Landsturm im Feuer - Ernst von Wolzogen - E-Book

Landsturm im Feuer E-Book

Ernst von Wolzogen

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Beschreibung

Die Winterschlacht in den Masuren entwickelte sich im Februar 1915 zu einer verheerenden Katastrophe für die russische Armee. Die Tage der Schlacht forderten über 70.000 Menschenleben auf beiden Seiten und vernichteten eine ganze russische Armee. Annähernd 100.000 russische Soldaten gerieten in Gefangenschaft. Den siegreichen Armeen Hindenburgs fielen in Folge ungeheure Mengen an Kriegsmaterial in die Hände.

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Landsturm im Feuer

von

Ernst von Wolzogen

__________

Erstmals erschienen bei:

Ullstein & Co, Berlin-Wien, 1915

__________

Vollständig überarbeitete Ausgabe.

Ungekürzte Fassung.

© 2017 Klarwelt-Verlag

ISBN: 978-3-96559-095-3

www.klarweltverlag.de

Inhaltsverzeichnis

 

Titel

Deutsche Zuversicht

Das letzte Aufgebot

Auf nach Masuren!

Die Feuertaufe!

In Bereitschaft

Feier- und Feuertage im Schützengraben.

Die Winterschlacht

Deutsche Zuversicht

m Tage, als das österreichische Ultimatum an Serbien veröffentlicht wurde, war ich zufällig in Ischl.

Der Fremde in einem großen Badeort kann kaum einen rechten Eindruck von der Wirkung gewichtiger Ereignisse auf die Volksseele empfangen, denn in solchen Stätten des luxuriösen Vergnügens oder der ängstlichen Rücksichtnahme auf Leidende gehen die Menschen maskiert und sind die Zäune der Konvention besonders hoch und dicht aufgeführt. Als ich aber am Abend desselben Tages nach Hallstatt, das ich mir zur Sommerfrische ausersehen hatte, zurückkehrte, war der Eindruck des folgenschweren kaiserlichen Ultimatums schon ganz anders zu spüren. Die Sommerfrischler von Hallstatt sind zum größten Teil eigensinnige Liebhaber justament dieses malerischen Nestes, sie kehren hartnäckig immer wieder dorthin zurück, wie oft sie auch schon unter dem ewigen Regen und den feuchten Nebeln gelitten haben mögen. Also kennen sie sich alle untereinander, reden alle miteinander und ziehen auch Ausländer und Neulinge in die schöne ländliche Vertraulichkeit ihrer Ferienstimmung hinein. Als am anderen Abend die ausweichende Antwort Serbiens, durch die der Kriegsfall gegeben war, bekannt wurde, da wusste auch gleich die ganze Fremdenkolonie, wer von den Eingeborenen alles mit musste. Die Bergführer wurden auf die Almen geschickt, um die gestellungspflichtigen Senner zu benachrichtigen, am Salzbergwerk und in den Salinen ordneten die Wehrpflichtigen in der gebotenen Eile, aber in männlicher Fassung, ihre Angelegenheiten, packten ihre Köfferchen und fuhren ihren Gestellungsorten zu. Kein trunkenes Singen und Johlen, keine ruhmredige Beredsamkeit ward laut. Mit stillem Ernst, mit ruhiger Zuversicht stellten sich diese Leute in den Dienst der gerechten Sache ihres Vaterlandes; und dieselbe mannhafte Fassung, dieselbe nicht laute und eitle, sondern tiefe, ehrliche Begeisterung für die Ehrensache Österreichs erfüllte die Herzen der Zurückbleibenden. Nur ganz harmlose Gemüter konnten sich bei der Vorstellung beruhigen, dass es sich um eine rasch zu erledigende Strafexpedition gegen die Urheber des Attentats von Sarajewo handle. Alle anderen, die besseren Zeitungsleser, die helleren Köpfe, erwogen in banger Sorge die Frage, ob Russland die Versprechungen seines serbischen Gesandten von Hartmann einlösen, dadurch für das Deutsche Reich die Bündnisfrage gegeben und der seit lange drohende Weltkrieg gegen Deutschland entfesselt werden würde. Noch erlebte ich in dem lieben friedlichen Bergnest das erste Aufrauschen der stolzen Freude über die brüderliche Einigkeit aller Völker deutscher Zunge, über den plötzlichen herrlichen Friedensschluss der verschiedenen Rassen und Nationalitäten der Habsburgischen Monarchie — aber dann hielt es mich nicht länger: ich musste unbedingt in der Heimat sein, wen» die Kriegserklärung Russlands oder gar die drei Kriegserklärungen der Ententemächte an den Dreibund erfolgten. Ich gelangte am 29. Juli noch glatt, in nicht einmal überfüllten Zügen, nach München.

