Der Tod spielt ohne Gage - Katrin Fischer - E-Book

Der Tod spielt ohne Gage E-Book

Katrin Fischer

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Beschreibung

Alte Dämonen: Ein Schauspieler bricht bei laufender Vorstellung auf der Bühne des Staatstheaters Braunschweig zusammen. Er stirbt vor den Augen der Kriminalhauptkommissarin Verena Bertram, die mit ihrem Mann eigentlich nur einen freien Abend genießen wollte... Unfall? Oder doch Mord? Spinnefeind: Eine Tänzerin wird nach der umjubelten Premiere übel zugerichtet in der Garderobe aufgefunden, mausetot. Ihre schaurige Hinterlassenschaft wirft mehr Fragen auf als Antworten. Noblesse Oblige: Ein schwer verletzter Korrepetitor auf der Probebühne im Schimmelhof gibt der Braunschweiger Kriminalpolizei Rätsel auf. Doch da sind auch noch zwei mysteriöse Unbekannte, von denen einer kein Licht mehr in das Dunkel bringen kann... Kriminalhauptkommissarin Verena Bertram und ihr Team müssen sich mit vielen kleinen Eigentümlichkeiten, speziellen Befindlichkeiten und mancherlei Marotten diverser Angehöriger des Staatstheaters auseinandersetzen. Aber auch in dieser manchmal ungewöhnlichen, eigenen kleinen Welt ist es wie überall: Betrachtet man die Dinge genauer, tun sich zuweilen tiefe Abgründe auf. Und: Nicht jeder Täter ist ein gemeiner Verbrecher - und nicht jedes Opfer ist unschuldig.

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Ich möchte mich ganz herzlich für die freundliche Unterstützung durch Herrn Dirk Bosse, Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des Fachkommissariats 1 der Polizeiinspektion Braunschweig, bedanken.

Trotz des sehr informativen Gesprächs erhebe ich keineswegs den Anspruch, die tatsächliche Arbeit der Mordkommission abzubilden, die vermutlich oft ermüdender ist und bei bestimmten Tätigkeiten wesentlich mehr an Überwindung kostet, als in meinen drei Episoden dargestellt.

Ebenfalls ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei Herrn Horst Bartels, der die Kontaktaufnahme zu EKHK Bosse sehr erleichtert hat.

Katrin Fischer ist in Braunschweig geboren. Während ihrer Schul- und Studienzeit hat sie viel Zeit im Staatstheater verbracht – zunächst als Chorkind, später als Statistin und als Mitglied des Extrachores.

Ihre Liebe zum Schreiben hat sie bereits während des Studiums entdeckt und Verschiedenes im Star Trek Fandom publiziert. Ihren ersten ‚FanFictionfreien’ Roman hat sie 2008 veröffentlicht.

Inhalt

Alte Dämonen

Spinnefeind

Noblesse Oblige

Alte Dämonen

Anfang August, Beginn der Spielzeit

„Hallo Gideon.“ Felicitas wischte sich fahrig eine dunkle Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. „Ich habe gerade erfahren, wen sie für den Graziano verpflichtet haben... Ich dachte, das würde dich interessieren.“ Sie sah unsicher an ihrem Kollegen vorbei in den schmalen Flur der kleinen Dachwohnung und schluckte nervös. „Entschuldige, dass ich dich so überfalle... Darf ich hereinkommen?“, fragte sie kleinlaut.

Gideon zögerte einen winzigen Moment. Dann trat er einen Schritt beiseite und ließ sie eintreten. „Möchtest du etwas trinken?“

„Oh ja, etwas Kühles wäre schön!“

„Also, wen haben sie verpflichtet?“ Gideon überreichte seiner Schauspielkollegin ein Glas und sah sie mit milder Neugier an. Irgendetwas stimmte nicht. Sie hätte es ihm auch morgen bei der Probe sagen können. Oder am Telefon. Aber sie war hier. Und in einem hatte sie Recht. Es interessierte ihn. Er selbst spielte den jungen Bassanio im Shakespeare-Stück ‚Der Kaufmann von Venedig’, und der Unfall des Kollegen, der den Graziano spielen sollte, hatte für Aufregung und Verzögerungen gesorgt.

Felicitas senkte den Blick verlegen in ihr Wasserglas und druckste ein wenig herum. „Meinen Ex-Freund, ich habe ihn in Aachen kennen gelernt.“ Jetzt war es heraus. Sie atmete verstohlen auf.

Gideon zog überrascht die Augenbrauen hoch. Er wusste natürlich von ihrer Anstellung am Theater Aachen, bevor sie zu Beginn der vorigen Spielzeit nach Braunschweig gekommen war. Aber er wusste nicht, dass sie dort einen Freund gehabt hatte. Und noch dazu einen ihrer damaligen Kollegen. Er musterte sie nachdenklich. „Und das ist ein Problem für dich?“

Sie verzog peinlich berührt das Gesicht. „Es könnte zum Problem werden. Der Mann ist...“, sie rang nach dem richtigen Wort, „schwierig. Und ich bin sicher, er ist meinetwegen hier!“

„Meinst du?“ Gideon sah sie skeptisch an. „Diese Rolle musste kurzfristig besetzt werden, Bachmann ist ja leider ausgefallen. Ist dein Exfreund Freiberufler?“

„Ja. Und das hat es ihm natürlich erleichtert, er musste aus keinem Vertrag raus!“ Sie hob abwehrend eine Hand. „Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Gideon! Aber du kennst ihn nicht, er ist unglaublich hartnäckig!“

Gideon verschränkte die Arme. „Und wieso habt ihr euch getrennt?“

„Ich habe mich getrennt. Er hatte eine Andere. Als ich dahinter gekommen bin, war er voll der Reue und hat Besserung gelobt, und so habe ich ihm zunächst verziehen.“ Sie rümpfte verächtlich die Nase. „Nur, um dann zu entdecken, dass die eine Andere nicht die Einzige war und dass er beide immer noch traf! Und da hat es mir gereicht!“ Sie schnaubte erbost. „Die Spielzeit neigte sich dem Ende zu und ich suchte eine neue Stelle. Mit Braunschweig hatte ich wirklich Glück.“ Sie seufzte bitter. „Aber er hat bis zum Schluss nicht aufgehört, mich…“, sie stockte, „mich umstimmen zu wollen. Es war einfach unerträglich!“

