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Als Küchenchef Jo Weidinger im Weinberg von Winzerlegende Ernst Hoffmann eintrifft, findet er den alten Mann brutal ermordet und ans Kreuz geschlagen vor. Obwohl Jo in seinem Restaurant alle Hände voll zu tun hat, beginnt er zu ermitteln. Als ein weiteres Opfer gekreuzigt aufgefunden wird, erscheint der Fall immer mysteriöser. Wer ist der unheimliche Killer und wird er erneut zuschlagen? Bei seinen Recherchen stößt Jo auf ein jahrzehntealtes Verbrechen und ihm wird klar, dass der Täter auf einem grausamen Rachefeldzug ist …
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Seitenzahl: 453
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Christof A. Niedermeier
Der Tote im Weinberg
Kriminalroman
Grausame Rache Als Küchenchef Jo Weidinger im Weinberg von Winzerlegende Ernst Hoffmann eintrifft, findet er den alten Mann brutal ermordet vor. Der Täter hat ihn gekreuzigt und öffentlich zur Schau gestellt. Der Polizei gelingt es trotz fieberhafter Ermittlungen nicht, dem Täter auf die Spur zu kommen. Obwohl Jo in seinem Restaurant alle Hände voll zu tun hat, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln. Schnell stellt sich heraus, dass Ernst Hoffmann ein skrupelloser Despot war, der sein Weingut mit harter Hand führte und seine Familie tyrannisierte. Hat das rätselhafte Verschwinden seiner Frau vor vielen Jahren etwas mit seiner Ermordung zu tun? Als ein weiteres Opfer gekreuzigt aufgefunden wird, erscheint der Fall immer mysteriöser. Wer ist der unheimliche Killer und wird er erneut zuschlagen? Bei seinen Recherchen stößt Jo auf ein jahrzehntealtes Verbrechen und ihm wird klar, dass der Täter auf einem grausamen Rachefeldzug ist …
Christof A. Niedermeier stammt aus der Nähe von Regensburg. Er studierte Kulturwissenschaften in Passau und Norwich/England. Seit über 20 Jahren lebt und arbeitet er in Frankfurt. Neben seiner Tätigkeit in einem internationalen Großkonzern schreibt er seit vielen Jahren Kriminalromane. Besonders fasziniert ihn an seiner Arbeit als Krimiautor die Psychologie seiner Figuren. Was bringt einen Menschen dazu, einen anderen zu ermorden? Wo liegt die Wurzel des Bösen? Bei seinen Recherchen taucht der Autor regelmäßig in andere Welten ein, wie beispielsweise ins Milieu von Spielcasinos oder in die Megametropole Tokio. Der Autor reist gern, wobei seine besondere Liebe der Sonne Italiens und der leckeren Mittelmeerküche gilt.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Tödliches Sushi (2018)
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Alice_D / stock.adobe.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6154-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Sie hörte ein klopfendes Geräusch. Ein kurzes Stakkato, dann folgte eine Pause. Maria Dabrowski hielt inne und lauschte. Das nächste Stakkato folgte. Die junge Frau lächelte. Schon als Kind hatte sie Spechte geliebt. Dass sich so ein kleiner Kerl unermüdlich in den Baum hämmerte, so lange, bis er für sich und seine Familie ein Heim geschaffen hatte, begeisterte sie. Sie musste an ihre Kindheit in Polen denken. Ihr Vater war oft mit ihr in den Wald gegangen. Zum Pilzesammeln oder um Brennholz für den alten Ofen in der Küche zu schlagen. Ein wehmütiger Ausdruck glitt über ihre Gesichtszüge. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Sie bückte sich, hob ein Stück Holz auf und steckte es in ihren Korb. Pilze hatte sie leider keine gefunden. Dafür war es inzwischen zu kalt. Aber sie hatte mehrere vielversprechende Lindenholzstücke entdeckt. Sie wollte daraus Figuren schnitzen – Maria, Josef und das Christuskind. Da sie Weihnachten in einem fremden Land und ohne ihre Familie verbringen musste, wollte sie wenigstens eine Krippe in ihrer Kammer. Das Schnitzen hatte sie von ihrem Vater gelernt. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Sie packte ihren Korb fester an und blickte sich um.
»Ist da jemand?«, rief sie mit fester Stimme. Niemand war zwischen den Bäumen zu sehen. Der Wind pfiff durch das trockene Herbstlaub und wirbelte ein paar Blätter hoch. Sonst blieb es still. Maria zog ihre Jacke noch enger um ihre schmalen Schultern. Sie verharrte für einen Augenblick, ehe sie ihren Blick wieder auf den Boden richtete. Sie brauchte noch Brennholz für das Öfchen in ihrer Kammer. Sie musste sich beeilen, es begann bereits zu dämmern. Sie war so ins Holzsammeln vertieft, dass sie die Bewegung hinter sich nicht wahrnahm. Als sie hochschaute, zuckte sie erschrocken zusammen. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand ein Mann und beobachtete sie. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen.
»Gott, hast du mich erschreckt, Jaroslav!«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Was tust du allein in Wald?«, wollte der Angesprochene in gebrochenem Deutsch wissen. Der Ukrainer war noch nicht lange in Deutschland.
»Nach was sieht es denn aus?«, gab die junge Frau zurück.
Der hagere Mann musterte sie mit ausdruckslosem Gesicht.
»Allein in Wald ist gefährlich«, sagte er.
»Unsinn. Der Wald ist mein Freund.«
Der Ukrainer schüttelte unwillig den Kopf. Maria hatte unterdessen ein weiteres Holzstück in ihren Korb gelegt, der inzwischen ziemlich schwer war.
»Ich dir helfen«, bot er an und trat auf sie zu.
»Nein, ich komme zurecht«, erklärte Maria und drehte sich mit ihrem Korb zur Seite, als er danach greifen wollte.
»Warum willst du Hilfe nicht?«, fragte er konsterniert.
»Ich komme gut alleine klar. Mach dir um mich keine Sorgen.«
»Frau braucht Beschützer.«
Maria lachte glockenhell.
»Beschützer? Wofür das? Glaubst du, ich hab Angst im Wald?«
»Ich sehe jeden Tag, wie andere Männer dich anschauen.«
»Wie denn?«, fragte sie.
»Hungrig«, antwortete er lapidar.
»Das bildest du dir ein«, meinte sie und lachte wieder. »Außerdem hast du in der Ukraine eine Frau, die sehnsüchtig auf dich wartet und die du beschützen kannst«, spottete sie.
»Heimat ist weit weg«, erwiderte Jaroslav. Nachdenklich sah er die junge Frau an. Unvermittelt machte er einen Schritt nach vorn, umarmte sie und versuchte, sie zu küssen. Instinktiv drehte Maria den Kopf zur Seite und riss sich los.
»Bist du irre?«, schrie sie ihn an und gab ihm eine Ohrfeige. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er inne. Dann packte er sie an den Armen und drängte sie gegen einen Baum. Maria spuckte ihm ins Gesicht und wehrte sich heftig. Doch sie hatte keine Chance. Der Ukrainer drückte sie noch fester gegen den Baum. In dem Moment packte ihn jemand von hinten und schleuderte ihn zu Boden. Mit einer katzenhaften Bewegung rollte sich Jaroslav ab und versuchte, sofort wieder auf die Beine zu kommen. Der Angreifer war schneller und versetzte ihm einen Tritt mit dem Fuß, sodass der Ukrainer erneut ins Straucheln geriet. Aus den Augenwinkeln sah er den anderen Mann auf sich zukommen.
»Wenn du dich aufführst wie ein Hund, dann kriech wie ein Hund«, brüllte der Angreifer und versetzte ihm einen erneuten Tritt. Der Ukrainer krabbelte auf allen vieren außer Reichweite seines Angreifers und rappelte sich auf. In geduckter Haltung blieb er stehen. Ein Messer blitzte in seiner Hand auf und in seinen Augen leuchtete der blanke Hass. Er wirkte wie ein Raubtier vor dem Absprung. Sein Gegenüber, ein breitschultriger Mann Anfang 50, schien davon unbeeindruckt.
»Steck das Messer weg!«, befahl er mit gefährlich leiser Stimme. Erst jetzt erkannte der Ukrainer, wen er vor sich hatte. Augenblicklich ließ er das Messer verschwinden.
»Sollte ich dich noch einmal bei so was erwischen, werde ich dich melden, hast du verstanden?«
Jaroslav nickte stumm. Sein Zorn schien so schnell verraucht zu sein, wie er gekommen war. In seinen Augen stand Furcht.
»Jetzt pack dich!«, brüllte der breitschultrige Mann. Ansatzlos machte der Ukrainer kehrt und verschwand zwischen den Bäumen.