Da sah es schon ganz anders aus. Alle Straßen schwarz von Menschen, Autos über Autos mit Offizieren, Extrablattverkäufer, die sich heiser schrien, eine gewaltige Springflut heimwärts flüchtender Ferienreisender, die im Nu alle Gästehäuser überflutete und den riesigen Hauptbahn, Hof in einen toll gewordenen Ameisenhaufen verwandelte. Auf der Straße traf ich den Kollegen Max Halbe, glühend vor Begeisterung, und er nahm mich mit in die berühmte Literatenecke des „Torggelhauses“, die Nacht für Nacht widerhallt von dem Kriegsgeschrei ästhetischer Gegensätze, wo große Worte geprägt, Werte umgewertet, Kampfgenossenschaften und Erfolgversicherungen gegründet, alte Freundschaften durch einen boshaften Witz gesprengt, Weltanschauungen ironisch zerpflückt, soziale und ethische Fragen spielend gelöst und die Fahnenstangen funkelnd neuer Ideale genagelt werden. Eine bunte Gesellschaft fand sich zusammen. Frank Wedekind, Karl Rößler, Max Pallenberg, ein bekannter lyrischer Edelanarchist und andere Ober- und Unterführer im modernen Geisterkampfe. Unter dem überwältigenden Eindruck der großen ernsten Stunde dachte keiner von diesen heißen Köpfen daran, auch nur mit einem Worte der ästhetischen Tagesfragen zu gedenken. Die ganze tönende Phraseologie des Weltbürgertums blieb beschämt im tiefsten Busen verschlossen. Der einzige Punkt der Tagesordnung war die Frage: Wird es dem deutschen Geist, der deutschen Kraft gelingen, sich siegreich zur Wehr zu setzen gegen den neidvollen Hass der ganzen Welt? Als der anarchistische Lyriker der kindlichen Zuversicht Ausdruck gab, die Welt würde mit einem Schlage wieder Frieden finden, trenn eine gut angebrachte Bombe das leidige Karnickel an der Newa beseitigte, donnerte ihn Max Halbes Stentorstimme an: „Herr, Sie drücken das Niveau!“ Ja, wahrhaftig, das war das richtige Wort: in solch entscheidungsschwerer Schicksalsstunde stürzen, wie kindische Sandbauwerke, alle die Menschheitsbeglückungspläne träumerischer Fanatiker zusammen, die Organisationen des Neides, der kleinlichen Selbstsucht enthüllen sich als verbrecherische Umtriebe gegen die heilige Sache des Vaterlandes. Was heißt Menschheit, was heißt Gerechtigkeit, was gilt Rang, Klasse, Konfession, Besitz und persönliche Überzeugung selbst des herzensreinsten Schwärmers, wenn es sich um die Existenz der Rasse, um die Verteidigung der gemeinsamen Kulturerrungenschaften dieser Rasse, um Sein oder Nichtsein des Vaterlandes, des großen völkischen Blutsverbandes handelt?!

Am 31. Juli nachmittags erscheint der Maueranschlag, durch den der deutsche Kaiser das Reich für im Kriegszustande befindlich erklärt. In wenigen Stunden werden wir wissen, ob Russland es wirklich wagt, die Lunte an die Minenkette zu legen, die ganz Europa mit dem Untergang bedroht. Am Morgen des 1. August ein Sturm auf den Münchener Hauptbahnhof, wie er dort noch niemals erlebt wurde. Endlose Züge im Nu zum Bersten vollgestopft; die Bahnhofshallen und die Bahnsteige bis weit hinaus mit Bergen von Großgepäck erfüllt, das unmöglich befördert werden kann. Ich bin glücklich, noch einen Platz zu finden auf der eisernen Verbindungsplatte zwischen zwei Durchgangswagen. Sieben Stunden stehend, in fürchterlicher Enge zusammengepfercht und bei den Kurven durcheinandergeschüttelt — aber wir ertragen es alle ohne Murren, mit gutem Humor sogar, wir ewig zum Nörgeln und Schimpfen aufgelegten Deutschen!

