich fürchte, sie hat recht gehabt,« siel der junge Baron mit einem komischen Seufzer ein. »Gestern, als ich sie bei Hofe wiedersah, alles bezaubernd durch ihre Schönheit, ihre Anmut und Liebenswürdigkeit, da bin ich mir in meiner Eigenschaft als Weltverbesserer recht lächerlich vorgekommen. Ich wüßte wirklich kaum, wofür ich die Gesellschaft dieses Jahrhunderts noch zur Rechenschaft ziehen sollte, da sie doch im stande gewesen ist, ein solches Meisterstück hervorzubringen.«
Er hatte kaum das letzte Wort gesprochen, als das gedachte Meisterstück in eigner Person zur Thür hereintrat. Sie hatte ein einfaches, aber außerordentlich gut sitzendes Straßenkleid angelegt und sah nach ihrem gesunden Morgenschlaf ungemein frisch und rosig aus.
»Hna, ausgeschlafen?« rief ihr der alte Vater zu und erhob sich rasch von seinem Stuhl, um sie in seine Arme zu schließen und auf die Stirn zu küssen. Er war auch der Tochter gegenüber ganz der alte Kavalier. Dann strich er ihr mit seiner großen zitternden Hand über das wellige dunkle Haar und sagte munter: »Ich hoffe, Kind, du hast erst ein bißchen an der Thür gehorcht und so weiter. Der Dingda – mwa! – der Hans Jochen hat dich da eben durch ein eichenes Brett durch ... hmummummumm! Na! ... flattiert. Nu wie war's doch gleich?«
»Ich will nichts wissen,« rief Melanie und hielt sich die Ohren zu. »Ich weiß ja, was Herr Baron von Kospoth von mir hält. Wenn er jetzt anders spricht, dann wird er wohl als Hofmann das Lügen gelernt haben.«
»Ich ein Hofmann?! Das ist wirklich gut,« lachte Kospoth, indem er ihr mit ausgestreckter Hand entgegentrat.
»Nun dann also: Freund des Fürsten! Ist es so recht, mein Herr Marquis Posa?« entgegnete Melanie mit einer tiefen, neckischen Verbeugung, ohne in die dargebotene Hand einzuschlagen.
»Laß doch die Possen, Kind!« mahnte die Generalin freundlich. »Ihr habt euch ja fast drei Jahre nicht gesehen, da solltest du doch unsern lieben Hans Jochen ein wenig anders begrüßen.«
»Sind Sie denn wirklich so unversöhnlich, mein gnädiges Fräulein?« begann Kospoth lächelnd.
Doch die Mama unterbrach ihn sogleich wieder durch den erstaunten Ausruf: »Sie? Gnädiges Fräulein?! Oh, oh! Was soll denn das heißen?«
»Mama, wir sollen uns doch wohl nicht duzen?« rief Melanie fast erschrocken, und auch Hans Jochen meinte verlegen, das ginge wohl kaum mehr an.
Den alten General ärgerte dieser Redensartenaustausch zwischen den jungen Leuten, und er fuhr kurz und grob dazwischen: »Ssst! Ruhig! Ihr seid schrecklich langweilig... mwa! Nennt euch meinetwegen Dingda... Excellenz, wenn's euch Spaß macht. Sagen Sie uns lieber, was Sie über sich beschlossen haben, Kospoth. Ihr Herr Papa hat mir erzählt, Sie wären der reine Dingsda, na... die roten Mützen!«
»Jakobiner?« riet der junge Mann.
»Richtig, die Kanaillen mein' ich. Pardon!« polterte der alte General, denn es regte ihn immer auf, wenn er ein Wort nicht finden konnte. »An den Hof paßten Sie jedenfalls gar nicht.«
»Da hat Papa vollkommen recht. Der Erbgroßherzog macht es mir zwar sehr schwer – denn ich glaube, ich bin ihm wirklich wert geworden auf der Reise – aber ich glaube, ich werde es dennoch höchstens noch acht Tage hier aushalten und dann, wenn es nicht anders geht, bei Nacht und Nebel desertieren.«
»Wie unvorsichtig, Herr von Kospoth!« rief Melanie, indem sie den forschenden Blick, den er auf sie richtete, lächelnd aushielt. »Sie wissen doch, daß ich für Sie verantwortlich bin. Glauben Sie wirklich, daß ich meinen Kopf für Sie wagen könnte?«
»Nein, das wagt mein Kopf allerdings nicht zu glauben,« gab er mit einem ironischen Seufzer zurück. »Aber ich bin ja auch haftbar für Sie. Wenn Sie eher davonfliegen, als es Seiner Königlichen Hoheit lieb ist, so muß ich statt Ihrer erblassen – wie Schiller sagt.«
»Ach ja, das haben wir gehabt,« rief Melanie im Schulmädchenton. Und dann wieder ganz als große Dame:
»Lieber Baron, Sie sind frei! Es gefällt mir hier sehr gut, und ich kann Ihnen daher auf Taille schwören, daß ich nicht daran denke, Sie in Ungelegenheiten zu bringen. Papa hat mir schon heute nacht beim Nachhausefahren versprechen müssen, daß wir bis Ende der Saison hier bleiben.« Der alte General brummte irgend etwas Chaldäisches in seinen Bart, und auch seine Gemahlin hielt eine kleine Rede, deren Sinn Hans Joachim nicht zu fassen vermochte, da seine Gedanken inzwischen ganz wo anders waren. Er dachte zurück an das dralle kleine Mädchen, zu dem er sich einst mit onkelhaftem Wohlwollen hinabgeneigt hatte, und dann an den so klugen und unbefangenen Backfisch, den mit seiner neugebackenen Weisheit zu füttern dem jungen Studenten eine so angenehme Ferienbeschäftigung gewährt hatte, und endlich gedachte er auch des sechzehnjährigen Fräuleins im eben noch fußfreien Gewande, mit dem er über Gott und Unsterblichkeit philosophiert und dessen Ungnade er sich vornehmlich dadurch zugezogen hatte, daß er über alle Kennzeichen feinen Damentums verächtlich absprach. Er hatte Melanie von Treysa in lauter Fröhlichkeit, in hellem Zorn, ja selbst in Thränen echten Schmerzes gesehen, aber doch immer voll echter, einfacher Empfindung; dieser leichte Salonton, aus Ernst und Scherz, aus Bosheit und Artigkeit gemischt, der ihm von jeher so unangenehm gewesen war, befremdete ihn an ihr. Sollte er vielleicht das Ergebnis der berühmten Dresdener Pensionserziehung sein, der letzte finish der ladylikeness? Dann war sie ja allerdings bei Hofe ganz an ihrem Platze, und er durfte sich leichten Herzens davonmachen.
Und doch war ihm das Herz so groß geworden, als er sie gestern in ihrer strahlenden Schönheit wieder gesehen – und doch wurde ihm jetzt das Herz immer schwerer mit jedem scherzenden Worte, das sie sprach. Er hatte schon, wie er vermutete, auf einige Fragen der Eltern wenig zutreffende Antworten gegeben. Erst eine Frage Melanies brachte ihn wieder ganz zu sich.
»Sie laufen doch Schlittschuh?« wandte sie sich an ihn.
»Ich denke, ich werde es noch können, allerdings ohne besondre Grazie, fürchte ich. Gedenken Sie ...«