Maria hatte die Szene atemlos verfolgt. Die Anspannung wich aus ihrem Gesicht. Sie hob den Korb auf, den sie im Eifer des Gefechts hatte fallen lassen, und räumte die Holzscheite wieder hinein. Eine Träne rann ihr über das Gesicht. Trotzig wischte sie diese weg.
»Und du? Hab ich dir nicht oft genug gesagt, du sollst dich nicht im Wald herumtreiben? Kümmer dich lieber um die Arbeit auf dem Hof.«
»Ja, Bauer«, antwortete die junge Polin in unterwürfigem Ton. Sie vermied es, dem breitschultrigen Mann in die Augen zu sehen.
»Mach, dass du nach Hause kommst«, knurrte er.
Sie nickte und schlich in geduckter Haltung an ihm vorbei. Er sah ihr nachdenklich hinterher. Dann straffte er die Schultern und folgte den beiden. Kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, trat eine dunkle Gestalt aus dem Schatten eines Baumes. Nachdenklich blickte der Mann in die Richtung, in welche die drei gegangen waren. Ein abschätziges Lächeln glitt über seine Gesichtszüge. Bald, schon bald würde es so weit sein …
Er machte kehrt und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
»Du wirst begeistert sein«, versicherte Kati Müller und unterstrich ihre Aussage mit einer weit ausholenden Geste. Man konnte sehen, wie sehr sie sich auf den anstehenden Termin freute.
»Wenn du meinst«, erwiderte Jo Weidinger. Die Skepsis in seiner Stimme war unüberhörbar.
»Seine Rieslinge sind ein Gedicht, aber warte erst, bis du seinen Weinbergspfirsich-Likör probiert hast!« Sie schnalzte mit der Zunge und verzog das Gesicht zu einer Genießermiene. »Absolute Weltklasse. Bei uns an der Mosel gibt es auch gute, aber die sind kein Vergleich. Allein der Duft ist atemberaubend – so intensiv und fruchtig, als würdest du dir einen frisch aufgeschnittenen Pfirsich unter die Nase halten.«
Der junge Küchenchef sah seine Sommelière an. Obwohl sie erst 26 Jahre alt war, verfügte Kati über viel Erfahrung und einen ausgezeichneten Geschmackssinn, der seinem eigenen in kaum etwas nachstand. Sie stammte aus einem Weingut an der Mosel und war mit dem Weinbau aufgewachsen. Zudem hatte sie in Frankreich, England und Australien gearbeitet und war mehrere Monate durch Neuseeland gereist. Überall, wo sie hinkam, besuchte sie die besten Weingüter und probierte jegliche Weine und Spirituosen, die ein besonderes Geschmackserlebnis versprachen. Sie war eine große Verfechterin von »trial and error«.1
Das war auch das Motto von Jos Lehrmeister gewesen. Er hatte immer gesagt: »Probiert, probiert, probiert. Esst alles, was euch in die Finger kommt, egal wie es aussieht oder riecht. Je exotischer, desto besser. Nur so kann man seinen Gaumen schulen und seinen Geschmackshorizont erweitern.«
Seit Wochen hatte Kati Jo bearbeitet, dass er mitkam. Ernst Hoffmann war eine Winzerlegende. Als viele seiner Kollegen noch auf preisgünstige Massenweine setzten, hatte er sich entschieden, in Richtung Spitzenqualitäten zu gehen. Seine Riesling-Auslesen zählten zu den besten und teuersten Weinen, die man im Rheintal kaufen konnte. Obwohl er inzwischen fast 80 Jahre alt war, führte er sein Weingut noch immer selbst und war fast jeden Tag draußen in seinen Weinbergen oder bei der Kellerarbeit zu finden. Spitzengastronomen aus aller Welt führten seine Weine. Umso mehr hatte es Kati erstaunt, dass Jo keine einzige Flasche von ihm im Keller liegen hatte – und das, obwohl Hoffmanns Weingut nur wenige Kilometer von Jos Restaurant entfernt lag.
Wann immer Kati Jo auf diese Lücke ansprach, wich er aus. Schließlich vereinbarte sie einen Termin mit dem Winzer, ohne Jo vorher um Erlaubnis zu fragen. Er war darüber alles andere als begeistert gewesen.
»Wir verkosten nachher alle seine Topweine und natürlich den Weinbergspfirsich. Vorher zeigt er uns seine beste Lage, den Sonnenberg. Da kannst du dir ein eigenes Bild vom Terroir machen. Es ist die perfekte Mischung aus Schiefer, Quarziten und fossilhaltigen Felsen. Einen besseren Boden für Riesling gibt es nicht.«
Sie fuhren mit Jos altem Volvo hinunter nach Sankt Goar und bogen hinter dem Städtchen ins Gründelbachtal ab. Nach knapp zwei Kilometern tauchte am Straßenrand ein grauer Pritschenwagen auf. Auf der Fahrerseite prangte die Aufschrift: »Weingut Ernst Hoffmann«.
»Er ist bereits da«, freute sich Kati und stieg aus. Es war ein kühler Frühlingsmorgen. Sie fröstelte, als ein Windstoß über sie hinwegfegte. Auf der rechten Seite der Straße zog sich ein Weinberg steil den Hang hinauf.
»Die Steigung liegt im Schnitt zwischen 35 und 50 Prozent. Wahnsinn, oder? Ist nicht einfach, hier zu arbeiten, aber dafür bekommen die Reben das ganze Jahr viel Sonne ab«, erklärte Kati.
»Hast du ihn entdeckt?«, fragte sie. Jo verneinte. »Bestimmt wartet er oben. Von da hat man eine wunderschöne Aussicht über das Tal«, fuhr sie fort. Die letzten Wochen war es angenehm mild gewesen, weshalb die Weinstöcke deutlich stärker ausgetrieben hatten als sonst zu dieser Jahreszeit. Jo spähte nach oben, konnte aber zwischen den vielen jungen Trieben nichts erkennen. Neben dem Weinberg führte ein schmaler Pfad hinauf. Kati marschierte vorneweg. Obwohl der Hang an der Stelle recht steil und der Aufstieg mühselig war, schaffte sie es, elegant und sportlich auszusehen. Jo fragte sich, wie sie es hinbekam, in jeder Lebenslage eine gute Figur zu machen. Er war so dicht hinter ihr, dass er fast auf sie aufgelaufen wäre, als sie abrupt stehen blieb.
»Guck mal.« Sie deutete mit der Hand auf etwas. Jemand hatte weiter oben im Hang ein lebensgroßes Kreuz mit Leidensfigur aufgestellt.
»Bäh, sieht das gruselig aus«, meinte sie angewidert und blickte zur Seite. »Die Skulptur sieht fast aus wie ein echter Mensch«, flüsterte sie.
Jo, der das Kreuz unentwegt angestarrt hatte, räusperte sich.
»Es ist keine Skulptur«, sagte er mit belegter Stimme.
»Was sollte es denn sonst …« Mitten im Satz brach sie ab. »Oh, mein Gott!«, entfuhr es ihr. Entsetzt wandte sie den Blick ab und lehnte sich an Jos Schulter. Automatisch legte er die Arme um sie. Ihr Atem ging schnell und er konnte spüren, wie sie am ganzen Körper zitterte. Trotz des schrecklichen Anblicks konnte er sich nicht von dem Toten abwenden. Es war, als wäre die Zeit stehengeblieben. Irgendwann setzte sein Verstand wieder ein.
»Wir müssen die Polizei alarmieren«, entschied er. Kati schien wie in Trance. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, was er gesagt hatte. Sie nickte stumm. Widerstrebend löste sie sich von ihm. Er half ihr den Hang hinunter.
»Willst du dich hinsetzten?«, fragte er, als sie am Volvo angekommen waren.
Sie schüttelte den Kopf. Ratlos blickte er sie an. Dann nahm er sie tröstend in die Arme. Sie schluchzte. Tränen schossen ihr in die Augen. Ein regelrechter Weinkrampf schüttelte ihren schlanken Körper. Jo konnte es ihr nicht verdenken. Auch ihm war der Schock in alle Glieder gefahren. Er ließ ihr die Zeit, die sie brauchte, um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen.
»Warum setzt du dich nicht in den Wagen?«, schlug er vor. Sie nickte und folgte seinem Ratschlag. Jo zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte den Notruf.
Als Hauptkommissar Wenger aus dem Wagen stieg und seinen Blick über die Szenerie gleiten ließ, war ihm mulmig zumute. Mehrere Streifenwagen parkten entlang der engen Straße, dazu ein Krankenwagen, der Notarzt und ein Leichenwagen. Zum Glück waren bisher nirgendwo Reporter zu sehen. Eine Kreuzigung – mitten im beschaulichen Rheintal – die Medien würden sich überschlagen vor Sensationsgier. Umso wichtiger war es, den Informationsfluss so gering wie möglich zu halten. Wenger machte einen Schritt nach vorn und blieb wie angewurzelt stehen.