Felicitas spürte Gideons prüfenden Blick auf ihren Händen, die das Glas umklammert hielten. Sie trank rasch einen Schluck und starrte dann unbehaglich auf die Kohlensäurebläschen, die in ihrem Glas aufstiegen. War es wirklich richtig, es ihm zu erzählen? Hätte sie nicht lieber abwarten sollen, wie sich alles entwickeln würde? Sie trank bedrückt einen weiteren Schluck. Nein. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie sich alles entwickeln würde! Sie seufzte innerlich. Es war richtig. Sie musste ihn vorbereiten auf das, was da kommen mochte.

„Komm, setzen wir uns.“ Gideon deutete mit seinem Glas auf das taubenblaue Sofa, das mitten im schlicht eingerichteten Wohnzimmer stand. „Wie heißt er denn?“, fragte er ruhig.

„Mario Heß.“ Felicitas ließ sich neben Gideon nieder. „Wie hat er sich immer vorgestellt? ‚Heß mit Es-Zett wie Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter’. Also ehrlich“, sie tippte sich an die Stirn, „das ist doch krank, oder? Du sagst ja auch nicht ‚Roos mit Doppel-O wie…– He, Gideon, was ist los mit dir?“

Gideon saß wie versteinert neben ihr. Alle Farbe war plötzlich aus seinem Gesicht gewichen. „Die Hitze...“ Er lächelte entschuldigend und stürzte sein eiskaltes Wasser hinunter. „Sie macht mir heute ziemlich zu schaffen. Hast du je einen so heißen August erlebt? Entschuldige mich einen Moment, ich tauche meine Arme kurz in kaltes Wasser.“

Gideon stützte sich schwer auf das Waschbecken, in das sich laut prasselnd kühles Wasser ergoss.

Ungebetene Bilder tauchten in ihm auf. Bilder, die einer längst vergangenen Zeit angehörten. Als er den Kopf hob und in den Spiegel sah, sah er sich selbst, mit ungelenken dreizehn Jahren.

Er bewunderte sich im hohen Spiegel, den Herr Korthe eigens für die Mitglieder der Theater-AG des Gymnasiums der Kreisstadt im Klassenzimmer aufgestellt hatte. Das satte Grün des Jägerkostüms stand ihm ausgezeichnet. Besonders der Hut gefiel ihm, der mit seiner fesch ins Gesicht gezogenen Krempe seine leuchtenden Augen beschatteten. Um ihn herum schwirrte das aufgeregte Murmeln und unterdrückte Kichern seiner Mitspieler; nur noch Minuten, bis Herr Korthe den Befehl zum Aufbruch in die Aula geben würde.

Plötzlich tauchte hinter ihm ein langer, schlaksiger Junge auf, dessen dunkle Locken unter seinem prächtigen purpurfarbenen Prinzen-Hut hervorquollen. Marios hübscher Mund verzog sich verächtlich, während sein Blick abschätzig von der künstlichen Fasanenfeder des Jäger-Huts über den grünen Wams und die grünen Knickerbocker bis zu den neuen braunen Winterstiefeln glitt. „Ätzend“, sagte Mario. Mario war schon durch den Stimmbruch und seine Stimme hatte normalerweise einen angenehmen tiefen Klang. Aber zu ihm sprach er nie mit dieser angenehmen Stimme. Auch jetzt nicht. Sie krächzte vor Verachtung. „Du gehörst nicht in dieses Kostüm! Es ist eine Schande! Egal, was du dir einbildest, du bist kein–“

„Mario, lass Chris in Ruhe!“ Herr Korthe stand plötzlich hinter ihnen, legte seine Hände mit Nachdruck auf beider Schultern. Dann mahnte er alle, auf dem Weg zur Aula leise zu sein.

Gideon schob gereizt diese Bilder beiseite. Er wollte sie nicht. Sie gehörten einer Vergangenheit an, die mit seiner Gegenwart nicht das Geringste zu tun hatte! Mit der er längst abgeschlossen hatte. So dachte er wenigstens.

Bis Mario Heß in dieser Gegenwart auftauchte.

Und hier gab es keinen Herrn Korthe.

Felicitas stand auf und wanderte durch das kleine aufgeräumte Wohnzimmer. Vorbei an der Tür zu Gideons Schlafzimmer. Wie immer war sie geschlossen, als wäre dieses Zimmer ein Heiligtum, das niemand zu Gesicht bekommen sollte. Wie so einiges andere in seinem Leben auch... Oh, er war ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch, und für sie hatte er immer ein offenes Ohr. Aber von ihm selbst wusste sie wenig mehr, als dass er aus einem kleinen Ort in der Eifel stammte. Er sprach nie darüber.

Sie wusste genau, dass er sie mehr als nur gern mochte. Aber warum zeigte er es ihr nicht deutlicher? Warum verstand er nicht, wie sehr sie sich danach sehnte? Oder wollte er es nicht verstehen?

Sie vertrieb diesen unerfreulichen Gedanken und blieb am weit geöffneten Fenster stehen. Ein leichter Sommerregen setzte gerade ein und brachte die Blätter der üppig belaubten Kastanie im Hinterhof zum Nicken. Hoffentlich brachte der Regen auch die ersehnte Abkühlung.

Abkühlung… Felicitas trat in den Flur und hörte monotones Rauschen aus dem Badezimmer. „Gideon?“, sie klopfte zaghaft an die Tür. „Alles in Ordnung mit dir?“

Gideon schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er starrte wie betäubt auf den Wasserstrahl, der ungestört dahinplätscherte. „Ja, ja... Ich komme gleich.“ Er hielt rasch seine Unterarme in den Strahl und genoss die angenehme Kühle. Dann bespritzte er sein Gesicht. Nach ein paar tiefen Atemzügen drehte er den Wasserhahn zu und trocknete sich ab.

