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Eine junge Hebamme ermittelt vor mittelalterlicher Kulisse. Konstanz, 1327: Während zwei Morde die Stadt in Atem halten, wird die junge Hebamme Hanna ins Haus des Tuchhändlers Eberlin gerufen. Dessen hochschwangere Frau Martha berichtet von einer seltsamen Veränderung ihres Gatten, der in mysteriöse Machenschaften verstrickt zu sein scheint. Hanna versucht, Licht ins Dunkel zu bringen, und muss schon bald erkennen, dass sie es mit gefährlichen Männern zu tun hat, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen.
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Seitenzahl: 466
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Doris Röckle, geboren 1963, lebt mit ihrer Familie in Vaduz im Fürstentum Liechtenstein. Neben ihrer Tätigkeit im medizinischen Sektor gehört ihre Leidenschaft dem Schreiben historischer Romane. Von der Mystik des Alpenrheintals und seinen Burgen gefangen, lässt sie das Mittelalter nicht mehr los.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer unter Verwendung des Bildmotivs mauritius images/Westend61/Werner Dieterich
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-008-2
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).
Für Christina –
danke für die vielen harmonischen Jahre gemeinsamer Arbeit
Dramatis Personae
Hanna – sturköpfig, neugierig, junge Wehmutter am Ende der Ausbildung; lässt sich durch nichts unterkriegen
Wendelgart – Hannas Lehrmutter; das Alter macht ihr zu schaffen
Ursus – Stallmeister und Hannas Geliebter; nicht immer einer Meinung mit Hanna, doch würde er alles für sie tun
Lena – Frau des Rheinmüllers, Hannas Freundin und Verbündete im Kampf um Gerechtigkeit
Klara – Magd bei Lena und mit im Bunde
Alma – junge Begine und ebenfalls in die Aufklärung der Morde involviert
Prolog
In der Nacht rüttelte der Wind so heftig an den Fensterverschlägen, dass an Schlaf nicht zu denken war. Sturmwinde zu Beginn des Winters waren ein schlechtes Omen. Warum nur standen die Ratsherren ständig im Streit mit dem Bischof? Bestimmt war der Wettersturz die Strafe für diese Versündigung, dachte so mancher brave Konstanzer Bürger.
Die junge Magd versuchte, das Schreien ihres Kindes zu bändigen. In ihrer Verzweiflung drückte sie dem Jungen ein Stück Leinentuch auf den Mund, doch das kleine Würmchen schrie dadurch nur noch lauter. Schon regten sich die beiden anderen Frauen, mit denen sie die Kammer teilte. Nicht mehr lange und sie würden ihrem Unmut mit Schimpftiraden Luft machen.
Seit der Geburt des Kindes war ihr Leben in diesem Haus zur Qual verkommen. Schnupfend rieb sich die junge Frau eine Träne aus den Augenwinkeln, dann rappelte sie sich langsam auf. Sie drückte das Kind fest gegen ihre Brust, in der Hoffnung, dass ihr Herzschlag es beruhigte.
»Sieh zu, dass der Balg endlich Ruhe gibt«, zischte es in diesem Augenblick von der gegenüberliegenden Bettstatt.
Trotz des dämmrigen Lichtes glaubte sie, das wütende Blitzen in den Augen der Obermagd zu sehen. Hastig stand sie auf und tippelte mit bloßen Füßen auf die Tür zu, das Kind noch eine Spur fester gegen die Brust drückend. Zum Glück war die andere Magd durch den Lärm nicht aufgewacht. Das Weibsbild hielt sich mit Schlägen nur selten zurück. Das kleine Würmchen hatte dies schon mehrmals zu spüren bekommen.
Erleichtert schlüpfte die Magd hinaus in die Diele. Der Sturm brachte das Haus zum Knarren, irgendwo schlug ein Holzladen auf und zu. Mittlerweile fror sie so entsetzlich, dass sie am ganzen Leib zitterte.
Die Geburt des Kindes lag gute fünf Wochen zurück, und doch schmerzte ihr Unterleib oftmals so heftig, dass sie die ihr aufgetragenen Arbeiten kaum erledigen konnte. Doch weder die Obermagd noch die Köchin nahm darauf Rücksicht. Für sie war sie ohnehin eine Hure, die den Herrn verführt hatte. Verführt – dass sie nicht lachte. Der Mann hatte ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit nachgestellt. Sie hasste ihn dafür, und doch konnte sie nicht weg von hier. Sie brauchte diese Stellung, ansonsten würde ihr Kind verhungern.
Hastig schlug sie mit der freien Hand das Kreuzzeichen, ehe sie leise nach unten in die Küche schlich.
Durch den Bretterverschlag drang ein wenig Mondlicht, sodass sie den Honigtopf auf der Anrichte schnell fand. Mit zittrigen Fingern tauchte sie das Leinenstück in die köstliche Süße und drückte den Stoffzipfel sanft zwischen die Lippen ihres Kindes. Das Schreien verstummte augenblicklich, und ein wohliges Schmatzen verriet, welche Wonne der kleine Junge in diesem Augenblick durchlebte. Sie beneidete ihn um diese Sorglosigkeit. Wie gern würde auch sie die Augen schließen und alles vergessen. Doch so einfach war das Leben nicht, nicht in diesem Haus. Jedermann wusste von den grapschenden Händen des Herrn, seiner Triebhaftigkeit und seiner Verschlagenheit, und doch stellte sich niemand auf ihre Seite.
Die junge Frau schniefte. Zärtlich strich sie ihrem Würmchen über die Stirn. Sie liebte das Kind, auch wenn es unter Gewalt gezeugt worden war. Noch nie hatte sie etwas Eigenes besessen, etwas, das nur ihr allein gehörte. Sie würde dieses Kind niemals hergeben, auch wenn der Herr es verlangte.
Ein Rascheln ließ sie herumfahren. Als von der hinteren Ecke ein Miauen zu hören war, entspannte sich ihr Körper. Der fette Hauskater nutzte die Sturmnacht für eine Jagd.
Hinauf in die Kammer wollte sie nicht mehr, auch wenn das Kind in ihren Armen längst zur Ruhe gekommen war. Also zog die Magd einen Hocker an den Herd und setzte sich darauf. Die nächtliche Kälte kroch ihre nackten Beine hoch. Sie seufzte. Bis zum Morgengrauen würden noch etliche Stunden vergehen.
Gähnend beobachtete sie das schemenhaft zu erkennende Gesichtchen ihres Kindes. Er war hübsch, ihr Sohn, trotz der Pein, die ihr der Herr zugefügt hatte. Die Erinnerung an seine Grobheit, wenn er sie wieder einmal hart im Keller hinter ein Weinfass gedrängt hatte, um ihr den Rock über die Hüften zu ziehen, schmerzte. Sie schloss die Augen und schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter.
Irgendwann musste sie wohl doch eingeschlafen sein, denn als die Köchin die Tür mit Schwung aufstieß, fuhr sie erschrocken von ihrem Hocker hoch.
»Hast du etwa hier geschlafen?«, rümpfte die dicke Frau mürrisch die Nase, wobei sie auf das Fenster zuschlurfte, um den Bretterverschlag zu öffnen.
»Der Sturm hat den Jungen unruhig gemacht … Und ich wollte …«, stammelte die Magd verlegen.
»Leg ihn in die Kiste und dann zieh dich ordentlich an. Halb nackt hier herumzulungern, da muss man sich nicht wundern, wenn Kerle die Gelegenheit ergreifen.« Die Köchin schüttelte missbilligend den Kopf. »Mach vorwärts, oder willst du, dass die Herrschaft dich in deinem Nachthemd sieht?«
Der Herr hatte sie schon ganz anders gesehen, durchfuhr es die junge Frau, doch sagte sie dies natürlich nicht laut. Stattdessen nickte sie nur hastig und legte das schlafende Kind in die grob gezimmerte Kiste hinter dem Tisch. Sie drückte ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn, dann rannte sie nach oben in die Kammer.
»Das Kind muss weg!«, zischte die Obermagd, als sie gleich darauf die Küche betrat. »Der Balg schreit die ganze Nacht. Wie sollen die Mägde so ihr Tagwerk erledigen, wenn ihnen vor Müdigkeit die Augen zufallen?«
»Ich werde sehen, was zu machen ist.« Die Köchin blickte missmutig auf die Gasse. Der Sturmwind zischte noch immer mit ungehinderter Wucht um die Ecken und wirbelte Unmengen von Unrat vor sich her. »Weit mehr zu schaffen macht mir im Augenblick das Wetter. Der Herd wird für Tage kalt bleiben. Nicht auszudenken, wenn das Kind der Herrin krank wird.«
Beinahe gleichzeitig schauten die beiden Frauen zur Decke. Über ihnen lag die Kinderstube. Das Kind der Herrin schrie viel, fast noch mehr als der kleine Wurm drüben in der Holzkiste. Die Herrin hatte das Kind eine Woche vor der Magd zur Welt gebracht.