»Was ist?«, wollte Oberkommissar Wieland wissen, der ebenfalls ausgestiegen war. Wortlos deutete sein Vorgesetzter auf einen dunklen Volvo, der zwischen den Einsatzfahrzeugen stand. Daran lehnte ein schlanker junger Mann, der mit ausdrucksloser Miene das Geschehen um sich herum verfolgte. Wenger schoss auf einen der Streifenbeamten zu, der den Zugang zum Weinberg mit einem rot-weißen Plastikband absperrte.
»Wie kommen Sie dazu, einen Zivilisten an den Tatort zu lassen!«, fuhr Wenger den uniformierten Beamten an. Dieser sah ihn verblüfft an.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, antwortete er, ohne sich von Wengers Ton einschüchtern zu lassen. »Wir machen unsere Arbeit streng nach Vorschrift.«
»Und was ist mit dem da?« Wenger deutete auf Jo.
»Wir haben ihn nicht an den Tatort gelassen. Er und seine Freundin waren vor uns da«, erwiderte der Streifenbeamte trocken. »Sie haben den Toten gefunden.«
Die Kriminalbeamten blickten hinüber zu Kati, die immer noch im Wagen saß.
»Sie ist nicht seine Freundin, sondern seine Sommelière«, meinte Oberkommissar Wieland. Er kannte Kati aus einem früheren Mordfall.
Der Streifenbeamte zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie wollen, dass ich gegen die beiden einen Platzverweis ausspreche, mache ich das«, brummte er, »aber ich dachte, Sie wollen vorher mit ihnen reden. Schließlich sind sie wichtige Zeugen.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschierte Hauptkommissar Wenger auf Jo zu, Wieland im Schlepptau. Als Kati die Kriminalbeamten auf sie zukommen sah, stieg sie aus und stellte sich neben Jo. Sie machte einen gefassten Eindruck.
»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte Wenger in unfreundlichem Ton.
»Erst mal schönen guten Morgen, Herr Hauptkommissar«, erwiderte Jo kühl, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ja, ja«, knurrte Wenger, »wobei ich nicht weiß, was an dem Tag gut sein soll.«
Kati sah den Hauptkommissar verblüfft an. Was für eine eigenwillige Art, ein Gespräch zu beginnen, dachte sie. Unwillkürlich verschränkte sie die Arme vor dem Körper.
»Was ist denn nun der Grund für Ihre Anwesenheit?«, schaltete sich Oberkommissar Wieland ins Gespräch ein.
»Wir waren mit Ernst Hoffmann verabredet. Ihm gehört der Weinberg. Er wollte uns seine beste Lage zeigen. Anschließend sollte es eine Weinverkostung in seinem Keller geben«, erläuterte Kati.
»Kommt es oft vor, dass Sie einen Winzer in seinem Weingut besuchen?«
»Klar. Das ist Routine.«
»Um welche Zeit wollten Sie sich treffen?«
»7.30 Uhr.«
»Und wann sind Sie eingetroffen?«
»Na, genau zu dem Zeitpunkt.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Ich hab auf die Uhr gesehen, ob wir pünktlich sind.«
Wieland machte sich eine Notiz.
»Hat es Sie gewundert, dass er nicht unten an der Straße auf Sie gewartet hat?«
»Ein Winzer hat immer etwas in seinem Weinberg zu tun. So jemand steht nicht tatenlos herum, sondern nutzt die Zeit.«
»Sie sind also den Pfad nach oben gelaufen und haben ihn entdeckt?«
»Korrekt«, antwortete Jo.
»Wie nah sind Sie an den Toten herangegangen?«, wollte Wenger wissen.
»30 oder 40 Meter«, erwiderte Jo.
»Nicht näher?«
»Nein.«
»Woher wussten Sie dann, dass er tot ist?«
Kati und Jo sahen sich an. Jo räusperte sich.
»So sieht kein lebendiger Mensch aus«, erklärte er nüchtern.
»Sein Gesicht ist schrecklich entstellt. Völlig vor Schmerz verzogen«, sagte Kati und schüttelte sich, als sie daran dachte.
»Ein weit verbreiteter Irrtum«, belehrte Wieland sie. »Wenn jemand stirbt, lässt die Muskelspannung nach. Deswegen sieht der Tote verändert aus. Mit Schmerzen, die er erdulden musste, hat es nichts zu tun.«
»Sie haben der Notrufzentrale gemeldet, dass es sich bei dem Opfer um Ernst Hoffmann handelt. Woher wissen Sie das, wenn Sie den Toten nicht aus der Nähe betrachtet haben?«, ging Wenger dazwischen und sah Jo herausfordernd an. Er schien dessen Aussage, dass er sich nicht am Tatort umgesehen hatte, keinen Glauben zu schenken.
»Wer sollte es sonst sein?«, gab Jo zurück.
»Die Streifenbeamten sind sich nicht so sicher. Und das, obwohl sie sein Passbild elektronisch angefordert haben«, sagte Wenger.
»Wundert mich nicht«, erwiderte Kati. »Er sieht schlimm aus. Trotzdem ist es unverkennbar Herr Hoffmann. Sie können sich auf mich verlassen. Ich hab einen guten Blick für Gesichter.«
»Sie kannten ihn also?«
Kati nickte.
»Gut?«
»Ich hab ihn ein- oder zweimal auf einer Weinmesse an seinem Stand getroffen und mich mit ihm unterhalten.«
»Und Sie?«
Wenger warf Jo einen durchdringenden Blick zu.
»Ich kannte ihn nicht persönlich.«
»Wie das?«, hakte Wieland nach. »Ich dachte, als ambitionierter Gastronom kommt man an den Hoffmann-Rieslingen nicht vorbei?«
»Es gibt genug andere gute Winzer in der Region.«
Wieland sah ihn zweifelnd an.
»Haben Sie sonst etwas bemerkt? Irgendwelche Personen in der Nähe? Sind Ihnen Fahrzeuge entgegengekommen?«, hakte Wenger nach.
Jo und Kati schüttelten unisono den Kopf.
»Irgendeine Idee, warum jemand Ernst Hoffmann etwas antun sollte?«
Wieder verneinten beide.
»Die Täter müssen völlig durchgeknallt sein«, entfuhr es Kati.
»Wie kommen Sie darauf, dass es sich um mehrere Täter handelt?«
Die Frage von Wenger kam wie aus der Pistole geschossen.
»Haben Sie sich den Anstieg angesehen?« Sie deutete auf den schmalen Pfad. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ein Kreuz allein dort hinaufbekommt.«
Die Kriminalbeamten blickten hinüber zum Weinberg.
»Gut, das wäre alles. Oder hast du noch Fragen?«, sagte Wenger zu seinem Stellvertreter. Dieser verneinte.
»Nur der Ordnung halber – wir werden in dem Fall eine strikte Nachrichtensperre verhängen. Jede Information, die nach draußen dringt, könnte die Ermittlungen erschweren und den Tätern wichtige Hinweise liefern. Reden Sie mit niemandem darüber und vor allem nicht mit Journalisten.« Wenger blickte Jo streng an. Dieser lächelte feinsinnig. Wenger stockte. Jos Reaktion schien nicht das zu sein, was er erwartet hatte.
»Damit wir uns richtig verstehen, Herr Weidinger: Ich weiß, dass Sie sich für einen begnadeten Hobbyermittler halten. Diesmal werden Sie von dem Fall die Finger lassen, verstanden? Ich habe in der Vergangenheit viel zu oft über Ihre Privatschnüffelei hinweggesehen. Damit ist ab jetzt Schluss. Wenn Ihr Name in Zusammenhang mit dieser Ermittlung ein weiteres Mal auftaucht, werde ich ein Verfahren wegen Justizbehinderung gegen Sie einleiten. Habe ich mich klar ausdrückt?«
»Sonnenklar«, antwortete Jo.
1 Versuch und Irrtum
Jo setzte den Blinker und bog auf die Bundesstraße ab. Kati saß schweigend neben ihm und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Seitdem sie losgefahren waren, hatte sie kein einziges Wort gesagt. Sie drehte sich zu Jo.
»Ist es deswegen?«
»Was?«
»Warum du dich in Mordfälle einmischst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Es ist wegen der Bilder, nicht wahr? Diese schrecklichen Bilder, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.«
Sie sah wieder zum Fenster hinaus.
»Gott, was muss der Mann gelitten haben!«, schauderte sie. »Wer tut jemandem so etwas Schreckliches an?«
»Ein Psychopath mit religiösen Wahnvorstellungen?«, mutmaßte Jo.
»Glaub ich nicht. Es ist was Persönliches.«
»Wie kommst du darauf?«
»Die Täter haben das Kreuz den Hang hinaufgeschleppt. War bestimmt ’ne Viecherei. Du musst jemanden extrem hassen, um die Energie dafür aufzubringen.«
Sie hielt inne.
