Der Tod wohnt nebenan - Francisco González Ledesma - E-Book

Der Tod wohnt nebenan E-Book

Francisco González Ledesma

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Beschreibung

Eine Abrissparty in Barcelonas Armenhaus, dem Poble Sec. Die gesamte Nachbarschaft versammelt sich, um die alten Zeiten ein letztes Mal aufleben zu lassen. Doch ein grausiger Fund sprengt das Fest, denn die ersten Gäste stolpern über eine Leiche. Das Motiv für den Mord liegt tief in der Vergangenheit: Vor dreißig Jahren starb ein Kind bei einem Banküberfall. Der Haupttäter konnte damals fliehen - und liegt nun tot vor aller Augen. Für Inspector Méndez ist klar, dass der Vater des kleinen Jungen späte Rache genommen hat. Nun muss er Beweise finden und außerdem weiteres Blutvergießen verhindern. Denn das Opfer hatte Komplizen ...

Bestseller in Spanien und Italien, ausgezeichnet mit dem renommierten Krimipreis "Premio de Novela Negra" 2008

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Seitenzahl: 385

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

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Francisco González Ledesma

DER TODWOHNTNEBENAN

Roman

Übersetzung aus dem Spanischen von Sabine Giersberg

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der spanischen Originalausgabe:

»Una Novela de Barrio«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2007 by Francisco González Ledesma

First edition by rba Libros, S.A., Barcelona

Published by arrangement with UnderCover Literary Agents

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH & Co. kg, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz

E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-0498-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

1

Gut.

Der Mann, der sterben wird, ist schon da.

Er hegt keinen Verdacht. Er ist verzückt von dem alten Ort, der ihn an längst vergangene Zeiten erinnert.

»Sieh dir nur den Stuck an der Decke an«, flüstert seine Begleiterin, »Handarbeit, so etwas macht heute keiner mehr. Und diese Jugendstilfenster mit dem Glasschliff. Und die dunklen Stellen an der Wand, da hingen früher die Spiegel.«

Der Todgeweihte schaut und schaut, und die Stimme begleitet ihn. Er geht nicht oft ins Museum, doch die Stimme hört sich an wie die einer Museumsführerin. »Und erst das Badezimmer. Die Armaturen sind nicht mehr da, aber auf wundersame Weise ist ein einziges Manises-Becken noch vollständig erhalten.«

Der Todgeweihte schöpft immer noch keinen Verdacht.

Bis er den Handschuh zwischen den Fingern aufblitzen sieht, fein wie der einer Frau und flink wie der eines Magiers. ›Warum braucht man hier Handschuhe?‹, mag er sich fragen, ›bei der Hitze …‹

Dann die Pistole.

Eine 38er.

Der Mann, der sterben wird, weiß das, er kennt sich aus mit Waffen. Entgeistert starrt er den metallisch glänzenden Gegenstand an. Im ersten Moment denkt er, es handele sich um einen Scherz. Er versucht sogar zu lachen.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Auf die Knie, Dreckskerl.«

Der Mann, der sterben wird, hat jetzt keineswegs mehr das Gefühl, es handele sich um einen Scherz, und obwohl er immer noch nicht ganz begreift, sagt ihm sein Instinkt, dass es besser ist zu gehorchen. So würde er Zeit gewinnen. Er könnte auch versuchen, sich auf die fünf Schritte entfernte Pistole zu stürzen, aber dann würde die Zeit nicht mal mehr für die Letzte Ölung reichen. Er kniet nieder und murmelt mit weit aufgerissenen Augen: »Was ist das hier? Die Generalprobe für ein Fest?«

Man sieht in der Tat lange, festlich gedeckte Tische. Glänzende Flaschen. Sogar ein leichtes Glitzern auf dem Geschirr von Manises, das ein Verwandter von Präsident Azaña gestiftet hat.

»Auf die Knie. Ich will dich auf allen vieren kriechen sehen.«

Die Stimme hört sich plötzlich metallisch an, dunkel. Kaum zu glauben, dass sie aus diesem Raum kommt. Der Mann, der sterben wird, weiß plötzlich, blitzartig, dass seine letzte Sekunde gekommen ist. Aber das ist auch das Einzige, was er weiß. Er versucht aufzustehen.