»Die Amme wird schon gut für ihn sorgen«, entgegnete die Obermagd. »Und dass das Unwetter ausgerechnet jetzt über Konstanz hereinbricht, dafür kannst du ja schlecht etwas. Die Herrschaft wird das verstehen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Die Köchin schnaubte. »Sieh du zu, dass die Mägde ihre Arbeit heute ordentlich verrichten. Ich will keine Klagen vom Herrn hören über dreckige Böden oder Fettflecken an den Tischtüchern. Zudem mach ihnen ein für alle Mal klar, dass sie keine Lügen verbreiten sollen. Mir kam nämlich gestern auf dem Markt zu Ohren, dass bereits in der Stadt getratscht wird über den Balg dort.« Die Köchin wies mit dem Kinn in Richtung der Holzkiste. »Schnattergänse braucht die Herrschaft keine«, fügte sie brummig hinzu.
»Ich werde das Schandmaul zur Rede stellen, sei unbesorgt. Sollte wirklich eines der Weiber geschwatzt haben, wird es dies bitter bereuen. Meine Gertenhiebe haben schon so manches Maul gestopft.«
Die beiden Frauen waren sich einig. Sie dienten dem Herrn schon viele Jahre und wollten es auch weiterhin tun.
»Die Herrin hat auch so schon genug zu leiden«, fuhr die Köchin eine Spur versöhnlicher fort. »Die Geburt war hart. Ich habe gesehen, wie der Herr der Wehmutter den doppelten Lohn bezahlt hat.«
»Warum hat er denn ausgerechnet diese alte Vettel geholt?« Die Magd trat einen Schritt auf die Köchin zu und senkte ihre Stimme. »Bestimmt hätte eine der anderen Wehmütter unserer Herrin besser helfen können.«
Auf diese Frage wusste auch die Köchin keine richtige Antwort. Sie hatte sich über die Wahl des Herrn ebenfalls gewundert. Und sie wunderte sich zudem, warum niemand die Kinderstube betreten durfte. Außer der alten Wehmutter und der Amme hatte bislang keiner das Kind zu Gesicht bekommen. Die Tür zur Kinderstube blieb stets verschlossen.
»Womöglich wird der Sturm die Gerüchte noch anfeuern«, seufzte sie. »Das Beste wäre, der Balg hier würde sterben, dann wäre das Problem aus der Welt.« Sie goss etwas Milch in einen Becher und angelte sich anschließend einen Kanten Brot.
»Du meinst doch nicht etwa, dass wir es …« Die Obermagd drückte sich erschrocken eine Hand auf den Mund.
»Du blöde Kuh!«, schimpfte die Köchin. »Wehe, du setzt dieses Gerücht in die Welt!«
Die Obermagd warf den Kopf in den Nacken und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Ton der Köchin missfiel ihr. Sie wollte ihrem Ärger eben Luft machen, als auf der Diele Schritte zu hören waren. Hastig stoben sie auseinander.
»Hol dort drüben den Schmalztopf.« Die Köchin wies mit dem Kinn auf ein kleines Wandregal. »Sieh zu, dass die Herrin keinen Krümel des Morgenmahls übrig lässt, ansonsten wird sie die Messe morgen nicht durchstehen.«
Anderntags war Sonntag, und der übliche Kirchgang stand an. In der Küche wurden die letzten Handgriffe in aller Eile erledigt. Die unreine Zeit der Herrin war vorbei, sodass auch sie wieder an der Messe teilnehmen durfte. Der Sturm tobte nach wie vor mit aller Heftigkeit, und die Aufregung im Haus wuchs stetig.
Oben in der Kammer der Herrin machte sich eine besonders missliche Stimmung breit. Die Frau hatte sich in den Kopf gesetzt, den mit feinen Borten verzierten Samtrock anzuziehen. Die Nähte spannten so sehr, dass zu befürchten war, der Rock würde den Kirchgang nicht überstehen. Als der Herr mit tiefem Bariton zum Aufbruch drängte, schloss die Obermagd eben den letzten Hornknopf. Mit gesenkten Häuptern reihte sich das Gesinde anschließend im Innenhof hinter der Herrschaft ein. Einzig die junge Magd mit ihrem Balg würde das Haus hüten, ebenso wie die Amme die Kinderstube.
Der Wind schien noch an Stärke zugelegt zu haben, denn das schwere Holztor schlug hinter der munteren Kirchschar so hart zu, dass die junge Magd in der Küche aufschreckte und das Würmchen augenblicklich in lautes Schreien ausbrach.
»Schau zu, dass das Kind Ruhe gibt.« Die Amme streckte den Kopf durch den Türspalt und schielte aufgebracht auf die Holzkiste. »Der Balg weckt sonst noch den Herrensohn auf.«
Die Amme war eine dralle Frau mit ausladender Oberweite. Ein wenig neidisch blickte die junge Magd an sich hinunter. Ihre Milch reichte kaum aus, den Hunger ihres Kindes zu stillen. Hastig nickend lief sie auf die Holzkiste zu und streichelte ihrem Sohn über die zarten Wangen. Dünne Ärmchen streckten sich ihr entgegen, die sie mit zarten Küssen bedeckte.
»Ich müsste schnell zu meiner Schwester«, druckste die Amme ungewohnt verlegen herum. »Der kleine Junge oben schläft friedlich. Sollte er trotzdem schreien, machst du keinen Schritt in die Kammer. Hast du mich verstanden?« Die Amme nahm das Nicken der jungen Frau mit einem tiefen Einatmen zur Kenntnis. »Ich bin zurück, noch bevor die Messe vorbei ist.«
Die Magd verbarg ihr Staunen hinter einer stoischen Maske. Die Amme hatte strikte Anweisung, die Kinderstube nur zum Gang auf den Abort zu verlassen oder um sich kurz das Essen in der Küche zu holen. Dass sie die Stube jetzt sich selbst überließ, passte so gar nicht zu ihr.
»Geh nur. Ich werde dich nicht verraten, falls es das ist, was dich beunruhigt«, sprach die junge Magd leise, wobei sie der Frau ein Lächeln schenkte.
»Wie geht es deinem Kind?« Die Amme war keine böse Frau. Sie mochte Kinder, man sah es ihren Augen an, als sie sich über die Holzkiste beugte.
»Die Wehmutter sagt, es sei zu dünn.« Die Magd zuckte mit den Schultern. »Ich habe halt nicht so viel Milch. Das Schleppen der schweren Körbe sei schuld.«
»Da hat sie wohl recht, doch anderen Frauen ergeht es nicht besser. Wenn Gott es will, kommt dein Junge durch.« Die Amme knotete ihr Schultertuch enger. »Denk daran, du bleibst hier unten. Mach keinen Schritt über die Schwelle der Kinderstube! Ich werde mich beeilen.«
Mit diesen Worten verließ die dralle Frau die Küche. Als sie mit wehendem Rock über den Hof lief, begann das kleine Würmchen wieder zu schreien. Seine Lippen waren durch die Kälte schon blau und die Haut so kalt, dass die junge Frau einen hilfesuchenden Blick auf den Herd warf. Zwei, drei Holzscheite würden die Kochstelle gerade so weit wärmen, dass sie den Bettstein in einen Topf mit heißem Wasser legen konnte. Das Kind fror, nur deshalb schrie es so heftig. Bis der Kirchgang beendet war, wären die Flammen längst erloschen. Niemand würde ihren Frevel bemerken.
Das Würmchen schrie immer lauter, und die Magd glaubte bereits, auch oben ein Schreien zu hören. Sie hielt sich die Ohren zu, doch der Lärm wollte nicht verebben. Mit zittrigen Händen griff sie sich zwei der Holzscheite und legte sie auf den Ascheberg. Die Feuersteine fielen ihr mehrmals zu Boden. Dann endlich züngelten die Flammen. Ihre Hektik hatte ihren kleinen Jungen noch mehr aufgewühlt, er schrie jetzt so heftig, dass er schon ganz rot im Gesicht war. Hastig tunkte sie den Leinenzipfel in den Honigtopf, und der Junge sog gierig daran. Erschöpft ließ sie sich auf den Hocker fallen.
Oben in der Kinderstube allerdings war an Ruhe nicht zu denken. Das Kind der Herrin schrie aus Leibeskräften.
Mit einem letzten Blick auf das Feuer rannte die junge Frau die Stiege hoch. Vor der Tür blieb sie kurz stehen. Das Schrillen dahinter war kaum noch auszuhalten. Was, wenn das Kind in Gefahr war? Wenn es sich in seinem Schreikrampf die Decke um den Hals gewickelt hatte? Bestimmt würde der Herr sie mehr schelten, wenn er erfuhr, dass sie ihm in seinem Todeskampf nicht geholfen hatte. Sie schluckte all ihre Befürchtungen und Ängste hinunter und trat ein.