Mit verhältnismäßig geringer Verspätung läuft der Zug in Darmstadt ein, als letzter fahrplanmäßiger Schnellzug. Die stille friedliche Residenz ist kaum wiederzuerkennen. Die Rheinstraße, in ganz Deutschland berühmt durch den guten Scherz eines alten Darmstädters, der einst einem Fremden auf die verwunderte Frage, warum man denn in dieser gewaltigen Haupt- und Prachtstraße keine Menschen sehe, erwidert haben soll: „Was wolle Se denn, do wimmelt ja als e Accessist ums Eck“ — diese berühmte Rheinstraße ist von dichtem Menschengedränge in ihrer ganzen Länge erfüllt und die fünf Autos, die noch vor kurzem den ganzen Verkehrsbedarf vom Bahnhof nach der Stadt für anspruchsvolle Reisende vermittelten, scheinen sich plötzlich um das Hundertfache vermehrt zu haben. Die Hupen gellen, kreischen und trompeten kaum minder ohrenbetäubend als in München. Sie haben keine Minute Zeit zu verlieren, denn jede Sekunde kann die entscheidende Nachricht bringen, welche das ganze gewaltige deutsche Heer, den gesamten Verwaltungsapparat vor die Aufgabe stellt, die geheimnisvollen Berechnungen, die Jahrzehnte lange Riesenarbeit unseres Generalstabes sofort und mit Anspannung aller Kräfte zur Ausführung zu bringen.

Die Kriegserklärung an Russland wird um fünf Uhr nachmittags angeschlagen und unmittelbar darauf erscheinen die längst vorbereiteten Bekanntmachungen der Militär- und Zivilbehörden über alle Einzelheiten der Mobilmachung, über Ort und Stunde, wo die Gestellungspflichtigen sich einzufinden haben, über die Kriegsfahrpläne der Eisenbahn, den Übergang der Polizeigewalt an das Militär, die Ausmusterung der Pferde, die Verproviantierung, die Lebensmittelpreise, das Wichtigste über den Geldverkehr, die Aufhebung der Sonntagsruhe.

Sonntagsruhe — welch ein Begriff in solcher Zeit! Sonntag ist der erste Mobilmachungstag und zugleich der Festtag des ersten deutschen Sieges — denn wir dürfen sie erleben, die wundervolle Wahrheit: die Rechnung des Generalstabes stimmt — alles klappt! Kein Rädchen, keine Feder in dem unendlich verwickelten Mechanismus versagt, jeder Mann, jeder Gaul, jedes Kommissbrot ist zur vorbestimmten Minute an der vorbestimmten Stelle. Man hat an einigen Orten die Stichprobe gemacht: genau so viel Menschen, als im Mobilmachungsplan vorgesehen, haben sich auf den ersten Aufruf des Kaisers zur Fahne gestellt, kein Mann mehr, kein Mann weniger! Man darf wohl ruhig behaupten, dass kein Volk der Erde uns das nachmacht. Und es geht von dieser überwältigenden Tatsache ein Strom von Zuversicht in die deutsche Volksseele über, der auch die verzagtesten Gemüter straff in die Höhe reißt.

Und dann kam die ewig denkwürdige Eröffnung der kurzen Reichstagssitzung, die das ganze Volk in wundervoller Eintracht fand. Ultramontane und Junker, fortschrittliche Doktrinäre und entrüstete Pazifisten—ja sogar die bösen Sozialisten in voller Eintracht den oft so leidenschaftlich bekämpften Kaiser umdrängend, um ihm in die liebewerbend ausgestreckte Hand hinein deutsche Treue zu geloben. In dieser symbolischen Geste hat die viel bespöttelte mittelalterliche Romantik des impulsiven Hohenzollern die formale Nüchternheit des Empfindungsausdruckes unserer gegenwärtigen Kulturmenschheit herzbezwingend überrumpelt. Der große Augenblick, als Wilhelm II., von seinem Gefühl überwältigt, das Manuskript der Thronrede von sich warf, seinen Feinden verzieh und den Vertretern seines Volkes die Kaiserhand zum persönlichen Gelöbnis entgegenstreckte, wird unvergessen bleiben für alle Zeiten und von den deutschen Künstlern der Zukunft in Wort und Bild spätesten Geschlechtern als Altarschmuck deutscher Andachtsstunden überliefert werden.