Dann die Kugel. Nur eine einzige, ein professioneller Schuss. Sein Kopf wird nach hinten geschleudert, als sollte er abreißen. Der Körper fällt zu Boden.

Was der Mann, der stirbt, in diesem Moment begreift, nutzt ihm nichts mehr.

2

Die Tische bogen sich unter Sandwiches mit Chorizo, Käse, Salchichón, billigem Landschinken und marinierten Sardinen, die man an einem Sonntagnachmittag in der Hafeneinfahrt gefangen hatte. Es gab Cariñena-Wein, galicischen Trester für die Hartgesottenen, Wasser und ein ganzes Sortiment an fettarmen Joghurts für die Mütter, die Diät machen mussten, damit sie in die winzigen Wohnungen passten, in denen sie jetzt hausten.

Es sollte so etwas wie das letzte Abendmahl sein.

Und zu diesem Mahl hatte der Nachbarschaftsverein des Viertels aufwändig geladen.

Auf geht’s, Nachbarn, lasst uns gemeinsam die Straße überqueren, denn es naht die letzte Stunde, hob der Präsident an.

Wir alle wissen, was dieses alte Haus mitgemacht hat. Das Haus hat alles überlebt, meine Freunde, die Tragische Woche, die Bomben des Bürgerkriegs, die Armut und den Zerfall. Doch die Spekulanten wird es nicht überleben. Denn heute, meine lieben Freunde, ist das Grundstück mehr wert als die Wohnungen darauf – und natürlich auch als die Bewohner und ihre Seelen. Da können auch die »Richter für die Demokratie« und die »Ärzte ohne Grenzen« nichts ausrichten. Das Gebäude wird abgerissen und ein anderes, höheres, im Namen der Größe der Stadt gebaut. Denn ihr müsst wissen, heute leben wir im reichen Barcelona des 21. Jahrhunderts.

Nachbarn, wir treffen uns alle in der ersten Etage.

Wir haben die erste Etage gewählt, nicht nur weil sie für die Arthrosegeplagten gut zu erreichen ist, sondern weil sie am besten erhalten ist und man dort garantiert nicht einbricht. Das ist kein Zufall, meine lieben Freunde, so wie nichts in diesem Leben Zufall ist: Die Mieterin, Señora Ruth, hat die Wohnung so gut in Schuss gehalten, weil sich darin ein Salon befand, in dem vier Mädchen im Negligé heimlichen Besuch von Herren erhielten, die Münze für Münze zusammengespart hatten, um ihrem Laster frönen zu können. Etwas von dieser Atmosphäre ist noch vorhanden, und ich werde euch vor dem Abriss noch ein letztes Mal die Türen öffnen.

Die Bewohner traten ein und sahen alles.

Die Balkone.

Die Stuckornamente oben an den Wänden.

Die Türen, auf die jemand etwas gekritzelt hatte.

Den bunt bestückten Tisch.

Die feierlich in einer Reihe aufgestellten Flaschen.

Und den Toten.

3

»Na schön, schauen wir mal, wer der Tote ist.«

Das sagte Comisario Monterde, der Herr Hauptkommissar, während er sich eine Montecristo Edmundo anzündete, die letzte des Monats. Mittlerweile brauchte man ja fast schon eine Genehmigung der NATO, wenn man Zigarren kaufen wollte. Er zog den Aschenbecher zu sich heran, sog genüsslich den Rauch ein und las die Aussage, die sein Assistent ihm übergeben hatte.

Wer der Tote ist?

Obwohl es schon viele Jahre her ist, es dürfte 1975 gewesen sein, ist er im Viertel kein Unbekannter. Viel weiß ich nicht über ihn, nur dass er Omedes hieß, nichts gelernt hatte und ein übler Geselle war.

Er schlug sogar seine Mutter, verbrachte seine Kindheit in der Besserungsanstalt, die frühe Jugend im Gefängnis und später lebte er bei Madame Ruth, die ein gemütliches, billiges Etablissement führte, mit lauter jungen Damen, die an die Heilige Jungfrau glaubten. Bis er eine von ihnen misshandelte und Madame Ruth einen Schläger anheuerte, der ihm sämtliche Rippen brechen sollte. Der Schläger stammte aus dem Viertel und hat, glaube ich, nicht einmal etwas dafür verlangt.

