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Der Totschläger Emile Zola - Protagonistin des Romans ist die junge Wäscherin Gervaise Macquart, die zu Beginn der Handlung von ihrem Liebhaber Auguste Lantier verlassen wird. Er nimmt ihr ganzes Geld mit und hinterlässt als einziges Andenken die beiden gemeinsamen Söhne Claude und Etienne. Gervaise, eine tugendhafte und fleißige, aber nunmehr bettelarme Wäscherin, heiratet daraufhin den ehrbaren, aber recht lebenslustigen Zinkarbeiter Coupeau.
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Die Rougon-Macquart sollen sich aus etwa zwanzig Romanen zusammensetzen. Seit dem Jahre 1869 steht der allgemeine Plan fest, und ich folge ihm mit größter Strenge. »Der Totschläger« ist zur bestimmten Stunde erschienen; ich habe dieses Buch geschrieben, wie ich die anderen schreiben werde, ohne auch nur einen Augenblick von dem vorgezeichneten Wege abzuweichen. Hierin beruht meine Kraft. Ich habe ein Ziel, auf das ich losgehe.
Als »Der Totschläger« in einer Zeitung erschien, griff man dieses Buch mit einer Erbitterung ohnegleichen an, man verdächtigte es und belud es mit allen Verbrechen. Ist es wohl nötig, hier in einigen Zeilen meine schriftstellerischen Absichten auseinanderzusetzen?
Ich habe den verhängnisvollen Verfall einer Arbeiterfamilie in dem verpesteten Innern unserer Vorstädte schildern wollen. Am Ende der Trunksucht und des Müßigganges steht eine Erschlaffung der Familienbande, ein Versinken im Schmutz, ein fortschreitendes Abnehmen jeder ehrenwerten Empfindung und schließlich als Lösung die Schande und der Tod.
Das ist ganz einfach in Handlung umgesetzte Moral. »Der Totschläger« ist ohne Zweifel das keuscheste meiner Bücher. Wie oft habe ich nicht noch viel entsetzlichere Wunden berühren müssen. Die Form allein hat verwirrt. Man hat an der Ausdrucksweise Anstoß genommen. Mein Verbrechen ist, daß ich die literarische Neugier hatte, die Sprache des Volkes aufzuraffen und in eine fein durchbildete Form zu gießen. Ach! die Form, da liegt das große Verbrechen! Und dennoch gibt es Wörterbücher dieser Sprache, die Gelehrten studieren sie und freuen sich ihrer Frische, der Ursprünglichkeit und Kraft ihrer Bilder. Sie ist das Lieblingsgericht des umherstöbernden Grammatikers. Doch was liegt daran? Niemand scheint es geahnt zu haben, daß ich beabsichtigte, eine rein philologische Arbeit zu machen, von der ich glaube, daß sie ein lebhaftes historisches und soziales Interesse hat.
Übrigens verteidige ich mich nicht. Mein Werk wird mich verteidigen. – Es ist ein Werk der Wahrheit; der erste Roman über das Volk, der nicht lügt, aus dem das Volk selber spricht. Man darf durchaus nicht aus meinem Buche den Schluß ziehen, daß das ganze Volk schlecht sei, denn meine Personen sind nicht schlecht, sie sind nur unwissend und verdorben durch den Wechsel von harter Arbeit und bejammerungswürdigem Elend, aus dem ihr Leben besteht. Nur lesen, verstehen und in ihrem Zusammenhange erfassen müßte man meine Romane, ehe man schon fertige, ungeheuerliche und häßliche Urteile über meine Person und meine Werke in die Welt setzt. Oh! wie meine Freunde das verblüffende Märchen belächeln, womit man die Menge belustigt! Wenn man wüßte, was dieser Blutmensch, dieser wilde Romandichter für ein würdiger Bürger, ein Mann der Wissenschaft und Kunst ist, dessen einziges Streben dahin geht, ein so großes und lebendiges Werk zu hinterlassen, wie seine Kräfte ihm erlauben!
Ich will keine dieser Fabeln widerlegen; ich arbeite und verlasse mich auf die Zeit und den gesunden Sinn des Publikums, das mich endlich wohl hervorziehen wird unter dem Haufen von Narrheit und Torheit, unter dem man mich begraben hat.
Paris, den 1. Januar 1877. Emile Zola.
1
Gervaise hatte Lantier bis zwei Uhr morgens erwartet. In leichter Nachtjacke der scharfen Luft des geöffneten Fensters ausgesetzt, zitterte sie vor Kälte. Endlich war sie entschlummert, quer über das Bett gestreckt, fiebernd und die Wangen von Tränen genetzt. Seit acht Tagen schickte er sie und die Kinder beim Verlassen des Gasthauses »Zum zweiköpfigen Kalbe«, wo sie aßen, zu Bett und erschien erst sehr spät in der Nacht wieder; er erzählte dann, daß er Arbeit suche. Als sie heute abend seine Rückkehr erspähte, glaubte sie ihn gesehen zu haben; er trat in den Tanzsaal »Zum großen Balkon«, dessen zehn strahlend helle Fenster ein breites Lichtfeld auf den dunklen Straßenzug des äußeren Boulevard warfen; und fünf bis sechs Schritte hinter ihm hatte sie die kleine Adele bemerkt, eine Plätterin, die in ihrem Restaurant aß; diese schlenkerte mit ihren Händen, als ob sie eben seinen Arm habe fahren lassen, um nicht mit ihm zusammen unter den hellen Gaslichtern in die Tür zu treten.
Als Gervaise gegen fünf Uhr, steif vom Frost und die Lenden von Übermüdung wie zerschlagen, erwachte, brach sie in lautes Schluchzen aus. Lantier war nicht heimgekehrt. Zum ersten Male brachte er die Nacht außer dem Hause zu. Sie blieb auf dem Rande des Bettes sitzen unter dem Lappen ausgeblichenen Möbelkattuns, der von einer Stange herunterhing, die mit Bindfaden an der Decke befestigt war. Sie ließ ihre von Tränen verschleierten Blicke langsam in dem elenden Zimmer umherschweifen, dessen Ausstattung in einer Nußholzkommode, der eine Schieblade fehlte, drei Strohstühlen und einem kleinen fettigen Tisch bestand, auf den ein zerbrochener Wasserkrug gestellt war.
