DER TOD AUS DEM MEER - Charles Birkin - E-Book

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Charles Birkin

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Beschreibung

Die Kritik hat Charles Birkin (* 24. September 1907; † 1986) mit Edgar Allan Poe verglichen. Und in der Tat: Es gibt nur wenige Autoren, die Horror-Stories mit derartig nachhaltiger Wirkung zu schreiben vermögen. Birkin gelingt es, den Leser immer wieder von neuem zu überraschen und zu schockieren.

Der Tod aus dem Meer enthält 15 der besten Erzählungen von Charles Birkin – erstmals seit fast fünfzig Jahren sind diese nun wieder in deutscher Sprache verfügbar.

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CHARLES BIRKIN

Der Tod aus dem Meer

Erzählungen

Apex Horror, Band 42

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER TOD AUS DEM MEER (My Name Is Death/The Terror On Tobit) 

KITTY FISCHERIN (Kitty Fisher) 

DAS BRANDMAL (King Of The Castle) 

BESUCH AUS EINER ANDEREN WELT (Parlez Moi D'amour) 

WER IST DEINE FREUNDIN? (Who's Your Lady Friend?) 

DER FINGER DER FURCHT (The Finger Of Fear) 

DIE UNNAHBARE (Hard To Get) 

SO BLEICH, SO KALT, SO TOT (So Pale, So Cold, So Fair) 

DAS GOTTESGESCHENK (The Godsend) 

BELLO (Rover) 

DAS KINDERFEST (Circle of Children) 

LOTS WEIB (Lot's Wife) 

GIDEON (Gideon) 

EINE FASZINIERENDE SCHÖNHEIT (A Hunting Beauty) 

DER GOTT DER ZUFLUCHT (Lords Of The Refuge) 

 

Das Buch

Die Kritik hat Charles Birkin  (* 24. September 1907; † 1986) mit Edgar Allan Poe verglichen. Und in der Tat: Es gibt nur wenige Autoren, die Horror-Stories mit derartig nachhaltiger Wirkung zu schreiben vermögen. Birkin gelingt es, den Leser immer wieder von neuem zu überraschen und zu schockieren.

Der Tod aus dem Meer enthält 15 der besten Erzählungen von Charles Birkin – erstmals seit fast fünfzig Jahren sind diese nun wieder in deutscher Sprache verfügbar.

DER TOD AUS DEM MEER

(My Name Is Death/The Terror On Tobit)

Ende der zwanziger Jahre waren die Scilly-Inseln als Ferienziel noch der Geheimtipp einiger weniger Kenner. Erst Jahre später, als die Schiffsverbindungen besser und die Inseln dadurch auch der großen Öffentlichkeit bekannt wurden, verloren sie ihre Abgeschiedenheit.

Die wenigen Besucher, die ihren Weg dorthin fanden, hüteten eifersüchtig das Geheimnis jener vom Wirbel der Zeit noch unberührten Inselgruppe vor der Küste von Cornwall, selbst guten Freunden gegenüber. Irgendwie betrachteten sie die Scillys als ihre ganz persönliche Entdeckung und wollten sie nicht durch den Massentourismus entwerten und entzaubern lassen.

In jenem Sommer vor vielen Jahren verbrachten zwei junge Mädchen ihre Ferien auf einer der Scilly-Inseln.

»Du bist dir doch wohl klar darüber«, sagte Daphne, »dass wir in drei Tagen in London sein werden. Dann beginnt der Ernst des Lebens.«

»Als ob ich das nicht selbst wüsste! Die letzten vierzehn Tage sind förmlich vorbeigeflogen.« Anne klappte ihr Buch mit einem kleinen harten Knall zu. »Mir jedenfalls hat es ausnehmend gut hier gefallen. Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du mich mitgenommen hast.«

Daphne hatte vor, sich nach dem Urlaub ehrenamtlich der Pflege körperlich behinderter Kinder zu widmen. Anne, deren fröhlicher, verschwenderischer Vater im Frühjahr ganz plötzlich gestorben war, hatte für September eine Stellung als Assistentin von Madame Stirling in der Berkeley Street angenommen. Dafür sollte sie fünf Pfund pro Woche, zuzüglich einer Provision für alle Kunden, die sie ihrer Chefin zuführte, erhalten. Die plötzliche Veränderung ihrer finanziellen Verhältnisse war für Jimmy Blakes Witwe und Tochter ein böser Schock gewesen; denn sie mussten feststellen, dass er eine beträchtliche Schuldenlast und nur sehr wenig Geld hinterlassen hatte.

Daphne Bristow war als Kind einmal auf der Insel Bryher gewesen und hatte jene herrlichen Ferien nie vergessen. Impulsiv hatte sie Anne Blake gefragt, ob sie Lust hätte, mitzukommen. Sie hielt es für klüger, wenn Anne den Zauber der Mittelmeerküste vergessen würde, denn sie hatte kurz vorher ihre Verlobung mit einem melancholischen jungen Mann gelöst, den sie ein Jahr zuvor in Cannes kennengelernt hatte. Jetzt wusste Daphne, dass ihr Vorschlag richtig gewesen war. Das Haus auf Bryher, wo sie als Kind gewohnt hatte, war inzwischen in andere Hände übergegangen, und so waren sie schließlich auf St. Mark's geblieben.

Anne und Daphne waren seit ihrer Kindheit miteinander befreundet und hatten auch ihre Debütantinnensaison zusammen erlebt.

Auf dem runden Wohnzimmertisch verbreitete eine gemütliche Öllampe ihr warmes Licht; die gelb-weiß karierten Vorhänge bauschten sich sacht im leichten Abendwind. Auf St. Mark's, der kleinsten bewohnten Scilly-Insel, gab es insgesamt kaum ein Dutzend Häuser.

»Es tut dir also nicht leid, dass ich dich überredet habe, mitzukommen?« Daphne lächelte ihrer Freundin liebevoll zu. »Du hast dich ganz bestimmt nicht gelangweilt?«

»Das weißt du doch. Es war einfach paradiesisch.«

»So paradiesisch wie in Cannes?« Daphne bereute sofort diese taktlose Frage.

»Mir hat es noch nie irgendwo so gut gefallen. Mehr kann man wohl nicht sagen.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür, und Mrs. Arraway, die Mutter des jungen Fischers, dem das Häuschen gehörte, kam herein, um das Geschirr abzuräumen. Anne sagte zu ihr: »Die Hummern waren einfach köstlich. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ungern wir an unsere Abreise denken.«

Mrs. Arraway lachte. »Nun, es gibt Schlimmeres.« Sie war eine freundliche, mütterliche Frau, die - abgesehen von einigen wenigen Fahrten nach Penzance - ihr ganzes Leben auf den Inseln verbracht hatte. »Mir tut es auch leid, dass Sie wieder wegmüssen. Ich kann nur hoffen, dass ich es Ihnen hier gemütlich genug gemacht habe, und dass es Ihnen nicht zu ruhig war.«

»Herrlich war's!« Daphne bot ihr eine Zigarette an. »Wir hätten Sie aber gern noch um einen Gefallen gebeten.«

»Und das wäre?« Mrs. Arraway lehnte die Zigarette ab und zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Ob Jean uns wohl morgen Abend nach Tobit hinüberrudern würde? Wir möchten dort über Nacht bleiben. Das wäre ein wunderbarer Abschluss unserer Ferien. Er könnte uns am nächsten Morgen wieder abholen. Meinen Sie, dass er es tun würde - oder hat er keine Zeit?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mrs. Arraway unschlüssig. »Was wollen denn zwei junge Damen wie Sie auf Tobit? Da gibt's doch nichts als Möwen.«

»Wir möchten gern unter offenem Himmel schlafen - wie Schiffbrüchige auf einer einsamen Insel. Kann es etwas Romantischeres geben? Das wäre ein herrlicher Spaß! Ach bitte, überreden Sie Jean, dass er uns hinbringt.«

Mrs. Arraway runzelte die Stirn. Offensichtlich behagte ihr die Idee gar nicht. »Tobit ist ein höchst ungesunder Ort«, sagte sie nach einer Pause. »Am besten, man macht einen Bogen um die Insel. Außerdem gibt's da kein Trinkwasser«, schloss sie triumphierend.

