Der Tote vom Cap Ferret - Maria Dries - E-Book
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Der Tote vom Cap Ferret E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Bonnes vacances, Madame le Commissaire! 

Unweit von Bordeaux erstreckt sich die idyllische Halbinsel Cap Ferret in den Atlantik hinein. Hier gönnt sich der Unternehmer Laurent Marchand einen frühsommerlichen Urlaub. Bis er morgens beim Holzsammeln brutal ermordet wird. Die Ermittlungen führen Hauptkommissarin und Polizeipsychologin Pauline Castelot zu verschiedensten Verdächtigen. So streift ein Einsiedler durch die Wälder der Halbinsel, und der Ranger des Naturschutzparks wurde am Tatort gesichtet. Als die achtjährige Clémentine aus dem nahen gelegenen Ferienlager verschwindet, eskaliert die Situation ... 

Ein neuer Fall für die charmante Kommissarin und ihr Team an der idyllischen Küste Südfrankreichs.

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Seitenzahl: 265

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Im Naturpark Les Landes geschieht ein schreckliches Unglück: An einem idyllischen Sommertag schwenkt plötzlich das Wetter um, der aufziehende Sturm entwurzelt einen morschen Baum, der eine Mutter und ihren Sohn unter sich begräbt. Ihr Mann und die kleine Tochter bleiben untröstlich zurück.

Jahre später verbringt der Unternehmer Laurent Marchand den Frühsommer in einem Chalet am Cap Ferret. Gemeinsam mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Freundinnen wollen sie einmal so richtig ausspannen. Doch daraus wird nichts: Marchand wird kaltblütig ermordet. Madame le Commissaire Pauline Castelot und ihr Team nehmen sich des Falls an. Wie viel wussten die Dauercamper vom Zeltplatz um die Ecke über die Urlaubsgruppe? Was verschweigt der Ranger des Naturschutzgebiets den Ermittelnden? Und was hat die Tragödie von damals mit dem Fall zu tun?

Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren. Seit sie mit siebzehn Jahren das erste Mal an der Côte d’Azur war, damals noch mit einem alten Käfer Cabrio, kehrt sie immer wieder nach Frankreich zurück. Jedes Jahr verbringt sie dort längere Zeit, um für ihre Kriminalromane zu recherchieren, die französische Küche auszukosten und das unvergleichliche Lebensgefühl zu genießen. Sie lebt mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz.

Im Aufbau Taschenbuch erscheint neben ihren Bordeaux-Krimis rund um das Cold-Case-Team von Madame le Commissaire Pauline Castelot auch ihre in Barfleur angesiedelte Reihe, in der Kommissar Philippe Lagarde ermittelt.

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Maria Dries

Der Tote vom Cap Ferret

Bordeaux Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Zitat

Ödland

Prolog

Jahre später: 14. Mai

15. Mai

16. Mai

17. Mai

18. Mai

19. Mai

20. Mai

Drei Tage später

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Für Holger

Ödland

Der Naturpark Les Landes südlich von Bordeaux ist mit etwa einer Million Hektar der größte Wald Europas. Die Region war ursprünglich von unwegsamen Sümpfen geprägt, bis im 18. und 19. Jahrhundert der Boden entwässert, die Forste angelegt und die Wanderdünen mit Strandkiefern, Ginster, Kork und Steineichen befestigt wurden.

Der Boden in diesem Landstrich war wie ein Schwamm, der aufgrund eisenhaltigen Gesteins in der Tiefe nicht trocknen konnte. Das feuchte Land diente als Schafsweide, auf der sich die Schäfer auf Stelzen fortbewegten.

An erhöhten Stellen, die an Wasserläufen lagen, entstanden Siedlungen, die den Pilgern auf dem Weg nach Santiago de Compostela als Stationen dienten.

Moustey, einst Sitz eines Pilgerhospitals, beherbergt zwei romanische Dorfkirchen, die auf anschauliche Weise die mittelalterliche Religiosität darstellen. Ausdruck des damaligen oftmals grausamen Volksglaubens ist eine in der Kirchenfassade inzwischen zugemauerte schmale Tür. Der Eingang war für eine Kaste bestimmt, die ausschließlich niedrige Berufe ausüben und nur zu ihresgleichen Kontakt haben durfte. Die Cagots wurden bis in das 19. Jahrhundert hinein in der Pyrenäenregion diskriminiert.

Heutzutage ist das riesige Waldgebiet ein Eldorado für Wanderer, Biker und Kajakfahrer.

Doch jedes Paradies hat eine dunkle Seite.

Prolog

Vor dem bogenförmigen, von Stockrosen flankierten Eichenportal der Kirche Saint-Martin in Moustey hatte Madeleine die Arme um ihre beiden Kinder, die neunjährige Marie-Laure und den sechs Jahre alten Michel, gelegt. Sie blinzelten in die Maisonne, die an einem strahlend blauen hohen Himmel stand, über den Wolkenschleier ostwärts wanderten. Es war später Vormittag, und die Temperaturen hatten bereits fünfundzwanzig Grad überschritten. Victor, der Familienvater, wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Mit beiden Händen hielt er es waagrecht in Augenhöhe.