Man hatte für die Kinder ein eisernes Bett hinzugefügt, das den Zugang zur Kommode verstellte und zwei Drittel des ganzen Raumes einnahm.
Der Koffer von Gervaise und Lantier lag weit geöffnet in einer Ecke und zeigte sein leeres Innere; ein alter Männerhut war ganz auf dem Grunde zwischen schmutzige Hemden und Strümpfe hineingepfercht, während an der Wand und auf der Lehne eines Stuhls ein durchlöcherter Schal und ein vom Straßenschmutz zerfressenes Beinkleid hingen, die letzten Lumpen, welche die Kleiderhändler nicht mehr wollten. In der Mitte des Kaminsimses zwischen zwei ungleichen Zinkleuchtern lag ein Paket Pfandscheine des Leihhauses von zarter rosa Farbe. Es war das schönste Zimmer des Hotels, das Zimmer im ersten Stock mit der Aussicht auf den Boulevard.
Indes schliefen die beiden Kinder nebeneinander auf demselben Kopfkissen. Claude, der acht Jahre alt war, atmete langsam, während seine kleinen Hände auf der Bettdecke lagen, und der nur vierjährige Etienne hatte lächelnd einen Arm um den Nacken des Bruders geschlungen. Als der tränenfeuchte Blick der Mutter auf ihnen ruhte, hatte diese einen neuen Anfall von Schluchzen, sie drückte ein Taschentuch an ihren Mund, um den leisen Schrei zu ersticken, der sich ihr unwillkürlich entrang. Barfuß, ohne daran zu denken, ihre zu Boden gefallenen Morgenschuhe wieder anzuziehen, kehrte sie zum Fenster zurück und spähte wieder wie in der Nacht wartend hinaus, die Bürgersteige weithin mit ihren Blicken absuchend.
Das Hotel befand sich auf dem Kapellenboulevard links von dem Fischertor. Es war ein altes, zweistöckiges Gebäude, mit roter Farbe getüncht, dessen durch den Regen faul gewordene Fensterläden zerfielen. Über einer Laterne, in deren Scheiben sich Sterne befanden, las man mühsam zwischen den beiden Fenstern: Marsouillers Hotel »Zum guten Herzen«, in gelben Buchstaben, denen durch das Abspringen des Mörtels große Stücke fehlten. Gervaise, der die Laterne hinderlich war, richtete sich auf und preßte ihr Taschentuch gegen die Lippen. Sie blickte zur Rechten nach der Seite des Boulevard Rochechouart, wo Gruppen von Schlächtern in blutigen Schürzen vor den Schlachthäusern sich aufhielten; der frische Morgenwind trug hin und wieder einen stinkenden, faden Geruch von abgeschlachteten Tieren herüber. Sie blickte zur Linken, ihr suchendes Auge irrte die lange Allee hinab, um schließlich beinahe ihr gegenüber auf der weißen Masse des Krankenhauses Lariboisiere auszuruhen, das damals noch im Bau begriffen war. Langsam verfolgte sie dann von einem Ende des Horizonts zum andern den Lauf der Mauer des Schlachthauses, hinter der sie hin und wieder während der Nacht das Geschrei von geschlachteten Tieren gehört hatte; sie durchforschte die versteckten Winkel, die von Feuchtigkeit und Unrat geschwärzten dunklen Ecken in der geheimen Furcht, dort den Körper Lantiers zu entdecken, den Leib von Messerstichen durchbohrt. Als sie die Augen über diese graue, unendliche Mauer erhob, die Paris gleichsam mit einem Streifen Wüste umgibt, bemerkte sie eine große Helligkeit, eine Flut von Sonnenlicht, die schon ganz von dem morgendlichen Getöse der Stadt erfüllt war. Aber immer wieder wendete sie dem Fischertor ihre Blicke zu, mit vorgestrecktem Halse betäubte sie sich an dem ununterbrochenen Strom von Männern, Tieren und Karren, den sie zwischen den beiden niedrigen Zollhäuschen hervorbrechen sah und der von den Höhen des Montmartre und von la Chapelle sich herniederwälzte. Das war ein Gestampfe wie von Herden, eine Menge, deren hin und wieder plötzliches Anhalten sich gleich Pfützen auf der Chaussee ausbreitete, ein endloses Vorüberziehen von Handwerkern, die zur Arbeit gingen, ihre Werkzeuge auf dem Rücken, ihr Brot im Arm; all dieses Gewühl stürzte sich auf Paris, das es fortwährend verschlang. Wenn Gervaise unter allen diesen Menschen Lantier zu erkennen glaubte, so beugte sie sich, auf die Gefahr hin zu fallen noch weiter nach vorn; fester preßte sie ihr Taschentuch an den Mund, um ihren Schmerz zurückzudämmen.
Eine junge, lustige Stimme bewog sie zum Verlassen des Fensters.
»Ihr Mann ist wohl nicht da, Frau Lantier?«
»Nein, Herr Coupeau,« antwortete sie und versuchte dabei zu lächeln.
Es war ein Zinkarbeiter, der ganz oben im Hause ein kleines Zimmer zu zehn Franken bewohnte. Er hatte seinen Sack auf der Schulter. Da er den Schlüssel in der Tür stecken sah, war er freundschaftlich eingetreten.
»Sie wissen,« fuhr er fort, »ich arbeite jetzt dort drüben am Krankenhause … Ha! das ist ein feiner Maimonat! Es weht ein bißchen scharf heute morgen!
Er betrachtete Gervaises Gesicht, das vom Weinen gerötet war. Als er sah, daß das Bett fast unberührt dastand, schüttelte er leise den Kopf; dann kam er bis zum Bettchen der Kinder, die immer noch mit ihren rosigen Engelsmienen schliefen; und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:
»Ei der Tausend! Ihr Mann ist wohl ein bißchen bummlig, nicht wahr? Trösten Sie sich, Madame Lantier. Er beschäftigt sich viel mit Politik; als man neulich bei der Wahl für Eugène Sue stimmte (es ist das einer von den Guten, wie es scheint), da war er rein närrisch. Vielleicht hat er die Nacht mit Freunden zugebracht und auf die bonapartistische Schweinewirtschaft geschimpft.«
»Nein, nein,« murmelte sie gepreßt, »wie Sie glauben, ist es nicht. Ich weiß, wo Lantier ist … Mein Gott, wir haben eben unsern Kummer wie alle Welt.«
Coupeau blickte sie pfiffig an, um zu zeigen, daß er auf diese Lüge nicht hineinfalle. Im Fortgehen erbot er sich, ihr die Milch zu holen, wenn sie nicht ausgehen wolle; sie sei eine hübsche und tüchtige Frau und könne auf ihn zählen, wenn sie eines Tages in Not sei.
