Der Tod trinkt Rot - Anna Dross - E-Book

Der Tod trinkt Rot E-Book

Anna Dross

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Beschreibung

Auf einer Reise in die Vergangenheit wird das Leben von Erika und Roland Milser auf den Kopf gestellt und für immer verändert. Ein verdrängtes Trauma, ein Mord im Wohnmobil nebenan und eine Kette von schockierenden Enthüllungen führen die beiden an die Grenzen ihrer emotionalen Belastbarkeit. Die Geheimnisse und Lügen, die die Milsers seit 25 Jahren mit sich herumschleppen, führen sogar bei Hauptkommissar Salvatore Wagner zu schweren Konflikten mit Vorgesetzten und Kollegen, vor allem aber mit seiner Familie.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Alenka

Freitag, 11. Oktober

Alenka

Samstag, 12. Oktober

Alenka

Sonntag, 13. Oktober

Alenka

Montag, 14. Oktober

Alenka

Dienstag, 15. Oktober

Die Tage danach

Vorwort

Alle Frauen und Männer sowie die Handlung dieses Buches habe ich frei erfunden, eine eventuelle Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein zufällig. Das möchte ich vor allem in Bezug auf die Charaktere einiger Personen des öffentlichen Lebens betonen.

Den Wohnmobilstellplatz in Garda gibt es wirklich, nur der Platzwart wurde aus meiner Fantasie geboren.

Dem Rathaus / Gemeindeamt an der Uferpromenade habe ich einen großen Festsaal verpasst und neben das Amt ein Hotel gebaut, das Camporondo. In der Wirklichkeit existiert es genauso wenig wie die Trattoria Wagner. Außerdem habe ich die Polizeiwache ins Rathaus verlegt. Gänzlich meiner Fantasie entsprungen ist das Bordell des Ortes.

Anna Dross, im April 2024

Für Tinka

Alenka

So ein Zimmer hat Alenka noch nie gesehen. Dunkelrot gepolsterte Wände, überall Metall und Leder und kein Fenster. Sie denkt, dass die Kunden, die hier für Sex bezahlen, nicht ganz dicht sein können. Kerzengerade sitzt sie auf der Bettkante, eine Hand streichelt den roten Überwurf aus Pannesamt. Sie traut sich nicht, mit dem Po weiter nach hinten zu rutschen. Weiter hinten, da liegt Maria und beobachtet sie.

Alenka staunt nicht nur über die seidig glänzende Wandbespannung. Noch viel mehr beeindrucken sie die Gegenstände, die ordentlich aufgereiht von der Wand hängen. Oben die kurzen Stücke, sie müsste sich auf Zehenspitzen stellen, um eines davon runterzuholen. Darunter die langen, manche reichen bis fast auf den Fußboden. Auch der glänzt, in Schwarz mit einer Maserung in Weiß und Ocker, wie Marmor.

Ein Sortiment Handschellen, silbern, golden und auch schwarz. Kurze und lange Eisenketten, einige mit zierlichen Gliedern, fast wie ein Schmuckstück. Andere sind groß und bestimmt schwer, wie um einen wütenden Hund zu bändigen. Halsbänder, welche aus Metall und solche aus Leder. Breite und schmale, meist schwarz, aber auch ein rotes ist dabei. Auf den Halsbändern spitze, silbern glänzende Applikationen. Wie winzig kleine Pyramiden sehen die aus. Oder wie Killernieten. Das rote Halsband würde dem schwarzen Fell eines Rottweilers bestimmt schmeicheln. Von gewienerten Haken baumeln komplizierte Gebilde aus glattem oder geflochtenem Leder. Sie erinnern Alenka an die Kandare ihres Pferdes zuhause in Dortmund. Auch Peitschen sieht sie, jede Menge Peitschen. Eine davon könnte ihre Reitgerte sein. Die anderen nicht, die sind entweder zu lang oder zu kurz. Auch eine geflochtene ist dabei und eine ganz grobe. Bestimmt hart genug zum Knochenbrechen.

Maria richtet sich auf. Alenka spürt ihre weichen Brüste an ihrem Rücken. „Hier“, sagt Maria, und legt ihr Kinn auf Alenkas rechte Schulter. Über die linke schwingt sie ihren Arm, ein Hauch von süßlichem Achselschweiß umspielt Alenkas Nase. Maria drückt ihr einen matt glänzenden Penis in die Hand. So groß wie ihr kleiner Finger.

„Das?“, fragt Alenka und kann es kaum glauben.

Maria lacht. „Ja, das ist er. Ich habe keinen anderen gefunden, und die Form ist doch scheißegal. Auf den Inhalt kommt es an, Kindchen, wie im wirklichen Leben.“ Maria kichert und zeigt Alenka, wie man den Kopf vom Schaft trennt.

„Immer gerade nach oben, dann klappt es auf Anhieb, du darfst nur nicht drehen. Und immer nur leicht drücken.“ Jetzt lacht sie. „Das kannst du doch, mit sanftem Druck ein paar Mal rauf und runter, und schon hast du ihn.“

Mit flinken Fingern fährt sie von unten nach oben und trennt den Kopf vom Körper. Alenka pfeift durch die Zähne und übt ein paar Mal das Abziehen und Aufstecken des Kopfes, bevor sie den USB-Stick in das kleine Reißverschlussfach im Innenfutter ihres Parkas steckt.

„Schau dir die Bilder und Videos lieber nicht an. Es reicht, wenn ich mir das alles ansehen musste.“ Maria entrollt einen Bogen Papier mit mehreren aufgedruckten Farbfotos, ohne erkennbare Anordnung. Wie eine moderne Kollage sieht das aus. „Das gibst du ihm, dann weiß er Bescheid. Du musst nur sagen, dass du das alles von mir hast und ich die Originale an einem sicheren Ort versteckt habe. Ich habe auch noch einen anderen Stick mit denselben Daten. Für alle Fälle, das ist deine Lebensversicherung. Verlange mindestens 100.000 €, damit kommst du eine ganze Weile aus. Bestimmt hat er mehr als das Dreifache zur Seite geschafft, aber du darfst ihn nicht zu sehr in die Enge treiben. Dann verliert er die Beherrschung, ob er will oder nicht, und dann ist er unberechenbar. Und glaub mir, das willst du nicht.“ Maria streicht sich mit beiden Händen durch ihre pechschwarzen Haare und wiederholt die letzten Worte: „Glaub mir, Liebes, das willst du wirklich nicht! Wenn du das Geld hast, musst du so schnell wie möglich weg von hier und darfst auch niemals wiederkommen an den See. Versprichst du mir das?“

Alenka nickt, ihre Kehle ist trocken. „Und du? Was wird aus dir?“

Maria umfasst das schöne junge Gesicht mit beiden Händen und küsst Alenka auf die Stirn.

„Mach dir um mich keine Gedanken, Kindchen, ich habe meine Schäfchen im Trockenen, das kannst du mir glauben. Dieses Geld ist für dich, das bin ich deiner Mama schuldig. In zwei Stunden bin ich über alle Berge, mich kriegt der nie, das verspreche ich dir! Und bevor ich es mir noch anders überlege, gebe ich dir noch etwas.“

Maria zieht den Reißverschluss einer Kissenhülle auf und kramt daraus einen Briefumschlag hervor. Sie knickt ihn in der Mitte um, lässt ihn in Alenkas Jackentasche fallen und knöpft sie zu. „Lies dir das in Ruhe durch. Aber nur, wenn du bereit bist dafür.“ Sie schwingt sich aus dem Bett, zieht Alenka auf die Füße und schiebt sie vor sich her zur Tür. Das Kratzen in Marias Stimme drückt Alenka die Kehle zu.

„Und jetzt raus mit dir, la mia bellissima.“

Freitag, 11. Oktober

Andere haben ihre Leiche im Keller, dachte Erika, wir fahren unsere im Wohnmobil spazieren. Sie hatten Bardolino hinter sich gelassen, nur noch wenige Kilometer trennten sie und Roland von Garda. Von dem Ort, wo vor einem Vierteljahrhundert das Siechtum ihrer Ehe begann.

Von ihrem hohen Beifahrersitz schweifte Erikas Blick durch den lichten Vormittagsnebel über das herbstliche Venetien und blieb an den Weinstöcken hängen. Die Zeit der Weinernte war vorbei, viele Blätter an den Reben schon vergilbt oder abgestorben, und nur noch wenige Trauben hingen an den Zweigen. Noch vor Mittag würde sich die Sonne durchsetzen, daran glaubte Erika ganz fest.