»Guckt doch mal freundlich!«

Madeleine schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, Marie-Laure grinste, Michel zeigte seine Zahnlücke und bildete aus Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand ein Victoryzeichen.

Victor knipste das Foto und lächelte zufrieden. »Perfekt!«

Dann schulterte er seinen Rucksack und deutete auf einen von Wiesenblumen und Weißdornsträuchern gesäumten gewundenen Pfad, der durch einen grünen Baldachin im Forst verschwand.

»Da beginnt der Wanderweg. Er ist etwa zehn Kilometer lang und führt uns zum Ausgangspunkt zurück. Auf halber Strecke auf einer Lichtung gibt es einen Picknickplatz, dort legen wir eine Rast ein.«

»Gibt es dann den Marmorkuchen, den Maman und ich gebacken haben?«, wollte Michel wissen.

»Selbstverständlich.«

»Bekomme ich auch eine Orangina?«

»Aber ja.«

Der Kleine freute sich. Seine blauen Augen leuchteten. »Auf geht’s!«

Er setzte sich seine Baseballkappe verkehrt herum auf den blonden Schopf und rannte los, gefolgt von seiner Schwester, deren Zöpfe flogen.

Im Wald duftete es nach Harz und Kiefernnadeln, der Ruf eines Kuckucks war in regelmäßigen Abständen zu vernehmen, am Wegrand wuchsen winzige Erdbeeren, die noch nicht ganz reif waren. Plötzlich tauchten zwei Rehe zwischen den knorrigen Stämmen auf, hielten erschrocken inne, drehten sich blitzschnell um und stürmten sogleich mit großen Sprüngen davon.

»Wann kommt endlich der Rastplatz?«, wollte Michel wissen. »Ich bin am Verhungern.«

»Wir müssten bald da sein«, antwortete seine Mutter nach einem Blick auf die Wanderkarte. »Gleich passieren wir das Forsthaus, dann sind es nur noch ein paar Hundert Meter. Es gibt sogar einen Spielplatz.«

»Super! Ich will klettern.«

Marie-Laure entdeckte zwischen vertrockneten Buchenblättern einen Totengräberkäfer und setzte ihn behutsam auf ihre Handfläche. »Du bist aber hübsch. Dich nehme ich mit nach Hause«, flüsterte sie.

Als die Familie ihre Wanderung fortsetzte, kam Wind auf, der mittlerweile verschleierte Sonnenball verschwand hinter den sich auftürmenden Wolken. Ein plötzlicher Temperatursturz setzte ein. Marie-Laure bekam eine Gänsehaut und schlüpfte in einen Pullover, den sie sich um die Taille gebunden hatte. Ihr Vater betrachtete besorgt den Himmel, der sich rasch verdunkelte. In Windeseile schob sich eine schwarze Wand auf sie zu. Erste Sturmböen rissen an den Ästen, ließen Baumwipfel erzittern und Zweige knacken. Nebelfetzen tanzten zwischen den Baumstämmen. Erst begann es zu tröpfeln, dann setzte innerhalb von Sekunden Starkregen ein, der sich wie eine biblische Flut über das Waldgebiet ergoss. Rinnsale wurden zu Bächen. Das Wasser wirbelte gurgelnd über Kieselsteine und zerrte an den Heidelbeersträuchern.

Bevor die Familie in die Regenjacken schlüpfen konnte, war ihre Kleidung durchnässt, die Haare tropften, eiskaltes Wasser strömte über ihre Gesichter. Michel starrte fasziniert auf den Waldboden, auf den golfballgroße Hagelkörner prasselten und hüpften. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Victor, der einige Meter vorausgegangen war, drehte sich um und übernahm das Kommando. »Los, kommt! Beeilt euch! Wir laufen zurück zum Forsthaus. Dort können wir uns unterstellen, bis der Spuk vorbei ist.«

Über den violett-schwarzen Himmel zuckten Blitze. Seine Stimme wurde von einem Donnerschlag verschluckt. Ein schauerliches Heulen jagte durch den Forst, begleitet von einem intensiven Geruch nach mineralischer Erde und Moder. Der Sturm zerrte an ihren Kleidern, sie konnten sich kaum noch aufrecht halten und stemmten sich gegen den Wind. Madeleine nahm ihre verängstigen Kinder an der Hand, um zu ihrem Mann aufzuschließen, als ein knirschendes Beben das Erdreich erschütterte. Paralysiert blieben die drei stehen, während gleichzeitig eine Böe an einer morschen, von Käfern zerfressenen Kiefer rüttelte, die aufächzte, um dann sekundenschnell wie gefällt umzustürzen. Dabei riss sie das gewaltige Wurzelwerk aus der Erde. Das archaische Ächzen ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.

Entsetzt musste Victor mit ansehen, wie der Baum einem Fallbeil gleich auf seine Frau und die Kinder fiel und sie erbarmungslos umriss. Madeleine stieß einen schrillen, lang anhaltenden Schrei aus, Marie-Laure brüllte nach ihrem Vater. Von Michel war kein Laut zu hören. Victor stürzte auf den Stamm der Kiefer zu und versuchte ihn hochzuheben. Vergeblich! Er war viel zu schwer und rührte sich keinen Millimeter. Das Bein seiner Frau lag seltsam verdreht, sie schrie vor Schmerzen, die Augen waren panisch aufgerissen. Marie-Laures Gesicht war blutverschmiert, sie starrte ihn an und stöhnte jämmerlich. Kein Wort drang aus ihrem Mund. Michel rührte sich nicht, hatte die Augen geschlossen und war bleich wie ein Leichentuch. Die Angst, dass sein Sohn nicht mehr am Leben sein könnte, raubte Victor schier den Verstand. Dann riss er sich zusammen. Er musste sofort Hilfe holen, allein schaffte er das nicht. Suchend sah er sich um.