»Das macht nichts. Wir könnten ja eine Thermosflasche mitnehmen. Bitte, sagen Sie ja, Mrs. Arraway«, flehte Daphne.

»Nun, ich weiß nicht recht«, antwortete die Wirtin. »Ich sage Ihnen, was ich tun werde, mein Kind. Ich schicke Jean zu Ihnen, und dann können Sie selbst hören, was er dazu meint. Aber ich kann Ihnen jetzt schon verraten, dass er diesen verrückten Einfall bestimmt nicht unterstützen wird.« Sie nahm das Tablett auf und ging mit besorgter Miene hinaus.

Anne schob die Vorhänge auseinander und blickte in die Nacht hinaus. Gegen den samtblauen Himmel hoben sich die schroffen Felszacken der Scilly-Inseln wie phantastische Gebilde ab. Bei Tag wirkte die Szenerie viel freundlicher, nicht so abweisend. Da gab es überall olivgrünes Moos, das mit winzig rosa und malvenfarbigen Blumen übersät war.

»Woran mag es wohl liegen, dass diese Inseln irgendwie verzaubert wirken?«, sagte Anne. »Ich habe noch nie so sehr den Eindruck des Uralten, des Urweltlichen empfunden. Nicht auf Saint Mark's«, schränkte sie ein, »aber die anderen! Die wirken so traurig und - ja, geduldig und ruhig, wie sanfte, verblasste und verwelkte Schönheiten, die sich an ihre großartige Vergangenheit erinnern und ohne Bitterkeit auf das Ende warten.«

»Ja«, sagte Daphne, »aber sie sind auch irgendwie düster und beängstigend.«

Jemand klopfte an die Tür. »Das wird Jean sein. Daphne, wir müssen ihn einfach dazu überreden, dass er uns hinüberbringt. Es würde ein unvergessliches Erlebnis sein. Herein!«, rief Anne.

Jean Arraway kam in das kleine Wohnzimmer. Er sah auffallend gut aus, fast ein wenig zigeunerhaft, was hier auf den Inseln sehr ungewöhnlich war. Seine dunklen Augen schienen stets auf ein weit entferntes Ziel gerichtet zu sein, wie man es oft bei Menschen findet, die den größten Teil ihres Lebens auf dem Meer verbringen.

»Ja, Miss? Sie wollten mich sprechen?«

»Wir möchten Sie um Ihre Hilfe bitten«, sagte Anne.

»Um was handelt es sich denn, Miss?«

»Dass Sie uns morgen nach Tobit bringen. Wir möchten über Nacht bleiben, und Sie holen uns dann Freitag wieder ab. Sie wissen ja, dass wir am Sonntag wegmüssen. Nicht wahr, Jean, Sie tun uns den Gefallen?« Anne lächelte ihn an und bot dabei ihren ganzen nicht unbeträchtlichen Charme auf.

Er schüttelte den Kopf. »Sie können nicht über Nacht auf Tobit bleiben, Miss«, sagte er in bestimmtem Ton.

»Warum nicht?«, fragte Daphne.

»Es ist ungesund.«

»Was meinen Sie damit, dass es ungesund ist?«, warf Anne ungeduldig ein. »Ihre Mutter hat genau denselben Ausdruck gebraucht.«

Er blickte sie nachdenklich an. »Das ist schwer zu erklären«, sagte er schließlich. »Dort sind böse Dinge passiert...«

»Was für Dinge?«, fragte Daphne hartnäckig.

»Seltsame Dinge.« Offensichtlich war ihm nicht wohl zumute, und er schien nicht gewillt zu sein, sich näher auszulassen. »Böse Dinge«, wiederholte er. Ein kurzes Schweigen breitete sich in dem kleinen Zimmer aus, während die beiden Mädchen darauf warteten, dass er fortfahre.

»Ich denke, dort lebt niemand?«, sagte Anne. »Wie können dann dort böse Dinge geschehen?«

»Nein, jetzt lebt niemand mehr dort. Ein- oder zweimal sind Leute - Fremde vom Festland - hingefahren. Das ist nachts kein guter Ort.«

»Wollen Sie damit sagen, dass es dort Gespenster gibt?«

Er lächelte ohne Fröhlichkeit. »Sie wollen das Ganze als Ammenmärchen abtun, Miss. Aber vor zwei Jahren, da ist mal ein Maler allein rüber gerudert. Er beachtete alle Warnungen nicht. Er war richtig störrisch.«

»Und was ist ihm zugestoßen?«, wollte Daphne wissen.

»Ich weiß nicht.«

»Warum dann diese Geheimnistuerei?«, fragte Anne.

»Nun, sehen Sie, Miss, er ist nie wieder zurückgekommen. Er verschwand einfach.«

»Das ist unmöglich. Wohin könnte er denn verschwunden sein? Sicher ist er ertrunken.«

»Niemand kann es sagen. Man fand sein Boot. Es war fest vertäut.« Jean zuckte mit den breiten Schultern. »Es gibt viele seltsame Geschichten über Tobit. Nach Einbruch der Dunkelheit ist es für Menschen dort nicht geheuer.«

»Was für Geschichten?«, fragte Daphne gespannt.

»Nun«, sagte Jean zögernd, »dieser Maler war nicht der einzige, der dort hinfuhr. Ein Jahr davor war es eine Dame, ich glaube, sie war Schriftstellerin. Sie machte auf Saint Agnes Urlaub und bestand darauf, eine Nacht auf Tobit zu verbringen. Genau wie Sie. Als der Fischer, der sie hingebracht hatte, sie wieder abholen wollte - da war sie nicht mehr da.«

»Das glaube ich nicht. Sie wollen uns doch nur von unserem Vorhaben abbringen«, sagte Daphne. Sie ging zu ihm hin und blickte ihm in die Augen. »Aber ob Sie uns nun mitnehmen wollen oder nicht - wir fahren hin, nicht wahr, Anne? Wir werden eben ein anderes Boot mieten, und niemand wird uns daran hindern. Schließlich kann man uns das nicht verweigern. Das wäre ja Boykott.« Der junge Mann schien von ihrer Ausdrucksweise verwirrt zu sein.

»So ist es«, sagte Anne. »Auf die Geschichte fallen wir nicht rein.« Sie warf ihm einen ebenso herausfordernden wie aufmunternden Blick zu.

»Ich würde es an Ihrer Stelle nicht tun, Miss.« Ihr Charme ließ ihn völlig kalt. »Keiner der Männer hier wird Sie hin rudern. Das ist wirklich ein unguter Ort. Tobit gehört dem Meer und den Geschöpfen des Meeres.«

»Reden Sie keinen Unsinn, Jean.« Anne war an männlichen Widerspruch nicht gewöhnt. »Soll das vielleicht heißen, dass Sie es einfach ablehnen, uns hinzufahren? Das wäre wirklich eine grobe Unhöflichkeit!«

»Tut mir leid, Miss, aber so ist es nun mal.« Er zupfte verlegen am Gürtel herum und vermied es, sie anzusehen.