Felicitas erwartete ihn im Flur.

„Das Wasser braucht immer so lange, bis es richtig kalt ist“, sagte er verlegen. „Aber es tut wirklich gut. Wenn du auch möchtest...?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es hat angefangen zu regnen. Da werde ich gleich nass genug...“ Sie starrte ihn fasziniert an. Seine mittelblonden, kurz geschnittenen Haare klebten zerzaust an der Stirn und gaben ihm ein verwegenes Aussehen. Aus einer Strähne perlte etwas Wasser auf sein Ohr herab, lief über das Ohrläppchen und tropfte auf seine Schulter. Das azurblaue T-Shirt harmonierte wunderbar mit seinen intensiv blauen Augen. Es straffte sich über seiner gut trainierten Brust und die Ärmel wölbten sich über seinem kleinen, aber festen Bizeps. Felicitas inhalierte unwillkürlich tief den anziehenden Duft, der von ihm ausging.

Gideons Blick hing entzückt an ihrem Gesicht, diesem elfenhaft sanften, bezaubernden Gesicht, das sie ihm mit leicht geöffneten, rosigen Lippen entgegenhielt. Ein Gesicht, wie geschaffen für die Rolle der Porzia, die im ‚Kaufmann von Venedig’ Bassanios Braut war.

Porzia und Bassanio... Ein heißer Schauer überlief ihn, gefolgt von einer Welle von Übelkeit, die kalten Schweiß auf seinem Körper zurückließ. Er schluckte nervös. Das war gefährliches Terrain...

Hastig wandte er seinen Blick ab. Er durfte nichts provozieren.

Nicht, bis... Er unterdrückte einen gequälten Seufzer. Würde er je den Mut dazu aufbringen?

Mitte September, Dienstag, mittags

„Nun stell dich nicht so an, was ist schon dabei? Oder hast du etwa einen Neuen?“ Mario hielt sie am Arm fest.

Felicitas bemühte sich, Würde zu bewahren, obwohl es ihr nicht leicht fiel, nach dem, was er sich gestern herausgenommen hatte. Genau am selben Platz und genau zur selben Zeit. Was bildete dieser unverschämte Kerl sich ein? Und das, obwohl sie ihm erneut unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. „Das geht dich nichts an“, sagte sie mit mühsam erzwungener Ruhe. „Ich habe dem, was ich dir gestern gesagt habe, nichts hinzuzufügen! Und jetzt lass mich los!“

Er lächelte einschmeichelnd auf sie herab. „Aber Fee, mein Herzchen... ich–“

„Ich bin nicht dein Herzchen!“ Sie riss sich von ihm los. „Und nenn mich nicht Fee! Was wird das hier? Eine Neuauflage von Aachen? Kapierst du denn gar nichts?“

Er zuckte beleidigt mit den Schultern. „Ich liebe dich, Fee. Du bist es, die nichts kapiert. Und es war nicht nett von dir, dich einfach davon zu machen!“

„Hast du überhaupt keinen Anstand?“, keuchte sie wütend. „Du warst es doch, der betrogen hat! Nicht ich! Was willst du hier? Glaubst du, du kannst mir einfach folgen und... und mich weiter belästigen?“

„Belästigen? Ich belästige dich doch nicht! Ich versuche, nett zu dir zu sein! Und ich bin dir auch nicht gefolgt! Ich brauchte einen neuen Job! Dass du hier bist, hat meine Entscheidung keineswegs beeinflusst!“ Seine Hände umfassten eindringlich ihre Oberarme. „Aber ich habe es als ein gutes Omen angesehen, Fee! Für einen Neuanfang!“

„Neuanfang? Du spinnst wohl!“ Sie versuchte, ihn abzuwehren.

„He, was geht hier vor?“ Gideons alarmierte Stimme hallte über die Probebühne, während er mit raschen Schritten auf die beiden zukam.

Felicitas schaffte es endlich, sich loszumachen und hakte sich sofort bei Gideon ein. „Ich wollte gerade gehen. Es ist alles gesagt.“ Dabei warf sie Mario einen feindseligen Blick zu.

„So!“, schnaubte Mario und sah abfällig von ihr zu Gideon. „Roos ist also dein neuer Held!“ Dann baute er sich theatralisch vor ihnen auf und deutete anklagend mit dem Zeigefinger auf den kleineren Mann.

„Alles ist nicht Gold, was gleißt,

Wie man oft euch unterweist.“

Sein Finger schoss zu Felicitas.

„Manchen in Gefahr es reißt,

Was der äußre Schein verheißt!“

Felicitas sah ihn aufgebracht an: „Was soll denn dieser Unsinn?“

„Kein Unsinn!“, zischte Mario gehässig. „Der Prinz von Marokko musste erkennen, dass er auf die falsche Schatztruhe gesetzt hat! Und dir wird es genau so ergehen!“, setzte er mit beißendem Hohn hinzu. „Komm lieber zu mir zurück, da weißt du wenigstens, was du hast!“

„Kein Wort mehr!“, sagte Gideon aufgebracht und ballte seine Hände zu Fäusten. „Lass sie in Ruhe!“

„Oh, Herr Gideon Roos spricht ein Machtwort!“ Mario hob höhnisch grinsend beide Hände. „Keine Angst, ich gehe. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!“ Er funkelte Gideon heimtückisch an. Dann warf er Felicitas eine Kusshand zu und verließ hoch erhobenen Hauptes die Probebühne.