Seit ihrem zehnten Hochzeitstag am 15. Oktober 1994, ihrer Rosenhochzeit, hatte Erika oft versucht, Roland zu einer Wiederkehr an den Gardasee zu bewegen. Vergeblich. Nie passte es ihm, nie war es ihm recht. Erst jetzt, im Jahr 2019, zu ihrem 35. Hochzeitstag, hatte er zugestimmt. Wenn auch nicht ganz aus freien Stücken. Garda als Ziel ihrer ersten Reise mit dem Monsterauto, wie Erika das Wohnmobil im Stillen nannte, war ihre unumstößliche Bedingung gewesen für die Zustimmung zu dessen Kauf.

Dabei wusste sie selbst nicht, was genau sie sich davon erhoffte. Etwa, dass die Farben und der Duft des Herbstes, das köstliche Essen und der ungetrübte Blick über den See das schwarze Loch in ihrem Kopf ausfüllten? Dieses Nichts, diesen Hohlraum, in dem die Nacht im Hochzeitszimmer des Hotels ebenso versunken war wie der schlimme Verkehrsunfall auf der Rückfahrt. Danach hatte sie für einige Wochen im Koma gelegen.

Seit diesem unseligen Herbst war es mit ihrer Ehe schleichend bergab gegangen. Ein lautloses Begräbnis, das sich von Jahr zu Jahr in die Länge zog.

Kaum hatten sie das Ortsschild erreicht, besiegte die Sonne den Nebel. Erika lächelte bei diesem Wink des Schicksals in sich hinein und öffnete einen Spalt das Seitenfenster, weidete ihre Augen an üppig wuchernden Blumenkästen vor Fenstern und Hauseingängen. Selbst jetzt, Mitte Oktober und trotz des schlechten Wetters der vergangenen Woche, machten die Fleißigen Lieschen ihrem Namen alle Ehre und schmückten den grauen Asphalt mit bunten Tupfern.

Roland Milser folgte den Anweisungen des Navigationsgerätes, bog von der Strada Provinciale 8 in die Via C. Preite und ließ sich zum parcheggio gleichen Namens leiten. Ein Parkplatz für Autos, Busse und vor allem der Wohnmobilstellplatz von Garda. Roland ließ das Fahrzeug ausrollen und stellte vor der geschlossenen Schranke den Motor ab. Nervös und ratlos studierte Erika die Schilder zu ihrer Rechten. Gleich vier davon waren an einer einzigen Stange angebracht mit komplizierten Hinweisen für die Zahlung und den Aufenthalt. Auf Italienisch, Deutsch und Englisch. „Es ist verboten die markise zu öffnen und picknick zu machen“, las sie ab und sagte: „Naja, in Italien wird ja so ziemlich alles klein geschrieben. Egal, ich muss erstmal aufs Klo.“

Erika wies auf das langgestreckte, cremefarben getünchte Gebäude linker Hand, zu Fuß konnte sie auf dem Weg dorthin die Schranke umgehen. Ein Erdgeschoss mit niedrigem Giebeldach, das auf allen Seiten weit über die Fassade reichte und damit einen schattigen Gang entlang der Außenwände schuf. Entschlossen klickte sie den Sicherheitsgurt auf und fasste an den Türgriff. Roland zeigte mit seiner schmalen Hand auf einen jungen Mann in himmelblauem Overall, der aus einer der Holztüren getreten war.

„Warte einen Augenblick, das scheint der Platzwart zu sein. Bestimmt will er uns einweisen.“

„Die können hier doch fast alle Deutsch, da brauchst du mich nicht. Ich bin auch gleich wieder da“, antwortete Erika, und schon schwang sie das rechte Bein nach draußen. Der offene Blick des schlanken Burschen, der sich ohne Eile ihrem Wohnmobil näherte, ermunterte sie noch zu sagen:

„Der sieht doch nett aus.“

Erikas Hüften knirschten um Hilfe, als sie den hohen Sitz hinabkletterte und die ersten Schritte machte. Sie nickte dem jungen Mann zu und konzentrierte sich darauf, sich ihren Schmerz nicht anmerken zu lassen.

„Parli tedesco?“, fragte Erika und hörte seine deutsche Antwort nicht mehr, so schnell war sie in dem Toilettenhäuschen verschwunden. Nachdem sie sich erleichtert hatte und gründlich die Hände gewaschen, inspizierte sie die Dusche und beschloss, die winzige Zelle im Wohnmobil, die der Verkäufer allen Ernstes Raumbad genannt hatte, wann immer möglich zu meiden. Auch wenn hier fünf Minuten Duschen einen Euro kostete. Das war es ihr allemal wert.

Aus den Augenwinkeln sah Erika, wie der Platzwart vor dem Fahrzeug herging und Roland beim Einparken half. Mit Schwung kreuzte er die Arme über dem Kopf und rief laut „Stopp!“, worauf Roland sofort sein Parkmanöver im Rückwärtsgang beendete. Erika merkte ihm seine Erleichterung an. Der Platzwart kam ihr entgegen und tippte auf das Namensschild an seinem Overall: Andrea de Luca.

„Signora, ich bin Andrea. Willkommen in Garda.“

Ein direkter Blick, aber keine Hand und auch kein Lächeln zur Begrüßung. Trotzdem blieb Erika der warme Glanz in seinen dunklen Augen nicht verborgen, und sie konnte nicht anders, als dem zerzausten Blondschopf ihre Rechte entgegenzustrecken. Ein fester Händedruck war das.

„Vielen Dank. Wie ich sehe, haben Sie meinen Mann schon eingewiesen. Aber warum so dicht an einem anderen Wohnmobil? Auf dem Platz ist doch noch so viel frei.“

Vom Anfang November bis Mitte April wurde der Stellplatz geschlossen, schon jetzt verloren sich nur wenige Fahrzeuge auf den dreißig Parzellen. Erika konnte sich gut die Enge vorstellen, wenn alles voll war. De Luca drehte den Kopf zu Roland, der immer noch hinter dem Steuer saß, und fuhr sich mit knochigen Fingern durchs Haar.

„Ich habe nur getan, was Ihr Mann mir gesagt hat.“

„Ach so. Na, dann wird es schon seine Richtigkeit haben.“

"Wie lange wollen Sie bleiben?“, fragte De Luca.

„Ein paar Tage, vielleicht eine Woche, das wissen wir noch nicht so genau“, antwortete Erika. Sie zeigte auf den Bezahlautomaten in dem überdachten Durchgang, der das Betriebsgebäude teilte.

„Das Bezahlen scheint mir ziemlich kompliziert zu sein.“

Wieder fasste sich Andrea an den Kopf. „Sie können auch bar zahlen, das macht dann zwanzig Euro pro Tag mit Strom.“

Erika zog ihre Handtasche von der Sitzfläche und tauschte einen Hundert-Euro-Schein gegen eine formlose, handschriftliche Quittung ein. Andrea de Luca deutete auf einen Wohnwagen am Ende der Grünfläche hinter der Ver- und Entsorgungsstation für Wasser und Toilettenkassette.

„Da hinten wohne ich, das ist im Moment auch mein Büro. Das Büro im Haus wird gerade renoviert, sollte eigentlich erst im Winter passieren. Wenn Sie etwas brauchen, einfach anklopfen. Von 10:00 bis 12:00 und von 16:00 bis 18:00 Uhr bin ich da.“

Erika lachte. „Na, hoffentlich langweilen Sie sich nicht bei den wenigen Gästen.“

De Luca kratzte sich am Hinterkopf. „Nein, so wie es aussieht, ich glaube eher nicht.“

Erika schien es, als ob er bei diesen Worten in sich hinein grinste.

„Das war ja ein netter Empfang“, sagte Erika, „und der junge Mann kann sich gut auf Deutsch ausdrücken, sehr gut sogar. Wo er das wohl gelernt hat?“ Sie schaute aus dem Küchenfenster. „Warum wolltest du eigentlich so dicht neben diesem Koloss stehen? Der ist ja sogar noch größer als unserer.“

Rolands Antwort war ein Achselzucken, und sie fragte nicht weiter nach. Wahrscheinlich fühlte er sich in der Nähe eines anderen Wohnmobils sicherer und konnte das nur nicht zugeben.