Ein Mann in Jeans und Unterhemd, alarmiert durch die gellenden Hilfeschreie, stürzte aus dem Forsthaus. Als er das Szenario wahrnahm, setzte er mit seinem Funkgerät einen Notruf ab.

»Packen Sie oben an, ich ein Stück weiter unten«, wies er Victor an. »Zusammen schaffen wir es! Auf drei, und los!«

Mit vereinten Kräften gelang es den Männern schließlich, den Baum einige Zentimeter hochzuheben und weg von den Opfern zu zerren. Victor und der Förster leisteten erste Hilfe und versuchten die Verletzten zu stabilisieren. Dabei sprachen sie tröstende Worte. In Marie-Laures Gesicht verlief ein Kratzer quer über die Wange. Leise schluchzte sie vor sich hin. Die Augen irrten ziellos hin und her. Offenbar stand sie unter Schock. Sie wagten es nicht, die Position von Madeleine zu verändern, die verstummt war und am ganzen Körper zitterte. Vorsichtig hatten sie ihre Hose aufgeschnitten und einen offenen Oberschenkelbruch zum Vorschein gebracht.

Bei Michel konnten sie eine Schädelverletzung oder einen Schaden an der Wirbelsäule nicht ausschließen. Daher bewegten sie ihn nicht und breiteten lediglich eine Wärmedecke über das unterkühlte Kind. Der Puls des Jungen schlug schwach, aber regelmäßig, die Atmung ging flach. Das blasse Gesicht war eiskalt, er war nicht ansprechbar. Victor zerriss es das Herz, als er ihn so da liegen sah. Übelkeit stieg in ihm auf. »Bleib bei mir«, flüsterte er. »Bitte!«

Endlich näherte sich der Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn, der sich einen Weg durch den dunklen Wald über abgerissene Äste, zerbrochene Zweige und Laubaufschüttungen bahnen musste. Die Lichtstrahlen zuckten gespenstisch durch den Nebel. Eine Notärztin und zwei Sanitäter kümmerten sich um die Erstversorgung. Madeleine und ihr Sohn mussten reanimiert werden. Einer der Männer forderte einen Rettungshubschrauber an. Nach zwanzig Minuten landete die Maschine auf der Lichtung und nahm Michel, der sich in Lebensgefahr befand, sowie seine schwer verletzte Mutter auf. Mit ohrenbetäubendem Dröhnen schraubte er sich senkrecht in die Höhe und drehte mit einer eleganten Schleife nach Bordeaux ab. Das Unwetter war so schnell verschwunden, wie es gekommen war. Stille legte sich über den Forst. Wassertropfen perlten über Buchenblätter.

Die Notärztin hatte nach der Untersuchung von Marie-Laure, die durch einige Kratzer und Abschürfungen leicht verletzt war, zugestimmt, dass sie bei ihrem Vater bleiben durfte. Angesichts der psychischen Verfassung des Mädchens schien es ihr ratsam. Sie hatte jedoch darauf bestanden, dass der Hausarzt der Familie noch am selben Tag nach ihr sehen würde, da eine leichte Gehirnerschütterung nicht auszuschließen war.

Nach der Erstversorgung erklärte der Förster sich bereit, Victor und seine Tochter, die ihrem Vater nicht mehr von der Seite wich und sich wie ein Schraubstock an seinen Arm klammerte, nach Hause zu fahren. Seinen Wagen würde er später vom Wanderparkplatz in Moustey abholen.

*

Marie-Laure lag in ihrem Bett und starrte mit großen Augen an die Zimmerdecke, auf der verstreut Sterne und ein lächelnder Halbmond golden leuchteten. Die Dinosaurier auf dem Bettbezug fluoreszierten jadegrün. Den Teddybären, der lange Zeit vernachlässigt worden war, drückte sie fest an die Brust. Draußen war die Dämmerung hereingebrochen, Vögel zwitscherten, auf der Straße hupte ein Auto.

Am späten Nachmittag hatte der Hausarzt sie untersucht, das Pflaster gewechselt und Ruhe verordnet. Danach hatte ihr Vater für sie ein Lager auf dem Sofa gebaut und ihr erlaubt, eine Folge der Eisprinzessin anzusehen. Aufmerksam war sie von ihm mit Suppe, Kamillentee und Schokoladenkeksen versorgt worden. An seiner angespannten Miene konnte sie erkennen, welch große Sorgen er sich um seine Frau und Michel machte. Das Handy hielt er stets griffbereit.

