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Toni, der seinen Vater jung verloren hat möchte Holzschnitzer werden. Aber wie soll das ohne Geld möglich sein? Toni muss also etwas anderes machen: Er geht auf die Alp, Kühe hüten. Aber der Wunsch bleibt.
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Johanna Spyri
Der Toni vom Kandergrund
Erzählung
Basel, 2016
Hoch oben im Berner Oberland, noch eine gute Strecke über das von Wiesen umsäumte Dörfchen Kandergrund hinaus, steht eine kleine, einsame Hütte, von einem alten Tannenbaum überschattet. Nicht weit davon stürzt von der bewaldeten Felsenhöhe der Wildbach nieder, der bei großen Regengüssen viel Felsgestein und Geröll mit fortschwemmt. Wenn der Regen aufgehört hat, hinterläßt der Bach eine wüste Steinmasse, die von einem klaren Wasser schnell durchflossen wird. Darum heißt die kleine Behausung in der Nähe dieses Baches die Steinhütte.
Hier wohnte der brave Tagelöhner Toni, der auf allen Bauernhöfen, wohin er zur Arbeit ging, gern gesehen wurde. Denn er war still und fleißig, pünktlich in der Arbeit und zuverlässig in seinem ganzen Wesen.
In seiner Steinhütte wohnte er mit seiner jungen Frau und einem Büblein, das die Freude der beiden war. Am Hüttchen in dem kleinen Stall stand die Geiß, von deren Milch Mutter und Kind sich ernährten, während der Vater die ganze Woche hindurch auf den Bauernhöfen, wo er vom Morgen bis zum Abend arbeitete, seine Kost erhielt. Nur den Sonntag verbrachte er daheim mit seiner Frau und dem kleinen Toni. Frau Elsbeth pflegte ihr Häuschen sehr. Wenn es auch eng und klein war, so sah es doch immer so sauber und aufgeräumt aus, daß jeder gern in das sonnige Stübchen eintrat. Und der Toni fühlte sich nirgends so wohl, wie daheim im Steinhüttchen mit seinem kleinen Buben auf dem Schoß.
Fünf Jahre lang hatten die Leute so in Eintracht und ungestörtem Frieden gelebt. Wenn sie auch keinen Überfluß und wenig irdische Güter hatten, so waren sie doch glücklich und zufrieden. Der Mann verdiente so viel, daß sie keinen Mangel litten, und mehr als ihren einfachen Unterhalt begehrten sie nicht. Denn sie hatten einander lieb, und ihre größte Freude war der kleine Toni. Das Büblein wuchs frisch und gesund heran und erfreute mit seiner Fröhlichkeit des Vaters Herz, wenn dieser Sonntags daheimbleiben konnte. Er versüßte der Mutter alle Arbeit an den Wochentagen, wenn der Vater bis spät am Abend fortblieb.
Der kleine Toni war nun vier Jahre alt und war schon bei vielen kleinen Arbeiten behilflich, im Häuschen und im Geißenstall und auch im kleinen Acker hinter der Hütte. Vom Morgen bis zum Abend trippelte er fröhlich hinter der Mutter her, denn er fühlte sich so wohl wie die kleinen Vögel oben in der alten Tanne. Wenn der Samstagabend kam, so scheuerte und putzte die Mutter doppelt eifrig, um bald fertig zu werden. Denn an dem Tag hatte der Vater früher als sonst Feierabend, und sie ging ihm dann, den kleinen Toni an der Hand, immer ein Stück entgegen. Das machte dem Kleinen eine besondere Freude.
Er wußte nun auch schon genau, wann sie dem Vater entgegengingen. Fing die Mutter zu scheuern an, so sprang er schon vor Freude in der Stube umher und rief immer wieder: »Jetzt gehen wir zum Vater! Jetzt gehen wir zum Vater!« Wenn die Arbeit getan war, nahm ihn die Mutter bei der Hand, und sie machten sich auf den Weg.
So war im schönen Maimonat wieder ein Samstagabend gekommen. Draußen sangen die Vögel im Baum lustig zum blauen Himmel empor, drinnen scheuerte die Mutter eifrig, daß sie bald in den goldenen Abend hinauskomme. Und bald draußen, bald drinnen hüpfte der kleine Toni umher und jauchzte: »Jetzt gehen wir zum Vater!« Es dauerte auch nicht lange, so war die Arbeit fertig.
Die Mutter legte ihr Tuch um, band die gute Schürze vor und trat aus der Hütte. Der Toni sprang vor Freude in die Höhe und dreimal um die Mutter herum, dann faßte er ihre Hand und jubelte noch einmal: »Jetzt gehen wir zum Vater!« Dann trippelte er neben der Mutter her in den sonnigen, lieblichen Abend hinaus. Sie wanderten dem Wildbach zu über den hölzernen Steg, der darüber führt. Dann kamen sie auf dem schmalen Fußweg, der sich durch die blumenreichen Wiesen hinaufschlängelt, zum Mattenhof, wo der Vater arbeitete.
Jetzt fielen von der untergehenden Sonne die letzten Strahlen über die Wiesen hin, und vom Kandergrund herauf ertönte die Abendglocke.
Die Mutter stand still und faltete die Hände.
»Leg deine Hände zusammen, Toneli«, sagte sie, »es ist die Betglocke.«
Der Kleine gehorchte.
»Was muß ich beten, Mutter?« fragte er dann.
»Gib uns und allen Müden einen seligen Sonntag! Amen!« sprach die Mutter andächtig.
Toneli betete dasselbe. Plötzlich schrie er: »Der Vater kommt!«
Vom Mattenhof herunter kam einer gelaufen, so schnell er konnte.
»Das ist nicht der Vater«, sagte die Mutter, und beide gingen dem Fremden entgegen. Als sie ihn erreichten, blieb der Mann stehen und sagte keuchend: »Geht nicht weiter, kehrt um, Elsbeth, ich wollte gerade zu Ihnen, es ist etwas geschehen.«
»Ach, du mein Gott!« rief die Frau in höchster Angst aus, »Ist's etwas mit dem Toni?«
»Ja, er war beim Holzfällen, und da ist er getroffen worden. Sie haben ihn heimgebracht, er liegt oben im Mattenhof. Aber geht nicht hinauf«, fügte er hinzu und hielt die Elsbeth fest, die gleich fort wollte, als sie die Nachricht vernommen hatte.
»Nicht hinauf?« sagte sie rasch, »ich muß doch zu ihm. Ich muß ihm helfen und sehen, daß sie ihn heimbringen.«
»Ihr könnt nichts helfen, er ist – er ist schon tot«, brachte der Mann jetzt mit unsicherer Stimme hervor. Dann kehrte er um und lief wieder zurück, froh, seinen Auftrag ausgef [...]