Sowie er sich entfernt hatte, wandte sich Gervaise dem Fenster wieder zu.
Durch die Zollgrenze strömte noch immer die Menge in der Kälte des Morgens. Man erkannte die Schlosser an ihren blauen Arbeitskitteln, die Maurer an ihren weißen Jacken, die Maler an den Röcken, unter denen die langen Blusen hervorsahen. Diese Menge erschien von weitem in den Farben matten Gipses in einem unbestimmten Ton, in dem verwaschenes Blau und schmutziges Grau abwechselte. Hin und wieder stand ein Arbeiter still und steckte seine Pfeife an, während die anderen um ihn herum immer vorwärtsschritten, ohne ein Lachen, ohne ein zum Kameraden gesprochenes Wort, die Backen erdfahl, das Gesicht nach Paris gerichtet, das sie einen nach dem anderen durch die weitaufgähnende Straße, die Fischerstraße, verschlang. An den beiden Ecken der Straße, an den Türen der beiden Weinschenken, die ihre Läden öffneten, wurden die Schritte der Leute langsamer; vor dem Eintreten blieben sie auf dem Rande der Bürgersteige stehen, hin und wieder halb unwillig, halb verlegen auf Paris niederblickend, mit schlaffen Armen, schon halb für einen Bummel tag gewonnen. Vor den Schenktischen waren Gruppen, welche sich freihielten; dort beieinander stehend vergaßen sie sich, füllten die Säle speiend, hustend und sich mit Hilfe kleiner Schnäpse die Kehlen reinspülend.
Gervaise spähte zur Linken der Straße nach dem Laden des Vater Colombe hinüber, wo sie Lantier gesehen zu haben glaubte, als eine dicke Frau mit bloßem Kopf und einer Schürze sie von der Straße aus anrief.
»Sie sind so früh schon auf, Frau Lantier?«
Gervaise beugte sich vor.
»Sie sind es, Madame Boche! … Oh! ich habe eine Menge zu tun heute!«
»Ja, ja, nicht wahr? Die Sachen machen sich nicht von selber!«
Jetzt begann eine Unterhaltung vom Fenster zum Fußwege. Madame Boche war die Pförtnersfrau des Hauses, in dem das Restaurant »Zum Kalbe mit den zwei Köpfen« das Erdgeschoß innehatte. Öfter hatte Gervaise Lantier in ihrem Pförtnerzimmerchen erwartet, um sich nicht allein neben all die Männer zu Tisch zu setzen, die dort mit ihnen aßen. Die Pförtnersfrau erzählte, daß sie nur zwei Schritte von hier nach der Kohlenstraße gehe, um einen Beamten dort noch im Bette anzutreffen, von dem ihr Mann die Bezahlung für Ausbesserung eines Überziehers nicht erlangen könne.
Hierauf erzählte sie von einem ihrer Mieter, der abends mit einem Frauenzimmer nach Hause gekommen sei und bis drei Uhr morgens alle im Schlaf gestört habe.
Während dieses Geschwätzes betrachtete sie die junge Frau mit den Mienen unbezwinglicher Neugier und schien nur dahin gekommen zu sein und sich unter den Fenstern aufgepflanzt zu haben, um eine Vermutung, die sie hegte, bestätigt zu finden.
»Herr Lantier schläft wohl noch?« fragte sie plötzlich.
»Jawohl, er schläft,« antwortete Gervaise und errötete unwillkürlich.
Madame Boche sah, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Ohne Zweifel befriedigt von dem Ergebnis ihrer Nachforschung, entfernte sie sich, etwas von verdammten Taugenichtsen vor sich hinmurmelnd; plötzlich jedoch kam sie zurück und rief:
»Sie wollten doch heute morgen zum Waschhaus gehen, nicht wahr? Ich habe etwas zu waschen und werde Ihnen einen Platz neben mir freihalten, dann können wir plaudern.«
Wie von plötzlichem Mitleid erfaßt, fuhr sie fort:
»Meine arme Kleine, Sie würden gut tun, vom Fenster wegzugehen, Sie werden sich etwas holen. Sie sind ja schon ganz blau gefroren!«
Gervaise blieb eigensinnig noch zwei tödlich lange Stunden am Fenster bis acht Uhr. Jetzt waren die Läden geöffnet. Der Strom der Blusenmänner, der von den Höhen herabkam, hatte aufgehört, und bloß einige Nachzügler passierten die Zollgrenze eiligen Schrittes. Bei den Weinwirten standen noch dieselben Männer, die weiter tranken, husteten und spien.
Den Arbeitern waren die Arbeiterinnen gefolgt; Plätterinnen, Modistinnen, Blumenmacherinnen gingen in ihren engen Kleidchen zu dreien oder vieren die äußeren Boulevards entlang, lebhaft plaudernd, leise lachend und leuchtende Blicke um sich werfend; hin und wieder kam eine einzelne, mager, mit bleichen, ernsten Mienen, diese ging an der Mauer des Schlachthauses entlang, indem sie sorgfältig die Schmutzpfützen vermied. Hierauf waren die Beamten vorübergegangen; in die Finger blasend, aßen sie ihr Sousbrötchen im Gehen; es waren meist abgemagerte junge Leute mit kurzen Kleidern, deren matte Augen noch mit dem Schlafe kämpften; oder kleine alte Männchen, die mit kurzen schnellen Schritten dahinliefen, mit bleichem Antlitze und abgenützt durch die langen Bürostunden; sie sahen nach der Uhr, um ihren Schritt nach der Sekunde zu regeln. Alsdann hatten die Boulevards ihr friedliches Morgenaussehen wiedergewonnen; die Rentner der Nachbarschaft gingen in der Sonne spazieren; Mütter mit zottigen Haaren und schmutzigen Unterröcken wiegten auf ihren Armen Wickelkinder, die sie auf den Bänken trockenlegten, während eine ganze Schar taschentuchbedürftiger, halbnackter Gören sich unter Heulen, Lachen und Weinen auf der Erde umherbalgte und stieß.