Wohl sah man bleiche erschrockene Gesichter, als die englische Kriegserklärung bekannt wurde, als das österreichisch-japanische Bündnis sich als eine verfrühte Freudenbotschaft herausstellte und die Neutralitätserklärung Italiens bekannt wurde. Wir allein mit Österreich gegen die ganze Welt?! Aber das erhebende Gefühl der vollkommenen Einigkeit von der Ostsee bis zur Adria, von der Weichsel bis zu den Vogesen, in Verbindung mit dem reinen Gewissen, zwingt allen Kleinmut nieder. Wir müssen siegen, denn sonst sind wir verloren — und weil wir siegen müssen, werden wir siegen. Es ist kein Krieg, den dynastische Interessen selbstsüchtig entfacht haben, es ist ein Krieg, den mit Recht beschämte, neiderfüllte Nachbarn aus Missgunst führen, aus Hass gegen die Überlegenheit des deutschen Geistes, gegen deutsche Willenskraft und gegen das wirtschaftliche Glück, das sie sich ertrotzte. Es ist ein uns aufgezwungener Verteidigungskrieg, und niemals haben die deutschen Völker für eine heiligere Sache zur Waffe gegriffen. Darum diese überwältigende Einigkeit! Darum dieser begeisterte Ansturm von 1 300 000 Freiwilligen — viel, viel mehr, als die Heeresleitung überhaupt verwenden kann! Darum ziehen die Regimenter mit hellen Gesichtern, mit frohen Gesängen zu den Bahnhöfen und lassen ihren Humor nicht unterkriegen, obwohl sie wissen, dass sie nicht spazieren geführt werden, um sich in Frankreich an Champagner und in Russland an Kaviar, in England an Roastbeef gütlich zu tun. Sie wissen alle: Es geht „um die Wurst“, wie man hier zu sagen pflegt; sie sind fest entschlossen, zu siegen oder zu sterben. Sie hassen weder die Franzosen noch die Russen, noch die Engländer, aber sie schreiben in kecker Laune mit Kreide auf den Eisenbahnwagen:

 

Auf jeden Tritt ein Britt,

Auf jeden Stoß ein Franzos,

Auf jeden Schuss ein Russ.

 

Ja, unser Volk hat noch Kraft, körperliche und sittliche. Und darum wissen wir, dass unsere Rasse noch ihre Daseinsberechtigung, ihre großen Aufgaben für die Entwicklung der Menschheit zu erfüllen habe. Sie ist noch nicht reif zum Untergang, das hat sie in diesen großen Tagen gezeigt — und darum kann sie nicht untergehen, darum muss sie siegen!

 

Das letzte Aufgebot

as war im friedlichen Jahre 1908, als unser prächtiger alter Bezirkskommandeur mich mitten in einem harmlosen Privatgespräch mit der Frage überraschte, ob ich mich nicht für den Mobilmachungsfall zur Verfügung stellen wolle.

Ich schaute erstaunt drein. Ich, mit meiner Musterkarte von Gebresten und Gebrestlein; ich, der die ominösen Sechzig schon in greifbarer Nähe fühlte, ich sollte mich noch einmal als Leutnant verkleiden! Ich sollte schneidigen Springinsfelden mit geschwungenem Säbel voranstürmen, ich, dem schon die Puste ausgeht, sobald er vor Beendigung des Verdauungsgeschäftes eine sanfte Anhöhe ersteigen soll?

„Warum denn nicht?“ erwiderte der Major mit kriegerisch blitzenden Augen. „Ich sage Ihnen, wenn‘s zum Klappen kommt — und es muss über kurz oder lang zum Klappen kommen — wir graben Leichen aus!“

Dies scharf geprägte Wort bohrte sich mir in Hirn und Herz ein, und ich stellte mich wirklich wieder zur Verfügung und erhielt jedes Jahr meinen geheimen Stellungsbefehl für irgendeine Verwendung im Garnisondienst. Wer dachte damals an den Landsturm! Selbst altgediente Militärs stellten sich den wohl als einen wilden Haufen mit Sensen, Dreschflegeln und alten Jagdbüchsen bewaffneter Ehekrüppel und Jubelgreise vor, der nur für den Fall der äußersten Not, wenn der Feind schon mitten im Lande hauste und die Armee vernichtet war, aufgerufen werden könnte, um die letzte verzweifelte Verteidigung von Haus und Herd zu versuchen.