Dann wollte Omedes hoch hinaus, er wollte das große Geld und überfiel mit einem Kumpanen eine Bank, wobei der Wachmann und die Geisel, ein gerade mal dreijähriger Junge, zu Tode kamen. Sein Kumpel wurde gefasst, aber Omedes gelang es, mit einem Teil der Beute abzutauchen, bis heute, soweit man weiß, Herr Hauptkommissar, aber, nicht wahr, im Viertel kommt am Ende ja doch immer alles ans Licht.

Unser Verein bedauert, dass er nicht mehr Informationen über den Verstorbenen hat. Leider gibt es auch keine Hinweise aus erster Hand über den Zustand, in dem er aufgefunden wurde, denn die Bewohner haben, von Neugier getrieben, die Leiche angefasst, und ich glaube, sie haben sogar seinen Hosenstall geöffnet, natürlich ohne böse Absicht.

Aber sie haben gesehen, dass man ihm einen Genickschuss mit einer 38er verpasst hatte, dass es sich also um eine kaltblütige Exekution handelte. Das mit dem Kaliber 38 sagt eine Bewohnerin, deren Mann bei der Polizei ist, dessen Dienstwaffe aber sie aufbewahrt. Sie muss es also wissen, nicht wahr?

Drei Dinge möchte ich noch anführen, mit allem gebührenden Respekt: Erstens, vor dem Vorfall wurde im Haus eine junge Frau gesehen, die niemand kannte. Zweitens sollten Sie Madame Ruth aufsuchen, wenn sie noch lebt, denn sie weiß bestimmt noch mehr über den Verstorbenen. Doch ich muss Sie vorwarnen, soweit ich weiß, hat es Madame Ruth, die einstige Hure, zu Wohlstand gebracht und ist inzwischen Marquesa, womit widerlegt wäre, dass schlechte Wege nicht zum Ziel führen. Und drittens, betrauen Sie, wenn Sie können, jemanden mit dem Fall, der Zeit hat, denn in einem Haus, das es nicht mehr gibt, zählen auch die Stunden nicht. Hochachtungsvoll. Im Namen der Nachbarschaftsvereinigung, der Präsident.

4

»Man hat mir gesagt, Sie hätten Zeit, Méndez.«

»Alle Zeit der Welt, Herr Hauptkommissar, man betraut mich nicht mehr mit Fällen, ich stehe kurz vor der Pensionierung, also kurz vor dem Eintritt in das Stadium post mortem.«

Der wichtige Herr Hauptkommissar oder Vorgesetzte oder wie auch immer man ihn nennen mag, setzte eine selbstzufriedene Miene auf und hantierte mit den Händen vor dem Bauch, als wollte er eine Schwimmweste anlegen. Dann sagte er: »Ich weiß, dass sich Ihre Lebensbedingungen schon verbessert haben, Méndez. Sie leben nicht mehr im Hinterzimmer einer Bar, wo sie manchmal gar nicht hineinkonnten, weil sich gerade jemand die Besitzerin vornahm. Es ist mir ein Rätsel, wie Sie das so lange aushalten konnten. Aber was Frauen angeht, hat jeder seine eigene Toleranzschwelle, vor allem, wenn es sich um die Frauen von anderen handelt. Man hat mir gesagt, sie lebten jetzt in einer kleinen Wohnung gegenüber von Atarazanas. Die soll so vollgestopft mit Büchern sein, dass möglicherweise Ihre letzte Putzfrau darunter begraben liegt …«

»Ja, ich habe mich verbessert, aber mein Leben ist nach wie vor ein einziges Desaster, Señor M.«

»Das verstehe ich, Méndez: Ihre Welt stirbt. Die alten Cafés von Barcelona, wo die Republik ausgerufen wurde, und in denen Sie das Farbenspiel am Abendhimmel beobachtet haben, machen nach und nach dicht, viele auf Anordnung der Gesundheitsbehörden. Das alte Raval ist auch nicht mehr, was es mal war, seit die Avenida gebaut wurde, Geschäfte mit Magermilchprodukten schießen aus dem Boden, die Madames sind verschwunden, und die Zahnärzte gekommen. Sie nennen es nicht einmal mehr Barrio Chino. Das Land hat seine Würde verloren, mein lieber Méndez. Die alten Huren, die Ihnen ihr Leben erzählt haben, sind tot, sie sind in ihre Dörfer zurückgekehrt, sie haben auf dem Rathaus eine Kollegin geheiratet oder sie sind Kongressabgeordnete geworden. Die Welt verändert sich, Méndez, und Sie sollten aufhören, Dingen nachzutrauern, an die längst keiner mehr glaubt.«