Geschätzte vier Meter trennten sie von diesem Fahrzeug mit den Ausmaßen eines Linienbusses. Auf der Parkfläche zwischen ihnen prangte ein Motorrad mit viel glänzendem Rot. Vom Lenker baumelten geflochtene Lederfransen, unten protzte es mit einem unanständig großen Auspuff. Roland sicherte Fahrer- und Beifahrertür und gesellte sich zu Erika, als die Tür des Busses geräuschlos aufschwang. Ein Mann in den Fünfzigern, in überlanger Lederhose und offener Weste, beides schwarz und mit silbernen Nieten beschlagen, füllte mit seinem Körper fast die gesamte Öffnung aus. Er nahm einen kräftigen Schluck aus einer Bierflasche, weißer Schaum rann über seine gebräunte Hand.

„Willkommen Herr und Frau Nachbar!“, rief er und schwang die Flasche in ihre Richtung.

Erika klappte das Küchenfenster nach außen auf und nickte dem Mann zu. „Guten Tag.“

„Konrad mein Name, Konrad Schubert, aber die Nachnamen tun ja nichts zur Sache. Wir sind hier ja unter uns. Habe euch gerade kommen hören. Wir sind schon eine ganze Weile hier, also ich und meine Tochter. War dieses Bürschchen von Platzwart zu Ihnen auch so frech? Werde nachher im Rathaus anrufen und mich über den Kerl beschweren, kann euch die Nummer geben.“

Erika reckte ihre 174 Zentimeter Körpergröße über die Spüle und streckte den Kopf soweit wie möglich vor. „Nein danke, nicht nötig, wir haben keinen Grund zur Beschwerde. Überhaupt keinen, Herr Schubert.“ Nach einer kurzen Pause stellte sie sich vor: „Ich bin Frau Milser, und das ist mein Mann.“

Schubert nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, Erika hörte seinen Kehlkopf knacken.

„Soso“, sagte er, „du bist also der Mann von Frau Milser. Dann frag ich am besten die Lady, ob mein Mäuschen stört. Ich meine die Harley, die Parzelle zwischen uns ist ja frei. Zum Glück, sonst könnten wir uns das Salz von Fenster zu Fenster reichen.“

Er lachte über seinen Witz und sagte: „Ihre E-Bikes auf dem Anhänger, die können Sie von mir aus dazustellen. Habe ich nichts dagegen. Obwohl, weit kommen Sie hier nicht damit. Ist ja nicht gerade die beste Gegend für Radfahrer. Bierchen gefällig?“

Roland schüttelte den Kopf. „Nein danke, für mich nicht vor dem Essen.“

Schubert wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Hab ich’s mir doch fast gedacht. Mit Rolf Milser haben Sie wohl nichts am Hut, was?“

Rasch legte Erika ihre Hand auf Rolands Arm und ließ sie einen Moment dort ruhen. Während seines Referendariats am Gymnasium und später als Studienrat hatte er immer wieder unter den Vergleichen mit dem fast gleichaltrigen Rolf Milser leiden müssen. Mit den Muskelpaketen dieses mehrfachen Weltmeisters und Olympiasiegers im Schwergewichtheben in den späten Siebzigern und den Achtzigern konnte Rolands schmale Figur wahrlich nicht mithalten. Vom mangelnden Siegeswillen ganz zu schweigen.

Plötzlich drehte Schubert den Kopf zurück und rief in Richtung Fahrerkabine: „Hey, wo willst du hin?“

Keine Antwort, nur das Schlagen einer Tür. Dann tauchte eine Gestalt in weiten Jeans und langem Parka hinter dem Wohnmobil auf, die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Das musste die Tochter sein.

Erika taufte ihren Nachbarn Sugar-Daddy, wegen seiner zu blonden Locken, wegen der goldenen Halskette mit Medaillon, wegen der protzigen Uhr am linken und wegen dem halben Dutzend Armbänder am rechten Handgelenk. Zu viele Klischees auf einmal, dachte sie. Seine Augen linsten zwischen hängenden Lidern und Tränensäcken hervor, und obwohl er nicht wirklich dick war, nur irgendwie fleischig wirkte, stellte sie sich seinen Körper schwammig vor. Bestimmt schwitzte er leicht.

Sugar-Daddy verschwand in seinem Reisebus und öffnete seinerseits das Küchenfenster, streckte den linken Arm nach draußen und hielt ihnen ein Messer entgegen, mit der Spitze gen Himmel. Ein Messer aus einem Guss mit einer langen schmalen Schneide. In seine rechte Handfläche hatte Schubert ein Stück Fleisch gepackt. Einfach so, das dunkle, von wenigen breiten Fettstriemen durchzogene rohe Fleisch direkt auf der Haut. Erika und Roland stützten sich mit den Unterarmen auf die schmale Arbeitsfläche des Küchenblocks und sahen zu, wie ihr Nachbar ohne Zaudern vier tiefe Schnitte in den Fleischbrocken zog.

„Da, schaut, das nenne ich mal eine feine Schärfe!“ Triumphierend schwang er das Messer wie einen Degen durch die Luft. „Nicht ein einziger Blutstropfen zu sehen, nur ein bisschen Schmiererei. Wenn das kein gut abgehangenes Rindviech ist!“

Sorgfältig wischte er die blutige Schneide mit Küchenkrepp ab. „Schade nur, dass meine Kleine seit Neuestem einen auf Vegetarier macht. Aber auch das wird vorbeigehen.“

Erika nutzte die Gelegenheit und rief über das Motorrad hinweg: „Dann guten Appetit, Herr Schubert! Wir müssen uns auch langsam ums Essen kümmern.“

„Was meinst du“, fragte Erika, „gehen wir zum Essen runter ins Hotel oder soll ich uns lieber etwas aus der Pizzeria an der Ecke holen?“.

„Ach“, antwortete Roland, „ich weiß nicht. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger.“

Die Metzgervorführung ihres Nachbarn hatte auch Erika fürs Erste den Appetit verdorben. Sie brauchte dringend frische Luft. „Dann verschwinde ich nochmal kurz aufs Klo und drehe eine Runde über den Platz. Du kannst es dir ja solange überlegen.“ Erika zählte 63 Schritte vom Wohnmobil bis zum Waschhaus. Das würde sie zur Not auch mit noch mehr Druck auf der Blase schaffen.

Das weite Rechteck rund um das Betriebsgebäude war asphaltiert, während die Fahrzeuge auf den Wegen des eigentlichen Stellplatzes über Bodenziegeln fuhren. Derselbe Belag markierte auch die höchstens einen Meter breiten Streifen zwischen den Abstellflächen für die Reisemobile, den sogenannten Parzellen. Sie parkten auf steinernen Bodengittern, aus deren Öffnungen Gras wuchs. Roland hatte den äußersten Platz in der ersten Reihe gewählt, mit nur wenigen Metern zur Versorgungsstation. Am anderen Ende verband die erste und die zweite Reihe eine halbrunde Grasfläche mit einer Birke in der Mitte. Tatsächlich eine Birke, hier im Süden Europas.

Erika überblickte die langgezogene Grünfläche hinter der Servicestation, an deren Ende der Wohnwagen von Andrea de Luca stand, umgeben von Blumenkübeln. Im Sommer wohnte er dort sicher sehr idyllisch, wenn die fünf hohen Laubbäume Schatten spendeten und das volle Blattwerk der Büsche am Rand des Grundstücks den Einblick von außen verhinderte. Der Wind der letzten Tage hatte jedoch etliche faule oder abgestorbene Blätter von den Ästen gerissen. An einem Baumstamm lehnte ein Rechen, die Schubkarre davor war voller Laub. Erika fiel ein altmodisches und rostiges Damenfahrrad mit geschwungenem Lenkrad auf, das achtlos zwischen den Büschen klemmte.

In der Zeile hinter der ihren parkte kein einziges Fahrzeug. Gut so, dachte Erika, wenigstens kein Nachbar direkt hinter uns. Hinter dieser zweiten Reihe konnten die Fahrzeuge wie vor der ersten auf einem breiten Weg rangieren, der in einer leichten Kurve zur Ein- und Ausfahrt führte und an dessen Rand in einer dritten Reihe weitere Parzellen angeordnet waren. Auf ihnen verteilten sich noch einige Wohnmobile.