Und da geschah in diesem Jahre des Unheils das Unerhörte, dass der Landsturm gleich bei der allgemeinen Mobilmachung mit aufgeboten wurde! Und siehe: die „ausgegrabenen Leichen“ warfen sich in ihre alten Uniformen und drängten sich in Scharen in den ersten Tagen der Mobilmachung auf den Bezirkskommandos. An meinem Wohnort tauchten nahezu vierhundert verschimmelter, verstaubter, schier vergessener Offiziere auf. Und es dauerte nicht allzu lange, so wurde ihr brennender Eifer, ihrem Vaterlande mit ihren mehr oder minder schönen Resten zu dienen, belohnt, indem man sie auf die allerorten in Bildung begriffenen Landsturmbataillone verteilte. Wenn nicht noch im letzten Augenblick ein Professor aufgetaucht wäre, der noch im zarten Jünglingsalter der späteren Vierziger stand, so wäre ich in meiner Kompagnie mit meinen nahezu Sechzig der jüngste Leutnant gewesen! Eine Woche lang maßen wir uns heimlich mit misstrauischen Blicken und dachte sich jeder sein respektlos Teil von den militärischen Tugenden des Herrn Kameraden. Dann aber, als unsere Truppe beisammen war, schwand das Gefühl der Befremdung vor dem Schall des ersten kräftigen Kommandos wie weggeblasen; wir fühlten uns wieder als Soldaten — Soldaten zum ersten, zum zweiten und zum dritten — ebenso wie diese von ihrem Pflug, ihrem Handwerk, ihrem Geschäft zur Fahne gerufenen würdigen Bürger und Familienväter. Mit dem Nock des Kaisers zogen diese wackeren Deutschen auch unsere unverwüstliche und unnachahmliche Disziplin wieder an, den freudigen Gehorsam, das stolz bescheidene Pflichtgefühl. Wenige Tage strammen Exerzierens und eine Truppe stand auf den Beinen, die, wenn sie auch nicht mehr wie die Jungmannschaft tagelang fortgesetzten Gewaltmärschen mit vollem Gepäck gewachsen sein mag, doch sicherlich im Feuer ausharren und jedem Angriff standhalten wird wie eine Mauer aus Quadern. Uns alten Offizieren griff diese freudige Überraschung mächtig ans Herz. Niemand von uns kam sich mehr komisch vor als Landsturmführer, ebenso wenig wie wir diesen reifen Männern komisch vorkamen. Das Gefühl, doch noch seinen Platz ausfüllen zu können in der Reihe derer, die berufen sind, Deutschland wieder eine Welt von Feinden zu verteidigen, beglückt uns alle gleichmäßig, Vorgesetzte wie Untergebene. Wir haben Vertrauen zueinander, wir fühlen uns als Volksgenossen, wir befehlen ohne Überhebung, wir gehorchen ohne die leiseste Empfindung von Entwürdigung. Der wohlhabend gewordene Unternehmer steht neben dem sozialdemokratischen Arbeiter in Reih und Glied, der alte Truppenoffizier, der vor langen Jahren vergrämt und verbittert seine militärische Laufbahn frühzeitig beendet sah und jahrzehntelang über sein Missgeschick geflucht und gewettert hat, lebt wieder auf in dem männlichen Soldatenspiel und hat allen Groll vergessen, ja, er nimmt sogar die Kameraden von der Reserve und von der Landwehr für voll, die ihr Beruf als Staatsbeamte, Gelehrte, Künstler, Handelsherren und Industrielle weitab von allen militärischen Wegen durch die Höhen und Tiefen des Lebens geführt hat. Und diese Gelegenheitsoffiziere haben alle ihre weit auseinandergehenden politischen, religiösen, wirtschaftlichen Standpunkte, ihre Sonderinteressen, ihre eigensinnigen Schrullen selbst vergessen und rücken mit dem guten Willen zum gegenseitigen Verständnis, zur gegenseitigen Duldung nahe zueinander, wie Sturmverschlagene unter einem gastlichen Dach, wohlig durchwärmt von dem lodernden Feuer der gemeinsamen Begeisterung für die große, heilige Sache. Und die stillschweigend anerkannten Häupter dieser vom Anfall zusammengewürfelten Schar sind nicht die geistig Bedeutendsten, höchst Angesehensten, Begütertsten, sondern diejenigen, die schon sechsundsechzig und siebzig mitgemacht haben, die etwas von Krieg und Sieg zu erzählen wissen, die schon einmal Blut fürs Vaterland vergossen haben. Wir haben mehrere Eiserne Kreuze von siebzig unter den Offizieren des Bataillons.