Gervaise war es, als müsse sie ersticken, jetzt hoffte sie nicht mehr, und die Angst machte sie schwindeln; es schien ihr, als sei alles aus, als habe die Zeit aufgehört und als werde Lantier niemals zurückkehren.
Ihre Augen irrten von den durch das ewige, stinkende Blutbad geschwärzten Mauern der allen Schlachthäuser hinüber zu dem neuen bleichen Krankenhause, durch dessen noch offene Fensterreihen man in die nackten Säle blickte, in denen der Tod seine fürchterliche Ernte halten sollte. Ihr gegenüber, hinter der Stadtmauer, blendete sie der leuchtende Himmel, das Aufsteigen des Sonnenballs, der höher und höher sich über der erwachenden, ungeheuren Stadt erhob.
Die junge Frau hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, ihre Arme hingen schlaff hernieder, sie weinte nicht mehr, als Lantier ruhig eintrat.
»Du bist es? Du bist es?« rief sie und wollte ihm um den Hals fallen.
»Ja, ich bin es, was weiter? Du wirst doch nicht wieder deine Dummheiten anfangen?«
Er war ihr ausgewichen. Dann warf er mit einer übellaunigen Bewegung seinen schwarzen Filzhut auf die Kommode. Lantier war ein kleiner, sehr dunkelfarbiger Bursche von sechsundzwanzig Jahren, mit einem hübschen Gesicht und einem kleinen Schnurrbart, den er stets mit einer unwillkürlichen Handbewegung drehte. Er trug eine Arbeiterbluse, einen alten fleckigen Überrock, den er über die Taille zuknöpfte, und sprach mit sehr bemerklich provenzalischem Dialekt.
Gervaise war auf den Stuhl zurückgesunken und beklagte sich leise in kurzen Sätzen.
»Ich habe kein Auge schließen können … Ich glaubte, man hätte dich in eine Schlägerei verwickelt … Wo bist du denn gewesen? Wo hast du die Nacht zugebracht? Mein Gott, fange nicht wieder so an, ich werde sonst wahnsinnig … Sage, August, wo bist du gewesen?«
»Wo ich zu tun hatte, zum Donnerwetter!« sagte er mit Achselzucken. »Ich war um acht Uhr auf dem Eiskeller bei dem Freunde, der die Hutfabrik errichten will. Ich habe mich verspätet und da zog ich es vor, dort zu schlafen … Übrigens du weißt, ich liebe es nicht, wenn man mich ausfragt. Laß mich in Ruhe!«
Die junge Frau begann wiederum zu schluchzen. Der Ton seiner Stimme, die rücksichtslosen Bewegungen Lantiers, der die Stühle umherrückte, weckten die Kinder. Sie richteten sich halb nackt und, die Haare mit ihren kleinen Händchen entwirrend, von ihrem Lager auf. Als sie ihre Mutter weinen sahen, weinten auch sie mit ihren kaum geöffneten Augen und fingen ein entsetzliches Geschrei an.
»Da haben wir die Musik!« rief Lantier wütend. »Ich sage euch, ich nehme die Türe in die Hand und gehe, aber dieses Mal … auf Nimmerwiedersehen … Wollt ihr wohl stille sein? Lebt wohl, ich gehe dahin, wo ich hergekommen bin.«
Er hatte schon seinen Hut wieder von der Kommode genommen. Aber Gervaise stürzte auf ihn zu und stammelte: »Nein, nein!«
Sie erstickte die Tränen der Kinder mit ihren Liebkosungen. Sie küßte ihre Haare und legte sie mit sanften Worten wieder nieder. Die Kleinen waren schnell beruhigt, sie lachten auf ihrem Kopfkissen und belustigten sich damit, einander zu kneifen. Indes hatte sich der Vater, ohne selbst seine Stiefel auszuziehen, auf das Bett geworfen; seine Mienen waren abgespannt, sein Gesicht bewegungslos und bleich durch die verschwelgte Nacht. Er schlief nicht ein, sondern spähte mit offenen Augen im Zimmer umher.
»Das ist ja recht sauber hier!« murmelte er und setzte dann, nachdem er einen Augenblick Gervaise betrachtet hatte, boshaft hinzu:
»Du wäschst dich wohl gar nicht mehr?«
Gervaise war erst zweiundzwanzig Jahre alt. Sie war groß, ein wenig mager, mit feinen Zügen, in denen sich die Härte ihres Daseins schon aussprach. Ungekämmt, in Morgenschuhen, zitternd vor Kälte in ihrer weißen Nachtjacke, auf der die Möbel die Spuren von Staub und Schmutz zurückgelassen hatten, schien sie durch die soeben durchlebten angst- und tränenreichen Stunden um zehn Jahre gealtert. Das Wort Lantiers ließ sie ihre furchtsame und duldende Haltung aufgeben.
»Du bist nicht gerecht,« sagte sie wieder lebhafter, »du weißt wohl, daß ich alles tue, was ich kann. Es ist nicht meine Schuld, daß wir hier sitzen … Ich möchte einmal sehen, was du mit den beiden Kindern anfängst in einem Zimmer, wo nicht einmal ein Ofen ist, in dem man warmes Wasser machen kann … Man hätte sich gleich, als wir nach Paris kamen, anstatt dein Geld zu vergeuden, irgendwo festsetzen sollen, wie du es auch versprochen hattest.«
»Ei, sieh doch!« schrie er, »erst hast du das goldene Kalb mit mir aufgefressen, und jetzt gefällt dir das Leben nicht mehr, weil es an feinen Bissen fehlt.
Sie schien ihn nicht zu hören und fuhr fort:
»Gleichviel, mit ein wenig Anstrengung wird man immer noch über Wasser bleiben können. Ich habe gestern Madame Fauconnier gesprochen, die Wäscherin aus der Neuen Straße, sie wird mich am Montag nehmen. Wenn du dich mit deinem Freunde vom Eiskeller zusammentätest, so würden wir binnen sechs Monaten wieder flott werden, das ist gerade Zeit genug, um uns etwas Kleider auf den Leib zu schaffen und irgendwo ein kleines Loch zu mieten, wo wir für uns wären … man müßte arbeiten, arbeiten … «
Als Lantier sich gelangweilt der Wand zukehrte, wurde Gervaise heftiger.