Am Abend brachte er sie ins Bett und las ihr eine Gutenachtgeschichte vor. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und streichelte über ihr Haar. »Schlaf schön, Prinzessin.«

Besorgt sah sie ihn an. »Was ist mit Maman und Michel?«

»Wir besuchen sie morgen im Krankenhaus. Darüber werden sie sich bestimmt sehr freuen. Was meinst du?«

Sie lächelte ihn an und nickte tapfer. »Ganz bestimmt.«

»Bonne Nuit!«

»Bonne Nuit, Papa!«

Marie-Laure wälzte sich unruhig hin und her und schreckte immer wieder aus dem Schlaf. Schließlich beschloss sie, Trost und Nähe bei ihrem Vater zu suchen. Entschlossen stand sie auf und machte sich barfuß auf den Weg. Sie fand ihn im Salon. Er saß im Ohrensessel und fixierte einen unsichtbaren Punkt an der Wand. Im Schein der Stehlampe konnte sie sehen, dass sein Gesicht kalkweiß war. Tränen rannen über seine Wangen. Sie trat zu ihm und legte die kleine Hand tröstend auf seinen Arm, während kalte Angst durch ihren Körper kroch. »Was ist passiert, Papa?«

Er schüttelte unmerklich den Kopf.

»Sag doch!«

Schließlich richtete er den Blick auf sie. Der Glanz in seinen Augen war erloschen. »Das Krankenhaus hat gerade angerufen. Michel ist tot. Er ist auf der Intensivstation seinen schweren Verletzungen erlegen.«

Marie-Laure machte Anstalten, auf seinen Schoß zu klettern, doch er wies sie ab. »Jetzt nicht, ich muss ein bisschen allein sein. Geh ins Bett zurück.«

Als sie sich nicht rührte und ihn ungläubig ansah, setzte er nach. »Geh, bitte! Ich komme später und sehe nach dir, versprochen.«

Benommen tappte Marie-Laure zurück in ihr Zimmer und weinte sich in den Schlaf. Sie wusste nicht, was schlimmer war: der Verlust von Michel oder die Zurückweisung durch ihren Vater.

*

Nach der Operation lag Madeleine im Aufwachraum. Ihr Bein war gegipst und hochgelagert. Sie hatte keine Schmerzen mehr. Immer wieder fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Auf einmal erschien ihr im Traum Michel. Ihr Sohn trug ein weißes Gewand und schien von innen her zu leuchten. Er sah aus wie ein Engel. Liebevoll lächelte er sie an. »Ich muss jetzt gehen. Sei nicht traurig, ich werde immer bei dir sein. Adieu, Maman!« Er winkte, dann war er verschwunden.

Die gezackte grüne Linie auf dem Monitor ging in die Waagerechte. Ein schriller Alarm ertönte. Eine Ärztin und ein Pfleger, die ins Zimmer stürzten, versuchten sie wieder zu beleben. Dreimal drückte sie den Defibrillator auf die Brust der Patientin, so dass Stromstöße durch ihren Körper fuhren. Nichts geschah. Der Strich blieb horizontal. Nach dem vierten Versuch gab sie auf. »Wir haben sie verloren.«

Jahre später

14. Mai

Von Soulac-sur-Mer bis zur Küste des Baskenlandes zog sich ein nahezu schnurgerades, zweihundertfünfzig Kilometer langes Sandband am bisweilen tosenden Atlantik entlang. Im Hinterland des Médoc, jenseits der Dünenlandschaft, erstreckten sich endlose würzig duftende Kiefernwälder.

Etwa in der Mitte zwischen dem Seebad Soulac und der Südspitze der Halbinsel, dem Pointe de Cap Ferret, befand sich der Ort Le Moutchic am Nordufer des Lac de Lacanau. In dem fischreichen Gewässer ließen sich besonders gut Barsche, Hechte und Aale fangen. Dort lag der Campingplatz Des Grandes Dunes in einem weitläufigen Naturschutzgebiet.

Laurent Marchand hatte für zehn Tage ein Chalet direkt am See gemietet. Der Dreiundvierzigjährige, ein gut aussehender, charismatischer Unternehmer aus Bordeaux, hatte sich nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss entschieden, einige Tage beim Angeln und Radeln zu entspannen und kräftig durchzuatmen.

Er erwachte wie immer gegen sechs Uhr, drehte sich auf den Rücken und blinzelte. Dann stand er auf und warf einen Blick aus dem quadratischen kleinen Fenster, das in der unverputzten Mauer saß. Der Himmel war wolkenverhangen, es nieselte. Gestern am späten Nachmittag bei ihrer Ankunft hatte die Sonne warm vom azurblauen Himmel geschienen. Er fragte sich, ob die drei Frauen, die ihn begleiteten, an ihrer geplanten Unternehmung, einer längeren Fahrradtour entlang des Küstensaums bis Hourtin-Plage, trotz des Wetters festhalten würden.

Bevor er das Schlafzimmer verließ, warf er noch einen liebevollen Blick auf seine Frau Patricia, die auf der Seite lag und tief und fest schlief. Eine blonde Strähne war über ihre Wange gefallen, der Träger des Seidenhemdchens über die Schulter gerutscht. Leise schloss er die Tür hinter sich. Über drei steinerne Stufen gelangte er hinab in die Küche.