Vor einem schwedischen Nummernschild streckten drei große Hunde auf einer Wolldecke alle Viere von sich. Ein Mischling mit braunem Fell hob den Kopf und gähnte Erika aus müden Augen an. Auch Norweger machten hier Station. Deren kantiges Reisemobil wirkte selbstgebaut und wetterfest, von hohen Rädern blickte es auf die anderen herab. Ein kleiner britischer Camper mit dem Lenkrad auf der falschen Seite, zwei Wohnmobile aus Deutschland und zwei aus Italien, das war auch schon alles. Sieben Fahrzeuge, also insgesamt neun mit ihrem und dem von Schubert. Andreas Wohnwagen zählte Erika nicht mit.

Am Ende ihres Rundgangs schlenderte Erika über das langgestreckte Rechteck der Grünfläche auf Andreas Wohnwagen zu. Das kurze Stück zwischen dem letzten Baum und dem alten Camper säumten unterschiedlich große Eimer und Kübel mit immer noch üppig blühenden Herbstrosen in allen Farben. Die Gefäße aus Stein, Holz oder Kunststoff waren alt und vielfach angeschlagen, aber alle in demselben warmen Braunton gestrichen.

Eine Gardine hinter dem einzigen Fenster auf dieser Seite des Wohnwagens verhinderte den Einblick. Erika beugte sich zu einer blassgelben Blüte und sog den süßlichen Duft ein. Je näher sie dem Wohnwagen kam, desto stärker witterte sie neben dem Rosenduft noch etwas anderes. Gebückt schnupperte sie sich von Blüte zu Blüte, bis es Klick machte in ihrem Gedächtnis und sich die Tür zur Erinnerung an die Partys ihrer Jugend in den Siebzigern öffnete. Erika lächelte. Sie stutzte, als schwache Stimmen durch die dünnen Wände der Behausung des Platzwarts drangen. Bei den letzten Rosenköpfen unter dem Schild neben der Tür richtete sie sich auf und studierte eingehend den kurzen Text mit Angabe der Bürozeiten.

Erika hörte Andrea fragen: „Weiß er das denn schon, dass du von ihm wegwillst?“ Sein Deutsch war wirklich fließend und besser als das von manchen ihrer Landsleute.

Eine junge weibliche Stimme antwortete: „Noch nicht. Aber ich sag‘s ihm nachher.“ Sie stöhnte auf. „Stell dir vor, er hat schon wieder Fleisch gekauft, dabei weiß er doch ganz genau, dass ich Vegetarierin bin. Und wie er die neuen Nachbarn angequatscht hat! Bähh!“ Das musste Schuberts Tochter sein.

Andrea fragte: „Wie willst du das denn finanzieren? Du willst ja wohl nicht so hausen wie ich, und richtige Wohnungen sind teuer. Und du brauchst einen Job.“

„Meinst du etwa, das weiß ich nicht?“

Andrea quietschte, als ob sie ihn gezwickt hatte, und Erika hörte das Kichern und Juchzen einer freundschaftlichen Kabbelei. Sie verstand nur noch Bruchstücke der Unterhaltung, die für sie keinen Zusammenhang ergaben.

Dann wurde Andreas Stimme wieder lauter. „Wie, du hast jemanden in der Hand? Und sag jetzt bloß nicht, du hast dich versprochen.“ Mehr konnte Erika nicht hören. Die beiden sprachen leise weiter, gedämpft und gereizt, anscheinend waren sie alles andere als einer Meinung.

Die letzten Worte, die Erika hörte, kamen von Andrea. „Bloß nicht - viel zu gefährlich - den Kürzeren - hast keine Ahnung“.

Plötzlich hörte Erika Schritte im Wohnwagen, einer oder beide waren aufgestanden. Rasch drehte sie sich um und stieß fast mit einem weißblonden Mann zusammen. Er war ungefähr in ihrem Alter, höchstens 65. Cordhose und Strickjacke standen ihm gut. Der schlanke Mann wies auf das Schild mit den Bürozeiten und erklärte ihr in akzentfreiem Englisch, dass über Mittag geschlossen sei. Erika dankte ihm mit einem Lächeln und fragte sich, wie lange er sie wohl schon beobachtet hatte.

*

Commissario Capo Salvatore Wagner betrat das Hotel Camporondo durch die Hintertür und ging den schmalen Flur entlang zur Küche. Seine Mutter schöpfte aus einem zerbeulten Kochtopf dampfende Suppe in zwei Porzellanschüsseln und wies ihren Jungkoch an, auf keinen Fall mit dem Rühren im risotto ai funghi aufzuhören. „Auf gar keinen Fall!“ Auch dann nicht, wenn er gleichzeitig die Salatteller anrichten sollte. Wagner nahm dem dankbaren Angestellten den Holzlöffel aus der Hand und kreiste damit langsam durch den Reis. Die Brühe war schon ein wenig eingedickt und blubberte genüsslich vor sich hin.

„Grazie, mio figlio!“ Anna Wagner legte die Schöpfkelle in einen Teller, stellte beide Suppenschüsseln in die Durchreiche und drückte auf die Messingschelle. Erst danach begrüßten Mutter und Sohn sich mit einem Kuss auf beide Wangen.

Wagners Magen knurrte hörbar.

„Fällt für uns auch noch etwas ab?“, fragte er.

Anna lachte. „Sara ist noch oben, aber je eher du sie runterholst, desto weniger guckt sie sich ihre Augen am Computer wund.“

„Sag ihr das bloß nicht, dann will sie, dass ich ihr einen größeren Bildschirm kaufe.“

„Warum auch nicht? Wenn das besser ist für die Augen meiner Enkelin.“

Ihr Sohn verdrehte die seinen und nahm zwei Stufen auf einmal hinauf in den zweiten Stock, wo er an Saras Zimmertür klopfte. Wie so oft in letzter Zeit war er überrascht, als seine Tochter vor ihm stand. Mal war es eine neue Haarfarbe, dann ein Fetzen von einem Rock, der nur wenige Zentimeter länger war als das Oberteil, und manchmal erkannte er sie kaum wieder vor lauter Schminke.

Heute trug die Fünfzehnjährige einen schlichten Pullover zu ganz normalen Jeans, weder künstlich eingerissen noch mit Blech bestückt. Ihre über schulterlangen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Keine Schminke, kein Schmuck, kein Parfüm. Für einen Moment hielt Wagner den Atem an. Die natürliche Schönheit seiner Tochter erinnerte ihn daran, dass ihre Mutter nur wenige Jahre älter war, als er sie kennen und lieben lernte.

Sara begrüßte ihren Vater und fragte: „Ciao Papa, tutto bene?“ Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn rechts und links mit je einem kräftigen Schmatz. Wagner drückte seine Tochter fest an sich.

„Alles in Ordnung, Süße, alles bestens. Ich muss mir nur schnell die Hände waschen.“ In ihrem Zimmer zog er die Tür zum Bad weit auf und vermied es, Sara anzusehen. Ihre Augen leuchteten in dem gleichen Blau-Grün wie die ihrer Mutter. „Wenn du gestattest“, sagte er und schloss die Badezimmertür hinter sich. Als er wieder herauskam, wartete Sara mit ihrem Rollkoffer im Flur.

Wagner deutete darauf. „Wo willst du denn damit hin? Du hast doch alles, was du brauchst, noch bei mir in der Wohnung.“

Sara marschierte auf die Treppe zu. „Nicht alles. Aber das erkläre ich dir später. Ich bin voll hungrig.“

Sie betraten den Gastraum vom Flur aus und setzten sich an den Familientisch in einer Nische gleich rechts, von wo es an der Flurtür vorbei nur wenige Schritte bis zur Küche waren. An dem Tisch mit seinen Kerben und Rissen vieler Jahrzehnte im Holz hatten acht Personen bequem Platz. Wenn die Esser auf der halbrunden Bank zusammenrückten, die sich perfekt in die Nische einpasste, und die übrigen ihre Stühle näher aneinanderschoben, konnte sich bis zur doppelten Anzahl satt essen.

Sara holte erst die Pastaschüssel aus der Küche und danach Fleisch und Salat. Alles war so köstlich wie immer. Wehmütig erinnerte sich Wagner an die Zeit, als er noch im Hotel wohnte und jeden Tag die Küche seiner Mutter genießen konnte. Aber nach seiner Beförderung zum Leiter der Mordkommission in der Questura in Verona war seine Arbeit zu viel geworden und er hatte sich schweren Herzens eine Wohnung in der Stadt gesucht.