»Ja, meine Welt ist tot, und eigenartigerweise lebe ich noch. Ich weiß nicht, warum Sie mich haben rufen lassen, Señor M.«

»Weil Sie sich auf der Straße auskennen. Sie kommen viel rum, sprechen mit den Leuten, stellen sich bei den pakistanischen Frisören in die Schlange und gehen zur Beerdigung früherer Gewerkschafter, Chorknaben und anderer Glanz-und-Gloria-Vereine, die es in den Vierteln so gibt. Da wird über vieles gesprochen, vor allem darüber, was der Verstorbene für Hörner aufgesetzt bekam.«

»Das stimmt. Es sollte Särge mit Fenstern geben, Señor M.«

»Sagen Sie das nicht zu laut, sonst lässt sich das noch einer patentieren. Aber kommen wir zur Sache, mein Freund. Sie werden gelesen haben, dass in einem Abrissobjekt ein Kerl namens Omedes aufgetaucht ist, der nach allen Regeln der Kunst abgeknallt wurde. Seine Polizeiakte hat sich gewaschen. Der hatte mehr Anzeigen am Hals als einer, der das Rauchen nicht lassen kann. Er war vor Jahren an einem Überfall beteiligt, bei dem ein Wachmann und ein dreijähriger Junge ums Leben kamen. Omedes hatte keinen Ausweis bei sich, den hat der Täter wahrscheinlich mitgehen lassen. Bei unseren Ermittlungen sind wir nicht weiter gekommen, die Spuren führen ins Leere. Wir haben nur einen kleinen Anhaltspunkt. Dieser Omedes war als junger Mann ziemlich oft an dem Ort, an dem er starb. Das war früher ein Bordell, geführt von einer gewissen Madame Ruth, und die lebt noch. Angeblich hat sie einen Marquis geheiratet. Vielleicht weiß sie etwas, vielleicht kann sie uns einen Hinweis geben, aber das kann nur ein echter Spürhund wittern.«

Méndez war gerührt von dem unverdienten Lob.

»Ich kannte Madame Ruth«, sagte er. »Ihr geheimes, kleines Etablissement befand sich dort bis nach Francos Tod.«

»Ich werde Ihnen ihre aktuelle Adresse geben. Gehen Sie hin und reden Sie mit ihr, aber mit Fingerspitzengefühl, nicht dass sie sich angegriffen fühlt. Bedenken Sie, die Marquesas, die Huren waren, oder die Huren, die sich jetzt Marquesas nennen, treten neuerdings unter dem Applaus der Wähler im Fernsehen auf. Man hat mir gesagt, diese Ruth verlasse ihr Haus nicht mehr, sei aber gesünder als ein Bischof.« Mit einem aufmunternden »Bewegung, Méndez« entließ der Hauptkommissar ihn. Und das im 21. Jahrhundert!

5

»Von wegen Bewegung, Méndez, und von wegen Madame Ruth heute verwitwete Marquesa de Solange ist gesund wie ein Bischof«, sprach Méndez in das Telefon einer Bar. »Fehlanzeige, Herr Hauptkommissar. Das Haus, in dem die Dame jetzt lebt, ist ein Relikt des alten Barcelona, eines von diesen Ferienhäusern mit Garten, die im neunzehnten Jahrhundert den wohlhabenden Schichten als Sommerquartier dienten, die die Stadt nicht verlassen wollten, weil der Hausherr seine Arbeit und seine Geliebte und die Dame des Hauses ihre feste Büglerin und Friseurin hatte. Das Haus liegt im Horta-Viertel, heute ein belebter Ort voller Kneipen. Aber früher gab es dort ein Wäldchen und Quellen, das Klima war frischer, und die Revolutionäre sind dort nie hingekommen. Das Haus, von dem ich spreche, hat drei Etagen, im Garten stehen zwei uralte Bäume und es gibt eine Dogge. Wenn die einen ins Visier bekommt, ruft man am besten gleich den Notarzt.«