»Dann rudern wir eben selbst hinüber. Was der Maler allein konnte, werden wir zu zweit auch schaffen. Und wenn wir am Freitag bis zum Mittag nicht zurück sind, dann wissen Sie, dass das Gespenst uns geschnappt hat, und können nach unseren Gebeinen forschen.«

Jean gab keine Antwort; er blieb stumm und verlegen stehen. Schließlich sagte er: »Nun, gute Nacht denn. Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch anders. Ich hoffe es jedenfalls.«

»Oder Sie, Jean«, sagte Anne kühl. »Gute Nacht.«

Als er gegangen war, wandte sie sich an ihre Freundin. »Hat man so etwas schon gehört! Entweder ist er zu faul, uns hinüberzurudern, oder er hat für abends eine Verabredung und will es nur nicht zugeben. Aber so oder so - es bleibt dabei, abgemacht?«

»Natürlich«, sagte Daphne überzeugt. »Diese Fabelgeschichten können mich nicht kopfscheu machen.« Sie ließ sich in einen Rohrsessel fallen. »Aber wenn sie doch ein Körnchen Wahrheit enthalten, das... das wäre ein bisschen seltsam, nicht?«

»Ja, sehr«, sagte Anne kurz. »Wenn diese beiden Leute wirklich verschwunden sind... Nun, wahrscheinlich sind sie ein Stück hinausgeschwommen, bekamen einen Wadenkrampf und ertranken. Wie man uns bei unserer Ankunft sagte - wenn man sich nicht genau auskennt, können die Strömungen sehr gefährlich sein.«

Als Daphne und Anne am nächsten Morgen das hölzerne Gartentor zur Straße - die eigentlich nur ein Pfad war - öffneten, trafen sie Mrs. Arraway, die gerade Gemüse aus dem Garten geholt hatte und das herrliche Wetter pries.

»Ihr Sohn zeigte sich gestern Abend nicht gerade hilfsbereit«, sagte Anne vorwurfsvoll. »Hat er es Ihnen erzählt?«

Mrs. Arraway presste die Lippen aufeinander und runzelte besorgt die Stirn. »Ja, das hat er«, sagte sie. »Kindchen, vergessen Sie Ihr verrücktes Vorhaben. Ich weiß, dass Jean alles versucht hat, um Sie davon abzubringen. Sie kennen diese Inseln nicht so wie wir. Wie sollten Sie auch?«

»Mrs. Arraway«, sagte Daphne, »was gibt es denn dort so Furchterregendes? Schmuggler? Oder andere zwielichtige Gestalten?«

»Nein, Kindchen. Schmuggler sind aus Fleisch und Blut. Ich will gar nicht leugnen, dass es hier früher viele Schmuggler gab. Aber das Ding auf Tobit - nun, niemand weiß, was es eigentlich ist. Seit Generationen erzählt man sich jedoch, dass Tobit dem Meer gehört, und dass das Meer jedes Jahr ein Opfer verlangt - zum Ausgleich für das, was es uns gibt.« In ihrer Stimme klang Stolz mit, als sie sagte: »Nein, vor Schmugglern würde sich mein Jean nicht fürchten. Das Unheil kommt nicht von Menschen. Was dort passiert, ist etwas ganz anderes, etwas, gegen das man sich nicht wehren kann.«

Trotz des warmen Sonnenscheins fröstelte Daphne unter einer unheilvollen Vorahnung. Die Inselbewohner wussten sicher mehr über diese Dinge als sie und Anne. »Aber das Meer hat doch letztes Jahr auf sein Opfer verzichtet, nicht wahr?«, fragte sie. »Was sagen Sie dazu?«

»Darüber sollte man nicht scherzen, Miss. Ich bitte Sie sehr, nicht nach Tobit zu fahren.« Es konnte kein Zweifel bestehen, dass sie es ernst meinte; sie sagte auch nicht mehr wie sonst Kindchen, sondern Miss.

»Ich kann genauso starrköpfig sein wie Jean«, sagte Anne mit einem Lächeln, das ihren Worten die Spitze nahm. »Wir müssen einfach hin. Es wird schon gutgehen. Bitte, machen Sie sich keine Sorgen.« Sie legte eine Hand auf Mrs. Arraways Arm. »Wir leihen uns Jeans Schrotflinte und sein Flensmesser und nehmen außerdem ein Kruzifix und eine Flasche Whisky mit, so dass wir gegen alles gewappnet sind. Würden Sie so nett sein und uns einen Picknickkorb herrichten? Vielleicht gibt's noch mal Hummern? Wir wollen um halb sieben los, damit wir genügend Zeit haben, uns einzurichten, bevor es dunkel wird.«

Bevor Mrs. Arraway etwas sagen konnte, gingen die beiden Mädchen davon. In den bunten Shorts und den gestreiften leichten Pullovern, Badeanzug und Handtuch über einen Arm gehängt, sahen sie unbeschwert und fröhlich aus. Nach hundert Metern trafen sie auf ein paar Fischer, die auf den Bänken vor dem Holzschuppen und dem flachen Steingebäude saßen, welche den winzigen Hafen flankierten. Die Männer flickten ihre Netze oder saßen nur schweigsam und rauchend herum. Sie nickten den Mädchen freundlich zu. Jean war nicht zu sehen.

Nichts hätte weniger unheilträchtig oder harmloser wirken können als dieses friedliche Bild. Das Meer lag fast unbewegt und blau, grün und dunkelviolett schimmernd im strahlenden Sonnenschein - ein Farbspiel, das eher in die Tropen als in diese raue Gegend zu passen schien. Und doch konnte dieses gleiche Meer sich in ein gnadenloses Ungeheuer verwandeln, das mit schäumenden Wellenkämmen und tosender Brandung gegen die Felsen donnerte und sie zermahlte. Nicht umsonst waren die Inseln in den alten Zeiten ein Paradies für Strandräuber gewesen.

Es war schon fast sechs Uhr, als Anne und Daphne nach einem langen, faul am Strand verbrachten Tag heimkehrten. Sie fühlten sich zufrieden und angenehm müde und waren von der stark salzhaltigen Luft und von den im Wasser verbrachten Stunden ein wenig benommen. Die golden gebräunte Haut unterstrich ihre jugendliche Frische. Sie strahlten förmlich vor Gesundheit und Wohlbehagen.

Jean erwartete sie mit mürrischer Miene. Er trug ein offenes blaues Hemd. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, so dass seine muskulösen Arme gut zur Geltung kamen. Leichte Schuhe aus Segeltuch und fleckige Drillichhosen vervollständigten seinen Anzug.

»Guten Abend, Jean«, rief Anne ihm zu.

»'n Abend, Miss.« Er wich ihrem Blick aus.

»Das war ein schöner Tag heute«, sagte Daphne.

Er sagte nichts und folgte den Mädchen auf dem von Feldblumen gesäumten Pfad zum Häuschen. Als sie die Tür erreicht hatten, sagte er plötzlich: »Sie fahren also nach Tobit hinüber?«

»Ja«, antwortete Daphne, die Hände angriffslustig in die Hüften gestemmt.

»Dann bring ich Sie hin, Miss«, sagte er überraschend.

»Ich dachte, dass Sie nichts dazu bewegen könnte«, sagte Anne. »Wir hatten uns schon damit abgefunden, allein hinfahren zu müssen.«

Jean errötete und betrachtete sie mit mürrischer Miene. »Es wäre nicht gut, wenn Sie allein hinfahren - das heißt, es ist nicht gut, dass Sie überhaupt dorthin wollen. Es würde mich beruhigen, wenn Sie meine Begleitung annehmen.«

»Danke. Wir sind Ihnen wirklich dankbar«, sagte Daphne. Sie konnte sehen, wie verlegen er war, und wieviel Überwindung es ihn kostete, dieses Angebot zu machen. Ihr selbst war bei dem Gedanken, allein hinüberrudern zu müssen, nicht allzu wohl gewesen. Das Boot, das sie gemietet hatten, war ziemlich alt und schwer.