Die Wiege stand in der Mitte des Raumes. Dichte Vorhänge hielten jegliches Licht fern. Ein Wackeln verriet, dass das Kind heftig strampelte. Zögernd trat die Magd in die Düsternis. Sie griff sich das schreiende Kind und wog es sanft in ihren Armen. Anschließend zog sie einen der Vorhänge leicht zur Seite, damit sie etwas erkennen konnte. Das Kind glich dem ihren wie ein Ei dem anderen. Sie hielt ihm den Daumen hin, und augenblicklich begann der kleine Junge zu saugen. Ein erleichtertes Seufzen rang sich ihre Kehle hoch.
Sie wollte den Jungen eben zurück in die Wiege legen, als ein Schrei die Stille der Kammer zerriss. Erstaunt blickte sie auf das Kind in ihren Armen. Der Junge war still. Neugierig trat sie auf eine zweite Wiege zu, die leicht verdeckt hinter einer Truhe stand.
1. Kapitel
Konstanz zu Beginn des Jahres 1327
Das Gepolter wurde von Mal zu Mal eindringlicher. Erst glaubte Hanna, dass lediglich eine Windbö in den Bretterverschlag gefahren sei und so den Lärm verursachte. Doch dann wurde ihr mit Schrecken bewusst, dass heute eine besondere Nacht war. In den zwölf Raunächten stand der Durchlass zur Unterwelt sperrangelweit offen, und Geister konnten ungehindert in die Welt der Lebenden eindringen. Heute war die letzte dieser gefährlichen Nächte.
Sie zog die wollene Decke über den Kopf und drückte die Augen zu. Doch der Lärm wollte und wollte nicht aufhören. Ja schlimmer noch, jetzt begann der nächtliche Störenfried auch noch lautstark zu rufen. Aber nein, Geister kommen still und leise, sagte sich die junge Wehmutter mit bebenden Lippen, also konnte der Schreier da draußen vor der Hütte kein Wesen aus der Anderswelt sein.
Widerstrebend kroch Hanna unter der Decke hervor. Aus der Nachbarskammer drang kein Laut. Offenbar hatte Wendelgart von alldem nichts mitbekommen. Im Stillen beneidete sie ihre Lehrmeisterin um den tiefen Schlaf.
Auf Zehenspitzen trippelte Hanna auf das Fenster zu. Den Bretterverschlag zu öffnen, kam nicht in Frage. Neugierig lugte sie durch eine der Ritzen, doch die Nacht hielt sich noch zu hartnäckig, sodass sie außer dem fahlen Schein des Mondes und ein paar funkelnden Sternen nichts erkennen konnte. »Hör mit dem Krach auf!«, rief sie gerade so laut, dass Wendelgart nebenan nicht aufwachte. »Ich komme ja schon herunter.«
Hastig schlüpfte Hanna in ihren Rock, dann lief sie vorsichtig den dunklen Treppengang hinab. In den vier Jahren, die sie nun schon im Haus der alten Wehmutter lebte, hatte sie jede der ausgewetzten Stufen kennengelernt. Sie wusste, welche knarrten und bei welchen man den Fuß nur vorsichtig aufsetzen durfte, da sie morsch waren.
»Was willst du?«, herrschte sie den nächtlichen Besucher eine Spur schroffer als gewollt an, nachdem sie den Riegel mit ihren eiskalten Fingern endlich aus der Verankerung gelöst hatte, um ihren Kopf durch den Türspalt zu stecken. Der Mond trat eben hinter einer Wolke hervor und erlaubte einen verschleierten Blick auf den jungen Mann.
Wütend blähten sich seine Wangen. Der Kerl schluckte seinen Ärger ob der langen Warterei jedoch hinunter. »Wir brauchen dringend Hilfe«, kam es zerknirscht über seine Lippen.
»Kann das nicht bis morgen warten? Es ist saukalt und mitten in der Nacht.« Hanna zog das Wolltuch enger und schaute missmutig auf die verblassenden Sterne, ehe sie ihren Kopf etwas weiter durch den Spalt drückte und die dunkle Gasse mit finsterem Blick nach weiteren Besuchern absuchte.
»Ich bin allein«, erwiderte der Mann hastig. »Mein Herr schickt mich, es eilt. Die Herrin liegt in den Wehen und schreit sich die Lunge aus dem Leib.«
»Das kann ja jeder sagen.« Hanna verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den jungen Mann skeptisch. »Wer bist du überhaupt?«
Der Besucher stampfte mit dem Fuß auf. »Du kennst mich doch, ich bin Vitus.«
»Vitus, Vitus, da gibt es viele davon.« Hanna glaubte sich schwach an den grimmigen Kerl zu erinnern. »Wer ist denn deine Herrin?«, fragte sie lauernd. Zurzeit betreuten Wendelgart und sie fünf Frauen, die allesamt in den nächsten Tagen niederkommen sollten.
»Lisbeth Hagen, die Frau des Goldschmieds in den Blatten. Es wird bestimmt nicht dein Nachteil sein, wenn du dich jetzt endlich beeilen würdest.« Die Geduld des Mannes schien erschöpft.
»Was soll der Tumult zu dieser Stunde?« Wendelgarts heisere Stimme kam irgendwo aus dem dunklen Inneren des Hauses.
»Jetzt hast du sie aufgeweckt, blöder Kerl.« Hanna warf Vitus einen bitterbösen Blick zu.
Die alte Wehmutter kämpfte seit Tagen mit einer Erkältung. Hustend hielt sie sich die Hand vor den Mund, als sie in den Mondschein trat.
»Die Lisbeth Hagen liegt offenbar in den Wehen«, bemerkte Hanna über ihre Schulter. »Wir werden wohl in die Stadt müssen.«
»Wie lange schreit deine Herrin schon?«, wandte sich Wendelgart mit rauer Stimme an den jungen Mann. Die Arme um den mageren Leib geschlungen, schielte sie auf die Schneehaufen zu beiden Seiten der Tür.
»Die geschworenen Frauen sind schon gestern Abend gekommen, aber da ging es der Herrin noch gut. Doch seit Mitternacht ist im Haus nicht mehr an Schlaf zu denken.«
»Dann warte auf der Gasse. Wir kommen mit«, meinte Wendelgart. »Allerdings werden wir erst alles richten müssen, dauert etwas.«
Vitus brummelte ein paar unverständliche Worte, dann drehte er sich um und trat zurück auf die Gasse. Mit einem Ruck schloss Hanna die Tür.
»Warum schreit die Goldschmiedin denn so?«, fragte sie gereizt. »Es ist doch bereits ihre dritte Geburt. Allmählich sollte sie wissen, wie alles vonstattengeht.«
»Urteile nicht vorschnell. Nicht alle Menschen empfinden den Schmerz auf die gleiche Weise. Zudem weißt du, dass Lisbeth Hagen Angst hat, wieder nur ein Mädchen zur Welt zu bringen. Ihr Mann will endlich einen Sohn.« Wendelgart schlüpfte hustend in ihre Stiefel, während Hanna den Korb mit den Geburtsutensilien aus der Kräuterstube holte.
In Bälde war ihre Lehrzeit zur Wehmutter zu Ende. Wendelgart hatte ihr alles beigebracht, was sie wissen musste. Allerdings sah Hanna dem Tag der Prüfung mit Besorgnis entgegen, nicht aus Angst vor Versagen, sondern weil sie an diesem Tag auch ein altes Versprechen einlösen musste. Ursus, der Knecht der Liebenfels, drängte sie schon seit Jahren zur Heirat.
»Träumst du?« Die alte Wehmutter stand bereits fertig gekleidet unter der Tür und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Lehrtochter.
Hanna angelte sich das wollene Tuch vom Haken und zog es sich über den Kopf. Dann schlüpfte sie in die mit Schafwolle ausgestopften Stiefel.
»Wo ist der Karren?«, fragte Wendelgart verwundert, als sie die dunkle Gasse hochschaute.
»Ich bin zu Fuß gekommen. Der Wächter hätte mich mit dem Karren bestimmt nicht durch das Heimlichkeitstürchen gelassen«, verteidigte sich Vitus. »Eine Geburt werten die Tormänner nicht unbedingt als so dringliche Angelegenheit, dass sie sich über das Verbot des Großen Rates hinwegsetzen, bei Nacht die Tore zu öffnen. Es sei denn, man besitzt einen gefüllten Geldsäckel, was ich leider nicht tue.«
»Dein Herr knausert. Ist nicht gut«, brummte Wendelgart in ihr Tuch, das sie sich eben höher ins Gesicht zog. In solchen Augenblicken überkam sie stets ein Anflug von Zorn, wenn sie an die Sturheit und die Gier der Torwächter dachte, Hanna sah es dem Flackern ihrer Augen an.