»Denkst du, sie haben Hoffmann im Weinberg aufgelauert?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Interessiert dich der Fall nicht?«, fragte sie überrascht.
Jo seufzte.
»Du hast Hauptkommissar Wenger gehört. Er will, dass ich mich raushalte. Und das mache ich auch.«
»Du lässt dich von diesem aufgeblasenen Wichtigtuer einschüchtern? Was für ein Unsympath! Dem sollten wir es zeigen«, meinte sie kämpferisch. Jo runzelte irritiert die Stirn. Seit wann war Kati als Hobbydetektivin unterwegs?
»Sag mal, woran stirbt man bei einer Kreuzigung eigentlich?«, fragte sie. Jo bog auf den Hof seines Restaurants ab und parkte den Wagen. Als er den Motor abgestellt hatte, drehte er sich zu Kati.
»Ich hab nicht den leisesten Schimmer. Es spielt auch keine Rolle, weil uns der Fall nichts angeht.«
»Warum? Ich kann dir bei den Ermittlungen helfen.«
»Es ist keine Zeitfrage. Wir haben mit der Sache nichts zu tun und werden uns deswegen raushalten, verstanden?«
»Das sehe ich anders. Immerhin haben wir den Toten entdeckt. Es ist unsere Pflicht, an der Aufklärung mitzuwirken. Stell dir vor, diese Wahnsinnigen schlagen erneut zu.«
»Vorhin hast du gesagt, es ist was Persönliches.«
»Was, wenn nicht? Wir können nicht zulassen, dass noch jemand umkommt. Deswegen sollten wir eigene Nachforschungen anstellen. Ich kenn da …«
»Nein!«, unterbrach er sie mit schneidender Stimme.
Verblüfft sah sie ihn an.
»Die Polizei kümmert sich darum. Das ist kein Spiel, Kati, es ist gefährlich.«
»Ach was. Wir hören uns nur ein wenig um.«
»Was sollen wir bitteschön tun, was die Polizei nicht könnte?«
»Keine Ahnung. Dieser Wenger macht auf mich jedenfalls nicht den hellsten Eindruck. Besser, wir werden selbst aktiv.«
»Du willst es anscheinend nicht verstehen. Deswegen nochmals laut und deutlich: Du lässt von der Sache die Finger!«
»Du kannst mir gar nichts vorschreiben«, gab sie patzig zurück, sprang aus dem Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Wütend stapfte sie in Richtung des Restaurants. Jo stieg ebenfalls aus.
»Das ist eine dienstliche Anweisung!«, rief er ihr hinterher.
»Was ich in meiner Freizeit mache, geht dich nichts an«, fauchte sie zurück.
»Kati, sei vernünftig!«, beschwor er sie.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung und war im nächsten Moment im Haus verschwunden. Bestimmt verbarrikadiert sie sich im Weinkeller und zählt Weinflaschen, dachte er boshaft. Das machte sie immer, wenn sie wütend war. Er überlegte, ob er ihr nachgehen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Besser, wenn sie sich erst einmal beruhigte.
»Was war denn das für eine Schreierei auf dem Hof?«, fragte Pedro, als Jo die Küche betrat. »Konntet ihr euch nicht einigen, ob wir die Hoffmann-Weine auf die Karte nehmen sollen?«
Sein Stellvertreter sah ihn neugierig an.
»Es hatte nichts mit dem Weinkeller zu tun«, antwortete Jo geistesabwesend.
»Ah, was Privates«, schlussfolgerte der junge Spanier und grinste süffisant. Als er Jos Gesichtsausdruck sah, verkrümelte er sich auf seinen Posten.
»Ich kümmer mich dann mal um die Vorbereitungen«, verkündete er.
»Mach das«, antwortete Jo mit grimmigem Blick.
»Unfassbar, was manche Menschen anderen antun«, sagte Wieland. Wie Wenger konnte auch er den Blick nicht von Hoffmann abwenden.
»Glaubst du, die Kleine hat recht?«
»Welche Kleine?« Wenger sah seinen Stellvertreter fragend an.
»Kati Müller.«
»Mehrere Täter? Ich weiß nicht. Es trägt für mich die Handschrift eines psychopathischen Einzeltäters.«
»Mit dem Kreuz hat sie einen Punkt. Das kann keiner allein den Hang hochgeschleppt haben. Möglicherweise haben wir es mit einer Sekte zu tun«, spann Wieland den Gedanken weiter.
»Ja, oder es war die internationale Vereinigung der Satanisten«, spottete Wenger.
»Deine Einzeltätertheorie finde ich auch nicht überzeugend«, antwortete Wieland beleidigt.
»Du solltest dir das Kreuz genauer ansehen. Es ist nicht aus Holz, sondern aus Metall«, erklärte Wenger. »Ich glaube nicht, dass es so schwer ist.«
»Ich gucke es mir gern an, wenn Konrad uns lässt«, brummte Wieland. »Seid ihr bald mal fertig?«, rief er zu Konrad Bohrmann hinauf, der mit zweien seiner Mitarbeiter den Boden um das Kreuz herum absuchte. Der Leiter der Spurensicherung richtete sich auf.
»Ihr wollt immer alles schnell, schnell. Gut Ding will Weile haben. Der Tote rennt euch nicht davon.«
»Der Tote nicht, aber die Zeit«, gab Wieland zurück. »Kannst du dir vorstellen, was wir für einen Zinnober haben, wenn durchsickert, dass wir hier einen zweiten Golgatha haben?«
Bohrmann ließ sich davon nicht beeindrucken und fuhr ungerührt mit seiner Arbeit fort. Eine Viertelstunde später winkte er die Kriminalbeamten zu sich.
»Wir haben alles in einem Umkreis von 20 Quadratmetern abgesucht.
Der oder die Täter haben das Kreuz vom Pfad her kommend herübergezogen. Es gibt ein paar ausgerissene Grasbüschel. Das ist alles. Keine Zigarettenkippen, kein Kaugummi, nicht einmal ein Fetzen Papier. Es gibt auch keinerlei Fingerabdrücke. Entweder haben die Täter Handschuhe getragen oder sie haben das Kreuz gründlich abgewischt.«
»Fußspuren?«
»Fehlanzeige, tut mir leid.«
»Ihr kriecht eine geschlagene Stunde um die Leiche herum und alles, was ihr vorzuweisen habt, sind drei ausgerissene Grasbüschel?«, fragte Wenger vorwurfsvoll.
»Wir mussten sicherstellen, dass wir keine Blutspuren übersehen.«
»Lass mich raten, Blut habt ihr auch keines gefunden«, meinte Wenger sarkastisch.
Bohrmann nickte widerstrebend. Er schien sich in seiner Haut nicht wohlzufühlen.
»Was sollen wir machen? Wo keine Spuren sind, können wir keine herzaubern«, verteidigte der Leiter der Spurensicherung sich und sein Team.
»Alles gut«, sagte Wieland beschwichtigend. »Wir wissen, dass ihr euer Bestes gebt.«
»Macht uns auch keinen Spaß, wenn man ewig sucht und nichts findet. Könnt ihr mir glauben«, brummte Bohrmann. »Wenn ihr mich fragt, habt ihr es mit Profis zu tun.«
»Oder mit jemandem, der obsessiv Spuren verwischt.«
»Wir nehmen uns jetzt den Wagen des Toten vor. Vielleicht finden wir dort was«, erklärte Bohrmann ohne große Hoffnung.
Wenger und Wieland traten auf das Kreuz zu.
Von Nahem sah der Tote noch schrecklicher aus. Wieland ging um das Kreuz herum.
»Ist tatsächlich aus Metall. Sieht fachmännisch zusammengeschweißt aus. Solche Vierkantrohre sind innen hohl. Dennoch würde ich schätzen, dass allein das Kreuz 60 bis 80 Kilo wiegt. Dazu das Gewicht des Toten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer allein diese Last den steilen Pfad hinaufbekommt.«
»Wer sagt dir, dass das Opfer dabei am Kreuz angebunden war?«, wandte Wenger ein. »Er könnte erst hier oben fixiert worden sein.«
»Trotzdem müssten es mehrere Angreifer gewesen sein. Wer lässt sich an ein Kreuz binden, ohne sich zu wehren?«
»Solange wir nicht wissen, woran Hoffmann gestorben ist, sollten wir nicht herumspekulieren.«
»Du hast recht«, stimmte Wieland zu. »Zum Glück kommt da der Mann, der uns alles sagen kann.« Er deutete auf Doktor Walter, der sich mühselig den Pfad hochkämpfte. Der Rechtsmediziner schnaufte vernehmlich, als er bei ihnen eintraf.
»In letzter Zeit nicht viel zum Sport gekommen, was?«, stichelte Wieland.
»Nein, zu viel Arbeit«, gab Doktor Walter zurück. »Sie sehen übrigens auch nicht so aus, als wären Sie jedes Mal beim Dienstsport dabei«, sagte er und deutete auf Wielands Hemd, das um die Hüften deutlich spannte.