»Ja, ja, so ist es, ich weiß wohl, daß du der Arbeit gern aus dem Wege gehst. Du platzest vor Ehrgeiz, du möchtest wie ein Stutzer angezogen gehen und liederliche Weibsbilder mit seidenen Röcken spazieren führen. Nicht wahr? Ich bin dir nicht mehr fein genug, seit du mich alle meine Kleider auf das Leihhaus hast tragen lassen … Sieh, August, ich wollte dir davon nicht sprechen, ich hätte noch gewartet, aber ich weiß, wo du heute nacht gewesen bist; ich habe dich in den »Großen Balkon« hineingehen sehen mit dieser Schlampe, der Adele. Du suchst sie dir gut aus! Das ist mir eine Saubere, die hat recht, wenn sie wie eine Prinzessin schön tut … Das ganze Restaurant hat schon mit ihr geschlafen.«
Mit einem Satz war Lantier aus dem Bette. Seine Augen funkelten so schwarz wie Tinte in seinem blassen Gesicht. Bei diesem kleinen Kerl fachte der Zorn einen Sturm an.
»Ja, ja, das ganze Restaurant!« wiederholte die junge Frau. »Madame Boche wird sie aus dem Hause tun, sie und ihre große Klapper von Schwester, weil ihre Liebhaber immer die Treppe belagern.
Lantier erhob seine beiden Fäuste; doch dem Drange widerstehend, sie zu schlagen, ergriff er ihre Arme, drückte sie nieder und schleuderte sie gegen das Bett der Kinder, die von neuem zu schreien anfingen.
Er legte sich wieder nieder mit der wilden Miene eines Mannes, der einen Entschluß gefaßt hat, vor dem er bisher noch zurückschrak.
»Du weißt nicht, was du da eben angerichtet hast, Gervaise … Du hast unrecht gehabt, du wirst es sehen!«
Schon während des vorhergehenden Wortwechsels hatten die Kinder wiederum zu schluchzen angefangen. Ihre Mutter war über den Rand des Kinderbettchens gebeugt geblieben und hielt beide umarmt; sie wiederholte wohl zwanzigmal mit eintöniger Stimme die Worte:
»Wenn ihr nur nicht da wäret, meine armen Kleinen! … Wenn ihr nicht da wäret! … Wenn ihr nicht da wäret!« …
Lantier hörte nichts von alledem; ruhig ausgestreckt, die Augen nach oben auf den Lappen verblichenen Kattuns gerichtet, vertiefte er sich mehr und mehr in seinen vorgefaßten Gedanken. Er blieb so beinahe eine Stunde, ohne dem Schlafe nachzugeben, obwohl ihm die Müdigkeit die Augenlider niederdrückte. Als er sich herumdrehte und sein hartes, entschlossenes Gesicht auf den Ellenbogen stützte, hatte Gervaise die letzte Hand an die Reinigung des Zimmers gelegt. Sie machte das Bett der Kinder, die sie soeben aufgenommen und angezogen hatte. Er beobachtete sie, wie sie fegte und die Möbel abwischte; das Zimmer blieb düster und jämmerlich mit seiner rauchgeschwärzten Decke, seinen durch die Feuchtigkeit losgelösten Tapeten, seinen drei Stühlen und der verkrüppelten Kommode, auf welcher der Schmutz sich unter dem Wischlappen immer mehr ausbreitete, anstatt zu verschwinden. Während sie ihren Oberkörper wusch, nachdem sie ihre Haare vor dem kleinen, an einem Haken aufgehängten Drehspiegel, der ihm zum Rasieren diente, aufgesteckt hatte, schien er ihre nackten Arme, ihren nackten Hals, all das Nackte, das sie zeigte, zu prüfen, als ob er im Geist Vergleiche anstelle.
Er zuckte höhnisch mit der Lippe. Gervaise hinkte auf dem rechten Bein, aber man bemerkte es nur, wenn sie sehr ermüdet war, wenn ihre Beine wie zerschlagen waren und sie sich gehen ließ. Gebrochen durch ihre ruhelose Nacht, schleppte sie diesen Morgen das Bein nach und stützte sich an den Wänden.
Völliges Schweigen herrschte, sie hatten kein Wort mehr gewechselt. Er schien zu warten. Sie bemühte sich, gleichgültig zu erscheinen, während sie ihren Schmerz hinunterwürgte; hastig arbeitete sie fort. Als sie ein Paket schmutziger Wäsche zusammenband, die in einer Ecke hinter dem Koffer gelegen hatte, öffnete er endlich die Lippen und fragte:
»Was machst du da? … Wo gehst du hin?« …
Sie antwortete zuerst nicht. Als er dann seine Frage wütend wiederholte, entschied sie sich.
»Du siehst es ja … Ich will waschen … Die Kinder sollen nicht vor Schmutz verkommen.«
Er ließ sie noch zwei oder drei Taschentücher aufraffen und fragte nach einem neuen Stillschweigen:
»Hast du Geld?«
Sofort richtete sie sich auf und sah ihm gerade ins Gesicht, ohne die schmutzigen Hemden der Kleinen, die sie in der Hand hielt, fahren zu lassen.
»Geld? Wo soll ich es stehlen? … Du weißt sehr wohl, daß ich vorgestern drei Franken auf meinen schwarzen Unterrock bekommen habe. Davon haben wir zweimal gefrühstückt, damit kommt man nicht weit bei dem Wursthändler … Nein, ich habe kein Geld. Ich habe vier Sous für das Waschhaus … Ich verdiene kein Geld wie gewisse Frauenzimmer.«
Ohne sich bei dieser Bemerkung aufzuhalten, war er vom Bett herabgestiegen und musterte die im Zimmer aufgehängten Lumpen. Endlich nahm er die Hosen und den Schal, öffnete die Kommode und fügte dem Paket eine Nachtjacke und zwei Frauenhemden hinzu; das ganze warf er Gervaise auf den Arm.
»Da, trage es ins Loch!«
»Soll ich die Kinder nicht auch hintragen?« fragte sie. »Wenn man die Kinder auch versetzen könnte, das wäre schön!«
Dennoch ging sie zum Leihhause Mont-de-Piété. Als sie nach Verlauf einer halben Stunde zurückkam, legte sie ein Fünffrankenstück auf den Kamin und fügte den Pfandschein den anderen hinzu, die zwischen den beiden Leuchtern lagen.