Den Mittelpunkt bildete ein Essplatz aus massivem Eichenholz. Über den Tisch war eine blaue Decke gebreitet. Darauf standen eine Vase mit gelbem Besenginster und eine Schale Obst als Willkommensgruß. Neben dem gusseisernen Holzofen gruppierte sich eine Sitzecke aus einem gelben Sofa und zwei Sesseln um ein rundes Holztischchen. Darauf stand eine Leselampe neben gestapelten Büchern, Zeitschriften und Flyern, die über Aktivitäten in der näheren Umgebung informierten. Auf der Arbeitsfläche der einfachen Küche standen noch die Kristallgläser vom gestrigen Abend, als sie in fröhlicher Runde mit gut gekühltem Champagner auf ihren gemeinsamen Urlaub angestoßen hatten.

Linker Hand der Küchenzeile führte eine gewundene Treppe auf eine minimalistisch eingerichtete Galerie mit einem französischen Bett, einem Kleiderschrank sowie einer sepiabraunen gerahmten Fotografie, die einen stolz lachenden Angler zeigte, der einen gewaltigen Hecht am Schwanz hielt. Die Empore wurde von einem Holzgeländer abgeschlossen. Dort oben schliefen Sandrine, die beste Freundin seiner Frau, sowie Colette, eine Bekannte, die Sandrine mitgebracht hatte. Nichts rührte sich, anscheinend schliefen die beiden noch.

Amüsiert dachte Laurent an die gestrige gemeinsame Besichtigung ihres Feriendomizils. Die Frauen waren von der schlichten Ausstattung und der räumlichen Aufteilung nicht gerade begeistert gewesen. Doch ihm gefielen die Ursprünglichkeit und die Einfachheit. Er hatte bei der Auswahl bewusst auf jeden Luxus verzichtet.

Nachdem er sich in dem winzigen Badezimmer rasiert hatte und in Jeans und Karohemd geschlüpft war, bereitete er sich einen doppelten Espresso zu und ging barfuß mit der dampfenden Tasse in der Hand auf die Terrasse. Auf einem Gartenstuhl unter dem Vordach lag zusammengerollt ein getigertes Kätzchen, das die Augen geschlossen hatte und sich nicht stören ließ. Er nahm genießerisch einen Schluck und ließ den Blick über den See schweifen, der ruhig und dunkel vor ihm lag. Am Ufer erhoben sich Weiden und Rohrkolben. An einem Steg waren bunte Ruderboote vertäut. Kein Mensch war zu sehen. Die Stille tat ihm nach den hektischen Wochen im Betrieb gut.

Dann entdeckte er einen Mann, der auf dem Uferweg unterwegs war und sich rasch näherte. In der einen Hand hielt er eine Angel, mit der anderen umklammerte er den Henkel eines Eimers, aus dem Wassertropfen hochspritzten. Er trug Gummistiefel und einen grüngrauen Fischerhut, unter dessen Krempe sich schwarze Haare lockten. Im Mundwinkel steckte eine qualmende Zigarette. Auffällig war seine Boxernase, die ein wenig an Jean-Paul Belmondo erinnerte. Vor der Terrasse blieb er stehen, musterte Laurent mit zusammengekniffenen Augen und lächelte ihn schließlich freundlich an.

»Bonjour, Monsieur.«

»Bonjour.«

»Schönes Chalet! Machen Sie auch Urlaub hier?«

»Ja, wir sind gestern angekommen.«

»Ich bin schon seit drei Tagen auf dem Campingplatz, mit meiner Frau Aurélie und dem Hund.«

Er zeigte mit dem Finger gen Osten. »Dort drüben steht unser Wohnwagen, der mit dem grünen Vorzelt. Übrigens, ich heiße Claude-Marie.«

»Ich bin Laurent.«

»Angeln Sie auch?«

»Ja, leidenschaftlich.«

»Dann sind Sie hier genau richtig. Der See ist ein wunderbares Fischgewässer.« Er wies auf den Eimer. »Ich habe einen Aal und zwei Bachforellen gefangen. Aurélie wird staunen. Die Fische kommen für das Mittagessen auf den Holzkohlegrill. Dazu gibt es Kartoffeln, Kräuterbutter und gedünsteten Blattspinat. Das wird ein Festmahl. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.«

Laurent lächelte. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Kommen Sie doch mal auf ein Bier vorbei. Meine Frau und ich würden uns freuen.«

»Sehr gerne.«

»Petri Heil.« Claude-Marie winkte zum Abschied und stapfte davon.

Laurent fröstelte und spürte seine kalten Füße. Zurück in der Küche stellte er fest, dass der Korb für das Holz, der neben dem Kamin stand, leer war. Deshalb beschloss er, in den Wald zu gehen und Äste zu sammeln. Ein loderndes Feuer würde seine Begleiterinnen beim Frühstück sicher freuen. Außerdem plante er, nach dem Holzsammeln im kleinen Supermarkt an der Zufahrt des Campingplatzes frische buttrige Croissants und Baguette zu kaufen. Das war ein perfekter Start in den ersten Urlaubstag.

Er zog Regenjacke sowie feste Stiefel an und verließ das Blockhaus. An der hinteren Fassade stapelten sich unter der Dachschräge Holzscheite, davor stand ein Hackstock, in dem eine Axt mit einem roten Kopf steckte. Die Scheite waren zu groß für den Ofen und mussten noch gespalten werden. Doch der Lärm würde die Frauen wecken. Er würde später für einen ausreichenden Vorrat sorgen.