»Er darf aber nicht auf der Insel schlafen«, sagte Anne. »Das würde alles verderben.« Als sie seine Verlegenheit sah, fügte sie hastig hinzu: »Ich will damit sagen, Jean, dass Sie uns dort absetzen und am Morgen wieder abholen oder die Nacht über im Boot bleiben.«

Unter den dichten Brauen schoss er einen spöttischen Blick auf sie ab. »Wie Sie wünschen, Miss.« Seine Stimme klang leicht amüsiert. »Wann wollen Sie weg?«

»Ungefähr in einer halben Stunde«, sagte Anne. »Wir treffen uns im Hafen.«

Jean nickte. »Einverstanden.«

Während sie im Schlafzimmer Decken und alles andere, was sie für ihr nächtliches Abenteuer brauchten, zusammenpackten, sagte Daphne: »Ich gebe es nicht gern zu, Anne, aber ich bin froh, dass Jean in der Nähe sein wird.«

»Hast du Angst?«

»Bestimmt nicht«, sagte Daphne, »aber im Notfall... Ich meine, dass wir dann schnell wegkönnen.«

»Im Notfall?«, fragte Anne.

»Ach, ich weiß nicht, weshalb ich das gesagt habe.«

»Und wie dicht möchtest du Jean in der Nähe haben?«, fragte Anne lächelnd. »Von wegen froh! Was du in Wirklichkeit meinst, ist wohl, dass es dir lieber wäre, wenn ich im Boot schlafen würde, nicht wahr? Kommt nicht in Frage!«

Daphne wurde blutrot, was sie maßlos ärgerte. »Natürlich nicht«, sagte sie. »Aber du musst doch zugeben, dass er ein Bild von einem Mann ist.«

Anne lachte. »Sicher.« Sie steckte eine Packung Zigaretten in ihren Beutel. »Ich kann mir jedenfalls keinen Grund denken, der uns in die Flucht treiben könnte, besonders dann nicht, wenn dein Adonis in der Nähe ist. Und jetzt beeil dich! Wir müssen uns noch von Mrs. Arraway verabschieden und das Essen einpacken. Und vergiss ja nicht, Streichhölzer mitzunehmen.«

Jean wartete schon auf sie, und nachdem er das Gepäck verstaut hatte, ging es los. Tobit lag fast vier Kilometer westlich von St. Mark's, eine letzte Bastion gegen die unaufhörlichen Attacken des Atlantiks. Sie ließen die Samson-Insel links liegen; auch dort gab es außer den Seevögeln kein lebendes Wesen. Nur eine verfallene Hütte verriet, dass einstmals ein Schäfer dort ein paar Schafe geweidet hatte.

Tobit selbst duckte sich tief ins Meer. Seine bizarre dunkle Form wirkte wie ein urweltliches Tier, das nach dem Todesstoß versteinert war und jetzt sacht in der Dünung schaukelte. Überall waren Felsblöcke verstreut, die von Wind und Wasser zu grotesken Gebilden geformt worden waren. Sie hätten gut die Monumente eines Volkes sein können, das in einer von grauen Nebeln verschleierten Vorzeit auf diesem steinigen Vorposten des sagenhaften Kontinents Atlantis gelebt hatte!

Daphne war so sehr in Gedanken verloren gewesen, dass sie überrascht war, als die Küste vor ihr auftauchte. Jean schwang sich ins Wasser und watete, beladen mit Decken und Proviant, an Land. Vom Boot aus konnten die Mädchen sehen, dass in den felsigen Buchten viel Treibholz angeschwemmt worden war; man würde also nicht mit Brennholz sparen müssen.

Nach ein paar Minuten kam Jean durch das flache Wasser zurück. Er hatte während der Fahrt kaum ein Wort gesprochen, und es war offensichtlich, dass er sich immer noch nicht für den Ausflug begeistern konnte. »Soll ich Sie ans Ufer tragen, Miss?«

»Wir können selbst durchwaten«, sagte Anne.

»Dann werde ich Ihnen helfen, ein Lager zu machen. Drüben am anderen Ende der Insel gibt es eine sandige Stelle, die sicher windgeschützt ist.«

Das Meer glühte im Abendrot, als die Mädchen hinter Jean her gingen. Ab und zu stolperten sie über Felsbrocken, die von glitschigem, merkwürdig rotem Seetang bedeckt waren. Nach fünf Minuten erreichten sie eine schmale Halbinsel. Dort war die von Jean erwähnte sandige Stelle, die fast ganz von hohen, windzerfressenen Felsen eingeschlossen war.

»Sieh mal, Daphne«, sagte Anne. »Ist das nicht eigenartig? Wie ein Druidenkreis.«

»Das ist einer von den Feenkreisen«, mischte Jean sich ein. »Davon gibt es hier noch mehr. Sie wurden von den Zwergen angelegt. Bei den Ringen am Strand trafen sie sich mit den Wassergeistern.«

»Wirklich?«, sagte Daphne lachend. »Dann müssen wir ihnen ja für diesen idealen Lagerplatz dankbar sein.« Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ach, was ich noch wissen wollte - werden Sie im Boot übernachten? Das dürfte aber nicht sehr bequem sein.«

»Nein, das werde ich nicht«, sagte Jean ruhig. »Es wäre nicht richtig von mir, Sie allein zu lassen. Das ist gefährlich, sage ich Ihnen. Es ist nicht sicher. Tobit ist verflucht. Es gehört dem Meer und mag keine Eindringlinge.«

»Wenn Sie Angst haben, Jean, warum wollen Sie dann nicht lieber nach Saint Mark's zurückfahren? Wir möchten Sie keineswegs gegen Ihren Willen hierbehalten.« Annes Vorschlag klang wie eine Herausforderung.

Jean blieb gelassen und ignorierte ihren Spott. »Ich will gar nicht abstreiten, dass ich tatsächlich Angst habe«, sagte er, »aber ich lasse Sie trotzdem nicht allein.«

»Wo wollen Sie denn bleiben?«, fragte Daphne.

»Da oben bei dem großen Stein... bei dem Monolith. Ich will in der Nähe sein, falls Sie mich brauchen.« Er sah Daphne lächelnd an. »Nicht allzu nahe, aber in Hörweite.«

Daphne wandte sich zu Anne um. »Wir sollten jetzt Holz sammeln«, sagte sie. »Jean und ich übernehmen das. Du kannst inzwischen auspacken.«

Die beiden Gestalten entfernten sich im zunehmenden Dämmerlicht, während Anne anfing, das Lager herzurichten. Tief im Innern fühlte sie sich gar nicht so sicher, jetzt, da die Nacht anbrach und es keine Rückkehr mehr gab. Sie schauerte zusammen. Wie kam sie nur auf diesen Gedanken? Keine Rückkehr? Was konnte sie - außer ihrem albernen Stolz - daran hindern, einfach zurückzufahren?

Weg mit diesen lächerlichen Gedanken! Sonst würde sie noch hysterisch werden, und das könnte in der gegenwärtigen Situation sehr unangenehme Auswirkungen haben. Sehnsuchtsvoll dachte sie an das gemütliche Wohnzimmer in Mrs. Arraways Häuschen. Und doch konnte sie ein Gefühl der Furcht und des Unbehagens nicht unterdrücken. Es war, als ob irgendetwas Unheimliches sie bedrohte, als ob irgendetwas da sei, das sie belauerte.

Als sie mit Holzbündeln beladen zum Lagerplatz zurückkehrten, sagte Daphne lächelnd zu Jean: »Vielen Dank, dass Sie hierbleiben.«

Elf Uhr. Der Schein des Feuers flackerte geisterhaft über die Gesichter der beiden Mädchen.