»Da, das haben sie mir gegeben!« sagte sie. »Ich wollte sechs Franken, aber es war keine Möglichkeit. Die sehen schon, wo sie bleiben … Und eine Menge Leute ist immer da drin!«
Lantier nahm nicht gleich das Fünffrankenstück. Er hätte gewünscht, daß sie wechselte, um ihr etwas zu lassen. Aber als er auf der Kommode in Papier gewickelt noch einen Rest von Schinken und einen Brotkanten sah, entschied er sich, das Geldstück in seine Westentasche gleiten zu lassen.
»Ich bin nicht zur Milchfrau gegangen, weil wir ihr acht Tage die Milch schulden,« setzte Gervaise auseinander. »Aber ich werde früh wiederkommen. Du kannst hinuntergehen, ein Brot und panierte Koteletten holen, während ich nicht da bin, dann werden wir frühstücken … Du kannst auch einen Liter Wein mitbringen.«
Er sagte nicht nein. Der Friede schien wiederhergestellt. Die junge Frau ging wieder daran, ihr Paket schmutziger Wäsche fertigzumachen. Aber als sie die Hemden und Strümpfe Lantiers aus dem Koffer nehmen wollte, rief er ihr zu, es zu lassen.
»Laß meine Wäsche, hörst du? Ich will nicht!«
»Was willst du nicht?« fragte sie und richtete sich auf. »Du kannst doch nicht etwa diese Schmutzlappen noch einmal anziehen? Es tut not, sie zu waschen.«
Als sie ihn prüfend anschaute, wurde sie unruhig, da sie auf seinem hübschen Gesicht denselben Ausdruck von Härte wiederfand, als ob nichts ihn künftig erweichen könne. Er wurde böse, riß ihr die Wäsche aus den Händen und warf sie in den Koffer zurück.
»Himmel Donnerwetter! Wirst du denn einmal gehorchen, wenn ich dir sage, ich will nicht?«
»Aber weshalb?« fing sie wieder an. Sie erbleichte, ein furchtbarer Verdacht stieg in ihr auf. »Du brauchst ja deine Hemden jetzt nicht, du willst ja nicht fortgehen … Was kann dir daran liegen, daß ich sie mitnehme?«
Er zögerte einen Augenblick, da ihn die brennenden Augen, mit denen sie ihn anstarrte, verlegen machten.
»Weshalb? Weshalb?« stotterte er … »Zum Donnerwetter! Du wirst noch sagen, daß du mich aushältst, daß du für mich wäschst und ausbesserst. Das paßt mir nicht. Besorge du deine Sachen, ich werde meine besorgen … Die Waschfrauen arbeiten nicht für die Hunde.«
Obwohl sie ihn bat und sagte, daß sie sich niemals beklagt habe, warf er doch in roher Weise den Koffer zu, setzte sich darauf und schrie ihr sein Nein entgegen. Er sei wohl noch Herr seiner Sachen! Um den Blicken zu entgehen, mit denen sie ihn verfolgte, warf er sich wieder auf das Bett, sagte, daß er müde sei und daß sie ihm nicht noch mehr den Kopf toll machen solle. Dieses Mal schien er wirklich einzuschlafen.
Gervaise blieb einen Augenblick unentschieden, sie dachte daran, das Paket Wäsche mit dem Fuß zurückzustoßen, sich niederzusetzen und zu nähen. Das regelmäßige Atemholen Lantiers machte sie wieder sicherer. Sie nahm das Waschblau und das Stück Seife, das ihr von ihrer letzten Wäsche geblieben war, trat zu den Kleinen, die ruhig vor dem Fenster mit alten Korken spielten und sagte ihnen mit leiser Stimme, indem sie sie küßte:
»Seid recht artig und macht keinen Lärm. Papa schläft!«
Als sie das Zimmer verließ, ertönte das gedämpfte Lachen von Claude und Etienne in der großen Stille unter der rauchgeschwärzten Decke. Es war zehn Uhr. Ein Sonnenstrahl stahl sich durch das halbgeöffnete Fenster.
Auf dem Boulevard wandte sich Gervaise zur Linken und bog in die Neue Goldtropfengasse ein. Als sie an dem Laden der Madame Fauconnier vorüberkam, grüßte sie mit einem leichten Kopfnicken.
Die Waschanstalt lag in der Mitte der Straße an einer Stelle, wo das Pflaster bergan zu gehen anfing. Über einem niedrigen Gebäude zeigten drei ungeheure Wasserbehälter von starkem Zink ihre grauen Rundungen, während dahinter in einem zweiten, sehr hohen Stockwerk sich der Trockenraum erhob, von allen Seiten durch Jalousien aus schmalen Holzplättchen geschlossen, zwischen denen die Luft freien Spielraum hatte, und durch deren Öffnungen man auf Messingdrähten trocknende Wäsche sah. Der enge Schlot der Maschine stieß mit regelmäßigem Ächzen den Dampf aus. Gervaise schritt durch die Eingangstür, ohne die Röcke hochzunehmen wie eine Frau, die es gewöhnt ist, durch Wasserlachen zu gehen. Der Zugang war durch große Bütten von Fleckwasser fast versperrt. Sie kannte dieBesitzerin der Waschanstalt, eine kleine zarte Frau mit kranken Augen, die in einem Kabinett mit Glasscheiben saß; vor sich hatte sie Stücke Seife, auf den Regalen stand Waschblau und kohlensaure Soda in Paketen. Im Vorbeigehen forderte sie von ihr ihren Waschschlegel und ihre Bürste, die sie ihr bei der letzten Wäsche zum Aufbewahren gegeben hatte. Nachdem sie ihre Nummer genommen, trat sie in die Waschanstalt.