Méndez hob kurz die Hand, um sich beim Wirt für das Überlassen des Telefons zu bedanken, und fuhr fort:

»Die Ermittlungen waren nicht besonders schwierig, Herr Hauptkommissar. In diesem kleinen, eher ländlichen Viertel wissen die Leute alles. Señora Ruth lebt zurückgezogen im Haus ihres Mannes und wird von einer recht jungen Frau versorgt, die sie offensichtlich seit vielen Jahren kennt. Es schien mir unpassend, sie zu befragen. Man sieht ihr an, wie schlecht es ihr geht, sie hat ein Mordskrebsgeschwür. Gerade war der Arzt da, den sie wohl auch schon seit Jahren kennt. Ich werde später versuchen, mit ihm zu sprechen, falls der Köter ihn nicht in Stücke reißt.«

*

»Sie sehen besser aus, Ruth«, sagte der schon sehr betagte Arzt. »Es ist heiß im Zimmer, aber Sie sehen gut aus. Ich denke, wir können mit der Dosis heruntergehen«, und mit einer Handbewegung fügte er hinzu, »doch erst einmal müssen sie dieses Bild von der Wand nehmen. Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen konnten, es dort aufzuhängen.«

Die Reproduktion von Munchs Der Schrei zeigt ein Frauengesicht, dessen formloser Mund ein letztes Heulen ausstößt, ein Schmerz, der aus der Luft kommt, aber in den Eingeweiden lebt, und im Hintergrund ein paar Wolken, die uns nicht mehr gehören, die nicht mehr von unserer Welt sind. Der Schrei im Zimmer einer Frau, die sterben wird, einer schreienden Frau.

»Hängen Sie es ab.«

»Es ist eine ausgezeichnete Reproduktion. Außerdem ist es ein Geschenk.«

»Wie originell!«

»Dasselbe könnte ich von Ihnen sagen. Sie faseln etwas von schwächerer Dosierung und geben mir immer stärkere Schmerzmittel. Als wäre ich blöd. Ich merke, dass es bergab geht, dass ich keine Chance habe. Das Einzige, worum ich Sie bitte, ist, dem Leiden ein Ende zu machen. Aber nicht mit Schmerzmitteln oder irgendwelchem Katzenlebertrunk. Ich habe Sie gebeten, mir einen gütigen Tod zu schenken, Doktor. Sie haben mich ein ganzes Leben lang behandelt. Und Sie beschwindeln mich und verlängern mein Sterben. Wir glauben heutzutage alle an die Euthanasie, und Sie verfügen über Mittel und Wege … Lassen Sie uns dem Ganzen ein Ende machen.«

Der Arzt hob hilflos die Arme.

»Hören Sie auf, ich kann nicht … Ich kann das nicht einfach nach Gutdünken entscheiden, verstehen Sie doch, zumal es noch Hoffnung gibt. Ich bitte Sie doch nur, an mich zu glauben.«

Die Kranke lächelte. Sie warf ein eisiges, zahnloses Lächeln in die Luft, leblos, wie das Lächeln eines mechanischen Totenkopfes.

»Natürlich glaube ich an Sie, na klar. Ich glaube, Sie sollten zur Hölle fahren.«

*

»Ich werde die Ermittlungen in diesem Viertel fortsetzen, Herr Hauptkommissar«, Méndez senkte seine Stimme. »Das ist zwar nicht mein Viertel und ich bin gerade erst vom Nesselfieber genesen, aber ich werde meiner Pflicht nachkommen. Lange werde ich dafür ohnehin nicht brauchen, denn ich weiß bereits …«

Méndez flüsterte jetzt: »Ich weiß bereits, wer diesen Omedes umgebracht hat. Ein Kerl namens Miralles. Nein, beglückwünschen Sie mich nicht, Herr Hauptkommissar, es war ganz einfach, ein wenig umhören, ein Blick in die Register und ein Besuch auf dem Friedhof.«

6

»Soso, ein Friedhofsbesuch.«

Der Satz kam aus dem Mund von Señor Carrasco, dem bekannten Besitzer einer ebenso bekannten Kneipe. Als die Firma, bei der er arbeitete, geschlossen wurde, hatte man Señor Carrasco vorzeitig in Ruhestand geschickt, und mit dem Vorruhe- und dem Arbeitslosengeld hatte er eine Kneipe aufgemacht, für die er rasch einen Namen gefunden hatte: La Anticipada – Vorruhestand. In ihr wurden Kaffee, Erfrischungsgetränke, hausgemachte Speisen, Bier vom Fass und Tresterschnäpse mit Echtheitszertifikat serviert, die ein Landsmann von ihm eigens aus Galicien mitgebracht hatte. Die Unterschrift konnte ebenso gut vom heiligen Apostel Santiago stammen.