»Bei mir liegt’s an zu viel Schokolade«, bekannte der Oberkommissar und grinste. Der Rechtsmediziner öffnete seine Tasche und nahm Einweghandschuhe heraus, die er sich überstreifte.
»So was schon mal gesehen?«, fragte Wenger und deutete auf den Toten.
Doktor Walter schüttelte den Kopf.
»Als ich gehört habe, es geht um eine Kreuzigung, dachte ich, jemand hat etwas falsch verstanden. Die Menschheit wird immer verrückter«, seufzte er. Der Rechtsmediziner begutachtete den Leichnam.
»Wir haben uns gefragt, woran jemand stirbt, wenn man ihn an ein Kreuz bindet. Meinen Sie, er ist verdurstet?«
»Dehydrierung spielt sicherlich eine Rolle. Daneben dürften andere Faktoren relevant sein. Der Kreislauf zum Beispiel. Ehrlicherweise hab ich mich nie mit dem Thema Kreuzigung beschäftigt. Jedenfalls nicht aus rechtsmedizinischer Sicht. Ich werde recherchieren und Ihnen das Ergebnis mitteilen. So oder so, die Todesursache dürfte eindeutig sein.«
Die Beamten sahen ihn überrascht an.
»Sehen Sie sich Gesicht und Oberkörper an. Die Haut ist fast weiß. Das deutet auf einen hohen Blutverlust hin.«
»Da sind aber keine Wunden«, wandte Wieland ein.
»Ich glaube, doch.« Der Rechtsmediziner trat auf den Toten zu. Er zögerte. Dann schob er mit beiden Händen den zusammengesackten Oberkörper hoch. Unterhalb des Herzens gab es eine deutlich sichtbare Einstichstelle.
Wieland pfiff durch die Zähne.
»Hier ist nirgends Blut«, stellte er fest. »Könnte die Wunde post mortem2 zugefügt worden sein?«
»Nein. Es gibt eindeutige Anzeichen für einen hypovolämischen Schock aufgrund eines massiven Blutverlusts. Die Blässe und die fehlenden Totenflecken sind dafür ein untrügliches Zeichen.«
»Der Körper ist absolut sauber.«
»Stimmt. Der oder die Täter haben die Blutspuren vom Leichnam abgewaschen. Ich würde daher davon ausgehen, dass der Mann woanders ermordet und hier nur zur Schau ausgestellt wurde.«
»Sind Sie sicher?«, hakte Wenger nach.
»Verbindlich kann ich es Ihnen nach der Autopsie sagen. Haben Sie die Mordwaffe gefunden?«
»Nein. Auch keine sonstigen Spuren.«
»Na, dann viel Spaß bei den Ermittlungen«, erwiderte der Rechtsmediziner trocken.
»Denken Sie, dass er am Kreuz hing, als es hochgezogen wurde?«, wollte Wieland wissen.
Doktor Walter sah sich den Toten genau an.
»Die Stricke, mit denen er an der Querstange festgebunden wurde, haben tief in die Haut eingeschnitten. Insoweit ist es durchaus möglich, dass er am Kreuz fixiert war, als er hierher verfrachtet wurde. Die Totenstarre setzt nach ein bis zwei Stunden ein und ist frühestens nach zwölf Stunden voll ausgeprägt. Man hätte ihn also erstechen, ihn abnehmen, abwaschen und wieder am Kreuz befestigen können, ohne dass dies zu Problemen mit der Totenstarre geführt hätte.«
»Woher wollen Sie wissen, dass er nicht erst erstochen wurde, bevor er am Kreuz befestigt wurde?«
»Er wurde von vorn attackiert, muss die Angreifer also gesehen haben. Trotzdem gibt es keine Abwehrverletzungen. Das spricht dafür, dass er festgebunden war.«
»Wie schwer schätzen Sie den Toten?«, fragte Wieland.
»Er ist nicht groß. Dem Anblick nach zu urteilen, hat er einen Großteil seines Bluts verloren. Es würde mich wundern, wenn er in dem Zustand mehr als 65 Kilo wiegt«, erwiderte der Rechtsmediziner.
»Zusammen mit dem geschätzten Gewicht des Kreuzes kämen wir auf rund 150 Kilo – denken Sie, ein Einzelner könnte eine solche Last den Pfad heraufziehen?«
»Ich fand es schon schwierig, meine Tasche hier hochzuschleppen«, bekannte Doktor Walter. »Insoweit hätte ich ernste Zweifel daran. Allerdings bin ich kein Fachmann für sportliche Höchstleistungen. Machen Sie besser einen Ortstermin mit einem dieser Kraftmenschen, die im Fernsehen Baumstämme werfen oder Lastwagen ziehen«, schlug er vor. »Dann wissen Sie es genau.«
Wieland grinste. Er sah seine Theorie, dass sie es mit mehreren Tätern zu tun hatten, durch die Ausführungen des Rechtsmediziners bestätigt.
»Wir sollten keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen«, sagte Wenger, wobei er seinen Missmut nicht verbergen konnte. »Wenn er woanders ermordet wurde, müssen wir schnellstmöglich den Tatort finden. Bis wann kann ich mit dem Ergebnis der Autopsie rechnen?«
Doktor Walter sah auf seine Uhr.
»Wenn ich den Toten in zwei Stunden auf dem Seziertisch habe, bekommen Sie morgen früh meinen Bericht. Ich werde dem Fall höchste Priorität geben.«
»Tun Sie das«, meinte der Hauptkommissar und sah sich nach Bohrmann um. Er wollte den Leiter der Spurensicherung dabeihaben, wenn sie zu Hoffmanns Weingut fuhren.
2 Nach dem Tode
Nach dem Mittagsservice bat Jo Ute in sein Büro. Die 60-Jährige war die gute Seele des »Waidhauses«. Obwohl sie keine Kochausbildung durchlaufen und sich alles selbst erarbeitet hatte, war sie eine hervorragende Köchin.
»Ich muss dich was fragen, Ute.«
»Ja?«
»Warum hast du mir damals davon abgeraten, mit Ernst Hoffmann Geschäfte zu machen?«
»Hat Kati dich überredet, bei ihm einzukaufen?«
Sie grinste vielsagend, wurde aber sofort ernst, als sie sah, dass Jo nicht mitlächelte. Als er sein Restaurant »Waidhaus« vor knapp vier Jahren eröffnet hatte, hatte Ute ihm im Vorfeld mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Sie war in Oberwesel aufgewachsen, engagierte sich in verschiedenen Vereinen und saß im Pfarrgemeinderat. Daher kannte sie fast jeden im Ort und hatte Jo bei der Auswahl seiner Lieferanten unterstützt.
»Soweit ich mich erinnere, hast du mir gesagt, dass er keinen guten Ruf hat und ich deswegen nicht bei ihm einkaufen soll.«
»Stimmt. Damals haben dich die Hintergründe für meinen Ratschlag nicht interessiert. Wieso jetzt?«
Jo machte eine Pause.
»Wir haben Hoffmann tot in seinem Weinberg gefunden«, teilte er ihr mit.
Sie musterte ihn durchdringend.
»Aus deiner Frage schließe ich, dass es sich nicht um einen Unfall handelt.«
»Korrekt.«
»Wie?«, fragte sie knapp.
Er zögerte.
»Jemand hat ihn gekreuzigt und das Kreuz mit der Leiche in seinem Weinberg aufgestellt.«
»Wie furchtbar!«
Sie sah ihn fassungslos an. Es dauerte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, was das bedeutete.
»Wie hat Kati es verkraftet?«
»Zuerst war sie geschockt. Hat kaum etwas gesagt. Auf der Rückfahrt hat sie sich einigermaßen gefangen.«
»Und du?«
»Ist nicht mein erster Toter, wie du weißt.«
»Umso schlimmer.«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme zurecht.«
»Wolltest du nach dem, was in Japan passiert ist, nicht die Finger von Mordermittlungen lassen?«
Jo hielt inne.
»Mach ich auch«, behauptete er. »Es geht mir nur darum, der Polizei zu helfen. Wenn er so einen schlechten Ruf hatte, sollten sie darüber Bescheid wissen. Schließlich könnte es etwas mit seiner Ermordung zu tun haben.«
»Soso, du willst Hauptkommissar Wenger bei seinen Ermittlungen unterstützen?«, spottete sie.
»Warum nicht?«
»Weil er sich lieber ein Stück von seinem kleinen Finger abhackt, als sich von dir helfen zu lassen.«
»Ist nicht mein Problem. Es geht schließlich um die Lösung eines Mordfalls! Was ist nun mit Hoffmann?«
Sie seufzte.