Dabei wusste Wagner seine Tochter nirgendwo besser aufgehoben als bei seinen Eltern, und die räumliche Trennung hatte sie innerlich noch enger zusammenrücken lassen. Ohne eine Frau an seiner Seite fühlte er sich mit der Erziehung des Mädchens oft überfordert, vor allem, seit Sara immer hemmungsloser ihren weiblichen Charme ausspielte. Damit setzte sie bei ihrem Großvater jeden Wunsch und jeden Willen durch, und auch bei ihm erreichte sie weit mehr, als seine gedruckten Erziehungsratgeber erlaubten. Bei dem Gedanken, wen seine Tochter sonst noch alles um den Finger wickelte und wofür, verdoppelte der Polizist in ihm die Angst des Vaters.

„Ich habe gar nicht gesehen, dass du dein Zimmer abgeschlossen hast“, sagte Wagner nach dem Essen.

„Scheiß Bulle!“ Sara stand auf. „Dafür räumst du aber den Tisch ab!“

Brav stapelte Wagner Geschirr und Besteck und erwiderte den Gruß des Bürgermeisters, der ein paar Tische weiter sein Tiramisu verschlang. Das Hotel Camporondo lag neben dem Rathaus, weshalb seine Mutter auch außerhalb der Saison jeden Tag mit einem festen Kundenstamm von Beamten und Angestellten rechnen konnte.

„Buongiorno Domenico, hat es dir geschmeckt?“

„Wie immer, Salvatore. Wir können uns glücklich schätzen, eine Köchin wie deine Mutter im Ort zu haben. Wie sie italienische und deutsche Gerichte mischt, ist sensationell.“

Domenico Fontana streckte seinem deutlich jüngeren ehemaligen Sportskameraden die Hand entgegen, die Wagner mit einem Blick auf das Tablett in seinen Händen zurückwies.

„Ja, danke, ich werde es meiner Mutter sagen.“ Er wich einen Schritt zurück, um die Kellnerin und ein älteres Ehepaar durchzulassen. Ein gutaussehendes Paar in gepflegter Freizeitkleidung, das untereinander Deutsch sprach.

„Tu das. Anna richtet auch das Catering aus für mein Jubiläum am Dienstag im Rathaus. Komm doch auch, wenn du Zeit und Lust hast, um 11:00 Uhr geht‘s los.“ Er lachte. „Du arbeitest zwar bei der Mordkommission, aber die Anwesenheit von Vertretern der Polizei kann nie schaden.“

Salvatore Wagner blickte noch einmal auf das schmutzige Geschirr in seinen Händen und nickte dem Bürgermeister zu. „Ich werde sehen, ob ich es schaffe. Wenn Mama für das Büffet sorgt, kann ja nichts schiefgehen.“

Er verabschiedete sich von seiner Mutter und fragte vergeblich nach seinem Vater, der laut Anna „mit irgendeinem Freund in irgendeiner Bar“ steckte. Dann startete er den alten Lieferwagen des Hotels, einen Fiat Fiorino. Sein Vater pflegte das antike Stück aus dem Jahr 1993 zwar mit viel Kenntnis und noch mehr Hingabe, aber er wollte selbst testen, ob der Wagen tatsächlich noch verkehrstauglich war.

Wagner freute sich wie ein Kind auf ein freies Wochenende zusammen mit seiner Tochter.

*

Nach ihrem Rundgang über den Stellplatz fand Erika ihren Mann eingekuschelt in das Lammfell auf dem Fahrersitz. Diesen hatte er in Richtung Tisch gedreht und lag mehr darin, als dass er saß. Aus den kleinen runden Öffnungen, die im ganzen Wohnmobil wenige Zentimeter über dem Boden verteilt waren, blies warme Luft in den Raum. Sie beugte sich hinab und küsste Roland auf die Wange. Das belauschte Gespräch und dass sie dabei beobachtet worden war, kitzelten an ihren Nerven.

„Und? Hast du es dir überlegt?“, fragte sie und streichelte seinen Oberarm. „Gehen wir ins Camporondo zum Essen? Dann sehen wir, ob und wie es sich verändert hat.“

Roland blickte auf und sagte: „Bestimmt weniger als wir.“

„Also ich finde, wir haben uns gut gehalten. Die paar Jahre!“ Erika merkte selbst, dass ihr das ironische Lachen nicht gelingen wollte. „Wir sind gesund und … “.

„Du bist gesund“, unterbrach Roland sie. Er erhob sich, nahm seine Jacke und forderte sie auf: „Dann lass uns gehen.“

In Erikas Ohren klangen seine letzten Worte wie ein Jeeher-daran-desto-schneller-davon. Aber sie freute sich auf eine oder zwei gemeinsame Stunden im Restaurant und ließ sich nichts anmerken.

Knapp fünfzehn Minuten brauchten die Milsers für den Gang hinunter ans Seeufer. Hauptsächlich mehrstöckige Wohn- und Geschäftshäuser säumten die Straßen, aber je näher sie dem See kamen, nachdem sie auf den Corso Italia abgebogen waren, desto mehr warben Gästehäuser und Restaurants um die Touristen. Bei einem kurzen Abstecher ins alte Zentrum erkannte Erika das romantische Garda von vor 25 Jahren wieder mit seinen Arkaden und kleinen Plätzen, mit Bänken, Blumenkübeln und Palmen.

Immer noch hatten einige Restaurants am Seeufer geöffnet und ihre Besitzer freuten sich über das unverhofft schöne Wetter, das ihnen eine rege Kundschaft bescherte. Die meisten Mittagsgäste machten es sich auf den Terrassen bequem. Einige saßen in Jacken und mit Decken über den Knien im Schatten, andere krempelten Ärmel und Hosenbeine hoch und reckten ihre Nasen der Sonne entgegen. Zwischen Zwergpalmen und Magnoliensetzlingen in Kübeln und den markanten Stämmen der Platanen genossen die Gäste einen ungetrübten Blick auf die fast unbewegte Wasseroberfläche. Nichts deutete auf die angekündigte Schlechtwetterlage hin.

„Ach wie schade“, entfuhr es Erika, weil fast alle Stände des Freitagsmarktes am Seeufer schon abgebaut waren. An der breitesten Stelle der Promenade verfrachteten die fliegenden Händler in unmittelbarer Nähe vom Hotel Camporondo und dem Rathaus ihre nicht verkauften Keramiken und Tücher, Käse und Spaghetti Soßen in kleine Laster oder Wohnmobile. Erika fragte sich, ob diese Menschen womöglich auch noch darin wohnten.

An der Seepromenade erstrahlte die Fassade des Camporondo in lichtem Ocker, aber zur Seitenstraße hin, der Via S. Francesco d’Assisi, boten abblätternde Farbe und bröckelnder Putz einen armseligen Anblick. Aus dem ehemaligen Speiseraum, damals vorbehalten ausschließlich für Hotelgäste, war die Trattoria Wagner geworden, ein Restaurant mit separatem Eingang. Immer noch ohne Terrasse, obwohl sich zwischen Hotel und Seeufer viel freier Platz ausbreitete.

Innen schien auf den ersten Blick alles beim Alten, was vielleicht an der gastfreundlichen Atmosphäre lag, die die Milsers empfing. Immer noch leitete die deutsch-italienische Familie Wagner das Haus, darüber freute sich Erika am meisten. Vielleicht schon in der nächsten Generation? Sie erinnerte sich an zwei Kinder, damals studierte der Sohn in Verona, die Tochter ging noch zur Schule.

Sie hatten Glück, eine Kellnerin geleitete sie zu dem einzigen freien Tisch ohne Aufsteller riservato. Sie bestellten das Tagesmenü, das es in sich hatte mit einem würzigen Pilzrisotto, gefolgt von Scheiben eines im Ofen geschmorten Kalbsbratens und knackigem Feldsalat. Nach dem kurzen Gang am belebten Seeufer versetzte das italienische Geschnatter und das Klappern von Besteck und Geschirr Erika in Urlaubsstimmung.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Anna Wagner jedes Mal, wenn sie von der Küche aus in der Durchreiche hantierte, zu ihrem Tisch herübersah.

„Schau mal unauffällig in Richtung Küche“, sagte sie zu Roland, „ich glaube, sie hat uns erkannt.“

Roland hob nicht einmal den Kopf vom Teller. „Das kann ich mir kaum vorstellen, nach so vielen Jahren.“ Dann blickte er doch hoch, schaute sich um und bemerkte: „Und bei so vielen Gästen, der Laden scheint ja gut zu laufen. Was mich nicht wundert, bei der Küche!“

Erika verspürte einen winzigen Stich im Magen, dort, wo andere Frauen ihr Talent zum Kochen hervorholten.