Der Wirt sagte:

»Sachen gibt’s … Ein Friedhofsbesuch.«

»Ich habe einen letzten Blick auf das Abrisshaus geworfen, dessen Wände in mir so nostalgische Gefühle wecken. Sie wissen ja, ich bin einer dieser namenlosen Polizisten, die die Tatorte mehrfach besuchen, weil die Orte zu mir sprechen. Ich bin auch in das Viertel gegangen, in dem Madame Ruth heute lebt. Na ja, leben kann man das wohl nicht mehr nennen, nicht einmal im Scherz, denn sie hat Krebs im Endstadium, und zu allem Überfluss wird sie von einer ihrer ehemaligen Huren gepflegt, der man ansieht, dass sie sie hasst. Eine schlimmere Hölle kann man sich nicht vorstellen. Mein Chef hat mich da hingeschickt. Er hat behauptet, ich sei der Einzige, der die Zeit dazu habe. Doch schon als ich diese Kneipe betrat, wusste ich, wer diesen Omedes umgebracht hat, den Toten, von dem die Hausbewohner Abschied genommen haben.«

»Mensch, Señor Méndez, Sie sind ein Genie. Und alles durch den Besuch eines Grabes.«

»Natürlich habe ich mit den Leuten hier gesprochen. Das ist noch ein traditionelles Viertel mit ein paar sehr alten Leuten, die sich an alles erinnern. Und, wie gesagt, diese Leute haben mich zum Sterberegister geführt, und von dort zu einem einsamen Grab, auf dem immer frische Blumen stehen. Ein Kinderspiel.«

»Nun, man wird Sie bestimmt bald befördern, Señor Méndez.«

»Mich befördert niemand. Außerdem ist der Fall noch nicht abgeschlossen, denn ohne Beweise kann ich den Verdächtigen nicht festnageln, es sei denn, ich versuche es aufs Geratewohl. Meine Vorgesetzten haben mir gesagt, ich solle ihm folgen und alles über ihn herausfinden. Es ist mir gleich, wenn er davon erfährt. Vielleicht ist es sogar besser.«

»Natürlich wird er davon erfahren. Auf jeden Fall, danke für das Vertrauen.«

»Dazu gibt es keinen Grund. Ich rede immer in den Kneipen, und die Kneipen sprechen mit mir, und so finde ich Dinge heraus. Aber die guten alten Zeiten sind vorbei, die Leute reden nicht mehr an der Theke, es sei denn über Fußball. Manchmal nicht einmal das. Die ganz jungen Kerle kratzen sich am Sack, die Familienväter rechnen ihre Hypotheken durch, und die Alten stieren in die Glotze. Jedenfalls hat sich einer von den Alten, die sich noch an Omedes erinnern konnten, auch an das Grab erinnert. Das Grab eines Dreijährigen, auf dem immer frische Blumen stehen. Und ich habe es besucht. Sie hätten sehen sollen, was auf dem Stein stand. Ich erzähle es Ihnen, weil es sich um eine öffentlich zugängliche Information handelt. Zumindest solange noch kein Multikonzern die Grabsteine der Friedhöfe privatisiert.«

»Na dann schießen Sie mal los, Señor Méndez.«

»Ganz oben stand der Name: Juan Miralles Cuesta. Und darunter: ›Gestorben im Alter von drei Jahren‹. Und darunter, in Großbuchstaben: ›WEISE‹. Stellen Sie sich das mal vor, Herr Frührentner, weise, im Alter von drei. Das soll einer verstehen.«