»Ich hatte nie persönlich mit ihm zu tun. Mein Vater kannte ihn dagegen recht gut. Als er nach dem Krieg unseren Kolonialwarenladen wieder aufgebaut hat, waren die meisten Waren nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Ernst Hoffmann hat zu der Zeit mit einigen Kumpanen einen guten Teil des Schwarzmarkts in der Gegend kontrolliert. Mein Vater hat wohl oder übel Geschäfte mit ihm gemacht. Dabei hatte er öfters das Gefühl, dass Hoffmann ihn übervorteilte. Deswegen wollte er eigentlich nichts mit ihm zu tun haben. Zudem gab es Gerüchte, dass die Jungs neben ihren Schwarzmarktgeschäften noch in andere illegale Machenschaften verwickelt waren.«
»In welche?«
»Keine Ahnung. Es waren, wie gesagt, nur Gerüchte. Nach der Einführung der D-Mark verlor der Schwarzmarkt ohnehin seine Bedeutung.«
»Weißt du, wer die anderen waren?«
»Nein, Vater bekam alles von Hoffmann. Die Jungs hatten ihre Kunden untereinander aufgeteilt. Zwei oder drei Jahre später, es muss Anfang der 50er-Jahre gewesen sein, hat Ernst Hoffmann sich ein Weingut gekauft. Das hat alle in der Gegend überrascht, denn seine Familie hatte im Krieg alles verloren und am Schwarzmarkt konnte er kaum eine so große Summe verdient haben. Jedenfalls wurde viel darüber getratscht. Mal hieß es, er und seine Kumpane hätten einige Goldbarren gefunden, die eine SS-Einheit auf der Flucht vor den Amerikanern verloren hat, ein anderes Mal kursierte das Gerücht, sie hätten in den Wirren der letzten Kriegstage eine Bank in Bad Kreuznach ausgeraubt.«
»Ist die Polizei dem nicht nachgegangen?«
Ute lachte.
»Die hatte zu der Zeit andere Sorgen. Es stand alles unter Oberaufsicht der Alliierten, jedenfalls direkt nach dem Krieg. Den Amis ging es mehr darum, die Polizei und andere Behörden zu entnazifizieren, als Bankräuber zu jagen. Außerdem weiß keiner, ob diese Gerüchte überhaupt stimmen.«
»Irgendwo muss das Geld hergekommen sein.«
»Vermutlich hat er einen Kredit aufgenommen oder hat was von einer Großtante geerbt. Was interessieren dich diese ollen Kamellen überhaupt? Denkst du, sie sind der Grund für seine Ermordung?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Möglicherweise hat es etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun«, sagte Ute nachdenklich.
Jo sah sie fragend an.
»Das ist der zweite Grund für seinen schlechten Ruf. Seine Frau ist von heute auf morgen von der Bildfläche verschwunden – ohne sich von irgendjemandem zu verabschieden. Das kam vielen merkwürdig vor. Hoffmann hat überall rumerzählt, sie sei durchgebrannt und hätte ihn mit den Kindern und der Arbeit auf dem Hof sitzen lassen.«
»Das haben die Leute ihm geglaubt?«
»Kein Stück. Es hieß, er habe sie im Suff erschlagen und sie anschließend in einem seiner Weinberge verscharrt.«
»Wie lang ist das her?«
»Gut 25 Jahre.«
»Das muss die Polizei doch untersucht haben.«
»Klar. Sie haben aber nichts gefunden. Viele in der Gegend waren der Meinung, sie hätten nicht richtig gesucht. Hoffmann war ein bekannter Winzer – quasi das Aushängeschild für die Region. Zudem hat er sich im Weinbauverband engagiert und war politisch aktiv. Ein Mann mit besten Beziehungen sozusagen. Er galt als aufbrausend und jähzornig. Niemand, mit dem man sich freiwillig anlegt. Jedenfalls nicht, wenn man keine Beweise hat.«
»Zur der Zeit muss er um die 50 gewesen sein. War es seine zweite Frau?«
»Nein. Er war ein ewiger Junggeselle. Deswegen hatte die Hochzeit alle überrascht. Die Frau war 20 Jahre jünger als er und stammte aus Polen. Sie tauchte von einem auf den anderen Tag im Weingut auf und hat als Magd bei ihm gearbeitet. Oder vielmehr als Erntehelferin und Haushaltshilfe, wie man heute sagen würde. Anscheinend sind sie sich rasch nähergekommen. Kurz nach der Heirat kam der erste Sohn, zwei Jahre später der zweite.«
»Hoffmann hat Kinder?«, fragte Jo überrascht.
»Warum nicht?«
»So wie du ihn beschrieben hast, klingt er nicht nach einem Familienmenschen.«
»War er auch nicht. Er hat die Frau und seine Söhne mit harter Hand angefasst.«
»Du meinst, er hat sie geschlagen?«
»Ob es so weit ging, kann ich dir nicht sagen. Es war jedenfalls nicht gut Kirschen essen mit ihm.«
»Wo sind die Söhne jetzt?«
»Soweit ich gehört habe, sollen sie sich vor einigen Jahren mit einem Weingut selbstständig gemacht haben. Sonst kann ich dir über sie nicht viel erzählen.«
»Macht nichts. Ich finde es sowieso unglaublich, wie viel du immer weißt.«
Ute lächelte verschmitzt.
»Eine Freundin von mir wohnt im Gründelbachtal und kennt die Verhältnisse ein wenig. Die weiß, dass mein Vater früher Ärger mit Hoffmann hatte, und hält mich deswegen auf dem Laufenden.«
»Sonst noch was, das ich wissen sollte?«
»Ich glaube, nicht.«
Nachdem Ute gegangen war, saß Jo an seinem Schreibtisch und dachte nach. Das schrecklich entstellte Gesicht von Ernst Hoffmann ging ihm nicht aus dem Kopf. Der Täter durfte auf keinen Fall davonkommen! Hoffmann mochte kein angenehmer Zeitgenosse gewesen sein, aber einen derart grausamen Tod hatte niemand verdient. Eine Kreuzigung – wie kam jemand auf so einen Gedanken? Es musste etwas mit religiösen Wahnvorstellungen zu tun haben. Bei einem Mordfall vor einigen Jahren, bei dem mehrere Jäger heimtückisch von einem Heckenschützen getötet worden waren, hatte Jo sich intensiv mit dem Thema »Serientäter« beschäftigt. Er hatte alles an Fachliteratur gelesen, was er finden konnte. Die Täter und ihre Motive waren sehr unterschiedlich. Eine Gemeinsamkeit gab es allerdings: Psychopathen mordeten fast immer allein. Das passte nicht zu der Tatsache, dass ein Einzelner kaum in der Lage gewesen sein dürfte, das Kreuz mit dem Toten den steilen Hang hinaufzuziehen. Lag Kati richtig mit ihrer Vermutung, dass sie es mit mehreren Tätern zu tun hatten?
Die Information, dass Hoffmann zwei Söhne hatte, schwirrte in seinem Hinterkopf herum. Warum hatten sie sich einen eigenen Betrieb aufgebaut, wenn sie stattdessen das väterliche Weingut hätten übernehmen können? Es war bestens eingeführt und erfreute sich eines erstklassigen Rufs. Hatten sie sich mit ihrem Vater zerstritten? Falls ja, worüber? Hatten sie herausgefunden, dass ihr Vater vor einem Vierteljahrhundert ihre Mutter ermordet hatte, und wollten sich rächen? Aber warum hätten sie dafür so lange warten sollen? Und warum ihn dafür kreuzigen? Familiäre Streitigkeiten eskalierten häufig aus dem Affekt. Dieses Verbrechen setzte eine genaue Planung und den unbedingten Willen voraus, Hoffmanns Ermordung zu einem Fanal zu machen, zu einer Art Botschaft. Nur, für wen? Je mehr Jo darüber nachdachte, umso verwirrender erschien ihm der Fall. Er öffnete den Kasten mit den Visitenkarten, der auf seinem Schreibtisch stand, und griff zum Hörer.
»Tatjana Meyer«, meldete sich eine weibliche Stimme.
»Jo Weidinger. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
Sein Name schien seiner Gesprächspartnerin nichts zu sagen. Jedenfalls blieb es still am anderen Ende der Leitung.
»Wir sind uns vor einiger Zeit in Köln begegnet, bei Ihrem Vortrag über Kriminalpsychologie an der Universität«, half er nach.
»Ah, jetzt«, erwiderte Tatjana Meyer und lachte. »Sie müssen entschuldigen. Ich treffe jeden Tag so viele Menschen, dass ich mich nicht an jeden Namen erinnere. Sie sind der junge Mann, der kein Blut sehen kann, stimmt’s?«
Jo schluckte. Wenn das alles war, was ihr über ihn im Gedächtnis geblieben war, hatte er einen großartigen Eindruck hinterlassen, dachte er und schnitt eine Grimasse. Die Kriminalpsychologin schien seine Verlegenheit zu spüren.