Die alte Wehmutter galt als eine der besten Hebammen von Konstanz, weswegen sie in der Gunst des Großen Rates stand und als Einzige ein Haus draußen in der Vorstadt besaß. In der Regel war es Bedingung, dass die Hebammen innerhalb der Stadtmauer ein Haus bezogen, damit sie schnell zur Stelle sein konnten, für Notfälle wie ebendiesen.
Die Kälte ging durch Mark und Bein. Vitus eilte mit großen Schritten voraus. Hin und wieder blickte er besorgt über seine Schulter. Lazarus Hagen, sein Herr, war nämlich nicht nur geizig, auch die Gerte griff er sich schnell. Sollte er ohne die beiden Hebammen zurückkommen, dann gnade ihm Gott. So mühten sich die beiden Frauen redlich ab, Schritt mit ihm zu halten, was ihnen nicht leichtfiel. Wendelgart machte das Alter zu schaffen, und Hanna hinkte seit einem Unfall mit einer Wildererfalle.
Die Vorstadt schlief. Hie und da bellte ein Hund, ansonsten war alles still. Die Stadtmauer trennte die vornehmen Städter von den einfachen Handwerkern, den Tagelöhnern, den Bettlern und den Huren hier draußen.
Als dunkle Schatten hasteten die drei Gestalten auf das Schnetztor zu. Erst nach einem energischen Klopfen gegen das kleine Nebentor wurde dieses gerade so weit geöffnet, dass sie hindurchschlüpfen konnten. Der Wächter gab sich mürrisch und stapfte mit einem Brummen zurück in das Wächterhäuschen. Die Stadelhofergasse lag noch in völliger Dunkelheit, ebenso der Obermarkt vor der Ratskapelle St. Laurenz. Als die drei die Blattengasse erreichten, standen sie zu ihrem Entsetzen plötzlich einem Rudel fletschender Gassenköter gegenüber.
Im Winter war es für die Tiere schwierig, inmitten der gefrorenen Abfallberge Futter zu finden, weswegen man ihnen besser nicht zu nahe kam. Hanna und Wendelgart wichen erschrocken einen Schritt zurück, doch Vitus zeigte sich von der Boshaftigkeit der Tiere wenig beeindruckt. Er verscheuchte sie mit kräftigen Fußtritten, dann drängte er die Frauen hastig weiter.
Je näher sie dem Haus des Goldschmieds kamen, desto unruhiger wurde Vitus allerdings. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um. »Der Herr ist heute nicht gut zu sprechen. Er … er hat … er war im Blauen Pfau und …«
»… hat über den Durst getrunken«, ergänzte Wendelgart schroff. »Ich kenne Lazarus Hagen besser, als du denkst. Und ich werde nicht zögern, ihn in die Schranken zu weisen, sollte es vonnöten sein.«
Vitus versuchte sich an einem Lächeln. Dann drückte er die Tür auf.
Auf den Truhen befanden sich etliche Talglichter, die den langen Dielengang in eine düstere Helle tauchten und die kostbaren Gobelins an den Wänden nur erahnen ließen. Eine Magd streckte den Kopf aus der Küche. Als sie die beiden Wehmütter erblickte, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte in einem fort.
»Beruhig dich«, herrschte Wendelgart sie an. »So bist du deiner Herrin wahrlich keine große Hilfe.«
»Ja, ja, entschuldigt.« Die Magd nickte schluchzend und wies mit dem Kinn auf die Treppe. »Die Herrin liegt oben in ihrer Kammer.«
In diesem Augenblick trat Lazarus Hagen aus der guten Stube. Er versperrte den beiden Frauen mit grimmigem Gesichtsausdruck den Weg, wobei er sich mit einer Hand am Türsturz festhielt. Er stank nach Wein, ranzigem Fett und Schweiß.
»Hier habt ihr sechs Pfennige, dafür … dafür seht zu, dass es endlich ein Junge wird!«, rülpste er.
»Mein Herr, ich würde Euren Wunsch gerne erfüllen, wenn es in meiner Macht stünde«, säuselte Wendelgart, wobei sie ihre angewiderte Miene nur schlecht zu verbergen vermochte. »Doch glaubt mir, das Geschlecht Eures Kindes ist längst von Gott bestimmt, da kann ich nichts mehr machen.«
»Dann halt acht Pfennige!«, knurrte Lazarus Hagen.
»Auch für zehn Pfennige kann ich keinen Schniedel herzaubern, wo keiner ist.« Wendelgart hielt dem Goldschmied die offene Hand hin. »Gebt mir die vorgeschriebenen vier Pfennige, und dann sehe ich nach Eurer Frau.«
Mürrisch zählte der Mann die verlangten Münzen in die Hand der Wehmutter, dann wankte er zurück in die Stube. Die Tür schlug er so laut hinter sich zu, dass Vitus noch eine Spur bleicher wurde. Der junge Mann hatte sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten. Auf seinem Gesicht war zu lesen, wie sehr er das Verhalten seines Herrn missbilligte. »Hoffentlich wird es ein Junge«, flüsterte er. »Die Laune des Herrn ist schon jetzt nicht mehr auszuhalten.«
»Vitus hat recht, seht zu, dass es ein Junge wird«, kam ihm die Magd seufzend zu Hilfe, »schon wegen der Herrin. Er wird sie sonst noch gröber behandeln.«
Wendelgart stopfte die Münzen in ihren Beutel, dann scheuchte sie die Magd zur Seite. Hanna folgte ihr auf dem Fuße. Mit jedem Schritt hörten sie das Gejammer aus der Kammer von Lisbeth Hagen umso lauter. Sie schrie, als sei der Teufel in sie gefahren.
»Warum hast du die acht Pfennige nicht genommen? Der Kerl hat genug davon«, murrte Hanna leise. »Sich zu besaufen, während seine Frau in den Wehen liegt, und das zudem im Wirtshaus.«
»Du weißt, dass das nicht geht. Es ist nun mal Gesetz, nicht mehr als vier Pfennige für eine Geburt zu nehmen. Willst du die Prüfung im Frühjahr bestehen, musst du dir das hinter die Ohren schreiben.«
Unwillig stimmte Hanna zu. Der Hebammeneid besagte, stets alle hilfsbedürftigen Frauen, arm wie reich, gleich zu behandeln, es an der nötigen Sorgfalt nicht mangeln zu lassen und niemals abtreibende Mittel oder gar Magie einzusetzen. Dafür erhielten die Hebammen, nebst den üblichen vier Pfennigen Geburtsgeld, ein vierteljährliches Wartegeld vom Großen Rat der Stadt. Reich wurden die Hebammen von Konstanz dadurch nicht.
Wendelgart hustete und räusperte sich. »So, und jetzt zeig, was du in den letzten Jahren von mir gelernt hast«, sagte sie, wobei sie Hanna ein gequältes Lächeln schenkte. Auf der Stirn der alten Frau standen dicke Schweißperlen.
In der Kammer roch es abgestanden und fahl. Der Bretterverschlag vor dem Fenster ließ kaum Frischluft herein. Wenigstens hatten die zwei Frauen, die mit finsteren Mienen an der Bettstatt der Lisbeth Hagen wachten, so viel Weitsicht besessen und einen der Gebärstühle aus dem Heiliggeistspital aufgetrieben. Es war Brauch, dass die Geburt von mindestens einer außenstehenden Frau begleitet werden musste, besser waren zwei. Sollte es zu Komplikationen kommen, würden sie bezeugen, dass die Wehmutter alles in ihrer Macht Stehende unternommen hatte, Mutter und Kind zu retten.
»Holt aus der Küche einen Bottich mit heißem Wasser und bringt eine geweihte Kerze mit«, wandte sich Wendelgart an die Wächterinnen.
»Warum? Es gibt hier doch genügend Licht«, bemerkte eine der beiden, wobei sie mit dem Kinn auf die Truhe mit dem Talglicht zeigte.
»Stellt keine unnötigen Fragen und macht, was ich sage.« Wendelgarts Stimme klang hart.
Widerstrebend erhoben sich die Frauen, strichen sich erst die Röcke glatt, ehe sie erhobenen Kopfes der Kammer entschwanden.
»Solche Weiber sind mir ein Groll«, murrte Wendelgart. »Ich werde nie verstehen, warum für die Bezeugung einer Geburt immer griesgrämige Weiber ausgewählt werden.« Als sie sich an Lisbeth Hagen wandte, bekam ihre Stimme wieder den einfühlsamen Ton, den sie Gebärenden stets schenkte. »Hanna wird Euch jetzt untersuchen, habt also keine Angst. Ich werde mich so lange auf einen der Hocker setzen.«
Auf ein Zeichen ihrer Lehrmeisterin schlug Hanna die Decke zurück und schob das knöchellange Unterhemd der noch immer wimmernden Lisbeth Hagen bis weit über den dicken Bauch. Die Scham der Goldschmiedin zeichnete sich dunkel gegen das düstere Licht ab.