„Prego, hat es Ihnen geschmeckt?“ Anna Wagner war an ihren Tisch getreten und begann, das Geschirr abzuräumen. Erika wies auf die leer gegessenen Teller und lächelte geradewegs in die fast schwarzen Augen der Frau, mit der sie sich damals so gut verstanden hatte. „Das sieht man doch, oder?“

Anna Wagner lächelte zurück. „Allerdings, und genau so mag ich es.“ Sie stapelte Teller und Schüsseln, griff mit beiden Händen danach und fragte: „Sagen Sie, Sie waren doch schon einmal bei uns, oder irre ich mich?“

Erika sah triumphierend über den Tisch hinweg zu Roland. Die Augen der Küchenchefin folgten ihrem Blick und blieben mit ernster Miene an Roland haften. Dann sagte sie leise: „Jetzt erkenne ich Sie.“

„Stimmt, wir waren vor langer Zeit schon einmal hier.“ Roland stand auf. „Aber das hat ja wohl heute keine Bedeutung mehr.“ Er wandte sich an Erika. „Tut mir leid, aber mir ist nicht gut. Ich - ich muss hier weg.“

Sprach‘s und strebte zur Tür, wo er einem hochgewachsenen und immer noch kräftigen alten Mann mit Halbglatze Platz machen musste. Der Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter, er schien etwas sagen zu wollen, dann stutzte er und schob Roland mit versteinerter Miene zur Seite. Ohne Rücksicht auf Tische und Stühle, geschweige denn auf speisende Gäste bahnte er sich den kürzesten Weg zu Anna Wagner.

Er sprach sie an, als ob sie sich allein im Raum befänden: „Mia cara, das war doch … “.

Anna Wagner unterbrach ihren Mann: „Ich weiß Erwin, ich weiß. Es ist alles in Ordnung.“ Sie zeigte auf Erika, die sich von ihrem Stuhl erhoben hatte. „Schau mal, erkennst du unseren Gast hier wieder?“

Erwin Wagner strahlte über das ganze Gesicht. „La bella Garbo, da ist sie ja wieder! Sie ist wieder hier!“

Seine Worte erinnerten Erika daran, wie geschmeichelt sie sich damals fühlte, als der Hotelbesitzer sie mit der klassischen Schönheit von Greta Garbo verglichen hatte. Dabei entging ihr nicht, dass heute mit Erwin Wagner etwas nicht stimmte, und das nicht nur, weil der Vergleich mit der berühmten Schauspielerin schon damals hinkte und heute stärker denn je wankte. Kurzentschlossen streckte sie dem alten Hotelier ihre Hand entgegen und begrüßte ihn herzlich. Anna warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor sie einen Teil des Geschirrs wieder auf den Tisch stellte, ihrem Mann die freie Hand auf den Rücken legte und ihn vor sich her schob in Richtung Küche.

Nur wenige Minuten später kehrte die Küchenchefin zurück mit einer extra großen Portion Nachtisch. Sie setzte sich zu Erika und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Mal sehen, ob dir meine salami di cioccolato immer noch so gut schmeckt. Niemand macht sie so wie ich!“, sagte sie stolz.

Auch Erika fiel sofort in das vertraute Du. „Dass du das noch weißt!“

Anna lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ich, Erwin hat es mir verraten.“ Sie wurde ernst. „Was vor Jahrzehnten passiert ist, das weiß er noch genau. Aber heute Abend hat er vielleicht schon vergessen, dass ihr mittags im Restaurant wart.“

Die Küchenchefin entschuldigte sich für den Überfall ihres Mannes, und Erika für den Abgang des ihren. Immer wieder wurden sie unterbrochen von Hilferufen aus der Küche und schafften es trotzdem, einander innerhalb von 25 Minuten grob über die vergangenen 25 Jahre ins Bild zu setzen. Einschließlich der beginnenden Demenzerkrankung des einen und der jahrelangen Depression des anderen Ehemannes. Das Restaurant hatte sich fast geleert, da ging Anna noch einmal in die Küche und kam mit einer Weinflasche in einem Pappkarton zurück, den sie Erika in die Hand drückte. Die bedankte sich gerührt und versprach, so bald wie möglich wiederzukommen.

Die Schiebetür zum Schlafraum war geschlossen, bestimmt machte Roland seinen Mittagsschlaf. Er war oft müde, für Erikas Geschmack viel zu oft. Sie gab den Antidepressiva die Schuld, die sein Hausarzt ihm seit vielen Jahren verschrieb.

Das Schwätzchen mit Anna hatte sie angeregt. Sie spürte das gleiche tiefe Einverständnis mit der um wenige Jahre älteren Italienerin wie damals. Immer noch konnte Erika den wundervollen Abend ihrer Rosenhochzeit Minute für Minute nacherleben, immer noch kehrte zumindest eine Ahnung der zärtlichen Empfindung zurück, für Roland, für ihr ungeborenes Kind, für die ganze weite Welt.

An die darauffolgende Nacht und den Morgen des nächsten Tages hatte sie keinerlei Erinnerung. Nach Aussagen der Ärzte war dieser Gedächtnisverlust eine Folge des schweren Unfalls, den Roland auf der Fahrt nach Hause verursacht hatte. Die Kasseler Berge lagen bereits hinter ihnen, als er in Höhe einer Tankstellenausfahrt die Kontrolle über sein Auto verlor und sie mit fast 100 Stundenkilometern aus der Kurve flogen. Der Wagen überschlug sich, landete erst auf der Beifahrerseite und nach kurzem, aber heftigem Kippeln wieder auf seinen vier Rädern im Grünen. Erika erwachte erst nach über drei Wochen aus dem Koma, als Roland schon fast wieder genesen an ihrem Bett saß. Es dauerte weitere zehn Monate, bis sie wieder arbeiten konnte, und mehr als zehn Jahre brauchte Erika, um den Verlust ihres ungeborenen Wunschkindes zu verkraften. Jene kurze erste Schwangerschaft sollte ihre letzte sein, nach dem Unfall konnte sie keine Kinder mehr bekommen.

Erika versuchte, es sich auf der Bank am Tisch gemütlich zu machen, aber für ein bequemes Flegeln war die Sitzfläche entschieden zu kurz. Sie wechselte auf den in den Raum gedrehten Beifahrersitz. Dort konnte sie ihre Beine ausstrecken und die Füße hochlegen auf den Sitz neben der Tür. Erika drehte die Rückenlehne tiefer und wärmte sich unter einer Decke. Ihr Kopf blätterte in alten Erinnerungen und überschlug dabei großzügig die Seiten mit den dunklen Flecken. Was will ich eigentlich, dachte sie, es geht uns doch gut. Dieser Gedanke beruhigte ihren Körper und schenkte ihrer Seele zwei Stunden tiefen Schlaf.

Es war schon nach 17:00 Uhr, als Erika erwachte. Roland hantierte am Küchenblock. Sein wiederholtes Öffnen und Schließen der Schranktüren sagte ihr, dass er die Zutaten für seinen Kaffee nicht fand. Sie stand auf und legte die Decke zusammen. „Lass man, ich mache das schon“, sagte sie und setzte den Wasserkessel auf für Filterkaffee. Dabei schaute sie unwillkürlich aus dem Fenster und sah einen Mann zwischen ihrem und Schuberts Fahrzeug. In elegantem Anzug, Krawatte und blank polierten Lederschuhen, denkbar unpassend für dieses Gelände. Im ZickZack bahnte er sich seinen Weg durch Elektroräder und Motorrad bis zur Tür des Reisebusses.

„Der war doch vorhin auch im Restaurant, das ist doch der, der so in das Tiramisu reingehauen hat.“ Erika trat einen Schritt zur Seite, um nicht gesehen zu werden, und behielt dabei die Tür im Blick.