»Sollten wir nicht versuchen zu schlafen?«, fragte Daphne. »Es ist schon spät.«

»Ja.« Anne warf ein Stück Holz aufs Feuer. »Ich wünschte, man hätte uns nichts von... von den anderen erzählt.« Sie schwieg einen Augenblick. »Wo ist Jean?«

»Dort oben auf dem Hügel«, sagte Daphne, »wie er es versprochen hat.«

»Glaubst du, dass er schon schläft?«

»Nein. Er sagte mir, er würde Wache halten.«

»Warum?«

»Keine Ahnung, vielleicht wegen des Gespenstes.«

Anne kuschelte sich tiefer in die Decke. Es war nur zu leicht, sich ein Gespenst oder eine spukhafte Erscheinung vorzustellen - aber bald würde ja die Nacht vorbei sein.

»Gute Nacht«, sagte Daphne resolut.

»Gute Nacht.«

Sie lagen still und lauschten auf das sachte Plätschern der Wellen, die auf den Strand aufliefen.

So vergingen zwei Stunden. Daphne wälzte sich unruhig herum. Dann setzte sie sich auf. Ein feiner Dunst dämpfte das Funkeln der Sterne und verschleierte die Sichel des aufgehenden Mondes. Sie umschloss die Knie mit den Armen und starrte hinauf in die unendliche Weite des Raums. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Aber allmählich wurde sie von der friedlichen Ruhe, die über diesem winzigen Felshügel inmitten des Meeres lag, eingeschläfert, und sie schloss die Augen.

Was war das? Daphne fuhr hoch. Ein seltsamer hoher Ton schien die Luft vibrieren zu lassen - ein durchdringendes Geräusch wie von einem Schwarm riesenhafter Stechmücken. Es stieg und fiel in einer monotonen Kadenz. Gelähmt vor Furcht, wagte sie nicht, sich zu rühren. Sie wusste nur, dass sie es nicht ertragen konnte, allein noch länger zuzuhören.

»Anne!«, flüsterte sie eindringlich. Anne bewegte sich nicht. »Anne!«, rief sie lauter.

»Ja, was ist denn? Was ist los?« Anne stützte sich verschlafen auf einem Ellbogen auf.

»Kannst du es nicht hören?«, fragte Daphne.

»Was?«

Beide lauschten angespannt. Die See murmelte leise und spülte unaufhörlich in die unzähligen kleinen Buchten hinein. Über dem Seufzen des Wassers erhob sich jener andere Laut - ein hohes, unheimliches Pfeifen, das immer durchdringender wurde.

»Das ist der Wind in den Felsen«, sagte Anne, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Die sind förmlich durchsiebt von Spalten. Deswegen brauchst du keine Angst zu haben, Liebes. Schlaf ruhig weiter.«

Das Feuer war zu einem glühenden Aschenhaufen niedergebrannt. Daphne starrte mit weit offenen Augen zum Himmel hinauf. Sie fürchtete sich. Wieso konnte Anne es nicht auch hören? Dieses Pfeifen - was mochte es sein?

Tobit gehört dem Meer! Menschen haben kein Recht, dort zu sein. Wo hatte sie diese Worte gehört? Wer hatte sie gesagt? War es Mrs. Arraway gewesen oder Jean?

Ihre Augenlider wurden schwer. Vielleicht könnte sie wieder einschlafen, wenn nur dieses entsetzliche Pfeifen aufhören würde. Wenn es nur aufhören würde... Die Zeit schien stillzustehen, während sie sich ruhelos herumwälzte.

Daphne schrie auf. Sie zitterte wie im Schüttelfrost. Selbst jetzt, da sie wach war, hielt der schreckliche Traum sie noch gepackt.

Sie war auf einem felsübersäten Strand gewesen, ganz allein, und plötzlich hatte sie eine Stimme gehört: Zwei! Diesmal müssen es zwei sein! Die Worte hatten sie mit einer unbeschreiblichen Furcht erfüllt. Sie hatte wegrennen wollen, aber eine verfließende, nebelhafte, gigantische Gewalt hatte ihr den Weg versperrt. Die monströse Erscheinung war auf sie zu gewallt, und sie hatte gespürt, dass vor ihr die Inkarnation des Bösen stand. Wenn es sie erreicht hätte... sie berührt hätte... Daphne war überzeugt, dass sie gestorben wäre.

Sie blinzelte angestrengt auf ihre Uhr. 25 Minuten vor drei. Noch ein paar Stunden, dann würde es hell werden. Das Feuer schimmerte nur noch ganz schwach. Sie streckte suchend die Hand nach ein paar Holzstücken aus, aber es lagen nur noch ein paar dünne Splitter herum. Wie schnell der Vorrat zu Ende gegangen war. Anscheinend hatte Anne, während sie selbst schlief, den Rest verfeuert. Sie scharrte die Splitter zusammen und warf sie auf die glimmende Asche.

Ohne das tröstliche Prasseln des Feuers konnte sie keine Ruhe finden. Sie .sah zu Anne hinüber, die schlief. In dem aufflackernden Schein des Feuers wirkte sie so jung, so rührend und wehrlos, dass Daphne es nicht übers Herz brachte, sie zu wecken.

Das Pfeifen war noch stärker geworden. Es brauste triumphierend durch die Luft, und eine schrille Stimme schien zu rufen: Ich bin der Tod! Der hohe dünne Ton kroch wie eine unmenschliche Drohung in ihre Ohren. Sie musste unbedingt neues Holz sammeln, sonst würde sie den schrecklichen Angreifer nicht abwehren können. Warum nur hatte sie das Kruzifix nicht mitgenommen?

Sie stand auf und trat aus dem steinernen Kreis hinaus, verließ das freundliche Feuer und ging in die rätselhafte Dunkelheit hinein. Die Nacht schien sich fest um sie zu schließen. Sie war allein und von Feindseligkeit umgeben. Im ganzen Universum gab es keinen Menschen außer ihr. Sie sagte sich, dass sie albern sei. Schließlich waren ja Anne und Jean da. Aber die unerklärliche, lähmende Furcht ließ sie nicht los. Sie würde bei dem riesigen Monolith, wo Jean Wache hielt, Schutz finden. Jean würde sie aufmuntern und bestimmt mit dieser teuflischen Drohung, die ihren Verstand zu ersticken schien, fertigwerden. Sie erinnerte sich, wie sein Gesicht im Schein des Feuers ausgesehen hatte. Seine Augen hatten einen Ausdruck gehabt, der an den Blick eines Märtyrers erinnerte. Er hatte die Gefahr, die auf sie lauerte, gekannt. Alle hatten es gewusst.

Das Gehen war schwierig. Der Sand rutschte unter ihren Füßen weg, und das derbe Seegras zerschnitt die Haut ihrer Beine. Wo war Jean? Der Monolith schien sich in den Himmel zu bohren. Jetzt sah sie das schwache Glimmen von Jeans Lagerfeuer, ein graues Häufchen, das im Wind ab und zu aufglühte. Sie stolperte darauf zu. Aber wo war Jean? Sie stand neben einem kleinen Hügel und starrte angestrengt in die Dunkelheit.

»Jean! Jean!«, rief sie mit erstickter, krächzender Stimme. Sie zwang sich, zu dem verlassenen Feuer hinzugehen. Ihre Panik wuchs mit jedem Schritt, und als sie näher heran war, bemerkte sie in dem schwachen Licht etwas Glitzerndes, etwas, das schwach leuchtete. Sie bückte sich, um zu sehen, was es sein könnte. Mit einem Ausruf des Ekels fuhr sie zurück. Die Stelle, wo Jean gesessen hatte - der Segeltuchsack lag noch dort und zeigte den Eindruck seines Kopfes -, hatte sich in eine schleimige, faulig stinkende Pfütze verwandelt. Einen Moment lang dachte sie, dass hier eine riesige Schnecke verwest sei, eine monströse Schnecke, die aus dem Meer gekommen war. Und dann zitterte sie vor Angst. Wie gelähmt stand sie da und starrte auf die scheußliche Spur zu ihren Füßen.