Der eine Träger eines solchen, ein immer noch quecksilbrig lebendiger Hauptmann mit martialischem graublonden Schnurrbart, hat mit Hindenburg dieselbe Schulbank im Kadettenkorps gedrückt, erinnert sich seiner sehr wohl noch, weiß aber keineswegs zu berichten, dass er damals schon durch irgendwelche Besonderheit das künftige Feldherrngenie habe ahnen lassen. Ein anderer Hauptmann hat sechsundsechzig als Kornett im hessischen Kontingent mitgemacht und sich siebzig den höchsten hessischen Tapferkeitsorden errungen.

Er trägt das weiße Schnurrbärtchen unter der Nase noch flott aufgewichst und das dünne Haar vor den Ohren in kühn geschwungenen Sechsen festgelegt. Er hat die Kriegsgeschichte sämtlicher Völker und Zeiten und die Rangliste seit den sechziger Jahren im Kopf. Und unser Major gar! Eine prächtige Figur aus dem Rahmen eines Grütznerbildes leibhaftig herausgetreten. Ein Wallensteinischer Feldobrist mit einem Schuss Rodensteiner. Die Lippen und die prallen Bäckchen künden Genussfreudigkeit, und in den Augen zwinkern allerlei verschmitzte Humore.

Ein echter weinfroher Alemanne ist er — und nebenbei ein grundgelehrtes Haus, Geologe und Paläontologe. Seinen Landsmann und Leibpoeten Scheffel weiß er noch halb auswendig, auf Verlangen lässt er aber auch ganze Kolonnen Dantescher Terzinen frei aus dem Gedächtnis und in der Ursprache aufmarschieren. „Nur kei Hascht, meine Herren, die Dinge sich historisch entwickle lasse. Dann aber, wenn‘s an de Feind geht — nix wie druff!“ Das ist seine militärische Generalidce. Siebzig hat ein Granatsplitter in seinen Eingeweiden gehaust, also dass er sich nicht mehr gerade aufrichten kann. „Wenn ich nuff klettre duh, darf niemand net luege, aber wenn ich herobe sitz uff mei‘m Gaul — oha!“

Und als wir „ausgegrabenen Leichen“ alle noch einmal gründlich untersucht wurden, ob nicht doch der eine oder der andere noch in der Feuerlinie zu verwenden wäre, da war unser krumm geschossener Major der Einzige, der aus dem Untersuchungszimmer mit dem Jubelruf heraustreten durfte: „Felddienschtfähig, meine Herren, felddienschtfähig!“ — Zwei Tage später war er fort — nach der Front!

Auch unter der Mannschaft gibt es Originale genug. Da ist ein alter Feldhüter von siebenundsechzig Jahren, der Wiesenhannes, der siebzig mit gemacht hat und durchaus nochmal eine Schlacht sehen möchte. Da ist der Mann mit den zehn Kindern, die als Begründung für jedes Urlaubsgesuch, als Entschuldigung für jeden verunglückten Gewehrgriff herhalten müssen.