Felicitas stampfte mit dem Fuß auf. „Wie kann er es wagen! Dieser... dieser... Kerl!“ Sie ließ in ohnmächtiger Wut ihre Arme fallen. „Jetzt weiß du, was ich gemeint habe!“

Gideon starrte beunruhigt dem großen, dunkelhaarigen Mann hinterher, der immer noch so viel Ähnlichkeit mit dem schlaksigen Jungen von damals hatte. Der diffuse Druck in seinem Magen, den er seit der ersten gemeinsamen Probe mit Mario nicht losgeworden war, hatte sich innerhalb von Minuten zu einem harten Etwas verdichtet. Mario hatte ihn also doch wieder erkannt. Und das, obwohl.... Übelkeit stieg in ihm auf. Er kämpfte sie rasch nieder.

„Gideon?“ Felicitas drückte beunruhigt seinen Arm. „Was hat er gemeint? Mit dieser Anspielung an die Schatztruhen-Szene aus dem ‚Kaufmann’?“

„Keine Ahnung“, murmelte er dumpf. „Lass uns von hier verschwinden.“

Dienstag, abends

„Ihr müsst mirs nicht weigern, ich muss mit Euch nach Belmont gehen.“

„Wer spielt den Graziano?“, raunte Max Bertram seiner Frau ins Ohr.

„Ich kenne ihn nicht“, flüsterte sie zurück.

„Nun ja, so müsst ihr. Aber hör, Graziano, du bist zu wild, zu rau, zu keck im Ton;

Ein Wesen, welches gut genug dir steht

Und Augen, wie den unseren, nicht missfällt.“

„Ist er neu hier? Ich habe ihn noch nie gesehen.“

Verena Bertram lächelte amüsiert in sich hinein. Das hieß gar nichts. Aufgrund ihrer Jobs kam es leider nicht allzu häufig vor, dass sie Zeit für einen gemeinsamen Theaterbesuch hatten.

„Signor Bassanio, hört mich:

wenn ich mich nicht zu feinem Wandel füge,

mit Ehrfurcht red und dann und wann nur fluche...“

„Er hat eine schöne Stimme“, sagte Max leise. „Wie heißt er?“

Aus der Reihe vor ihnen hörte man jetzt laut und vernehmlich ein entnervtes „Psst!“

Verena zog schuldbewusst den Kopf ein und legte ihrem Mann das Programmheft in den Schoß.

„... Nicht allen Brauch der Höflichkeit erfülle,

wie einer, der, der Großmama zulieb, scheinheilig tut:

so traut mir niemals mehr.“

„Mario Heß“, murmelte er. Wie es schien, ein würdiger Ersatzmann für den verletzten Viktor Bachmann. Max lehnte sich zufrieden zurück. Er liebte dieses Stück von Shakespeare. Und auch die restliche Besetzung war sehr viel versprechend. Zum Beispiel Altmeister Heinrich Sagebiel als jüdischer Geldverleiher Shylock. Max freute sich schon auf die Szene, in der Shylock Juden mit Christen vergleicht ‚Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?’ und so weiter, ein Text, den Max immer als ein Plädoyer für gegenseitige Akzeptanz empfunden hat. Dem entgegen steht die Gerichtsszene zum Ende hin, in der Shylock zwar als Kläger Recht bekommt, seinem Recht aber so stattgegeben wird, dass er als gieriger Jude dasteht und klein beigeben muss. Und das noch dazu durch zwei Frauen in Hosenrollen. Max schmunzelte. All das würde der angegraute, etwas untersetzte Mime hervorragend meistern, da hatte er keinerlei Zweifel.

Und dann gab es noch einen wunderbaren Bassanio.

Das Ehepaar Bertram war sich einig: Gideon Roos war der aufsteigende Stern des Hauses. Seit der letzten Spielzeit, in der er trotz seines noch recht jugendlichen Alters als Faust brilliert hatte, war der eher unscheinbare Schauspieler eindeutig beider Favorit.

In diesem Moment schob sich Verenas Hand in die seine und zauberte ein warmes Lächeln auf sein Gesicht.

Jetzt winkte Bassanio mit einer beiläufigen Geste zur rechten Seite hin, wobei sich das Scheinwerferlicht in etwas Glitzerndem auf seinen grünen Ärmeln verfing.

Ein Diener in farbenfroher Livree erschien mit einem Tablett, darauf zwei dickwandige, gläserne Kelche, gefüllt mit Rotwein. Nun ja. Es sollte jedenfalls aussehen wie Rotwein. Verena hatte ihm erzählt, dass man zu ihrer Zeit roten Fruchtsaft verwendete. Und Apfelsaft wurde mit einem Schuss Mineralwasser zu perlendem Sekt, während verdünnter schwarzer Tee als Whisky herhalten musste. Brrr. Da war ihm das Original bedeutend lieber!

Bassanio hob jetzt beide Gläser vom goldenen Tablett und reichte eins davon Graziano, der den kleineren Bassanio trotz dessen üppig frisierter Perücke beinahe um einen Kopf überragte.

„Nun gut, wir werden sehen, wie ihr Euch nehmt.“

Er hob das Glas.

Graziano lachte laut und prostete ihm ebenfalls zu.

„Nur heute nehm ich aus; das gilt nicht mit, was ich heut Abend tue.“

Beide tranken.

Bassanio stellte sein Glas auf einem Tischchen ab.

„Nein, das wär’ schade; Ich bitt Euch–“

Plötzlich fing Graziano an zu schwanken. Der Kelch entglitt seiner verkrampften Hand und roter Saft spritzte über den Bühnenboden. Max stutzte irritiert. Im Bruchteil einer Sekunde ging jede Faser seines Körpers in Hab-Acht-Stellung.

Die Hände des Schauspielers krallten sich jetzt in den samtigen Kragen seines weinroten Kostüms. Sein Gesicht wurde trotz der Schminke kreidebleich. Dann brach er in die Knie, gab gurgelnde Laute von sich und stürzte vornüber in die Lache des roten Saftes, die sich zu seinen Füßen ausgebreitet hatte.

Alles war rasend schnell gegangen. So schnell, dass das Publikum noch immer wie erstarrt den Atem anhielt.