Die Nacht wurde von einem Hilfeschrei zerrissen, der von dem Felskreis herkam, wo ihr Lager war. »Daphne! Jean! Daphne! Helft mir! Helft mir! Oh, mein Gott!« Es war Annes Stimme, und sie klang so wild und unmenschlich wie das Geheul einer verdammten Seele.

Die Schreie brachen plötzlich ab, und eine Stille, die viel unheilträchtiger war als der wüsteste Lärm, ließ Daphnes Herz stocken.

»Ich komme... ich komme!«, keuchte sie. Sie rannte zum Lager zurück. Das Pfeifen erhob sich zu einem Crescendo und hämmerte unerträglich gegen ihre Ohren. Sie erreichte den höchsten Punkt der Bodenerhebung, von wo aus sie den Treffpunkt der Zwerge sehen konnte. »Anne!«, kreischte sie schrill. »Ich komme, Anne!« Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sie taumelte den Hügel hinunter. Wo Anne gelegen hatte, war eine zweite schleimige Pfütze, genauso widerlich stinkend. Und da war auch die gleiche zähflüssige Spur, die zum Meer führte. Solche grauenhaften Geschehnisse durften einfach nicht sein. Ihre Lippen bewegten sich in einem verzweifelten Gebet. »Bitte, lieber Gott... im Namen Jesu Christi...« Anne war verschwunden, genau wie Jean. Etwas hatte sie weggeholt. Schaudernd starrte Daphne auf die breite, schwach leuchtende Spur ekelhafter, verwesender Masse und erinnerte sich an die Schriftstellerin und an den Maler, die ein ähnliches Schicksal getroffen hatte. Jean hatte zu ihr gesagt: »Niemand weiß, was eigentlich aus ihnen geworden ist.« Jetzt wusste sie es.

Sie zwang sich dazu vorwärts zu gehen und der Spur des scheußlichen Wesens zu folgen, das Anne geholt hatte. Im Licht der Sterne war kaum etwas zu erkennen. Gelegentlich glänzte ein schleimiger Abdruck auf der Oberfläche des Steins auf. Der Weg führte unbeirrbar zum Meer, allerdings nicht direkt zum Flachwasser, sondern zu der tiefen Rinne, die den Meeresboden durchfurchte. Immer wieder fiel sie hin. Ihre Hände waren blutig zerschunden, die Füße von scharfen Felskanten und dem harten Seegras zerschnitten.

»Anne! Anne!« Ihre Stimme war heiser geworden. Das einzige antwortende Geräusch kam von den Wellen, die sich am Ufer brachen. Die Flut hatte jetzt fast den höchsten Stand erreicht, aber noch war die Spur auf dem freien Streifen Sand zu erkennen. Sie zog sich hinaus ins Wasser und hinterließ eine wie Perlmutter schimmernde Furche.

Die Stille war unheimlich. In ihrer Furcht schluchzte Daphne laut auf. Als sie den Rand des Wassers erreichte, bemerkte sie, dass das abscheuliche Pfeifen aufgehört hatte.

Mrs. Arraway saß im Heck des Bootes und blickte unverwandt auf die Insel, der sie sich näherte. Im Sonnenlicht des frühen Nachmittags bot Tobit einen Anblick von beeindruckender Schönheit. Die gezackte Küstenlinie gebot dem Meer Einhalt, der blutrote Seetang hob und senkte sich mit den Wellen.

Mrs. Arraways Gesicht war grimmig und ängstlich zugleich. Die Ruderer waren vier kräftige, schweigsame Fischer von St. Mark's. Das Boot lief auf. Mrs. Arraway war die erste, die über Bord stieg und den Strand erreichte. Sie rannte auf die Insel.

»Jean! Jean! Miss Daphne! Jean!« Sie hatte die Hände wie ein Sprachrohr um den Mund gelegt, und ihre Stimme klang dünn und hoch. Die See brauste und gurgelte in die tiefen Spalten.

Hinter ihr kamen die Fischer, mit schwerfälligen und doch raschen Schritten. »Da ist jemand!«, rief Tom Tregarth.

Mrs. Arraways Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Links von ihr, am Strand, saß Daphne neben einer länglichen Wasserlache und spielte mit Seetang. Nichts deutete darauf hin, dass sie die Rufe gehört oder die Näherkommenden bemerkt hatte. Sie warf nicht einmal einen Blick zu ihnen hinüber.

Mrs. Arraway stürzte auf sie zu. Sie beugte sich nieder und schüttelte Daphne bei den Schultern. »Wo ist mein Jean?«

»Jean?« Daphne runzelte verständnislos die Stirn.

»Und Miss Anne?« Mrs. Arraway ließ sich auf die Knie fallen. »Sagen Sie mir, was geschehen ist. Wo sind sie?«

»Das möchten Sie wissen, was?«, sagte Daphne. »Ja, ich sehe, dass Sie es wissen wollen - aber Sie erfahren es nicht. Niemals.« Sie blickte auf die Männer, die um sie herum standen. »Weil niemand weiß, was aus ihnen eigentlich geworden ist. Und niemand wird es je wissen.« Sie lachte. Sie kannte ein wichtiges Geheimnis, das sie mit keinem anderen Menschen teilen durfte. Sie warf der verzweifelten Frau einen verschlagenen Blick zu und fuhr fort, die schlaffen roten Seetangstreifen, die sie in einer Hand hielt, zu streicheln. »Nein, niemand wird je erfahren, was aus ihnen geworden ist. Diesmal hat es zwei gefordert. Tobit hat sich zwei geholt.«

Die Männer durchkämmten die Insel Schritt für Schritt, durchsuchten alle Höhlen, blickten hinter jeden Felsblock. Sie fanden die Decken und die Proviantkörbe neben den Feuerstellen, aber keine Spur von den Eigentümern. Die Schleimpfützen, wo der unheimliche Besucher gesessen hatte, waren im Sonnenschein verdunstet. Nur wo der vertrocknete Schleim eine Kruste hinterlassen hatte, zeigte ein mattes Schimmern den Weg des entsetzlichen Wesens an, aber die Suchenden achteten nicht darauf.

Tom Tregarth hob Jeans Messer auf, dessen Klinge den gleichen Perlmutterschimmer aufwies. Aus seinem Blickwinkel wirkte der Monolith wie mit einem hell-dunklen Muster überzogen. Es kam ihm so vor, als ob er das in die Oberfläche eingemeißelte Gesicht eines Phantoms sähe, ein verschwommenes Gesicht mit dicken, grausamen Lippen, das Gesicht eines uralten Götzen, der unablässig und brütend nach Westen über die unendliche Fläche des Ozeans starrt. Dort, wo der Mund sein sollte, saß ein karminroter Fleck, wie geronnenes Blut. Aber als Tom näher heranging, erkannte er, dass- es nur ein Büschelchen Flechte war. Er blickte zum Strand hinüber, wo die anderen auf ihn warteten, und rannte den Abhang hinunter.

Daphne saß noch immer neben der Lache. Lange Zeit weigerte sie sich aufzustehen, und schließlich schleppten die Männer sie mit Gewalt von der Insel.

Wenn man Daphne in jenem schmucklosen graubraunen Haus besucht, in das sie geschickt wurde, und wo sie, jetzt eine alte weißhaarige Frau, immer noch ohne Verstand dahinvegetiert, dann winkt sie ihren Besucher beiseite, zieht seinen Kopf dicht heran und scheint die Absicht zu haben, ihm ihr Geheimnis anzuvertrauen. Sie sagt ein paar Worte, aber dann bricht sie ab. Denn sie fürchtet, dass das Ding auf Tobit es erfahren würde, dass sie gesprochen hat. Und Tobit gehört dem Meer.