»Sie müssen sich dafür nicht schämen«, meinte sie. »Ich finde es charmant. Meine Studenten, gerade die männlichen, überbieten sich darin, mir zu zeigen, wie cool sie selbst bei den grausamsten Bildern bleiben. Dabei ist es nicht gut, wenn man seine Gefühle unterdrückt. Sonst fressen sie sich unnötig tief in die eigene Psyche. Empathie und Einfühlungsvermögen sind in unserem Beruf am wichtigsten. Darauf sollte man stolz sein.«
Jo fand, dass dieses Gespräch in die völlig falsche Richtung lief. Er hatte keine Lust, sich von der Kriminalpsychologin analysieren zu lassen.
»Arbeiten Sie immer noch für diese Regionalzeitung, wie hieß sie noch mal?«
»›Rheinisches Tagblatt‹«, antwortete er automatisch.
»Richtig. Herr Sandner und Sie haben damals ein schönes Interview mit mir veröffentlicht«, sagte sie gönnerhaft. Jo hatte seinem Freund damals so lange in den Ohren gelegen, bis der Journalist ihn zu dem Interview mitgenommen und als Volontär ausgegeben hatte.
»Wir haben darauf sehr positive Resonanz von unseren Lesern bekommen«, erwiderte Jo. »Deswegen wollten wir erneut auf Ihre Expertise zurückgreifen.«
Die Schmeichelei schien der Schweizer Kriminalpsychologin zu gefallen.
»Schießen Sie los, womit haben Sie es diesmal zu tun?«
»Mit einer Kreuzigung.«
»Von dem Fall habe ich noch gar nichts gehört!«
»Der Tote wurde erst heute Morgen entdeckt. Die Polizei hat eine Nachrichtensperre verhängt«, erklärte Jo. »Ist Ihnen mal was Ähnliches untergekommen?«
»Eine Kreuzigung? Nein.«
»Irgendeine spontane Idee dazu?«
»Sie meinen, was den Täter betrifft?«
Für einen Moment blieb die Leitung stumm.
»Sie wissen, dass ich mich zu einzelnen Fällen nicht äußere«, sagte sie. »Zumindest nicht, solange nicht alle Fakten bekannt sind.«
»Uns geht es zum jetzigen Zeitpunkt nicht darum, Sie zu zitieren. Wir wollen ein besseres Verständnis für die möglichen Hintergründe entwickeln. Eventuell können wir zu einem späteren Zeitpunkt ein Interview mit Ihnen veröffentlichen, wenn es mehr Informationen gibt oder der Täter überführt ist.«
»So können wir es machen. Was wissen Sie über den Fall?«
Jo schilderte ihr, was er bisher herausgefunden hatte, wobei er es vermied, seine und Katis Rolle zu erwähnen. Tatjana Meyer hörte ihm ruhig zu und stellte nur wenige Fragen. Als Jo fertig war, schwieg sie für eine Weile. Jo begann sich zu fragen, ob sie überhaupt noch in der Leitung war. Da nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.
»Es ist aus mehreren Gründen ein interessanter Fall. Fangen wir beim Opfer an. Empirisch gesehen, sind alte Menschen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer eines Verbrechens zu werden. Die Täter erwarten bei ihnen weniger Gegenwehr beziehungsweise glauben, sie leichter manipulieren zu können. Dies gilt jedoch in erster Linie für Raubüberfälle, Diebstähle oder Trickbetrügereien. Sexuell motivierte Gewalt richtet sich in der weit überwiegenden Zahl gegen jüngere und fast immer gegen weibliche Opfer. Ein Gewaltverbrechen dieser Art, bei dem gezielt ein älterer Mann ausgesucht wurde, ist ungewöhnlich.«
»Wo sehen Sie bei dem Mord eine sexuelle Komponente?«, fragte Jo überrascht.
»Ist das nicht offensichtlich? Wer jemand anderem eine derartige Tortur wie eine Kreuzigung zumutet, hat eindeutig sadistische Tendenzen. Sadismus ist fast immer sexuell aufgeladen. In diesem Fall dürften der oder die Täter zudem unterdrückte homosexuelle Neigungen haben. Oder eine starke Fixierung auf eine dominante Vaterfigur.«
Bei der letzten Aussage wurde Jo hellhörig.
»Sie denken, die Tat hat einen familiären Hintergrund?«, hakte er nach.
»Geduld, junger Mann, auf die Söhne komme ich noch zu sprechen«, antwortete die Kriminalpsychologin. »Bleiben wir bei der Psychopathologie des oder der Täter. Während die Tatausführung für ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft und Sadismus spricht, lehrt uns der Auffindungs- beziehungsweise Tatort etwas anderes: Zumindest einer der Täter muss über eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur verfügen. Es muss die Täter vor erhebliche Anstrengungen und logistische Probleme gestellt haben, das Kreuz so weit oben im Weinberg aufzustellen. Sie wollten damit ein Zeichen setzen. Jeder soll sehen, was sie getan haben. Es ist wie ein Kunstwerk, ein Ausdruck und gleichzeitig eine Überhöhung der eigenen Person.«
»Wieso sind Sie so sicher, dass es sich um mehrere Täter handelt?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Sie sprechen dauernd in der Mehrzahl. Ist nicht ein Einzeltäter viel wahrscheinlicher?«
»Sie haben recht, dass Psychopathen im Regelfall Einzelgänger sind. Zumindest, was ihre Mordhandlungen betrifft. Dennoch kommt es vor, dass sich mörderische Pärchen bilden. Solche Täter haben meist einen ähnlichen Hintergrund: physischer oder psychischer Missbrauch in der Kindheit, emotionale Verwahrlosung, Einsamkeit, Ablehnung, Misserfolg in Schule und Beruf … Wenn sich zwei solche Außenseiter finden, kann es zu einer engen Verbindung kommen. Meist ist einer der Anführer, der alle wichtigen Entscheidungen trifft, die Opfer aussucht und bestimmt, wie mit ihnen verfahren wird. Der zweite Partner ordnet seine eigenen Wünsche und Vorstellungen dem unter, wirkt aber gleichberechtigt an der Tatausführung mit.«
»Sie schließen einen Einzeltäter also aus?«
»Keineswegs. Es ist umgekehrt. In diesem Fall würde ich nicht ausschließen wollen, dass wir es mit einem mörderischen Duo zu tun haben.«
»Wie müsste ich mir den oder die Täter vorstellen?«
»Sicherlich männlich. Solch grausame Morde gehen fast ausschließlich auf das Konto von männlichen Tätern. Falls es ein Einzeltäter ist, müsste er über außergewöhnliche physische Kräfte verfügen. Er scheint selbstbewusst und furchtlos zu sein. Das schließt einen Jugendlichen oder jungen Mann fast sicher aus. Ich würde schätzen, dass er im Alter zwischen 25 und 40 Jahren ist.«
»Ist es überhaupt möglich, dass jemand allein ein Kreuz und den Leichnam eines Toten einen steilen Hang hinaufschleppt?«
»Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ein derartiger Täter ist schwer gestört. Der Volksmund würde vermutlich von einem Wahnsinnigen sprechen. Wenn Menschen in einem wahnhaften Tunnel sind, können sie unglaubliche körperliche Leistungen erbringen. Ich kenne einen Fall, bei dem ein Insasse einer psychiatrischen Einrichtung eine massive Holztür mit der blanken Faust durchschlagen hat. Er hat sie sich dabei mehrfach gebrochen, was ihn nicht davon abgehalten hat, noch zwei Wärter anzugreifen.«
»Wie bewerten Sie den religiösen Zusammenhang?«
»Ich weiß nicht, ob ich darauf viel geben würde. Religiöser Wahn ist in der heutigen Zeit selten geworden. Traditionelle kirchliche Bindungen lösen sich auf und der Glaube spielt allgemein eine geringere Rolle. So ein Täter müsste in einer sehr bigotten Welt aufgewachsen sein. Solche Milieus finden Sie in unseren Breitengraden kaum noch. Ich würde vermuten, dass die Nutzung des Kreuzes rein praktische Gründe hatte. Der Täter wollte sein Opfer quälen und es anschließend zur Schau stellen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich hoffe, Ihnen ist klar, Herr Weidinger, dass wir uns durchweg im spekulativen Bereich bewegen. Ohne genaue Kenntnis aller Umstände ist es schwierig, eine tiefer gehende Einschätzung zu geben. Soweit das bei so einem Fall überhaupt möglich ist.«
»Verstanden. Wenn Sie die Ermittler beraten würden, welchem Ermittlungsstrang würden Sie Priorität geben?«
»Wenn die Polizei nicht mehr in der Hand hat als das, was Sie mir beschrieben haben, würde ich nichts ausschließen wollen und alle Ermittlungsansätze verfolgen.«
»Und wenn Sie nur einen Schuss frei hätten? Irgendeine Vermutung haben Sie bestimmt!«
Sie lachte wieder.