Da ist der Mann, der sieben Jahre in einem eleganten französischen Badeort Hotelportier war und nun seine Flinte gegen die Franzosen tragen muss, die ihm nie etwas zuleide getan haben. Da ist der heimliche Poet, der mir ins Wirtshaus gefolgt ist, sich plötzlich ein Herz fasst, in die Gaststube voller Offiziere hereintritt und mir in dienstlicher Haltung meldet: „Herr Oberleutnant, ich hätt‘ e Gedichtche gemacht auf die Melodie: Preisend mit viel schönen Reden.“

Und während ich noch sein Geschreibsel durchstudiere, tritt eine Ordonnanz herein: „Es soll sofort ein Ersatzmann für den Trumpheller Michel nach Belgien gestellt werden, indem dass dem Trumpheller Michel kein Rock net passe tut. Abfahrt heute Nacht elf Uhr fünfzehn.“

„Herr Oberleutnant, ich melde mich freiwillig“, sagt mein Dichter, die Hacken zusammenschlagend. — „Gut, wenn Ihnen dem Trumpheller sein Rock passt, treten Sie in Gottes Namen für ihn ein und Glück auf den Weg.“ Er steckt sein Manuskript und sein Lob in die Tasche, macht stramm kehrt — und in derselben Nacht ist der Dichter unterwegs nach Belgien.

Das Lied dieses Wackeren war eine gutgemeinte Reimerei, wie sie viele ungeschulte Köpfe mit einiger Mühe zuwege zu bringen pflegen; jede Strophe behandelte einen unserer Feinde. Ich weiß nur noch den Schluss der französischen Strophe:

 

„Sonst ist an ihnen auch nicht viel,

Der ganze Anzug hat kein Stil.“

 

Aber eines ging deutlich aus dem rhythmischen Gestammel hervor: die harte Notwendigkeit dieses Weltkrieges für uns und die politischen wie psychologischen Triebfedern, die unsere Gegnerschaft zu der unnatürlichen Verbrüderung Halb—und Ganz-Asiens mit den freien Briten und dem hochkultivierten Franzosenvolke zusammengeführt haben, die hat auch das einfachste Hirn, das naivste Gemüt in unserem Volke klar begriffen.

Und das ist es, was uns stark macht, was uns diese unerschütterliche Siegeszuversicht gibt: die allgemeine Einsicht, dass wir für eine gerechte Sache gegen eine Verschwörung des Neides mit der Rachlust und der niederen Beutegier kämpfen.

Also ist unser letztes Aufgebot beschaffen. Die neun Offiziere unseres Bataillons zählen zusammen 514 Jahre, die fünf Vizefeldwebel und Offizierstellvertreter haben zusammen 5,19 Doppelzentner Lebendgewicht — für ausgegrabene Leichen eine anständige Leistung! Jedenfalls ist ihnen das Übergewicht über jeden Feind sicher. Mag sein, dass wir auch nicht viel besser bekleidet und ausgerüstet sind, dass wir mit unseren Gestalten und unserer Gelenkigkeit auch nicht mehr Staat machen können als die letzten Aufgebote der feindlichen Armeen, aber eines darf man wohl kühnlich behaupten: Mit so zweifelsfreiem Gemüt, mit solcher inneren und äußeren Ruhe, solchem sittlichen Ernst und solch stramm soldatischem Frohsinn trägt kein anderer Landsturm auf der Welt seine alte Haut fürs Vaterland zu Markte als dieses unser deutsches letztes Aufgebot.

 

Auf nach Masuren!

cht Wochen lang hatte ich in dem lieblichen Residenzstädtchen des Grafen Erbach-Erbach meinen Dienst als ältester Kompagnie-Offizier getan und durch fast tägliche Felddienstübungen meine schier gänzlich verrosteten soldatischen Instinkte frisch eingeölt und wenigstens auf Mattglanz poliert. Es war unleugbar „furchtbar nett“ in dem anmutigen Odenwald, in der Gesellschaft liebenswürdiger Kameraden, in der Häuslichkeit des gütigen, echt vornehmen alten Grafen und unterschiedlicher, vielseitig interessierter, ja sogar musikalischer Honoratioren. In keinem Sanatorium der Welt hätte besser für meine armen Nerven und vielfachen Gebresten gesorgt sein können. Meine Mannschaft endlich war vom allerbesten Schlage, und da wir zusammen, sozusagen in gleichem Schritt und Tritt, aus allertiefster Bürgerlichkeit ins Soldatentum hineinwuchsen, so bildete sich ein wahrhaft herzliches kameradschaftliches Verhältnis zwischen mir und diesen prächtigen Odenwäldern heran — aber schließlich war es doch nur Spiel, eine Liebelei mit dem Militarismus! So wohl mir die ländliche Ruhe tat, so dankbar ich die gesunde körperliche Betätigung und die vielen Feierstunden der langen Abende genoss, die mir sogar erlaubten, ein Streichquartett zu komponieren, so musste ich mir doch sagen, dass ich mir nicht darum in meinem sechzigsten Lebensjahre einen neuen Soldatenrock anmessen ließ, um darin spazieren zu gehen und Streichquartette zu komponieren. Nach dem berauschenden Siegeslauf unserer herrlichen Truppen in den ersten beiden Monaten des Krieges war es höchst unwahrscheinlich, dass der friedliche Odenwald noch zum Kampfplatz werden könnte — und ich wollte doch dabei sein, das ungeheure Geschehen dieser Zeit nicht nur als eifriger Zeitungsleser und Wirtshausklugschwätzer mit erleben, sondern mit meinen schwachen Kräften mitwirken bei irgendwelchem mannhaften Tun. Wenn mich auch freilich selbst der schneidigste Militärarzt mit dem weitesten Gewissen nicht mehr für felddienstfähig zu erklären vermochte, so bildete ich mir doch auf den Erfolg meiner Erbacher Kur hin ein, dass ich als Kompagnieführer bei einer Besatzungs- oder Etappentruppe immer noch mich nützlich machen könnte. Und so meldete ich mich denn zugleich mit den meisten meiner jüngeren Erbacher Kameraden zur Verwendung beim mobilen Landsturm.