Voller Tatendrang machte er sich auf den Weg. Der Wald begann direkt hinter dem Chalet. Laurent folgte einem Pfad, der ihn weg vom See führte. Von den knorrigen Kiefern ging ein harziger Geruch aus. Zwischen den regennassen Nadelfächern hatten sich Nebelschleier wie Spinnennetze verfangen. Kalter Wind kam auf.

Nach wenigen Hundert Metern gelangte er an einen Weiher, auf dem eine kleine Schar Blesshühner unter aufgeregtem Geschrei im Schilf verschwand. Am Ufer wartete ein silbergrauer Reiher, reglos wie eine Statue, geduldig auf Beute. Bei jedem seiner Schritte flüchtete ein Laubfrosch, hüpfte in den Teich und tauchte weg, während eine gewaltige Wechselkröte ihn aus konvexen gelben Augen anstarrte. Eine Brücke führte über den Bachlauf, der von einem Teppich aus Dotterblumen gesäumt war.

Laurent verließ den Weg und begann Äste aufzuklauben, sie entzweizubrechen und in den Korb zu legen. Auch an kleinere Zweige, die er in relativ trockenem Zustand unter den Bäumen fand, dachte er, um später das Feuer leichter zu entfachen. Die einfache Tätigkeit an der frischen Luft entspannte ihn.

Er war so versunken in seine Arbeit, dass er ein Knarzen ganz in seiner Nähe zunächst gar nicht wahrnahm. Als daraufhin ein knarrendes Geräusch ertönte, blickte er auf und sah sich suchend um. Vermutlich war jemand im Wald unterwegs, so wie er. Ein Frühaufsteher, der die morgendliche Stille genoss, ein Wanderer vielleicht oder ein Jogger. Da war wieder dieses Knacken. Womöglich war es ein Tier? Vielleicht ein Wildschwein? Es würde nicht angreifen, sondern ihn aus der Ferne, geschützt durch dichtes Gestrüpp, beobachten. Die Tiere wurden nur aggressiv, wenn man ihren Frischlingen zu nahe kam. Als ein Vogel in einem Baumwipfel hoch über ihm lautstark aufkreischte, fuhr er dennoch erschrocken zusammen.

Da der Korb inzwischen gut gefüllt war, beschloss Laurent, sich auf den Weg zurück zum Chalet zu machen. Schließlich wollte er noch den Tisch decken und Frühstück zubereiten. Eine deftige Bauernpfanne mit Schinken und Ei wäre doch eine tolle Idee, dazu frisch gepresster Orangensaft.

Ein Geräusch direkt hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Es hörte sich an wie ein Schritt, den jemand auf ihn zu machte. Ehe er reagieren konnte, wurde sein Schädel durch einen kräftigen Schlag mit einer Axt gespalten. Entsetzt schrie er auf. Als er auf den Boden sank, war er bereits tot. Der Angreifer stieß einen lang gezogenen Klagelaut aus, wandte sich ab und rannte davon. Bald war er zwischen den Bäumen verschwunden.

*

Das Zeltlager war auf einer großen Wiese errichtet, die durch ein Pappelwäldchen und eine riesige Weißdornhecke vor dem Wind geschützt wurde. An den imprägnierten weißen Planen der Zelte perlten die Regentropfen ab, die fest in der Erde verankerten Heringe hielten den Böen stand. Der Veranstalter dieser beliebten Ferienfreizeit, die jedes Jahr an Pfingsten stattfand, war eine gemeinnützige katholische Einrichtung mit Sitz in Bordeaux. Insgesamt nahmen dreißig Kinder und Jugendliche teil, die in fünf Zelten, getrennt nach Mädchen und Jungen, wohnten. Zusätzlich gab es ein großes Versorgungszelt, eine Krankenstation, sanitäre Einrichtungen und ein Beachvolleyballfeld.

Die achtjährige Clémentine lag oben in einem der drei Stockbetten des Steilwandzelts. Sie schlug die blauen Augen auf, gähnte ausgiebig und setzte sich auf. Ihr Gesicht mit den runden Wangen und der sommersprossenübersäten Stupsnase war blass. Die anderen Mädchen schienen noch zu schlafen, auch Léa, die arrogante Zicke, die das untere Bett belegt hatte und sie immer ärgerte. Das Mädchen hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und rührte sich nicht.

Clémentines Mutter war vor Jahren von ihrem Mann verlassen worden. Seitdem verdiente sie als Pflegekraft in einem Seniorenheim den Lebensunterhalt für die kleine Familie. Das Geld war immer knapp. Aus diesem Grund konnte sie ihrer Tochter keinen Urlaub bieten und war froh über das Angebot dieser Stadtteileinrichtung, die Kindern aus einfachen Verhältnissen eine Ferienfreizeit ermöglichte. Ihre Tochter hatte sich so gefreut, als sie tatsächlich eine Zusage erhalten hatte.