»So wie Sie mir Ernst Hoffmann beschrieben haben, ist er für mich nicht das klassische Opfer eines psychopathischen Einzeltäters. Dazu passt sein Profil nicht. Er ist alt, männlich und lebt auf dem Land … Wie sollte er da ins Fadenkreuz eines Psychopathen geraten? Ich tippe auf einen persönlichen Bezug. Der oder die Täter hatten unter ihm zu leiden, sind von ihm gequält oder drangsaliert worden. Das könnten die Söhne sein. Denkbar sind auch andere Personen – zum Beispiel Angestellte oder andere von ihm Abhängige, die seinen Launen ausgeliefert waren und es ihm zurückzahlen wollten.«
Sie hielt inne.
»Wenn ich darauf wetten müsste, würde ich mein Geld auf die Söhne setzen. Sie sind im richtigen Alter, sind zusammen aufgewachsen und haben einen gemeinsamen Erlebnishorizont. Wenn ihr Vater sie geschlagen oder anderweitig missbraucht hat, hätte das ihre Bindung weiter gestärkt. Zu zweit wären sie zweifelsohne in der Lage, so eine Tat zu begehen. Um dem eigenen Vater so etwas anzutun, müssten sie Unfassbares in der Kindheit durchgemacht haben.«
Sie seufzte.
»Das ist das Schlimme an gewalttätigen Familienverhältnissen. Sie erzeugen immer neue Gewalt.«
»Vielen Dank für Ihre Einschätzung«, sagte Jo. »Das ist eine große Hilfe für uns.«
»Sehr gerne. Ich verlasse mich darauf, dass Sie mich nicht zitieren.«
»Ehrenwort!«
»Ich finde es erstaunlich, dass Sie bereits so viel über die Tat wissen. Sagten Sie nicht, es gäbe eine Nachrichtensperre? Wie sind Sie an die Informationen gekommen?«, fragte die Kriminalpsychologin neugierig.
»Wir haben mit dem Zeugen gesprochen, der den Toten gefunden hat.«
»Glückwunsch! Das war bestimmt nicht einfach. Ich nehme an, die Polizei tut alles, um ihn von den Medien abzuschirmen.«
»Ja, aber wir haben unsere Quellen«, gab Jo sich geheimnisvoll.
»Na, dann hoffe ich, dass Sie noch mehr herausbekommen. Halten Sie mich über den Fall auf dem Laufenden. Er interessiert mich persönlich«, bat sie.
»Machen wir«, versprach Jo großzügig.
Kati Müller warf einen prüfenden Blick auf das Weinregal, schaute auf ihre Liste und notierte sich etwas. Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie jemand die Treppe herunterkam. Als sie sich umdrehte, zuckte sie zusammen.
»Ute! Hast du mich erschreckt.«
»Das nächste Mal hänge ich mir eine Kuhglocke um«, erwiderte die 60-Jährige trocken.
»So weit kommt’s noch«, sagte Kati und lachte. »Besser, du probierst es mit Stöckelschuhen statt mit deinen Gummisohlen.«
»Gott bewahre. Bevor ich mir die Füße mit solchen Stilettos ruiniere, mit denen du oft herumläufst, bleibe ich lieber bei der Glocke.«
»Steigert den Absatz, wenn man hochhackige Schuhe trägt«, meinte Kati und grinste. »Ehrlicherweise würde ich sie auch nicht jeden Tag tragen wollen.«
Es entstand eine Pause.
»Wieso verkriechst du dich hier unten?«, wechselte Ute das Thema.
»Wie kommst du darauf? Als Sommelière gehört es zu meinen Aufgaben, den Weinkeller zu prüfen.«
»Hast du das nicht heute Morgen gemacht?«
»Hier ist noch so viel zu tun, um das bunte Sammelsurium an unterschiedlichsten Weinen zu katalogisieren, die Jo zusammengekauft hat. Da muss dringend Ordnung rein. Ich hab in einigen Restaurants gearbeitet, aber so eine Vielfalt hab ich noch nirgends vorgefunden. Versteh mich nicht falsch – die Weine sind alle erstklassig. Manche sind echte Raritäten mit einem eigenen Geschmacksprofil. Aber so kann man keinen Weinkeller zusammenstellen. Eine Weinkarte in einem Spitzenrestaurant braucht eine klare Linie.«
»Es hat nichts damit zu tun, dass du mit Jo gestritten hast?«
»Nein.«
»Komisch. Ich könnte schwören, dass du vor allem hier unten zu finden bist, wenn ihr euch mal wieder gefetzt habt.«
Kati schnitt eine Grimasse.
»Was kann ich dafür, dass er so ein Dickkopf ist? Oft ist er unterhaltsam, witzig und total aufgeschlossen. Man kann sich mit ihm über alles austauschen, er hört zu und nimmt Ratschläge an. Und plötzlich schaltet er auf stur und man kann nicht vernünftig mit ihm reden.«
»Soso. Es liegt also nur an ihm?«
»Klar. Ich bin immer vernünftig«, behauptete Kati.
Ute lachte.
»Ich will, dass er mir zuhört und mich ernst nimmt. Ist das zu viel verlangt?«
»Worum ging es diesmal?«
»Ach, um diesen Mordfall. Ich wollte ihm bei seinen Ermittlungen helfen. Schließlich kenne ich mich in der hiesigen Winzerszene bestens aus. Aber er lehnte rundheraus ab. Er hat mir sogar verboten, mich einzumischen. Als ob ich ein kleines Mädchen wäre! Es reicht völlig, dass mir meine Brüder dauernd gute Ratschläge geben. Das brauche ich nicht noch von Jo. Ich weiß, was ich tue.«
»Ist dir in den Sinn gekommen, dass er dich nicht bevormunden will, sondern darauf achtet, dass dir nichts passiert?«
»Habe ich nicht nötig. Ich kann gut selbst auf mich aufpassen. Er ist mein Chef, nicht mein Leibwächter.«
»Hat er dir erzählt, was in Japan vorgefallen ist?«
»Nicht im Detail. Soweit ich weiß, gab’s dort noch einige Morde, bevor Jo den Fall aufgeklärt hat.«
»Eines der Opfer hat Jo bei seinen Ermittlungen geholfen und ist dadurch ins Fadenkreuz des Killers geraten.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Kati betroffen. »Um wen handelte es sich?«
»Um eine junge Frau.«
»Kannte Jo sie gut?«
»Weiß ich nicht. Der Vorfall hat ihn stark mitgenommen. Ich glaube, er hat daran immer noch zu knabbern.«
»So was muss furchtbar sein!«
»Auf eigene Faust in einem Mordfall zu ermitteln, ist kein Spiel. Besser, du denkst gründlich nach, bevor du dich in ein derartiges Abenteuer stürzt.«
»Mach ich«, versicherte Kati.
»War es eigentlich das erste Mal, dass du einen Toten gesehen hast?«, wollte Ute wissen.
Die junge Frau nickte.
»Wie fühlst du dich?«
»Ich hoffe, ich träume heute Nacht nicht davon.«
Sie grinste schief.
»Falls du mit jemandem darüber sprechen willst, sag Bescheid.«
»Danke schön, Ute. Du musst dir um mich keine Sorgen machen. Ich bin hart im Nehmen. Wenn du mit vier älteren Brüdern aufwächst, darfst du nicht zimperlich sein.«
Kati blickte gedankenverloren in die Ferne.
»Warum, denkst du, macht Jo es?«
»Was?«
»Mordfälle lösen. Ist ja nicht so, dass er mit dem Restaurant nicht genug um die Ohren hätte.«
»Er hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Außerdem fällt es ihm schwer loszulassen, wenn er sich an etwas festgebissen hat. Bei seinen bisherigen Fällen war er davon überzeugt, dass die Polizei auf dem Holzweg ist. Aber Hauptkommissar Wenger wollte nicht auf ihn hören. Er hat keinen anderen Ausweg gesehen, als selbst aktiv zu werden, um Schlimmeres zu verhindern.«
»Da steckt mehr dahinter«, mutmaßte Kati.
»In welcher Hinsicht?«
»Ich glaube, ihn treibt was Persönliches an.«
»Er ist jedes Mal praktisch über eine Leiche gestolpert. Ich wüsste nicht, was persönlicher sein könnte.«
Kati schüttelte den Kopf und hielt inne.
»Meinst du, seine Eltern sind ermordet worden?«, fragte sie unvermittelt.
»Wie kommst du auf den Gedanken?«
»Seit ich hier arbeite, ist noch niemand aus seiner Familie aufgetaucht. Seltsam, oder? Wenn ich ein eigenes Restaurant hätte, würden meine Eltern sicher mal vorbeikommen und mich unterstützen. Und meine Brüder erst – die würden dauernd bei mir im Laden herumhängen. Bei Jo kommt nie einer.«