Schon wenige Tage darauf erhielt ich den Befehl, bei einem auf dem Truppenübungsplatz Griesheim bei Darmstadt neu aufzustellenden Landsturmbataillon eine Kompagnie zu übernehmen. Am 13. November sollte das dritte, vierte und fünfte Landsturmbataillon Darmstadt marschbereit sein. Vom 11. November an wurde fieberhaft vom frühen Morgen bis zum späten Abend in Griesheim gearbeitet, um die drei kriegsstarken Bataillone auszurüsten und einzukleiden. Für zweihundertfünfzig Mann und achtzehn Unteroffiziere sämtliche Montierungsstücke von den Stiefeln bis zur grauen Wachstuchkappe verpassen, Pferde zum Ziehen und Reiten auswählen, Wagen, Waffen, Munition, Proviant und alle die sonstigen wichtigen großen und kleinen Gepäckstücke empfangen, verteilen, prüfen, in Tornister und Rucksäcke zweckmäßig verstauen, das alles erfordert so viel Kopfzerbrechen, so viel angespannte Aufmerksamkeit und rastlose Tätigkeit, wie der Laie sich wohl kaum vorzustellen vermag. Ohne Ärger und Aufregung ging es freilich nicht ab dabei; aber am fünften Tage sahen unsre Westerwälder Bauern, unsre Höchster Fabrikarbeiter, unsre Limburger Handwerker doch schon beinahe wie Feldsoldaten aus, wenn auch freilich nicht für alle diese wohlgerundeten Familienväter passende Waffenröcke in der Eile fertigzustellen gewesen waren und die Mäntel und Rucksäcke zumal in ihrer erstaunlichen Mannigfaltigkeit nach Schnitt, Stoff und Farbe deutliches Zeugnis ablegten von der Not der Stunde und der gebotenen Eile.

Am 17. November nachmittags kam der Befehl, am anderen Morgen um sieben marschbereit zur Bahnverladung zu stehen. Wir wussten noch nicht, wohin wir geschickt werden sollten; aber das Gerücht behauptete sich hartnäckig, dass wir nicht nach dem ersehnten üppigen Belgien, sondern nach dem fernsten Osten, an die russische Grenze kommen sollten. Zwischen Sibirien und Ostpreußen besteht in der Vorstellung des Süd- und Westdeutschen kein sehr erheblicher Unterschied, und der Abschied von Frau und Kindern, denen man in den letzten Tagen den Zutritt zum Lager gestattet hatte, wurde unseren Landstürmern sichtlich viel schwerer im Bewusstsein ihrer Bestimmung wider den Russen, als er es gewesen wäre, wenn sie die Sicherheit gehabt hätten, als Besatzungstruppe oder zum Bahnschutz in belgische oder französische Garnisonen zu kommen. Uns Offizieren ging es nicht anders, ob wohl wir von dem Ernst der Lage da oben im masurischen Seengebiet nicht mehr wussten als unsere bürgerlichen Zeitungsleser in jenen Tagen auch.