Auf einmal ertönte ein gewaltiger Gongschlag. Sieben Uhr: Zeit, aufzustehen. Clémentine späte durch das beschlagene Folienfenster und stellte fest, dass es Bindfäden regnete. Das war nicht gut, denn heute sollte der Wellenreiterkurs für Anfänger beginnen. Doch Surfen konnten sie schließlich auch bei schlechtem Wetter. Sie kletterte über die Hühnerleiter auf den mit Paletten ausgelegten Boden und schlüpfte in ihre Gummistiefel und ein Regencape. Ausgerüstet mit ihrem pinkfarbenen, mit goldenen Herzen getupften Waschbeutel – einem Geschenk ihrer Oma extra für die Freizeit, auf den sie sehr stolz war –, machte sie sich, den Pfützen ausweichend, auf den Weg über den schlammigen Platz, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Den zerzausten fuchsroten Zopf würde Martine, eine der Betreuerinnen, später neu flechten.

Nachdem sie im Versorgungszelt einen Platz zwischen anderen Kindern an einem langen Holztisch gefunden hatte, schlang sie mit Appetit ein Müsli mit frischen Erdbeeren hinunter und trank dazu einen heißen Kakao. Das Gelächter und Geschrei war ohrenbetäubend.

Nach dem Frühstück ging sie zum Treffpunkt der Laufgruppe, einem grellroten, mindestens drei Meter großen Michelin-Männchen, auf dessen prallem Bauch in Neongelb Feriencamp Lac de Lacanau 2023 prangte. Ihr neuer Sportanzug, ebenfalls pink, war ihr noch ein wenig zu groß, dafür passten die Laufschuhe perfekt. Die Gruppe, die jeden Morgen joggte, bestand aus drei Mädchen und drei Jungs. Verantwortlich dafür waren Martine und der Betreuer Christophe. Die älteren Mädchen schwärmten für ihn, seine hellbraunen schulterlangen Locken, sein silbernes Ohrenpiercing und sein süßes Lächeln. Außerdem war er cool.

»Zuerst machen wir wie immer die Aufwärmübungen«, rief Martine, klatschte in die Hände und begann mit dem Dehnen der Arme und Beine. Alle taten es ihr nach.

»Nicht so schlampig, Leute«, forderte Christophe sie auf. »Denkt an die fließenden, kontrollierten Bewegungen.«

Als sie die Gymnastik beendet hatten, liefen sie im Gänsemarsch los, die Betreuerin an der Spitze, Christophe als Nachhut. Sie absolvierten stets die gleiche etwa vier Kilometer lange Runde in gemäßigtem Tempo, damit alle mithielten. Hänseleien waren streng verboten, da verstand die ansonsten lustige und großzügige Martine überhaupt keinen Spaß. Jeder gab sein Bestes, und das war absolut in Ordnung.

Sie trabten entspannt und atmeten die frische Luft, die auf den Lippen leicht salzig schmeckte. Der Pfad führte durch einen Kiefernwald, vorbei an Steinformationen, Heidelbeersträuchern und Sandaufschüttungen. Als sie schließlich eine Lichtung erreichten, an deren Saum sich eine hundertjährige Eiche erhob, hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie verschnauften und dehnten ihre Muskeln erneut.

»Ihr seid super gelaufen«, lobte Martine.

»Spielen wir noch Verstecken?«, bat Clémentine.

Der hochgeschossene zwölfjährige Roger rollte genervt die Augen. »Das ist doch Kinderkram.«

»Du kannst gerne schon mal vor ins Camp gehen«, schlug die Betreuerin vor. »Im Versorgungszelt freuen sie sich über jeden, der beim Kartoffelschälen hilft und Geschirr spült.«

»Ach, ich bleibe lieber doch bei euch.«

»Wie du willst. Schließt die Augen und zählt langsam bis zehn.«

Alle kamen der Aufforderung nach, sogar Roger.

»Und weg bin ich«, rief Martine und rannte davon. Sie umrundete ein Brombeergestrüpp, sprang geschickt über einen Stamm, passierte eine Baumgruppe und sah sich nach einem geeigneten Versteck um. Von Weitem ertönte wildes Geschrei. »Wir kommen! Wir kommen! Gleich haben wir dich.«

Als sie gerade überlegte, ob sie sich in eine Mulde kauern und unter Zweigen und Laub verbergen sollte, nahm sie aus den Augenwinkeln ein Paar feuchte Stiefel wahr, die auf einer Kiefernnadeldecke lagen. Ein beklemmendes Gefühl ergriff von ihr Besitz. In den Stiefeln steckten Füße. Als sie die verdrehten Beine sah, begann ihr Herz wild zu schlagen. Der Kopf des Mannes war blutüberströmt, genau wie das Karohemd. Die Hände lagen mit den Innenflächen nach oben auf dem Moosteppich, als würde er mit dieser Geste um Erbarmen flehen. Übelkeit stieg in ihr auf. Mit zitternden Fingern zog sie ihr Handy aus der Jacke und setzte einen Notruf ab. Dann rannte sie zu ihrer Gruppe und flüsterte Christophe einige Worte ins Ohr.

Der wurde blass und reagierte sofort. »Kids, bewegt euch. Wir müssen sofort zurück in unser Lager.«

Einsetzende Proteste würgte er ab. »Keine Diskussion! Macht einmal, was ich euch sage, es ist wichtig. Im Camp gibt es Eis für alle. Auf geht’s!«

Die Kinder folgten ihm zögerlich. Nur Clémentine verharrte noch einen Moment. An Martines Gesichtsausdruck konnte sie ablesen, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste.