„Meinst du?“, fragte Roland und fügte an: „ach, ich weiß nicht.“

Konrad Schubert öffnete und sagte zu dem Mann: „Da sind Sie ja endlich! Aber das kennen wir ja, hier dauert alles ein bisschen länger. Ich warte schon seit Tagen auf ein neues Schloss.“ Erst zeigte er mit dem Finger auf das Schloss an der Tür, dann auf seinen Besucher. „Verraten Sie bloß niemandem, dass es kaputt ist.“

Erika schaltete die Gasflamme aus, bevor der Kessel zu pfeifen begann. Idiot, dachte sie, jetzt hast du es selbst verraten. Aber keine Sorge, freiwillig kommen wir dich bestimmt nicht besuchen. Sie bereitete den Kaffee für Roland, füllte sich selbst ein Glas mit Wasser und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch im Salon. Welch ein hochtrabendes Wort für eine kleine Platte aus Kunststoff mit einer unbequemen Bank auf der einen sowie Fahrer- und Beifahrersitz auf der anderen Seite.

„Warum bist du denn so schnell gegangen heute Mittag?“, fragte sie. „Anna und ich haben uns noch richtig nett unterhalten. Das war fast, als hätte es all die Jahre dazwischen nicht gegeben.“

Roland ließ zwei Zuckerwürfel in die Tasse fallen. „Ach, Ich weiß nicht, irgendetwas hat mit dem Essen nicht gestimmt.“

Du meinst wohl, irgendetwas hat mit dir nicht gestimmt, dachte Erika und sagte: „Der Risotto und auch das Fleisch waren doch ausgezeichnet, das hast du selbst gesagt.“ Sie leerte ihr Glas in einem Zug. „Ist dir auch aufgefallen, dass die beiden dich noch eher erkannt haben als mich? Dabei hast du doch damals kaum mit ihnen gesprochen.“

„Wie auch immer“, antwortete Roland, „mir war irgendwie komisch. Und da hielt ich es eben für besser zu gehen.“ Er verrührte den Zucker und starrte in die Tasse.

Irgendwie komisch fand Erika ihren Mann schon länger, aber das behielt sie für sich. Zumal sich erneut Ablenkung bot mit einer lautstarken Verabschiedung der beiden Männer nebenan. Damit nicht genug, nur eine Minute später erschien vor ihrem Fenster das ernste Gesicht einer jungen Frau, die sich sogleich abwandte und die Stufen zum Reisebus hinaufstieg. Ohne zu klopfen trat sie ein.

„Das muss Schuberts Tochter sein“, sagte Erika. „Schade, dass du sie nicht gesehen hast, ein derart schönes Mädchen bekommt man selten zu Gesicht. Noch dazu von so einem Vater.“

Auch wenn Erika sich immer noch nicht mit dem Wohnmobil anfreunden konnte, fand sie allmählich Gefallen daran, dass sie von ihrer Umgebung sehr viel mehr mitbekam als in einem Hotelzimmer. Langweilig war es hier jedenfalls nicht.

Abends löffelten Erika und Roland nur noch einen Becher Joghurt und schauten sich die Fernsehnachrichten an. Über den Bildschirm wackelten Bilder von den Brexit-Verhandlungen in Brüssel, vom Krieg in Nordsyrien und von der Trauerfeier für Karel Gott in Prag. Erika stellte das schmutzige Geschirr in die Spüle und wunderte sich über die Finsternis draußen. Vorhin hatte sie noch das grelle Licht der Laterne zwischen ihnen und dem Reisebus gestört, jetzt konnte sie in dem schwachen Schein, der aus ihrem Küchenfenster nach außen drang, Schuberts Tür nur erahnen. Dafür hörte sie die Stimme der Tochter, die sich lautstark empörte über irgendetwas, das sie nicht verstand. Genauso wie heute Vormittag vor dem Wohnwagen. Erika zog die Jalousie nach unten.

Eine Viertelstunde später, sie hatten gerade ihre Bücher aufgeschlagen, da schreckte der Anlasser des Motorrads die Milsers hoch, und gleich darauf knatterte die Harley davon.

„Der spinnt doch, am Abend noch einen solchen Krach zu machen“, sagte Roland und klappte sein Buch zu. Nach einem Gute-Nacht-Kuss auf Erikas Stirn zog er sich hinter die Schiebetür in den Schlafbereich zurück.

Erika ließ sich von der Spannung ihres Thrillers mitreißen, bis das erneute Geknatter des Motorrads sie in die Wirklichkeit schubste. Sie schaute auf die Uhr, es war schon nach elf. Höchste Zeit zum Schlafengehen. Nur noch dieses eine Kapitel zu Ende. Sie hörte das schwere Aufsetzen harter Sohlen auf Metall. Danach ein Moment Stille, und dann ein grauenvolles Schreien. Der Schrei durchschnitt den Raum, explodierte in Erikas Herz und raubte ihr den Atem. Darauf folgte vielstimmiges Hundegebell, wie durch einen Schalldämpfer, bestimmt die drei Hunde im Wohnmobil der Schweden. Erika sprang auf und rief in Richtung Schiebetür: „Roland, wach auf, da ist etwas passiert“. Sie zerrte die Jalousie des Küchenfensters hoch. Die Tür gegenüber war geschlossen.

Erika schnappte sich ihr Handy und fingerte am Sicherheitsschloss, dessen Riegel Roland vorgeschoben hatte. Sie brauchte eine Ewigkeit und rief noch einmal: „Roland!“ Dann konnte sie endlich die Tür aufstoßen. Feuchte Kälte schlug ihr entgegen. Sie hätte sich etwas überwerfen sollen, aber dafür war es jetzt zu spät. In der Dunkelheit tastete Erika sich um ihre Behausung, fast hätte sie sich am Auspuff des Motorrads verbrannt, und auf dem letzten Meter stieß sie auch noch eines der Elektroräder um. Verdammt! Wer hat die denn umgestellt? Wir müssen sie zusammenbinden und zudecken, ging ihr durch den Kopf. Endlich erreichte sie Schuberts Tür. Dahinter unterdrückte Klagelaute, von ganz tief unten, hervorgestoßen mit jedem einzelnen Atemzug.

„Herr Schubert?“ Erika klopfte an die Tür und zog sie auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Sie wusste ja, dass das Schloss kaputt war.

*

In seiner Wohnung in Verona wurde Salvatore Wagner schnell klar, wofür Sara den Rollkoffer brauchte. Sie kramte daraus ein weihnachtlich glitzerndes Kleid hervor, das gerade mal ihren Po bedeckte, und einen Schminkkoffer mit der Ausstattung für eine Maskenbildnerin der Arena di Verona. Sein kleines Mädchen war zu einer festa eingeladen bei dem großen Bruder ihrer besten Freundin.

Wagner war enttäuscht, weil seine Tochter eine Party unter Freunden einem Abend mit ihrem Vater vorzog. Er traute sich nicht zu fragen, ob sie nur wegen der Party das Wochenende bei ihm verbringen wollte. Der Polizist in ihm klapperte im Geiste die Umgebung der angegebenen Adresse ab, fand aber in seinem Gedächtnis keinerlei ernsthafte Vorfälle. Sie war doch erst fünfzehn. „Fast sechzehn!“, protestierte Sara.

Nach langem Hin und Her brachte Wagner sein wandelndes Ausstellungsstück zum Mietshaus des jungen Mannes und bestand trotz Saras heftigem Protest darauf, sie eigenhändig in der Wohnung abzuliefern. Er war beruhigt, als er dort auf die Eltern des Gastgebers traf, die Saras Freundin gebracht hatten. Er schärfte seiner Tochter ein, sich auf die Minute genau um Mitternacht bereitzuhalten.

„Nicht jetzt“, zischte sie, als er ihr einen Abschiedskuss geben wollte, drehte sich weg und verschwand in der Menge der jungen Leute.

Um 23:13 Uhr ging der Notruf von Erika Milsers Smartphone in der Zentrale ein. Nur eine Minute später erhielt Salvatore Wagner den Anruf von der Polizeistation in Garda.

„Ich brauche mindestens 25 Minuten, eher mehr“, sagte er. „Ich muss noch meine Tochter abholen.“

„Ihre Tochter?“, fragte der Diensthabende. Wagner erkannte die Stimme, ein junger Kollege, der erst vor wenigen Wochen aus Bozen zu ihnen gekommen war.

„Genau, Herr Gasser, meine Tochter. Wenn man bedenkt, dass dies mein erstes freies Wochenende seit langem ist, ist das nicht zu viel verlangt. Fahren Sie schon mal hin und veranlassen Sie alles Übliche.“ Wagner unterbrach die Verbindung und fragte sich, ob Kollege Gasser schon aus der Praxis wusste, was bei einem Mordfall alles üblich war. Er rief Sara an, die sich augenblicklich meldete.