»Hilf mir, dass es dieses Mal ein Junge wird«, flehte Lisbeth Hagen leise, wobei sie die Augen schloss und sich auf die Lippen biss. »Ein weiteres Mädchen wird mir Lazarus nicht verzeihen. Er zetert schon jetzt über die Mitgift und …« Der Rest des Satzes ging in einer neuerlichen Wehe unter.
Mädchen galten als unvollkommene Menschen, als unter ungünstigen Umständen gezeugt. Eine Frau, die nur Mädchen zur Welt brachte, wurde hinter vorgehaltener Hand nicht selten der Untreue bezichtigt. Und Lazarus Hagen war in dieser Hinsicht wohl einer der lautesten Rufer, obwohl gerade er es mit der ehelichen Treue nicht allzu genau nahm. Es war stadtbekannt, dass er jedem Rock hinterherschaute. Und es nicht nur beim Schauen beließ.
In diesem Augenblick kamen die zwei Zeuginnen zurück. Sie stellten den Bottich an das Fußende des Bettes, die Kerzen legten sie auf den Beistelltisch, dann setzten sie sich mit mürrischen Mienen in die Nähe des wärmenden Kamins.
»Die Kerze wird die bösen Geister vertreiben und vielleicht …«, sie verdrehte die Augen, »vielleicht auch alle Wünsche erfüllen«, flüsterte Wendelgart.
Hanna tat die Goldschmiedin leid. Nicht so sehr, weil sie unter argen Geburtsschmerzen litt, dies gehörte nun mal zum Leben, sondern vielmehr wegen des Drucks, der auf ihr lastete.
»Vielleicht würden etwas Wermut, Beifuß und Diptam hier helfen«, schlug Hanna so leise vor, dass nur Wendelgart sie hören konnte. »Ich weiß, Letzteres nur in geringen Mengen, aber so ginge die Geburt vielleicht leichter vonstatten.«
»Ich sehe schon, viel kann ich dir nicht mehr beibringen.« Wendelgart lächelte.
Ein Schrei der hilflosen Lisbeth Hagen schreckte Hanna in dem Moment auf. Hastig griff sie sich die Kräuter aus ihrem Korb und streute sie in den silbernen Wasserkrug, und augenblicklich erfüllte ein balsamischer Duft den Raum. Dann klaubte sie noch einige Wacholderbeeren aus ihrem Beutel und warf sie in die züngelnden Flammen des Kamins. Die geschworenen Frauen beobachteten sie mit skeptischem Blick.
»Atmet ruhig und tief in den Bauch, das wird dem Kind helfen«, wandte sich Hanna an die wimmernde Lisbeth Hagen.
»Vielleicht solltest du sie endlich pressen lassen, das würde die Geburt deutlich beschleunigen«, maulte eines der beiden Weiber, unterstützt vom heftigen Nicken ihrer Freundin. »Die Sibylla in der Bruggasse wartet nicht so lange hin. Bei ihr wären wir längst wieder zu Hause.«
»Zu frühes Pressen schadet Mutter und Kind, das solltet auch ihr mittlerweile wissen«, schnaubte Wendelgart. »Warum, glaubt ihr wohl, ruft man die Sibylla nicht gerne?«
Die beiden Frauen pressten die Lippen zusammen und wandten sich beleidigt ab, ehe sie wieder zu tuscheln begannen.
Lisbeth Hagen schloss fortan bei jeder sich ankündigenden Wehe die Augen und atmete im Rhythmus, den Hanna ihr vorgab. Allmählich zog sich die Zeit. Als Hanna begann, das Leinenkleid aufzuknöpfen, um Lisbeth Hagens Brust zu untersuchen, beugte sich ihre Lehrmutter neugierig vor. Die seltsamen Knoten unter den Armen waren nicht zu übersehen.
Wendelgart nahm eine feine Nadel aus dem Korb und stach diese in einen der Knoten. Hanna schaute dabei erschrocken auf Lisbeth Hagen, die jedoch keinerlei besondere Reaktion zeigte. Mit seltsam verklärtem Gesichtsausdruck griff sich Wendelgart die Hand der stöhnenden Goldschmiedin und begutachtete die Finger. Auch Hanna bemerkte die vielen Wunden daran. Währenddessen keuchte und stöhnte Lisbeth Hagen in einem fort.
»Jetzt ist es so weit«, wandte sich Hanna über die Schulter an die geschworenen Frauen, die daraufhin schneller als eine Kreuzotter von ihren Hockern aufschossen und an die Bettstatt herantraten. »Helft uns, sie auf den Gebärstuhl zu tragen.«
Lisbeth Hagen krümmte sich, und am Schluss saß sie voller Angst auf dem Stuhl. Hanna tauchte zwei ihrer Finger in den Tiegel mit Schweineschmalz und schmierte die klebrige Masse auf Lisbeth Hagens Scham. Die Goldschmiedin schrie, presste und keuchte jetzt gleichzeitig. Als das schreiende Kind endlich in Hannas Händen lag, zeigte sie es wie eine Trophäe erst den zwei Zeuginnen, dann Lisbeth Hagen.
»Es ist ein Junge«, stöhnte diese erschöpft und erleichtert gleichermaßen auf. Willig ließ sie sich in ein sauberes besticktes Leinenhemd kleiden und zurück auf die Bettstatt führen. Unterdessen wusch Hanna dem Kind den Mund mit Honig aus und wickelte es stramm.
»Wir werden die nächsten Tage wiederkommen und nach dem Jungen sehen«, kündigte Wendelgart beim Abschied an, wobei das Lächeln auf ihrem Gesicht einer seltsamen Strenge gewichen war. Für einen kurzen Moment verharrte ihr Blick noch einmal auf den Wunden an Lisbeth Hagens Händen.
Obwohl dies nur einen Atemzug lang gedauert hatte, entging es der Hausherrin nicht. Hastig versteckte sie ihre Hände unter der wollenen Decke.
Beim Gang über die Treppe sprach Wendelgart kein Wort. Erst als die Tür zur guten Stube aufging und Lazarus Hagen erschien, brach sie ihr Schweigen. »Es ging alles gut. Ihr habt einen gesunden Sohn.« Mit heiserer Stimme fügte sie hinzu: »Eure Frau braucht jetzt viel Ruhe, aber das wisst Ihr ja von den letzten Geburten. Ich werde die Geburt beim Großen Rat anmelden und Euren Sprössling zur Taufe bringen, ganz wie es sich gehört.«
Lazarus Hagen lachte überschwänglich und klopfte sich wie ein Sieger auf die Brust. Offenbar hatte er dem Weingeist weiter gefrönt, denn er hielt sich kaum noch aufrecht. »In der Küche ist ein … ein herzhaftes Mahl gerichtet«, lallte er. »Als Dank werde ich zwei Säcke voller Korn … in … in die Vorstadt bringen lassen.«
Wendelgart schüttelte den Kopf. »Ihr wisst, dass es uns Hebammen verboten ist, Geschenke anzunehmen«, lehnte sie dankend ab. »Geht hinauf zu Eurer Gemahlin, damit ist uns allen mehr geholfen.«
In diesen Dingen war Wendelgart unnachgiebig. Schon so manch einer Hebamme war die hohle Hand zum Verhängnis geworden. War der Leumund erst dahin, gab es in der Stadt keine Arbeit mehr für sie. »Lasst in der Kirche eine Messe auf unsere Namen lesen, damit helft Ihr uns mehr«, fügte sie bei, während sie hinter Hanna in die Küche trat.
Der Hausherr hatte sich nicht lumpen lassen. Auf dem Tisch stand ein stattliches Mahl aus dreierlei Käse, dick aufgeschnittenem Schinken, Schmalz und frischem Brot. Die Magd rumorte irgendwo im oberen Stockwerk, während die Köchin sich etwas Zeit nahm und sie mit dem neuesten Klatsch aus der Stadt unterhielt. Die Geburt des Sprösslings würde das Leben im Hause des Goldschmieds hoffentlich erleichtern.
»Was bedeuten die Knoten unter Lisbeth Hagens Armen?«, fragte Hanna leise, als sie das Haus wenig später verließen und in Richtung der Marktstätte gingen. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel, was die Kälte aber keineswegs minderte. Zudem wehte ein zugiger Wind vom See herauf.
»Ich bin mir nicht sicher, habe aber einen schrecklichen Verdacht. Allerdings kann ich mir nicht erklären, wie und wo Lisbeth Hagen diese Geißel aufgelesen haben soll.«
»Du meinst, die Goldschmiedin hat die … die …«
»… die Miselsucht, ja«, beendete Wendelgart das Gestammel ihrer Lehrtochter.