Auch Roos stand da wie vom Donner gerührt und starrte schockiert auf seinen Kollegen.

Der Kelch, der wie durch ein Wunder heil geblieben war, rollte gemächlich über die schwarzen Bohlen der Bühne auf das Publikum zu.

Max schnellte hoch. Zwei Reihen des Parketts trennten ihn von dem Mann, der bewegungslos am Boden lag. Wie selbstverständlich schwang er sein Bein über die Lehne seines Vordermannes. „Machen Sie Platz!“, rief er laut. „Ich bin Arzt!“

Seine Frau war ihm direkt auf den Fersen. Am Kelch machte sie Halt und hielt ihn mit einem ihrer Pumps auf. Sie holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und hob ihn damit vorsichtig auf. Dann beeilte sie sich, durch den immer schmaler werdenden Spalt des sich schließenden Vorhangs hindurchzuschlüpfen.

„Ich bin Kriminalhauptkommissarin Verena Bertram“, informierte sie den entsetzt dreinblickenden Mann, der gerade auf der anderen Seite des Vorhangs erschienen war.

„Ich... Ich bin Rolf Albert. Der Abendspielleiter... Oh mein Gott! Was ist passiert? Was soll ich den Leuten sagen?“ Er wischte sich mit zitternden Fingern über die Stirn. „Stirbt er etwa?“ Er starrte entsetzt zu dem inzwischen auf dem Rücken liegenden Schauspieler hinüber, dessen Samtkostüm ein Mann im schwarzen Abendanzug verbissen zu öffnen versuchte.

„Mein Mann ist Arzt, Herr Albert. Er tut, was er kann. Sagen Sie dem Publikum, dass es einen tragischen Unfall gegeben hat“, entgegnete sie ruhig und sah dann prüfend in den Kelch. Ein paar Tropfen des roten Inhalts klebten noch an den Wänden. Sie roch vorsichtig daran. Schwarze Johannisbeere. Ein sehr starkes Aroma. Das konnte einiges überdecken.

„Ich benachrichtige die Kollegen von der Kriminaltechnik.“

Herr Albert schluckte hart. „Sie glauben, es war...?“ Er sah bestürzt auf Dr. Bertram, der jetzt mit Herzmassage und Atemspende begonnen hatte. „Es war Mord?“

Die Kommissarin folgte seinem Blick. „Im Moment glaube ich noch gar nichts, Herr Albert, aber ich schließe auch nichts aus. Würden Sie bitte dafür sorgen, dass niemand vom Personal das Haus verlässt? Das Publikum können wir wohl mit ruhigem Gewissen entlassen.“

Grelles Arbeitslicht brannte auf die Bühne nieder. Ein von Kopf bis Fuß weiß bekleideter Mann füllte gerade den Rest des roten Saftes aus Bassanios Kelch in eine Laborflasche.

Max Bertram saß ausgelaugt und schwitzend in einem Sessel, der vom Zuschauerraum aus prächtig ausgesehen hatte, sich von nahem aber ziemlich fadenscheinig ausnahm. Er beobachtete, wie zwei Männer den toten Schauspieler in einen Sack verpackten. Das letzte Stückchen von Grazianos weinrotem Kostüm verschwand vor seinen Augen, als der Reißverschluss vollends zugezogen wurde. Er seufzte niedergeschlagen. Für diesen Mann war jede Hilfe zu spät gekommen. Atemstillstand, schon bevor er es geschafft hatte, das erste Band oder die erste Öse dieses verflixten Kostüms zu öffnen! Dann Herzmassage und Atemspende. Ohne Ergebnis. Wieder und wieder, bis der Notarzt kam. Der hatte auch nichts mehr ausrichten können. Max schluckte trocken. Er sehnte sich nach einem kühlen Bier.

Er sah Verena auf der Seitenbühne stehen, sie sprach mit jemandem von der Kriminaltechnik, der gerade einen Scheinwerfer aufstellte. Kompetent und absolut Herrin dieser Lage, hatte sie sofort alles Notwendige in die Wege geleitet, während er selbst sich ziemlich unnütz fühlte, nachdem er dem Gerichtsmediziner alles gesagt hatte, was es zu sagen gab.

Er würde gerne nach Hause fahren. Er stemmte sich aus dem Sessel hoch und begab sich zu seiner Frau.

„Entschuldige die Störung“, sagte er leise in ihr Ohr. „Brauchst du mich noch?“

Diesen Teil des Theaters hatte Max noch nie gesehen. Nachdem er die Bühne verlassen hatte, war er den Anweisungen seiner Frau gefolgt, die sich hier gut auskannte, war sie doch während ihrer Schulzeit als Statistin in diesem Theater tätig gewesen. Als er die Tür des Künstlereingangs öffnete, prallte er fast gegen einen Mann, der es offenbar eilig hatte, ins Haus zu gelangen. „Pardon… Ach Tom, du bist es! Hallo.“

„Oh, der Herr Doktor!“ Kriminaloberkommissar Tom Manzani gab ihm grinsend die Hand. „Welch seltenes Vergnügen!“ Dann wurde er schlagartig ernst. „Bist du okay? Verena hat mir am Telefon erzählt, dass du versucht hast, unser Opfer wiederzubeleben.“

Max stopfte die Hände in seine Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. „Leider ohne Erfolg.“

„Das tut mir Leid. Und? Hast eine Ahnung, woran er gestorben ist?“ Der Beamte schob seine Brille hoch.

„Tom, du weißt doch, dass das nicht mein Gebiet ist“, wehrte Max bescheiden ab.