„Tut mir leid, Süße, aber ich muss sofort nach Garda, wir haben einen Fall. Ich bin in fünf Minuten unten vor dem Haus, aber warte nicht allein auf der Straße. Ich klingele kurz.“

„Ist schon okay, Papa, ich beeile mich.“

War Sara etwa froh, dass er sie jetzt schon abholte, eine Dreiviertelstunde vor der verabredeten Zeit? Als er vor dem Haus hielt, stand sie bereits am Straßenrand in Begleitung ihres Gastgebers, der dem jungen Mädchen die Beifahrertür aufhielt. „Danke, dass du da warst“, sagte er, „tut mir leid, wenn du dich gelangweilt hast.“

„Ist schon okay“, murmelte Sara noch einmal und schnallte sich an. Salvatore Wagner trat aufs Gaspedal. Sie hatte anscheinend keine Lust, mit ihm über den Verlauf der Party zu sprechen, und er war froh, dass er sich auf den nächtlichen Verkehr konzentrieren musste. Zum Glück fragte sie ihn auch nicht nach dem neuen Fall. Er tat sich schwer, mit seiner Tochter über Mord und Totschlag zu sprechen, auch wenn sie als Polizistentochter einiges gewöhnt war.

Um 23:40 Uhr erreichten sie den Wohnmobilstellplatz in Garda. Wagner fuhr durch die offene Einfahrt, passierte das Betriebsgebäude und parkte den Fiorino rechts am Rand hinter den Containern für Restmüll. Mit erhobenem Zeigefinger wies er Sara an, auf keinen Fall das Auto zu verlassen. Auf gar keinen Fall! Am liebsten hätte er sie zum Hotel gebracht, aber er war ohnehin spät dran und durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Ein Carabiniere hielt Wache neben der offenen Schranke zwischen Parkplatz und Wohnmobilstellplatz. Wagner kannte ihn nicht, zeigte seinen Dienstausweis und nickte ihm zu.

„Warum ist die Einfahrt nicht abgesperrt?“, fragte er.

Der Polizist griff an die Mütze. „Keine Anweisung“, sagte er, „aber ich pass ja auf. Auch auf Ihr Auto.“

„Bitte vor allem auf meine Tochter im Auto. Ich lasse sie nach Hause fahren, sobald ein Kollege mit Fahrzeug frei wird.“ Der Carabiniere legte die Hand an seine Mütze und nickte dem Mädchen auf dem Beifahrersitz zu.

„Es wird mir eine Ehre sein, Commissario Capo.“ Dieser war sich nicht sicher, ob das ironisch oder ernst gemeint war, musste sich aber auf die Worte des Polizisten verlassen.

Wagner betrat den Stellplatz und verschaffte sich einen kurzen Überblick. Ein Polizeiwagen schickte mitten auf dem Fahrweg sein blaues Licht blinkend in die Runde. Ein Lieferwagen der Kriminaltechnik stand mit eingeschalteter Innenbeleuchtung quer vor zwei Wohnmobilen. Ein Fahrzeug der Notfallambulanz, ebenfalls auf dem Fahrweg, hatte beide Hecktüren weit geöffnet. Zwischen ihnen lehnten Notfallarzt und Sanitäter und schrieben ihre Berichte.

Wagner hielt ihnen seinen Dienstausweis entgegen. „Was gibt’s?“, fragte er den Arzt, worauf der mit dem Kugelschreiber auf die beiden Wohnmobile deutete.

„Jedenfalls gibt es da drüben nichts mehr zu tun für uns“, antwortete der Mediziner, „mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit Tod durch Erstechen. Der Kollege von der medicina legale müsste eigentlich schon hier sein.“

Er trat einen Schritt vor und zeigte in den Ambulanzwagen. „Den hier müssen wir mitnehmen zur klinischen Untersuchung, hat eine ordentliche Tracht Prügel bezogen. Und bekifft ist er auch, vom Alkohol ganz zu schweigen.“

„Wieviel?“ fragte Wagner.

„Auf die Schnelle 1,3 Promille“.

Auf der Pritsche lag ein junger Mann unter einer silberfarbenen Rettungsdecke. Sein wirres blondes Haar wurde von einem Verband zusammengehalten, über dem linken Auge drang Blut durch den weißen Stoff. In die Vene seiner rechten Armbeuge tropfte eine Infusion.

„Wenn Sie bitte noch ein paar Minuten warten“, sagte Wagner und ging weiter zu den Wohnmobilen. Beide hatten deutsche Nummernschilder. Gestreiftes Plastikband versperrte weiträumig den Zugang zu ihnen und zu dem Lieferwagen der Kriminaltechnik. Wagner umrundete das Wohnmobil am Ende der Reihe. Er erkannte das ältere deutsche Paar wieder, das heute Mittag die Trattoria betrat, als Domenico Fontana ihn aufgehalten hatte. Der Mann hockte auf einer Stufe vor der offenen Tür, während die Frau sich mit verschränkten Armen zu ihm hinabbeugte und leise auf ihn einsprach.

Sie bemerkten Wagner nicht und er kehrte wieder um. Auf dem Platz zwischen den beiden Fahrzeugen stand eine protzige Harley-Davidson mit dem Heck zum Fahrweg. Auf dem Boden lag ein Elektrorad, ein zweites der gleichen Marke lehnte an dem linken Wohnmobil, das wohl dem Paar aus dem Restaurant gehörte. Eine große Plastikschüssel lag umgedreht auf dem Gras. Vor dem rechten Wohnmobil, dem weitaus größeren, beugte Commissario Josef Gasser sich über einen Mann in schwarzer Lederkleidung, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden saß. Sein Rücken lehnte an eines der riesigen Räder und sein Gesäß steckte inmitten einer Pfütze. Auch sonst war das Gras um ihn herum vielfach durchnässt.

„Hallo Kollege Gasser. Die Einfahrt muss abgesperrt werden, das hätte als erstes passieren sollen, und sorgen Sie bitte dafür, dass dieses verdammte Blaulicht abgestellt wird. Die sehen hier schon alle mehr als genug.“ Er blickte auf die Menschen, die sich hinter der Absperrung versammelt hatten. Frauen und Männer in Bademänteln, Schlafanzügen und Trainingshosen. Ein Polizist ging mit Block und Kugelschreiber von einer Person zur nächsten.

Zwischen den beiden Fahrzeugen hatten Kollegen von der Technik zwei Strahler auf hohen Ständern mit Dreifuß angebracht, die jeden Winkel ausleuchteten. Einer der Männer im weißen Schutzanzug reichte Wagner Plastikhandschuhe und -überzieher für seine Schuhe.

Gasser richtete sich auf und schickte eine junge Kollegin in Uniform zum Auto, um das Blaulicht auszuschalten und die Einfahrt abzusperren.

„Tut mir leid, dass ich daran nicht gedacht habe“, sagte er zu Wagner.

„Das ist ihr erster Mordfall, nicht wahr?“

Gasser nickte und deutete auf den Mann im nassen Gras. „Das hier ist Konrad Schubert, der Vater des Mordopfers. Er hat die Leiche gefunden. Sie sind Deutsche.“

Wagner seufzte innerlich. Wann würden die Kollegen aufhören, in Gegenwart der Angehörigen vom Mordopfer zu sprechen, oder noch schlimmer, von der Leiche, statt von Vater, Ehefrau, Tochter oder wem auch immer?

„Was hat das hier mit dem Wasser auf sich?“

„Anscheinend haben die Nachbarn versucht, ihn und den jungen Mann, den er verprügelt hat, mit einer ordentlichen Dusche zu trennen.“

„Mein Beileid“, sagte Wagner und beugte sich hinab zu Schubert. Keine Reaktion.

„War schon ein Arzt bei ihm?“, fragte er seinen Kollegen. Gasser schüttelte den Kopf.

„Das ging noch nicht. Der Arzt musste sich erst um den jungen Mann kümmern, den der hier zusammengeschlagen hat.“ Schubert schaute zu ihnen hoch, machte aber keine Anstalten aufzustehen.

„Der Arsch hat meine Tochter umgebracht! Abgestochen hat er sie wie ein Stück Vieh! Ich bring ihn um, das schwöre ich euch, ich bring das Schwein um!“ Zwischen Wut und Weinen hangelte er sich von Wort zu Wort. „Die Fernbedienung, wo verdammt nochmal ist diese verdammte Fernbedienung?“