Méndez trank seinen Schnaps aus – gewiss hatte man ihn zu Fuß aus Galicien auf der Route der romanischen Kirchen bis hierher transportiert – und fuhr fort: »Wenn Omedes also an dem Überfall, bei dem ein dreijähriges Kind starb, beteiligt war, haben wir das Motiv – Rache. Und der Rächer ist der Vater, ein gewisser Miralles. Denn die Jahre mögen vergehen, aber der Hass bleibt. Und sticht. Ich muss diesen Miralles verfolgen. Aber nicht nur ihn. Ich lasse nicht locker, bis ich ihn habe, auch ohne Dienstanweisung.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dieser blutige Überfall wurde von zwei Leuten begangen. Also gibt es noch einen Komplizen.«

7

Von dem Zimmer aus, das auf einen schmalen Innenhof hinausging, konnte man nur eine weiße Wand und ein paar Rohrleitungen erkennen. Ein Stuhl, ein Tisch mit Papieren, ein Radio, ein Regal mit Büchern, ein stets ausgeschaltetes Heizöfchen und vier gerahmte Fotografien. Von den vier Fotos zeigten drei einen kleinen Jungen: ein Junge, der mit einem Jahr zu laufen anfängt, ein Junge, der zum ersten Mal auf ein Kinderfahrrad klettert, ein Junge, der etwas auf eine Tafel kritzelt und sich dabei kaputtlacht.

Das letzte Foto zeigte einen Mann, nicht mehr jung, aber ein Personalchef würde sagen, im leistungsfähigen Alter. Er trug die Uniform eines Security-Mannes, eine tadellos gebundene Krawatte, eine ordentlich sitzende Mütze, und er trug ein Halfter, Handschellen und eine Pistole.

Als sich die Zimmertür öffnete, wanderte der Blick zu den Fotografien. Auf dem perfekten Foto trug der uniformierte Mann einen 38-er Star-Revolver am Gürtel. Die Hände mit den Handschuhen trugen eine andere Pistole, eine Tokarev, auf der man nicht die geringste Spur finden würde. Es handelte sich nicht um eine gewöhnliche Dienstwaffe, doch sie hatte dasselbe Kaliber. Die Hände nahmen das Magazin heraus, und die Augen sahen, dass noch drei Kugeln übrig waren.

Mit einem leisen Schnappen wurde das Magazin wieder eingelegt. Dann öffneten die Hände das einzige Fenster – von dem aus man auf eine weiße Wand und Rohrleitungen blickte – und hoben die rechte Seite des in zwei gleich große Hälften geteilten, sauber gestrichenen Fensterbretts an. Darunter befand sich ein Hohlraum, eine Plastiktüte lag darin. Die Hände packten die Pistole ein und schoben sie in die maßgefertigte Öffnung. Dann legten sie das Stück Holz wieder an seinen Platz, kein Spalt war zu sehen. Fenster zu, und alles war in bester Ordnung.

Drei Kugeln. Es waren einmal vier gewesen, eine hatte einem Mann namens Omedes den Nacken zerfetzt. Mit den anderen drei konnte man den nächsten Job erledigen.

Denn da war noch ein zweiter Mann. Die nächste Aufgabe.

8

Es war dieser andere, der anrief. Aber das konnte der Anwalt Escolano im Büro von »Ramírez und Escolano, Anwälte für Scheidungs- und Familienrecht« nicht wissen, als das Telefon schrillte.

Escolano ging quer durch das Büro vorbei an dem Sitzungstisch, an dem schon lange keine Sitzung mehr stattgefunden hatte. Er überlegte, wie groß die Chance war, dass mit diesem Anruf ein neuer Auftrag ins Haus flatterte. Praktisch gleich null, dachte er. Seit zwei Monaten riefen die Gerichte oder ehemalige Klienten ihn nur noch wegen irgendwelcher Lappalien an, weil sie nicht durchblickten. Das war aber noch nicht mal das Schlimmste. Manchmal rief man ihn auch an, um ihn daran zu erinnern, dass er das Darlehen vom letzten Jahr oder die Miete für das Büro noch nicht bezahlt hatte oder alte Mietschulden, die immer weiter anwuchsen. Höchstens jedoch wurde ihm ein schlecht bezahltes Mandat angeboten, wenn er mal wieder als Pflichtverteidiger an der Reihe war. Von neuen Mandanten keine Spur. Und das bei den vielen Familienstreitigkeiten und der Menge an Leuten, die sich scheiden ließen. Aber die schnappten ihm offenbar andere weg.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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