  KITTY FISCHERIN (Kitty Fisher)

 

 

Valerie Quinn betrachtete ihren Mann mit kritischem Blick, was gar nicht zu ihr passte. »Du siehst altmodisch aus«, bemerkte sie sachlich. »Höchste Zeit, dass du dir mal einen modernen Smoking zulegst.«

»Ich sehe wie ein Kavalier der alten Schule aus«, korrigierte Basil sie, »und bin stolz darauf. Möchtest du lieber, dass man mich für einen Pop-Sänger hält?«

»Altmodisch«, beharrte Valerie. »Fliegen sind seit Fred Astaires Zeiten passe.«

»Aber ich mag Fliegen«, sagte Basil, »und ich mag Fred Astaire. Ich bin ein beständiger Mensch, und außerdem brüstest du dich ja immer damit, dass du niemals bemerkst, was Männer anhaben. Das ist so eine Art von pervertiertem Stolz.«

»Ich brüste mich nicht«, sagte Valerie freundlich.

»Doch, das tust du, meine Liebe«, sagte Basil. »Und zwar kannst du abendfüllende Arien über dieses Thema schmettern. Du würdest jeden Sängerwettstreit gewinnen.« Er steckte sich eine Nelke ins Knopfloch. »Komm, wir müssen gehen.«

»Wir haben noch gut fünf Minuten Zeit«, widersprach Valerie.

Aus langer Erfahrung verzichtete Basil auf jede Widerrede, zog jedoch seine Taschenuhr hervor und starrte angelegentlich auf das Zifferblatt. »Wenn du unbedingt zu spät kommen willst«, sagte er.

»Und Westen sind auch altmodisch«, fuhr seine Frau fort, ohne auf seine Worte einzugehen. »Ein Mann, der mit der Zeit geht, trägt einen Kummerbund. Warum tust du das nicht?«

»Weil«, sagte Basil liebenswürdig, »ich finde, dass Westen warm, konservativ und praktisch sind. Ich kann alles, was ich brauche, in meinen Westentaschen unterbringen. Da bist du ja, Hubert«, unterbrach er sich, als sein Sohn ins Zimmer kam. »Wir gehen jetzt. Wie dir bekannt ist, lassen wir die Kinder in deinen bewährten Händen.«

Hubert lächelte. »Viel Spaß!«, wünschte er. Er war ein hochgewachsener, schlaksiger und blonder Junge von 18 Jahren. Man konnte bereits erkennen, dass er später einmal ein auffallend gut aussehender Mann sein würde. Er trug ein Sporthemd mit offenem Kragen und schwarze Jeans, die Uniform seiner Generation.

»Tut mir leid, dass ich dich bitten musste, deine Verabredung abzusagen«, entschuldigte sein Vater sich, »aber dieser Abend ist für uns sehr wichtig.«

»Ich weiß«, sagte Hubert. »Macht gar nichts. Es geht ja nicht nur euch so. Niemand«, erklärte er großzügig, »kann heutzutage einen Babysitter kriegen.«

»Was hattest du denn vorgehabt?«, fragte Valerie.

Hubert zuckte mit den Schultern. »Ein paar von uns wollten zu Martha Lucas gehen. Nichts Besonderes. Schallplatten - na, ihr wisst schon. Sie wohnt in Chiswick, gleich am Fluss. Ich kann auch ein andermal hingehen.«

Valeries Mundwinkel zuckten. »Du bist ein sehr vernünftiger und liebenswürdiger junger Mann«, lobte sie, »und der liebe Gott wird es dir lohnen, wenn wir es schon nicht tun.«

 

Sie ging ins Kinderschlafzimmer und sprach mit Kate, die, wenn auch protestierend, bereits im Bett war. Sie teilte das Zimmer mit der kleinen Lucy.

»Gute Nacht, Kitty«, sagte Valerie. »Nun sei ein braves Kind und versuche, gleich einzuschlafen. Und weck mir ja nicht Lucy auf. Wir bleiben nicht lange weg, höchstens bis eins. Wahrscheinlich bin ich sogar schon eher zurück, aber es ist möglich, dass der Papa noch bleiben muss.« Kate murmelte eine Antwort, dann sagte Valerie Abschied nehmend: »Gute Nacht, Kitty, mein Liebling.« Und mit etwas sanfterer Stimme fügte sie hinzu: »Gute Nacht, Lucy-Darling.« Sie nahm das Tablett mit Kates Abendbrotgeschirr mit hinaus und trug es in die Küche.

Valerie hatte sich nie bemüht, möglichst lange jung auszusehen. Ihr Charme hing nicht von einem taufrischen Aussehen ab. Ihr braunes Haar war stellenweise ergraut, und ihre großen intelligenten Augen funkelten vor Witz und Humor. Ihre Anziehungskraft beruhte vielmehr auf ihrem Charme als auf ihrem Aussehen, obgleich sie, wenn es die Gelegenheit erforderte, den Eindruck großer Schönheit vermitteln konnte. Ihr rostfarbenes Kleid, ein zugegebenermaßen teures Modell, war einfach und gut geschnitten und ihrem Alter angemessen. An Schmuck trug sie nur ein breites Goldarmband.

Sie begleitete Basil zur Theaterpremiere des Thrillers The Even Tide. Alex und Audrey Wardell hatten sie eingeladen, weil ihre Tochter zum ersten Mal im West End auftrat. Nachher wollten sie alle zur Premierenfeier gehen.

Basil war Schauspieler, kein großer Star, aber vielbeschäftigt. Er war routiniert, zuverlässig und ziemlich vielseitig, und im Laufe der Jahre hatte er eine treue Anhängerschaft gewonnen, insbesondere unter dem Matinee-Publikum, das überwiegend aus älteren Damen bestand, die sein schiefes Lächeln und sein vornehmes Getue bewunderten. In regelmäßigen Abständen übernahm er auch Hauptrollen. Auch das Fernsehen interessierte sich für ihn, was eine zusätzliche und sehr willkommene Einnahmequelle bedeutete.

Valerie hatte gleichfalls auf der Bühne gestanden. Aufgrund ihrer ganz besonderen Ausstrahlung hatte sie fast von Anfang an Erfolg gehabt, aber nach ihrer Heirat hatte sie ihre Karriere vernachlässigt, denn sie war der Ansicht, die Familie sei wichtiger. Wenn ein Stück sie interessierte, nahm sie manchmal noch ein Engagement an, aber dann musste man ihr erst gut zureden, dass ihr die Rolle wirklich auf den Leib geschneidert sei.

Hubert machte auf der Schauspielakademie gute Fortschritte, und sie durften über seine Zukunft unbesorgt sein. Basil und Valerie Quinn liebten alle ihre Kinder zärtlich. Nach Hubert war ein zweiter Sohn gekommen, der aber schon als Baby starb, was für beide Eltern ein schmerzlicher Verlust gewesen war. Erst nach einer Pause von neun Jahren wurde Kate geboren und nach weiteren fünf Jahren Lucy, die jetzt dreizehn Monate alt war.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war Basil fest überzeugt davon, dass Lucy eine ungewöhnliche musikalische Begabung habe und für die Opernbühne bestimmt sei. Er nannte sie immer nur Lucy-Darling, und mit dem Darling meinte er ihren kleinen Hals, aus dessen Tiefe eines Tages ein unermesslicher Reichtum strömen würde. »Lucy«, so sagte er augenzwinkernd, »ist unsere Versicherung gegen die grässliche Armut, die im Alter auf uns lauert, wenn niemand uns mehr haben will. Hubert wird ja eine eigene Familie gründen und dafür sorgen müssen. Und Kitty - ich fange schon langsam an, sie für dieses Ziel zu drillen - wird einen reichen und klugen und guten Mann heiraten und sein Augapfel sein. So ist es also Lucy-Darling, die uns all die Bequemlichkeiten bieten wird, auf die wir im Winter unseres Lebens sicherlich ein Anrecht haben. Warten Sie's nur ab! Sie wird die beste Sopranistin der Welt.« Seine Zuhörer pflegten seine großsprecherischen Behauptungen mit nachsichtigem Lächeln hinzunehmen.