Sie blieben stehen und schauten auf das Treiben inmitten der Marktstände. Eine Horde Schweine drängte sich dicht an ihnen vorbei, gefolgt von einem kleinen Jungen mit einer Rute.
Hanna hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund. »Dann müsste sie ja hinaus ins Leprosenhaus. Großer Gott, was wird dann aus ihren Kindern?«
»Denen wird nichts geschehen, sollten sie gesund sein. Für Lisbeth Hagen allerdings wird das Leben zur Hölle werden. Sie wird nicht nur ihr Ansehen als Gattin des viel gerühmten Goldschmieds verlieren, sie wird auch ihre Kinder niemals mehr wiedersehen.«
»Und was wirst du jetzt unternehmen?«
Wendelgart zuckte mit den Schultern und schloss die Augen. Bevor sie antwortete, schluckte sie hart. »Sollte sich mein Verdacht bestätigen, werde ich beim Großen Rat Meldung machen müssen. So will es das Gesetz.«
Im Winter hielt sich der Andrang an den Ständen auf dem noch immer größten Markt der Stadt in Grenzen. Erst wenige Händler boten ihre Waren feil. So setzten sich die Frauen langsam wieder in Bewegung. Kurz vor dem Heiliggeistspital bogen sie in die Brotlaube ab, wo Wendelgart bei einem der Pfister einen Laib Brot erstand. Nach einem kurzen Tratsch liefen sie weiter zum Fischmarkt.
Auch hier herrschte keine Emsigkeit. Die Fischer würden an diesem Tag lediglich mit halb gefüllten Geldkatzen in ihre Hütten am See heimkehren. Große Teile des Sees waren auch heuer zugefroren und würden es wohl noch viele Wochen bleiben. Mehr aus Mitgefühl als aus Nöten erwarb Wendelgart zwei Gängelfische. Ein Blick hinüber zum vornehmen Salemerhof, der von den Zisterziensermönchen als Umschlagplatz für Halleiner Salz und den weit gerühmten Seewein betrieben wurde, zeigte, dass auch die Mönche die Kälte mieden.
»Lass uns den Gang ins Rathaus so schnell wie möglich hinter uns bringen«, drängte die alte Wehmutter, während sie ihren Umhang enger zog. »Für heute reicht es an Barmherzigkeit. Mir ist saukalt. Meine Zehen sind bereits taub.«
Hanna lächelte. Auch sie sehnte sich nach der Kräuterstube mit ihren wohligen Gerüchen. Sie hatten vorige Woche eine Ladung Holz als Geschenk erhalten, und so war es in der Stube wohlig warm. Solange niemand den Namen des Wohltäters kannte, konnte man die Gabe für ihre Hebammendienste ja schlecht zurückgeben.
Das Rathaus stand am Ende des Fischmarkts. Im Erdgeschoss befanden sich ein Laubengang, der den Händlern zusätzlichen Stauraum für ihre Waren bot, wenn Gedränge auf den Märkten der Stadt herrschte. Doch jetzt im Winter lag der Gang verwaist da. Eine Steintreppe unweit des Schandpfahles führte ein Stockwerk höher in die noblen Räumlichkeiten des Großen Rates.
Als die Frauen vor der filigran geschnitzten Holztür standen, schwang diese mit einem Ruck auf. Der Zunftmeister der Tuchhändler drängte mit grimmiger Miene an ihnen vorbei. Es war stadtbekannt, dass der Große Rat und die Zünftler sich spinnefeind waren. Die Geschlechter, die seit jeher im Großen Rat ihren Sitz hielten, wollten nichts von ihrer Macht einbüßen. Sie kämpften mit allen Mitteln gegen das Begehr der Zünftler, Einzug in den Stadtrat zu halten.
Das Betreten des Rathauses jagte Hanna stets einen Schauder über den Rücken. Obwohl ihr inzwischen das Stadtrecht offiziell verliehen worden war, prangte in ihrem Hinterkopf noch immer die Angst, der Bischof könnte einen Weg finden und all ihre Träume zunichtemachen. Der Kleriker war ein Vetter ihres ehemaligen Herrn, des mächtigen Grafen Wilhelm von Montfort, dessen Leibeigene sie einst gewesen war. Klamm und heimlich hatte sie seine Burg verlassen und später in Konstanz Unterschlupf gesucht. Auf ein Räuspern seitens ihrer Lehrmeisterin vertrieb Hanna die Gedanken.
Langsam gingen sie auf den Schreiber zu, der unmittelbar neben der Tür zum Ratssaal seinen Schreibtisch hatte. Die mit riesigen Fresken bemalten Wände machten Eindruck. Wendelgart schien ein Gespür dafür zu haben, wie es Hanna in diesen heiligen Hallen erging, denn sie lächelte ihr aufmunternd zu.
Aufgeregtes Stimmengemurmel verdeutlichte, dass der Auftritt des Zunftmeisters für Aufruhr gesorgt hatte. So blickte auch der junge Schreiber nun erschrocken hoch. Als er jedoch die beiden Frauen als Konstanzer Wehmütter erkannte, entspannten sich seine Gesichtszüge.
Wendelgart meldete die Geburt des Jungen an und trug die Namen von Mutter und Vater mit heiserer Stimme vor. Der junge Mann kritzelte alles hastig auf ein Stück Pergament. Seine Aufmerksamkeit allerdings gehörte mehr dem Stimmengewirr aus dem Ratssaal als der Meldung über den neuen Konstanzer Bürger.
»Hätten wir heute nicht noch die beiden Wöchnerinnen in der Vorstadt besuchen müssen?«, fragte Hanna unsicher, als sie wenig später die Treppe wieder hinunterstiegen.
»Das kann warten. Es sind nicht ihre ersten Kinder, zudem schmerzt mein Hals ärger als ein Nagelbrett.«
Hanna zuckte mit den Schultern. Im Stillen zweifelte sie, ob wirklich das Halsweh der Grund für Wendelgarts Müßiggang war. Sie tippte eher darauf, dass die vermeintliche Miselsucht der Lisbeth Hagen ihrer Lehrmeisterin Kopfzerbrechen bereitete.
2. Kapitel
Anderntags kam die alte Wehmutter nicht von ihrer Bettstatt hoch. Sie glühte vor Fieber, zudem röchelte sie bei jedem Atemzug so herzergreifend, dass selbst die Katze, die sonst stets zu ihren Füßen schlief, das Weite suchte.
Hanna versuchte alles, um ihrer Lehrmeisterin Linderung zu verschaffen. Das beste Heilmittel gegen den Lungenhusten war ein Tee aus den Blättern der Stechpalme, gemischt mit den Blüten des Wiesengeißbartes, weswegen sie die Kräuterstube nach ebendiesen Heilkräutern durchsuchte. Statt sie nach Wirkung oder Krankheiten zu ordnen, lagerten die guten Stücke in einem heillosen Durcheinander, gerade dort, wo sich ein freier Platz bot. Als Hanna die Suche bereits voller Verzweiflung aufgeben wollte, fand sie den Topf mit den getrockneten Blütenköpfen doch noch. Vorsichtig goss sie etwas heißes Wasser über die Kräuter, ehe sie mitsamt dem aromatischen Tee die Treppe hochstieg. Ein Lungenkatarrh hatte schon den stärksten Mann ins Grab gebracht.
Das Röcheln schien sich die letzte Stunde noch verschlimmert zu haben. Während Wendelgart gierig trank, tupfte Hanna ihr die Schweißperlen von der Stirn. Die alte Wehmutter war ihr die letzten Jahre ans Herz gewachsen, wohl nicht zuletzt auch, da sie Hanna an ihre eigene Mutter erinnerte. Sie schniefte, dann rieb sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
»Du musst dich jetzt richten«, keuchte Wendelgart, begleitet von einem Hustenanfall. »Bald beginnt die Messe zu Epiphanias.«
Hanna nickte. Als Hebamme durfte man weder Messen noch Prozessionen verpassen, es war Pflicht, daran teilzunehmen. Wollten sie und Wendelgart das vierteljährliche Wartegeld weiterhin vom Großen Rat erhalten, musste Hanna nun über ihren Schatten springen und Wendelgart allein lassen. Die neugierigen Matronen und hinterhältigen Neider würden ein solches Vergehen mit Freude ins Rathaus tragen. Es waren nicht die Pfaffen, die ein Kirchgangversäumnis beim Stadtrat meldeten, die hatten damit wenig am Hut.
»Ich habe schon viel Schlimmeres überlebt, also werde ich auch mit dem Lungenhusten fertig.« Wendelgart tätschelte Hannas Hand. »Zudem glaube ich, dass du dir zu viele Sorgen machst. Bestimmt ist es nur eine einfache Erkältung, die bald schon wieder verschwunden ist.«
»Du nimmst das Ganze zu leicht. In deinem …« Hanna biss sich auf die Unterlippe.