Es war ein ungeheurer Schuppen mit niedriger Decke, deren sichtbares Gebälk auf gußeisernen Säulen ruhte; große helle Fenster erleuchteten den Raum. Das bleiche Tageslicht drang frei durch den heißen Dunst, der wie ein milchweißer Nebel in der Luft hing. Aus verschiedenen Ecken stiegen Dämpfe auf, die sich ausbreiteten und die Enden des Schuppens in bläuliche Schleier hüllten. Eine schwere, mit Seifendünsten geschwängerte Feuchtigkeit tropfte hernieder, die bald von stärkeren Strömen von Fleckwasserdämpfen verschlungen wurde. Längs der Vorrichtungen zum Schlagen der Wäsche, die an beiden Seiten des Mittelganges hinliefen, standen Reihen von Frauen, deren Arme bis zu den Schultern entblößt waren; die Hälse waren nackt, und die verkürzten Röcke ließen farbige Strümpfe und grobe Schnürschuhe sehen. Sie hieben kräftig auf die Wäsche ein, lachten und beugten sich vor, um sich in dem Lärm ein Wort zuzurufen; unmäßig beschmutzt, schlampig und durchnäßt wie von einem Sturzregen, Arme, Gesicht und Busen gerötet und dampfend, beugten sie sich auf den Grund ihrer Wäschezuber nieder. Um sie herum und unter ihnen flutete ein fortwährender Strom, die Eimer heißen Wassers, die herbeigebracht und auf einmal geleert wurden, die geöffneten Kaltwasserhähne, aus denen das Wasser herabfloß, der mit Seifenschaum vermischte Schmutz, der unter den Waschschlegeln hervorquoll, das Abtropfwasser der gespülten Wäsche, und endlich die Pfützen, in denen sie umherpatschten, das alles floß in kleinen Bächen über den abschüssigen steinernen Fußboden dahin. Inmitten all dieses Schreiens, der regelmäßig ertönenden Schläge, des murmelnden Regengeräusches und dieses Sturmgeheuls, das von der niedrigen feuchten Decke erstickt wurde, schien die in einen weißen Tau gehüllte Dampfmaschine zur Rechten, die ohne Unterlaß keuchte und stöhnte, mit dem tanzenden Beben ihres Schwungrades, den ungeheuren Lärm zu beherrschen.
Indes schritt Gervaise mit kleinen Schritten den Mittelgang entlang und blickte sich rechts und links um. Sie trug ihren Pack Wäsche auf dem Arm, mit vorgeschobener Hüfte, stärker hinkend bei dem Hin- und Herlaufen der Wäscherinnen, die sie anstießen.
»Heda! Hierher! Kleine!« schrie die fette Stimme der Madame Boche.
Als die junge Frau ganz am Ende zu ihrer Linken sich niedergelassen hatte, fing die Pförtnersfrau, die heftig an einem Strumpfe rieb, in kurzen Sätzen zu reden an, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.
»Fangt nur hier an, ich habe Euch den Platz aufbewahrt … Bei mir wird es nicht mehr lange dauern. Boche macht seine Wäsche fast gar nicht schmutzig … Und bei Euch? da wird es ja auch keine Ewigkeit währen, nicht wahr? Euer Paket ist ja ganz klein. Ehe es Mittag ist, haben wir es fertig, und dann können wir frühstücken gehen … Ich gab meine Wäsche an eine Wäscherin in der Pouletstraße, aber sie brachte mir alles hin mit ihrem Chlor und ihren Bürsten. Jetzt wasche ich selbst, das ist reiner Verdienst. Es kostet ja nichts als Seife … Sagt doch, da habt Ihr Hemdchen, die hättet Ihr einweichen sollen. Diese verteufelten kleinen Gören, es ist, als ob sie Ruß am Hintern hätten! Gervaise machte ihr Paket auseinander und breitete die Kinderhemdchen aus. Als Madame Boche ihr riet, einen Eimer Laugewasser zu nehmen, antwortete sie:
»O nein, heißes Wasser wird genügen … ich verstehe mich darauf.«
Sie hatte die Wäsche ausgesucht und die wenigen farbigen Stücke beiseite gelegt. Als sie darauf ihren Waschzuber mit vier Eimern kalten Wassers gefüllt hatte, das sie aus einem hinter ihr befindlichen Hahn nahm, tauchte sie die ganze Masse der weißen Wäsche hinein; ihre Röcke hochhebend und zwischen die Schenkel ziehend, stellte sie sich in einen aufrechtstehenden Holzkasten, der ihr bis zum Bauch hinaufreichte.
»Ihr versteht Euch darauf, wie ich sehe«, wiederholte Madame Boche. »Ihr waret Wäscherin in Eurer Heimat, nicht wahr, Kleine?«
Gervaise hatte ihre Ärmel zurückgeschlagen und zeigte die schönen Arme einer noch jugendlichen Blondine, die kaum an den Ellenbogen einen leichten rötlichen Anflug hatten; sie begann ihre Wäsche vom Schmutz zu befreien. Sie hatte soeben ein Hemdchen auf dem geraden Brett der Schlagevorrichtung, welches durch das Wasser gebleicht und abgenutzt war, ausgebreitet, rieb es mit Seife, wandte es um und seifte es auch auf der anderen Seite ein. Ehe sie antwortete, ergriff sie ihr Schlagholz und begann zu schlagen, schrie ihre Sätze und begleitete sie mit taktmäßigen Schlägen.
»Ja, ja, Wäscherin … Schon mit zehn Jahren, das sind jetzt zwölf Jahre her … Wir gingen an den Fluß … Da roch es besser als hier … Man muß es sehen … da war eine Ecke unter Bäumen … wo klares Wasser floß … Sie wissen, in Plassans … Sie kennen Plassans nicht? Dicht bei Marseille?«
»Die hat es raus!« rief Madame Boche, ganz entzückt von den mächtigen Schlägen des Waschholzes. »Was für ein Frauenzimmer! Die könnte ja Eisen platt schlagen mit den zarten Ärmchen eines Fräuleins!«
Die Unterhaltung wurde sehr laut fortgeführt. Öfter mußte die Pförtnersfrau sich vorbeugen, um besser zu hören. Alle weiße Wäsche wurde geschlagen, und das gründlich! Gervaise tauchte sie in die Waschbütte zurück und nahm Stück für Stück, um es ein zweites Mal einzuseifen und zu bürsten. Mit einer Hand hielt sie das Wäschestück auf dem Brette fest, mit der anderen, in der sie eine kurze Bürste von Hundsgras hatte, zog sie von der Wäsche den schmutzigen Seifenschaum, der in langen Flocken niederfiel. Bei dem geringen Geräusch, das die Bürste machte, näherten sie sich einander und plauderten angelegentlicher.