„Ach komm schon, Max! Du bist Chirurg! Da wirst du dich mit so etwas doch wenigstens ein bisschen auskennen, oder?“ Tom sah ihn treuherzig an. „Ich dreh dir auch keinen Strick daraus, falls deine Diagnose nicht stimmen sollte!“

Max seufzte ergeben. „Die Todesursache war vermutlich ein Schock. Der kann durch Verschiedenes ausgelöst worden sein. Aufgrund der Umstände tippe ich auf irgendein… Gift. Es ging jedenfalls sehr schnell.“

„Aha. Ein klassischer Giftmord also. Ja, ich weiß!“ Tom knuffte den Arzt feixend. „Ich werde brav den offiziellen Bericht abwarten, bevor ich irgendwelche Schlüsse ziehe.“ Sein Grinsen verschwand und er sah freudlos die Treppe hinauf, die zur Pförtnerloge führte. „Na, dann wollen wir mal… Wo finde ich Verena?“

„Auf der Bühne...“ Max’ Finger spielten mit dem Autoschlüssel in seiner Hosentasche. „Tom, kannst du sie bitte nachher heimfahren?“

Der Kommissar klopfte ihm auf die Schulter. „Klar. Mache ich doch gerne. Und wie komme ich jetzt zur Bühne?“

Es war leicht für Tom, Verena Bertram zu finden. Sie befand sich im seitlichen rechten Bereich der Bühne, der von den Zuschauern nicht eingesehen werden konnte. Hier war es im Gegensatz zur strahlend hell beleuchteten Bühne verhältnismäßig dunkel. Bis auf die Umgebung eines hölzernen Wagens, der Tom an einen großen Servierwagen erinnerte. Hier tauchte ein heller Scheinwerfer die kleine Gruppe um seine zierliche Chefin in ein gleißendes Licht.

Ein Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Instituts war damit beschäftigt, Tüten verschiedener Größen in eine Transportbox zu verpacken. Und eine junge Frau, ebenfalls im weißen Overall, zog gerade einen Pappkarton aus der unteren Etage des Wagens hervor. Ein paar bunte Federn und etwas, das wie der Griff eines Säbels aussah, ragten daraus hervor.

„Hallo Verena.“ Toms Augen glitten anerkennend am engen, seegrünen Kleid seiner Chefin über ihre wohlgeformten Waden hinab bis zu den schwarzen, hochhackigen Pumps. In einer solchen Aufmachung bekam er sie selten zu Gesicht. „Schon was gefunden?“ Er wandte seinen Blick dem Pappkarton zu, den die Mitarbeiterin des KTI jetzt Stück für Stück leerte. „Ach!“, rief er erfreut. „Das ist ja die Kollegin Schrader!“ Er klopfte der Frau im weißen Schutzanzug zur Begrüßung auf die Schulter. „Einen wunderschönen guten Abend, Ines! Lange nicht gesehen, alles klar in Hannover?“

„Logisch, Kollege Manzani!“ Sie lächelte keck zurück.

Tom zwinkerte ihr vergnügt zu und drehte sich wieder zu Verena herum. „Habt ihr schon was? Übrigens, schick, dein Outfit.“

„Danke“, entgegnete sie knapp. „Bisher nicht. Mal sehen, was die Untersuchungen der Kelche und des Saftes ergeben.“ Sie deutete auf den Kollegen im Overall, der gerade die Box fort trug. Dann sah sie sich prüfend um. „Ich warte auf eine Silke Berger, die für diese Requisiten hier zuständig sein soll… Oh, hast du was gefunden?“ Sie beugte sich zu Ines Schrader hinunter, die ein kleines Glasröhrchen zwischen ihren behandschuhten Fingern hielt.

„Ja. Und da ist sogar noch ein winziger Rest drin!“, sagte die Mitarbeiterin der Kriminaltechnik erfreut und drehte das Röhrchen im Licht. „Sieht zähflüssig aus... Und mir scheint, es gibt einen dünnen Fettfilm auf dem Glas.“ Sie fotografierte das Röhrchen. Dann zog sie einen dicken Pinsel und einen Tiegel mit Rußpulver hervor. „Mal sehen, ob es Fingerabdrücke gibt.“

Als sie mit dem Bestäuben fertig war, zückte sie eine Lupe und besah sich das Ergebnis. „Hm... Sieht aus, als wäre das Röhrchen abgewischt worden... Und das Fett wurde beim Abwischen verteilt. Wir werden wird herausfinden, was es ist.“ Sie legte das Röhrchen vorsichtig in eine kleine Tüte und wandte sich wieder dem Karton zu.

„Möglicherweise ist es Vaseline“, mutmaßte Verena. „Vaseline ist hier allgegenwärtig, wird zum Abschminken benutzt.“ Sie sah gespannt über Ines’ Schulter.

„Ah, was haben wir denn hier?“ Ines zog eine Packung mit Papiertaschentüchern hervor. „Bereits geöffnet. Und zwei Tücher fehlen.“ Auch dieses Stück fotografierte sie.

Tom schnalzte mit der Zunge. „Vielleicht hat der Täter mit den fehlenden Tüchern das Röhrchen abgewischt?“

Ines pinselte bereits Rußpulver auf die Packung. Dann nahm sie wieder ihre Lupe. „Auch abgewischt“, sagte sie sachlich.

„Ha!“, rief Tom. „Das spricht doch für meine Theorie! Warum sonst sollte man eine Tempo-Packung abwischen?“

„Aber daran hat derjenige nicht gedacht!“ Die Kriminaltechnikerin stand zufrieden auf. „Seht ihr das?“ Sie zeigte triumphierend auf die klebende Seite der Verschlusslasche.

„Die Gläser habe ich schon vor Beginn des zweiten Aktes auf den Wagen gestellt. Zusammen mit dem Tablett.“ Die blonde Frau mit dem langen Pferdeschwanz wischte sich nervös die Hände an ihrer Jeans ab. „Aber den Saft habe ich erst kurz vor dem Auftritt eingefüllt. Das machen wir immer so. Wenn jemand gegen den Wagen stößt und etwas verschüttet wird, gibt das eine riesige Sauerei.“

„Das kann ich mir vorstellen, Frau Berger. Und wo bewahren Sie den Saft auf?“, fragte Verena Bertram. „Stand die Packung auch auf dem Wagen?“

„Nein, ich habe sie erst zum Eingießen mitgebracht. Und die Packung war noch zu.“ Silke Berger runzelte die Stirn. „Der Statist, der das Tablett auf die Bühne brachte, kam erst, nachdem ich eingegossen hatte. Und dann habe ich daneben gestanden, bis er damit auf die Bühne gegangen ist.“ Sie deutete auf das leere Tablett auf der oberen Etage des Requisitewagens.