»In deinem Alter, wolltest du wohl sagen.« Wendelgart hustete, ob aus Empörung oder wegen eines Kratzens im Hals, blieb ungewiss. Jedenfalls hob sie gespielt mahnend den Zeigefinger und versuchte sich an einem Lächeln.
»Hoffentlich macht der Pfaffe nicht allzu lange, sodass ich bald zurück sein werde.« Der Gedanke fortzugehen, quälte Hanna. »Du versprichst mir aber, den ganzen Krug auszutrinken! Ich stelle ihn dir nahe an die Bettstatt, dass du ihn ja nicht vergisst«, sprach sie eindringlich auf Wendelgart ein, als sie bereits auf die Tür zuging.
Unter dem Türsturz verharrte Hanna noch einen Moment. Ihre Lehrmeisterin hielt die Augen geschlossen. Das heftige Heben und Senken der Brust war selbst unter der Wolldecke zu erkennen. Jeder Atemzug schien eine Qual. In diesem Augenblick setzte das Glockengeläut ein.
Hastig rannte Hanna in ihre Kammer und zog sich den guten Sonntagsrock über. Gut war allerdings doch etwas übertrieben, denn der Rock war an etlichen Stellen schon so oft geflickt worden, dass er in den besseren Haushalten in Konstanz längst dem Heiliggeistspital für die Armen gespendet worden wäre. Wenigstens war das wollene Schultertuch nicht von Motten zerfressen.
Kurz strich sie sich mit den Fingerkuppen über ihre Wangen. Trotz Wendelgarts Hafersalbe hielten sich die Pockennarben aus der Kindheit hartnäckig, das wusste sie auch ohne Spiegel. Sie wusste allerdings auch, dass ihre Augen den Glanz von Bernstein hatten und ihre Haare dick und lang waren, und dies versöhnte sie doch ein wenig.
Das Glockengebimmel wurde immer eindringlicher. Konstanz besaß so viele Pfarrsprengel wie eine Hand Finger, dazu noch das mächtige Münster in der Niederburg. Obwohl längst auch Reichsstadt, prägten die vielen Kirchen und Klöster die Stadt noch immer. In der Stadt am Bodensee tummelte sich ein Sammelsurium an Klerikern, die man überall in den Gassen und auf den Plätzen in der Stadt antraf, Dominikaner, Franziskaner und Augustiner, dazu kamen noch mehrere Frauenklöster und Beginenhäuser.
Bereits nach wenigen Metern befand sich Hanna inmitten eifriger Kirchgänger, die allesamt dem Gotteshaus St. Jodok unweit des Pilgerhospitals entgegenstrebten. Die kleine Kirche war einst als Pilgerkirche gebaut worden. Die mannshohe St.-Jodokus-Statue in der Nische neben dem Eingangstor verriet noch etwas von der alten Ursprünglichkeit, ebenso wie die Wandmalereien, die an die Jakobslegende erinnerten, doch die Pilger waren längst in der Minderzahl.
Sie wählte den Weg über die Rossgasse, vorbei an den Badestuben und den vielen Schenken. Hier draußen wohnten Huren, Totengräber und Heimlichkeitsfeger Seite an Seite mit verarmten Handwerkern und Ledergerbern. Noch vor wenigen Jahren hatten die Gerber in der Stadt gehaust, was nicht selten zu Klagen beim Großen Rat wegen des Gestanks geführt hatte. Hier in der Vorstadt stanken die Bottiche zwar auch, doch die Menschen störten sich nur selten daran.
Hanna zog ihren Umhang noch enger. Obwohl sich die Sonne hin und wieder hinter den dicken Wolken zeigte, war es bitterkalt. Schon immer war der Januar der kälteste Monat am Bodensee gewesen.
Als das Gotteshaus am Ende der Gasse auftauchte, beschleunigte Hanna ihre Schritte. Bestimmt waren die wenigen Bänke bereits alle besetzt. Als sie durch die Kirchenpforte trat, sah sie ihre Befürchtung bestätigt, und sie gesellte sich zu einer Gruppe Frauen, die eng zusammenstanden und sich den neuesten Klatsch erzählten.
»Wo ist Wendelgart?«, fragte eine von ihnen auch schon, wobei sie die Stirn in Falten legte.
Hanna ging der alten Leinenweberin normalerweise aus dem Weg. Ihre Neugier und ihr Schandmaul waren stadtbekannt. Doch in der Enge des Gotteshauses war an ein Entkommen nicht zu denken.
»Sie ist krank«, winkte sie ab. »Ein paar Tage Bettruhe und ihr geht es bald besser«, fügte sie hastig hinzu, als die neugierige Matrone bereits zur nächsten Frage ausholte.
In diesem Augenblick ging eine der beiden Seitentüren auf, und der Pfaffe trat neben den Altar. Wie durch Zauberhand verstummte das Glockengeläut. Als müsste der Mann seinem Erscheinen noch mehr Wirkung verleihen, streckte er die Arme gen Himmel und stimmte lautstark in den Ruf des Kyrie eleisons ein, ehe er zum Gesang des Glorias überging. Einige der Kirchgänger grummelten die Worte tapfer mit, doch dem Großteil der Männer und Frauen war die lateinische Sprache genauso fremd wie die Welt hinter dem mächtigen Bodensee.
Hanna hörte den Worten des Pfaffen nur mit halbem Ohr zu. Ihre Gedanken kreisten um Wendelgart. Sie machte sich ernstlich Sorgen. Als die Messe endlich ein Ende nahm, drängte sie als eine der Ersten nach draußen.
»Wohin so schnell?«, hörte sie hinter sich eine Frauenstimme.
Zu Hannas Erleichterung war es nicht die Leinenweberin, die sich an ihre Fersen geheftet hatte, sondern die Frau des Wurstmachers am Rindermarkt. Es war noch kein halbes Jahr her, dass Wendelgart und sie der Frau bei der Geburt ihres achten Kindes beigestanden hatten. »Ach, du bist es. Ich dachte schon, die alte Leinenweberin verfolgt mich.«
»Du meinst wohl die Gunda«, lachte die Frau verschmitzt, wobei sie sich den Rock über ihrem Bauch glatt strich.
»Genau die. Doch sag, bist du etwa schon wieder guter Hoffnung?« Hanna schaute kopfschüttelnd auf den sichtlich gerundeten Leib der Wurstmacherin. »Wendelgart hat dir doch geraten, damit zu warten. Die letzte Geburt war nicht einfach, und beinahe wärst du draufgegangen.«
Verhütung war für die Frauen kaum zu bewerkstelligen, es war auch gegen Gottes Gebote. So jedenfalls predigten es die Pfaffen in allen Kirchen der Stadt. Dass die Frauen durch die vielen Geburten oft so geschwächt waren, dass sie wie wandelnde Leichen durch die Gassen schlichen, war den noblen Kirchenmännern egal. Hauptsache, Gottes Wille fand Gehör.
Hannas Tadel prallte an der Wurstmacherin ab wie Regentropfen auf heißem Stein. »Wo ist die Wendelgart überhaupt?«, fragte sie neugierig.
»Sie ist krank, deswegen meine Eile.« Hanna rieb sich die Hände. Die Kälte fraß sich tief in die Knochen.
»Die Arme. Was fehlt ihr denn?«
»Nur eine Erkältung«, wiegelte Hanna schnell ab, denn schon wieder schielten ein paar neugierige Weiber in ihre Richtung. Nicht mehr lange und die Leinenweberin würde unter dem Portal der Kirche auftauchen.
»Dann bestell ihr die besten Wünsche von mir und dass sie bald wieder gesund wird.«
»Mach ich gerne«, erwiderte Hanna. »Doch sag. Könnte einer deiner Söhne mir einen Gefallen tun?«
Die Wurstmacherin nickte.
»Ich bräuchte jemanden, der für mich zur Rheinbrücke geht und der Frau des Ratsmüllers eine Nachricht überbringt.«
»Das kann doch mein kleiner Lucas tun.« Die Wurstmacherin rief einen der zerzausten Jungen zu sich her. »Sag ihm, was er ausrichten soll. Er ist ein gescheiter Kerl und vergisst nie etwas.«
Hanna kniete sich vor den kleinen Jungen und lächelte ihm zu. Die Beinlinge waren ihm verrutscht, in den Haaren klebte Stroh, aber sonst machte er tatsächlich einen aufgeweckten Eindruck.
»Sag Lena, dass ich heute Nachmittag nicht kommen kann, die Wendelgart sei krank. Sie bräuchte sich aber keine Sorgen machen. Kannst du dir alles merken?«
Der Junge nickte eifrig. Hanna klaubte eine Kupfermünze aus ihrem Beutel und hielt sie dem kleinen Kerl hin.