Kate war ganz anders veranlagt als der extrovertierte Hubert. Sie war ein beherrschtes, zurückhaltendes kleines Mädchen, scheu und ein wenig verschlossen. Sie bevorzugte Beschäftigungen, denen sie zu Hause nachgehen konnte, also Nähen, die Puppenkinder anziehen und Klavier spielen, wofür sie recht begabt zu sein schien. Manchmal fiel es Valerie schwer, sie zu verstehen, aber Basil betete sie genauso an wie seine anderen Sprösslinge und sagte, dass sie sich durch ihre Zielbewusstheit und ihre Charakterstärke bestimmt im Leben durchsetzen würde, wenn auch nicht gerade in der Welt des Theaters.

Valerie klärte ihn nie darüber auf, dass sich unter dem gelassenen Betragen nicht nur Charakterstärke, sondern auch ein eiserner Wille und eine eifersüchtige Besitzgier verbargen, die sie geradezu erschreckend fand. Sie versuchte sich einzureden, dass Kate im Laufe der Jahre diese Schwächen von selbst verlieren würde. Bei drei Geschwistern war das Zweitälteste manchmal gezwungen, zur Wahrung seiner Individualität sich entweder durch ein aggressives Verhalten oder, wie in Kates Fall, durch Passivität zu behaupten. Das Problem würde nicht leicht zu lösen sein und erfüllte Valerie mit Unbehagen.

Alle ihre Freunde und Bekannten waren von Kate sehr angetan. Mit ihren dunklen glänzenden Locken und dem bezaubernden Lächeln war sie ein entzückendes Kind, das sich stets ein wenig gesetzt und reserviert gab.

Alex Wardell, Kates Patenonkel, war hingerissen von ihr. Zu ihrem fünften Geburtstag hatte er ihr eine fast eineinhalb Meter große Puppe geschenkt, die als Zulu-Krieger hergerichtet .war, prächtig mit Glasperlen und Fußkettchen und Federn geschmückt, komplett mit Schild und Jagdspeer. »Sie muss sich schon frühzeitig an den Gedanken gewöhnen, einen Mann im Bett zu haben«, hatte er lachend zu Basil gesagt, »selbst wenn er, was für die heutige Jugend ja nichts Außergewöhnliches ist, eine andere Hautfarbe haben sollte.« Kate war sehr begeistert gewesen. Sie hatte noch nie ein so wunderbares Geschenk bekommen. Sie taufte die Puppe Othello.

Als sie das erste Halbjahr im Kindergarten gewesen war, äußerte sich die Leiterin, Miss Harley, Valerie gegenüber sehr lobend. »Ein hochintelligentes kleines Mädchen«, hatte Miss Harley gesagt. »Wir sind alle sehr zufrieden mit ihr. Aber da ist etwas, was ich Ihnen nicht verheimlichen darf, Mrs. Quinn.« Miss Harley hatte Valerie mit professioneller Freundlichkeit angelächelt, ihre Brillengläser glitzerten im blassen Licht der Märzsonne, und dann hatte sie den Schlag niedersausen lassen. »In meinem ganzen Leben ist mir kein Kind in Kates Alter - oder irgendeines anderen Alters - begegnet, das so unnahbar ist. Sie hat mit ihren Altersgenossen keinerlei Kontakt, noch bemüht sie sich darum. Außerhalb des Unterrichts lebt sie in ihrer eigenen Welt, wo niemand sie erreichen kann.«

Valerie hatte sie verdutzt angestarrt und war etwas verärgert gewesen über diese unnötige und ziemlich oberflächliche Kritik. Es hatte ihr gar nicht gepasst, ihre eigenen uneingestandenen Befürchtungen so deutlich ausgesprochen zu hören.

 

Die Premierenfeier könnte für sie und Basil sehr wichtig sein. Audrey Wardell hatte ihr erzählt, dass Humphrey Brecknock auch kommen würde, der demnächst Beverley Bryants neues Stück herausbringen würde. Für die männliche Hauptrolle schien Basil die geeignete Besetzung zu sein. Die beiden Männer waren sich noch nie persönlich begegnet. Natürlich wusste Humphrey über Basil Bescheid, das gehörte zu seinem Beruf, aber es schadete ja nichts, wenn man sein Gedächtnis etwas auffrischte und ihn mit Basil zusammenbrachte. Daher hatten die Quinns die Einladung nicht ablehnen wollen.

Valerie kam ins Wohnzimmer zurück. Sie trug ihr Zobel-Jäckchen und fragte »fertig?«, als ob Basil derjenige sei, der getrödelt hatte. »Wir dürfen nicht zu spät kommen, und du musst sicher erst stundenlang suchen, bis du einen Parkplatz findest.« Sie rief nochmals »Gute Nacht!« in Richtung auf das Kinderzimmer. »Also, vielen Dank, Hubert«, sagte sie dann. »Dein Abendessen steht im Warmhaltefach. Du brauchst es nur herauszunehmen.« Sie wandte sich zu ihrem Mann. »Komm jetzt, Liebling.«

 

Als sie gegangen waren, stellte Hubert sich ans Fenster, von wo aus er die Straße überblicken konnte. Seine Eltern kamen aus dem Haus, gingen über den Bürgersteig und stiegen in den Jaguar ein. Er verspürte ein wenig Mitleid, als er von seinem Beobachtungsposten aus sah, dass das Haar seines Vaters allmählich schütter wurde, denn er überlegte, wie sehr das ihn selbst stören würde. Neben dem lackglänzenden Jaguar sah sein eigener kleiner Austin richtig schäbig aus. Trotzdem liebte er ihn. Er hatte ihn als Weihnachtsgeschenk bekommen, nachdem er seine Fahrprüfung bestanden hatte. Er hielt ihn hoch in Ehren. Dann ging er ins Zimmer zurück, die Hände in die Taschen seiner hautengen Jeans geschoben. Er wäre wirklich gern ausgegangen, aber er sah ein, dass man ab und zu auf andere Leute Rücksicht nehmen müsse. Martha hatte nämlich auch Hermione Harrison eingeladen, und an Miss Harrison dachte er viel und oft. Diese junge Dame verstand es nämlich, sich ehrlich für einen jungen Mann interessieren zu können, was man von den eingebildeten Schauspielschülerinnen, mit denen er zusammenkam, nicht behaupten konnte. Die interessierten sich nur für sich selbst.

Er überlegte, wie er die Zeit ausfüllen sollte. Den Text für morgen hatte er bereits gelernt. Zum Essen war es noch zu früh. So stellte er den Fernseher an und holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Gerade als er ausgetrunken hatte und in der Abendzeitung die Überschriften las, klingelte das Telefon.

Zu seiner freudigen Überraschung war es Hermione Harrison. Es, stellte sich heraus, dass sie ganz niederträchtig im Stich gelassen worden war, was für sie wohl eine völlig ungewohnte Erfahrung sein musste, wie Hubert dachte. Sie war mit Maggie Lloyd und deren Bruder verabredet gewesen, die sie in ihrem Wagen mitnehmen wollten, aber leider - und ganz bestimmt nicht durch ihre eigene Schuld - war sie aufgehalten worden, und die beiden hatten nicht auf sie gewartet. War das nicht typisch für Maggie? Hatte Hubert zufällig vor, auch nach Chiswick zu fahren, und wenn ja, würde er sie mitnehmen? Sie war sich seiner Antwort ganz sicher, denn es war ihr nicht entgangen, dass Hubert ein Auge auf sie geworfen hatte. Daher war sie sehr ärgerlich, als er ihr sagte, dass er aus familiären Gründen zu Hause bleiben müsse. Schweigend hörte sie sich seine hervorgestotterte Entschuldigung an.