Verena starrte nachdenklich auf die immer noch hell beleuchtete Bühne. Sie versuchte sich zu erinnern, wer alles im zweiten Akt auf der Bühne gewesen war. Wer wann und von welcher Seite auf- und abgetreten war. Sie seufzte. Selbst wenn sie sich genau erinnern könnte – was leider nicht der Fall war – sagte ihr das noch lange nicht, wer sich hinter der Bühne aufgehalten hatte. Sie kapitulierte. Das würde sie durch Befragungen herausfinden müssen.

„Okay“, sagte sie schließlich. „Sie waren demnach nicht die ganze Zeit hier beim Wagen?“

Die Frau von der Requisite schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe ja den Saft aus der Requisite geholt. Und ich war kurz drüben, auf der Herrenseite.“

„Herrenseite?“, fragte Tom verwirrt. „Gibt es auch eine Damenseite?“ Er grinste belustigt.

„Da befindest du dich gerade“, entgegnete Verena trocken. „Die Seiten der Bühne werden so genannt, weil sich dort die Garderoben, Toiletten, Schneidereien und so weiter für das jeweilige Geschlecht befinden. Im Übrigen ist das auch auf der Zuschauerseite des Hauses so, jedenfalls, was die Toiletten anbetrifft.“ Dann wandte sie sich wieder an Frau Berger. „Das heißt, in der fraglichen Zeit könnte jeder am Wagen gewesen sein?“

Die junge Frau hob pikiert die Schultern. „Ich habe hier nicht den Auftrag, den Wagen zu bewachen, oder so. Wer kann denn so was ahnen?“ Sie machte eine trotzige Geste zur Bühne hin. „So was ist noch nie passiert!“

Verena sah sie nachdenklich an. „Ist es eigentlich normal, dass die Schauspieler private Dinge auf dem Wagen deponieren?“

„Ja. Besonders, wenn jemand Stimmprobleme hat. Rachenspray oder was zum Lutschen. Wieso?“ Silke Berger sah die Kommissarin argwöhnisch an.

„Haben Sie heute etwas Derartiges bemerkt?“

Frau Berger zuckte mit den Schultern. „Nein. Ich glaube nicht.“

„Da war eine Packung Papiertaschentücher im Karton. Bei den Fächern und dem Säbel.“

„Taschentücher...“ Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Habe ich nicht gesehen. Tut mir leid.“

„Und ein fast leeres Glasröhrchen.“

Silke Berger erstarrte. „Das Gift?“, hauchte sie. Dann wischte sie sich mit zitternden Fingern über das Gesicht. „Ich habe aber nichts damit zu tun! Ich habe ihn nicht vergiftet!“ Sie wich angsterfüllt zurück.

„Das sagt ja auch niemand, Frau Berger! Bitte beruhigen Sie sich.“ Verena lächelte sie betont freundlich an. „Oder gibt es einen Grund, weshalb wir das glauben sollten? Einen anderen, als dass Sie für diese Requisiten zuständig sind?“

Die junge Frau schluckte krampfhaft, und wurde rot. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. „Natürlich nicht!“

Verena kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Wie war denn Ihr Verhältnis zu Herrn Heß?“

„Verhältnis?“ Silke Berger starrte sie entsetzt an. „Wer hat es Ihnen erzählt? Anja? Sie war so eifersüchtig, weil Mario sie überhaupt nicht beachtet hat! Er steht eben nicht auf pummelige Rothaarige... Aber ich habe ihn nicht umgebracht! Es... es war sowieso vorbei!“

Verena sah die junge Frau perplex an, die jetzt zusammengesunken vor ihr stand, als sei alle Kraft aus ihr gewichen. „Also waren Sie ein Paar“, stellte die Kommissarin sachlich fest. „Sie und Mario Heß.“

Silke Berger schlang die Arme um ihren Oberkörper. „Ja“, gab sie kleinlaut zu. „Das dachte ich zumindest. Bis...“ Sie ließ den Kopf hängen.

„Bis was?“ Verena versuchte, in Frau Bergers Gesicht zu sehen, aber es war zu dunkel, die Kriminaltechnik hatte den Scheinwerfer längst abgebaut.

„Ich habe ihn mit einer Schauspielerin in der Stadt gesehen“, antwortete die junge Frau brüsk. „Arm in Arm und turtelnd, dass einem schlecht werden konnte!“

„Wann war das?“

„Vor genau einer Woche. Und dabei hatte er mir vorher noch.... Ist ja egal, ich habe sofort mit ihm Schluss gemacht. Kann ich bitte gehen?“, fragte sie mit erstickter Stimme.

Bevor Verena antworten konnte, entwischte die Requisite-Dame durch die schwere Metalltür.

„Der Name dieser Schauspielerin wäre noch von Interesse gewesen“, sagte Tom lakonisch.

Verena stöhnte unzufrieden. „Das weiß ich selbst.“ Sie rieb sich gedankenvoll das Kinn. „Und ihre Fingerabdrücke brauchen wir auch. Wir werden sie morgen früh vorladen und zum Erkennungsdienst schicken.... Auch wenn sie angeblich nichts damit zu tun hat, sie hätte durchaus ein Motiv.“

„Und sie hatte die beste Gelegenheit, die man sich vorstellen kann!“, fügte Tom zufrieden hinzu.