»Kommt nicht in Frage!«, drängte sich die Wurstmacherin dazwischen. »Du und Wendelgart habt schon so viel für mich und meine Familie getan, dass hierfür kein Obolus vonnöten ist.«
Enttäuscht verzog der Junge seinen Mund. Als er den sanften Klaps seiner Mutter auf dem Hinterteil spürte, rannte er los und verschwand wenig später um die Ecke des Pilgerhospitals.
Noch immer schielten einige der Weibsbilder in ihre Richtung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eine von ihnen auf sie zukam. Die Kunde von Wendelgarts Krankheit würde sich schneller verbreiten als trockenes Laub im Herbst. Deshalb verabschiedete sich Hanna mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung von der Wurstmacherin und lief hinkend der Gassenecke entgegen. Sie verlangsamte ihr Tempo erst, als sie sicher war, dass ihr niemand folgte.
Als Hanna ihr Heim erreichte, drückte der Dunst bereits vom See herauf. Bald würde Konstanz unter einem dichten Nebelmeer versinken.
Nach einem traurigen Blick in Richtung des kümmerlichen Kräutergartens, den sie und Wendelgart im Sommer stets mit viel Liebe pflegten, trat Hanna über die Schwelle. Drinnen hängte sie ihren Umhang an den Haken und hörte von oben gleich ein qualvolles Husten. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend rannte sie die Stiege hoch.
»Soll ich nicht doch den Medicus holen?«, fragte sie sanft, als sie sich auf die Kante der Bettstatt setzte. »Das Fieber ist gestiegen, trotz der Kräuter. Versuch nicht, dies herunterzuspielen. Ich lasse mich nicht täuschen.«
»Wir können uns den Mann nicht leisten«, hustete Wendelgart. »Es muss auch so gehen.«
»Ganz so sorglos wie du sehe ich das Ganze nicht. Mit einem Lungenkatarrh ist nicht zu spaßen. Dann lass mich wenigstens Schwester Agrikola holen. Sie ist die beste Kräutlerin in ganz Konstanz.«
Wendelgart gab sich geschlagen, bestand aber darauf, dass Hanna erst den heutigen Tag abwartete, ehe sie die alte Begine in der Wittengasse um Hilfe bat. Da Hanna den sturen Kopf ihrer Lehrmeisterin kannte, fügte sie sich der Anordnung, wenn auch nur ungern.
Die folgenden Stunden eilte sie zwischen Küche und Krankenkammer hin und her, bewaffnet mit allen möglichen Kräutern, die sie zu Tee braute, und allmählich zeigten ihre Bemühungen doch etwas Erfolg. Wendelgart fiel in einen unruhigen Schlaf. Erschöpft setzte sich Hanna auf einen Stuhl in der Küche und starrte in die züngelnden Flammen. Als sie schon glaubte, die Stille nicht mehr auszuhalten, klopfte es an der Tür.
»Wir dachten, dass du vielleicht Hilfe gebrauchen könntest«, rief eine raue Männerstimme, dann polterte ihr Geliebter auch schon in die Küche.
Die roten Haare standen dem jungen Stallmeister wirr ab, und die Sommersprossen auf seinem Gesicht leuchteten in der winterlichen Blässe noch mehr. In seinen Augen lag so viel Wehmut, dass Hanna ihn am liebsten umarmt hätte. Doch stattdessen begnügte sie sich mit einem gequälten Lächeln, zumal sie nicht sicher sein konnte, wen Ursus als Begleitung mitgebracht hatte. Sie hörte zwar glockenhelle Stimmen, doch erkannte sie die beiden Frauen erst, als auch sie händereibend in die Küche traten.
»Diese Kälte bringt mich noch um«, jammerte Klara, während sie hastig auf den Herd zulief und ihre Finger über den Flammen wärmte. Die junge Frau war vor knapp vier Jahren in den Haushalt des Stadtmüllers Jodok Waser gekommen. Aus dem einstigen Wirbelwind war eine Schönheit geworden, wie Hanna mit stiller Bewunderung feststellte.
»Glaubst du nicht, der kleine Jost könnte allmählich allein gehen?«, wandte sich Hanna tadelnd an ihre Freundin, die eben hinter Klara in die Küche kam.
Lena lächelte wie immer, wenn es ihr auch schwerfiel. Seit der Geburt von Jost hatte sie bereits drei Totgeburten mühsam durchgestanden, und es war zu hoffen, dass das ungeborene Kind in ihrem Leib dieses Mal mehr Glück hatte.
Hanna liebte Jost, auch wenn es ihr jedes Mal einen Stich versetzte, wenn sie den kleinen Jungen sah. Dass Jost der Bastard des mächtigen Grafen Wilhelm von Montfort war, wussten nur ganz wenige. Der Graf hatte Lena während ihrer und Hannas gemeinsamen Zeit dort als Zeitvertreib in seine Kammer geholt und, als sich ihr Leib zu runden begann, zum Ratsmüller nach Konstanz verbannt. Für einen kurzen Augenblick verharrte Hannas Blick auf dem blond gelockten Jungen, der sich eben den Korb mit den Schneckenhäusern griff und ein Jauchzen von sich gab.
»Wie geht es Wendelgart?«, fragte Lena besorgt, wobei sie sich neben Hanna an den Tisch setzte. »Als der Junge der Wurstmacherin die Nachricht brachte, haben wir uns alle Sorgen gemacht.«
»Sie fiebert stark. Ich bin nur froh, dass sie endlich eingeschlafen ist. Morgen werde ich zu den Beginen in die Wittengasse gehen und Schwester Agrikola um Rat fragen.«
»Das ist eine gute Idee. Alma wird sich freuen, dich wiederzusehen.« Lena strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihren Sohn ließ sie keine Sekunde aus den Augen. »Ich habe sie vor zwei Tagen auf dem Markt getroffen. Sie hat mir erzählt, dass Schwester Agrikola sie bereits bei der Mutter Oberin als ihre Nachfolgerin vorgeschlagen hat. Sie hat sich in den letzten Jahren wahrlich zu ihrem Vorteil verändert«, fuhr sie milde lächelnd fort.
Für einen Augenblick vergaß Hanna die Sorge um Wendelgart. Die einstige Badehure Alma hatte sich gemausert, aus ihr war eine sittsame Begine geworden, natürlich mit hilfreicher Unterstützung der Oberin Guta von Wellershausen. Die ehrwürdige Mutter hatte mit Weitsicht und Gottvertrauen das Beste aus Alma herausgeholt und sie zu einem vollwertigen Mitglied der Beginengemeinschaft gemacht.
Beim Gedanken an die frommen Frauen entwich Hanna ein Seufzer. Leider hatten sich die Beginen vor einem Jahr doch der franziskanischen Drittordensregel unterwerfen müssen, und nur dem Kustos der Barfüßer hatten sie es zu verdanken, dass ihre Freiräume noch nicht eingeschränkt worden waren.
»Hat Wendelgart mit dir wegen der Hebammenprüfung gesprochen?«, unterbrach Ursus ihre Gedanken. »Sie hat mir versprochen, dich im Frühjahr anzumelden.« Tief in seinen Augen zeigte sich ein Verlangen, das Hanna schmerzte. »Dann können wir endlich heiraten. Ich halte das Warten kaum noch aus. Ich habe sogar mit Ritter Conrad darüber gesprochen. Er würde uns ein kleines Haus in der Stadt zur Verfügung stellen.«
»Bitte, Ursus, nicht jetzt.« Hanna stöhnte.
»Warum zierst du dich denn immer so?« Lena rückte näher an ihre Freundin heran und legte die Hand auf ihren Arm. »Ursus liebt dich und du ihn doch auch.«
»Es ist nicht das«, quälte sich Hanna die Worte ab.
»Was ist es dann?« Ursus verschränkte die Arme vor der Brust und schnaubte.
»Vielleicht bist du ihr einfach zu stürmisch«, lachte Klara vom Herd her, wobei sie sich noch immer die Finger rieb. »Männer wollen immer nur das eine. Es gibt halt Frauen, die mögen das nicht so.«
»Hat Klara recht?«, fragte Lena leise.
»Ja und nein.« Hanna suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. Irgendwann musste sie Ursus von ihrer Angst erzählen. Warum nicht heute?
»Du willst mich einfach nicht. Sag es doch endlich.« Ursus bockte, und verübeln konnte es ihm niemand.
»Ich liebe dich, du dummer Kerl«, begann Hanna leise, wobei sie langsam aufstand und auf Ursus zuging. Sie legte ihren Kopf an seine breiten Schultern und schluchzte. »Ich habe Angst, schreckliche Angst, dass ich das gleiche Schicksal wie Lena erdulden muss.«
»Sprichst du von Jodok?«, fragte Lena ungläubig. »Jodok ist der beste Mann, den man sich vorstellen kann. Auch wenn ich das damals nie geglaubt hätte, als er mich mit seinem Karren auf Geheiß des Grafen auf der Burg abholte. Doch glaub mir, etwas Besseres konnte mir nicht widerfahren.«