Als die Gruppe sich entfernt hatte, ging die junge Frau zurück zu dem schrecklichen Fund, sank auf einen Baumstumpf und wartete auf die Gendarmerie. Sie vermied es, noch einen Blick darauf zu werfen.

*

Das Château de Montfort, ein alter Familienbesitz, lag in der Nähe der Ortschaft Romagne im Weinbaugebiet Entre-deux-Mers. Das einstöckige ockerfarbene Gebäude mit den grauen Fensterläden und dem roten Ziegeldach, auf dem zwei Kamine saßen, erhob sich auf einem sanften Hügel. Rechter Hand erstreckten sich verschachtelt Nebengebäude für Landmaschinen und ein Pferdestall. Die Zufahrt wurde von hochgewachsenen Pappeln gesäumt, von deren silbrigen Blättern Regen tropfte. Der Wind zerrte an den Ästen. So weit das Auge reichte, erstreckten sich in variierenden Grüntönen Weinberge, auf denen sich knorrige Rebstöcke reihten, die prächtig gediehen. Dazwischen lagen verstreut Bauminseln.

Das Weingut produzierte hochwertige Weißweine sowie Champagner, die bei Kennern sehr beliebt waren. Vom Golf von Biscaya her trieben Böen Wolkengebirge über den grauen Himmel.

Madame le Commissaire Pauline Castelot saß mit ihrer Tochter Sarah an einem massiven Buchenholztisch beim Frühstück. Ihr Lebensgefährte, der Weinbauer Dominic, der das Anwesen von seinem Vater geerbt hatte, war schon in aller Frühe aufgebrochen. Er war einer Einladung zu einer Veranstaltung der regionalen Winzergenossenschaft gefolgt, bei der es um Weinbau im Zeichen des Klimawandels ging. Austrocknende Böden, Starkregen und Windhosen beunruhigten die Winzer zunehmend, die auf der Tagung gemeinsam nach Lösungen suchten, um praktikable, finanzierbare Wege für ihre Betriebe zu finden. Dabei ging es um Existenzen.

Pauline Castelot, die einen schicken Hosenanzug und eine weiße Seidenbluse trug, strich Erdbeermarmelade auf das gebutterte Baguette und wandte sich ihrer Tochter zu. »Heute steht doch die Matheprobe an?«

Das Mädchen nickte. »Ich habe gestern den ganzen Nachmittag mit Lise gelernt.«

»Gut, du weißt, die Note ist wichtig für den Übergang auf das Collège.«

»Mach dir keine Sorgen, Maman, ich hab alles im Griff.« Sie kippte Ahornsirup auf den Pfannkuchen und machte sich hungrig darüber her.

Pauline blieb skeptisch, wollte aber nicht weiter auf dem Thema herumreiten. »Super, Süße! Du weißt, wenn du heute von der Schule nach Hause kommst, ist niemand da. Ich muss arbeiten, und Dominic ist auf der Tagung in Saint-Émilion.«

Sie verdrehte die strahlend blauen Augen und grinste über das ganze Gesicht. Dabei wickelte sie eine blonde Haarsträhne um den Zeigefinger. »Das haben wir doch alles schon besprochen. Lise kommt nach der Schule mit zu mir. Wir kochen Nudeln mit Tomatensoße, dazu essen wir Eisbergsalat. Als Dessert gibt es Schokoladenpudding. Dann machen wir Hausaufgaben und gehen mit den Hunden spazieren. Wenn wir alles erledigt haben, dürfen wir unsere Lieblings-Doku-Soap im Fernsehen anschauen«, ratterte sie den Ablauf herunter. »Wenn es bei dir auf der Arbeit später wird, übernachte ich bei Lise.«

Ihre Mutter lächelte sie liebevoll an. »Okay, das klingt gut. Wenn etwas sein sollte, kannst du mich jederzeit anrufen. Ich habe das Handy immer griffbereit.«

»Was soll schon sein, Maman? Schließlich gehe ich nicht mehr in den Kindergarten. Du jagst die Bösewichte, ich schreibe eine tolle Note. Immerhin bin ich schon zehn Jahre alt.«

»Erst zehn Jahre alt.«

»Quatsch. Bei Papa darf ich viel mehr. Er behandelt mich nicht wie ein Baby.«

Sarah war das gemeinsame Kind von Pauline und Marcel Castelot, dem Präfekten des Départments Gironde, Paulines direktem Vorgesetzten. Vor einigen Jahren hatten sie sich scheiden lassen. Über die Jahre waren sie sich fremd geworden. Die Zeit davor hatten sie sehr verliebt und glücklich verbracht. Es war schwer zu beschreiben, aus welchem Grund ihnen die Liebe abhandengekommen war. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass Marcel von seinen vielfältigen Aufgaben immer mehr in Anspruch genommen wurde und er deshalb unwillentlich seine Familie vernachlässigt hatte. Immerhin waren sie Freunde geblieben. Marcel kümmerte sich regelmäßig um seine Tochter, und wenn es seine Zeit erlaubte, verbrachten die zwei das Wochenende und manche Ferientage zusammen.