Felicitas umschlang ihren zierlichen Körper mit beiden Armen. Mario war tot. Sie konnte nicht behaupten, dass es ihr Leid tat. Es war ihr, als spürte sie noch immer seinen festen Griff auf ihren Oberarmen, als er sie heute Mittag auf der Probebühne bedrängt hatte. Unwillkürlich sah sie auf ihre nackten Arme. Nein. Man sah nichts. Noch nicht. Sie rieb gedankenverloren über die Stellen und wanderte rastlos in der Garderobe auf und ab. Und Gideon war ihr zur Hilfe gekommen... Gideon. Ängstlich zog sich ihr Bauch zusammen. Hat er auch etwas von dem Gift abbekommen? Ihre Hände krallten sich in das straffe Fleisch ihrer Oberarme und sie legte einen Schritt zu.

„Nun setz dich endlich hin, Feli! Du machst mich nervös! Wenn du herumrennen willst, geh gefälligst wieder in deine eigene Garderobe!“ Janine zog demonstrativ einen Stuhl hervor und sah ihre Kollegin vorwurfsvoll an.

„Nein, da bin ich ja allein und das halte ich erst Recht nicht aus!“ Felicitas stützte sich auf die Stuhllehne. „Weißt du was mich nervös macht, Janine? Dieses verfluchte Warten! Warum kommen die nicht endlich und stellen ihre Fragen? Warum dauert das so lange? Ich will so schnell wie möglich zu Gideon ins Krankenhaus! Ich muss doch wissen, wie es ihm geht!“

Anne duckte sich hinter ihren Spiegel und hoffte, dass ihre beiden Kolleginnen auch weiterhin keine Notiz von ihr nahmen. Sie tunkte ein paar Lagen Zellstoff in den Vaselinetopf und wischte sich die Schminke vom Gesicht.

Im ersten Augenblick war sie Felicitas böse gewesen. Dabei war ihre Kollegin völlig unschuldig.

Oh, Anne erkannte einen Lumpen, wenn er vor ihr stand! Sie warf das fettige Zellstoffknäuel mit Verachtung in den Mülleimer neben ihrem Stuhl. Leider hatte sie ihn diesmal zu spät erkannt. Sie war ihm voll und ganz auf den Leim gegangen, hatte sich schon nach erschreckend kurzer Zeit tiefer und tiefer in diese Liebesbeziehung verstrickt. Sie hatte seinen Versprechungen ohne jeden Zweifel geglaubt. Sogar, als sie ihn mit diesem jungen Ding von der Requisite hat flirten sehen. Da hatte er sich ganz charmant herausgeredet. Er hatte nur nett sein wollen zum technischen Personal, damit man ihn nicht für einen arroganten Menschen hielte... Und sie hatte ihm geglaubt.

Bis gestern.

Anne nahm ein paar neue Zellstofftücher und entfernte mechanisch die Farbe von ihren Augen.

Und Felicitas? Die Kollegin hatte keinen Ton mit ihr gesprochen, seitdem. Anne knetete gedankenverloren die blauschwarz verfärbten Tücher zu einem schmierigen Ball. Nein, sie konnte ihr nicht böse sein. Felicitas liebte doch ihren Gideon. Wenn auch nur platonisch. Aber wer einen so untadeligen, ehrbaren, wenn auch spröden und langweiligen Mann wie Gideon Roos liebte, der hatte sicher kein Interesse an einem auffallend gut aussehenden, Charme versprühenden Macho wie Mario Heß. Anne presste ihre Lippen aufeinander. Genau das war er. Ein Macho. Ein Verführer. Nichts weiter!

Um Gideon tat es ihr Leid. Dass er in Mitleidenschaft gezogen wurde. Er war ein guter Kollege. Und ein guter Schauspieler. Seinen Bassanio auf Freiersfüßen nahm man ihm uneingeschränkt ab, obwohl manche ihm das nicht zugetraut hatten. Besonders Mario nicht... Sie selbst aber wusste, was in diesem kleinen Mann steckte.

Bassanios dunkle, hochfrisierte Perücke verlieh seinem Gesicht sogar eine interessante Note, doch als Gideon Roos hatte dieser Mann rein gar nichts, das ihn in ihren Augen attraktiv machte. Nicht einmal seine intensiven, hellblauen Augen, die Felicitas einmal mit denen von Hans Albers verglichen hatte, konnten sie überzeugen. Außer den Augen hatte er nun wirklich nichts gemein mit der Schauspiellegende aus Annes Heimatstadt. Es fehlte ihm das Wichtigste: Albers’ impulsive Männlichkeit! Gideon Roos war alles andere als ein Draufgänger, ein Teufelskerl, ein Hansdampf in allen Gassen!

Mario dagegen war genau all das. Nun ja, er ist es gewesen.

Anne löste mit zitternden Fingern das verwaschene Baumwollband von ihrem Kopf, das die Perücke gehalten hatte. Ihre kurzen hellblonden Haare standen in alle Richtungen ab. Sie seufzte bitter.

Er hat es verdient, dieser Mistkerl!

Mittwoch

„Haben sie dich über Nacht im Krankenhaus behalten?“ Felicitas nestelte nervös am Reißverschluss ihrer Jacke herum.

Gideon schüttelte matt den Kopf. „Nein. Aber ich war schon im Bett, als du gestern Abend angerufen hattest.“ Er schloss die Wohnungstür hinter ihr. „Mir ging es nicht gut.“

Felicitas sah besorgt in sein blasses Gesicht. „Du siehst immer noch nicht gut aus. Du hast doch nichts von dem Gift abbekommen, oder?“

„Nein.“ Er verlagerte unbehaglich das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Ich hatte wohl einen Schock.“

Sie atmete erleichtert auf. „Kein Wunder! Du hast ja direkt neben ihm gestanden! Du Ärmster!“ Sie sah ihn voller Mitgefühl an. „Das muss furchtbar gewesen sein!“

Gideon senkte schnell den Kopf und schloss seine Augen so fest er konnte. Aber es half nicht. Da waren sie wieder, diese schrecklichen Bilder, die ihn schon die ganze Nacht hindurch heimgesucht hatten. Es hatte kein Entrinnen gegeben. Immer wieder hatte er dem großen, dunkelhaarigen Mann im weinroten