»Nein, wir sind nicht verheiratet«, hub Gervaise wieder an. Ich mache daraus kein Hehl. Lantier ist nicht so gut zu mir, daß man seine Frau sein möchte. Wenn die Kinder nicht da wären, holla! … Ich war vierzehn Jahre und er achtzehn, als wir unser erstes hatten. Das andere kam vier Jahre später … Es kam so, wie es gewöhnlich geht, wissen Sie. Ich war bei uns nicht glücklich, der Vater Macquart traktierte mich mit Fußtritten für jedes dritte Wort. Mein Gott, da denkt man daran, sich außer dem Hause zu amüsieren … Man hätte uns verheiratet, aber ich weiß nicht mehr recht, unsere Eltern wollten nicht.«
Sie schüttelte ihre Hände, die sich unter dem weißen Seifenschaum röteten.
»Das Wasser ist hübsch hart in Paris«, sagte sie.
Madame Boche wusch nur noch scheinbar. Sie machte Ruhepausen, verlängerte ihr Einseifen, nur um noch bleiben zu können und diese Geschichte zu erfahren, die ihre Neugierde schon seit vierzehn Tagen erregte. In ihrem dicken Gesicht stand ihr Mund halb offen und ihre Glotzaugen leuchteten. Mit Befriedigung dachte sie daran, daß sie so etwas geahnt habe.
Ja, so ist es, die Kleine plaudert zuviel. Da hat es eine Zänkerei gegeben. Dann fuhr sie laut fort:
»Er ist also nicht gut zu Ihnen?«
»Sprechen Sie mir davon nicht!« antwortete Gervaise, »drüben war er sehr gut zu mir; aber seit wir nach Paris gekommen sind, kann ich nicht mehr mit ihm auskommen … Ich muß Ihnen sagen, daß seine Mutter, die im letzten Jahre gestorben ist, ihm etwas hinterlassen hat, ungefähr siebzehnhundert Franken. Er wollte nach Paris gehen. Da der Vater Macquart fortfuhr, mich mit Prügeln freizuhalten, willigte ich ein, ihn zu begleiten, so haben wir die Reise mit den beiden Kindern gemacht. Er sollte mich als Wäscherin einrichten und er in seinem Fach als Hutmacher arbeiten. Dann hätten wir glücklich sein können … Aber sehen Sie, Lantier ist einer, der oben hinauswill, ein Verschwender, ein Mensch, der nur an sein Vergnügen denkt. Kurz: er taugt nicht viel … Wir stiegen damals im Hotel Montmartre in der Montmartrestraße ab. Und da gab es denn Mittagessen, Wagen, Theater, eine Uhr für ihn, ein Seidenkleid für mich: wenn er Geld hat, ist er gutherzig. Sie verstehen wohl, bei solcher Wirtschaft saßen wir in zwei Monaten auf dem Trockenen. Damals kamen wir nach dem Hotel ›Zum guten Herzen‹, und dieses verdammte Leben fing an … «
Sie unterbrach sich, es schnürte ihr plötzlich die Kehle zusammen, und sie mußte ihre Tränen niederkämpfen. Sie war mit dem Bürsten ihrer Wäsche fertig.
»Ich muß jetzt mein heißes Wasser holen«, murmelte sie.
Aber Madame Boche, welche die Unterbrechung dieser vertraulichen Mitteilung sehr verstimmte, rief den Hausknecht der Anstalt, der gerade vorüberging.
»Lieber Karl, Sie wären sehr nett wenn Sie einen Eimer heißes Wasser holten, Madame hat es eilig.«
Der Bursche nahm den Eimer und brachte ihn voll zurück. Gervaise bezahlte, das machte einen Sou der Eimer. Sie goß das heiße Wasser in die Waschbütte, seifte die Wäsche zum letztenmal mit den Händen ein und beugte sich mitten in einem Dampf über das Waschbrett, der graue Flocken an ihre blonden Haare ansetzte.
»Haltet doch, nehmt ein wenig Soda, ich habe sie ja da!« sagte artig die Portierfrau.
Dabei leerte sie in die Waschbütte: von Gervaise den Rest eines Pakets kohlensaurer Soda, die sie mitgebracht hatte. Sie bot ihr auch Fleckwasser an, aber die junge Frau lehnte es ab. Das wäre gut für Fett- und Weinflecke.
»Ich glaube, daß er ein bißchen den Frauenzimmern nachläuft«, begann Madame Boche, indem sie wieder auf Lantier zurückkam, ohne ihn zu nennen.
Gervaise, die mit gebeugtem Rücken tief in der Wäsche wühlte, begnügte sich, mit dem Kopfe zu nicken.
»Ja, ja,« fuhr die andere fort, »ich habe so mehrere kleine Sachen bemerkt … «
Aber sie hielt inne, als sich Gervaise mit einer plötzlichen Bewegung aufrichtete und sie ganz bleich anstarrte.
»Nein, ich weiß ja nichts! … Er schäkert gern ein bißchen, glaube ich, das ist alles … Da sind die beiden Mädchen, die bei uns wohnen, Adele und Virginie, Ihr kennt sie ja, nun! Er macht seine Späße mit ihnen, aber weiter geht es sicher nicht!«
Die junge Frau stand noch immer aufgerichtet vor ihr, das Gesicht in Schweiß gebadet, die Arme triefend, und betrachtete sie mit stieren, tiefen Blicken. Jetzt tat die Portierfrau gekränkt, sie schlug sich mit der Faust vor die Brust und gab ihr Ehrenwort:
»Ich weiß ja nichts, wenn ich es Euch sage!« Und dann fügte sie ruhiger mit zuckersüßer Stimme hinzu wie man zu einer Person spricht, der die Wahrheit nicht gut ist:
»Ich finde, er hat einen recht offenen Blick … Er wird Sie heiraten, Kleine, ich verspreche es Ihnen!«
Gervaise wischte sich mit der nassen Hand über die Stirn. Dann zog sie ein anderes Wäschestück aus dem Wasser und nickte von neuem mit dem Kopfe. Einen Augenblick schwiegen beide. Um sie herum war es im Waschhaus ruhiger geworden. Es schlug elf Uhr. Die Hälfte der Wäscherinnen aßen, mit einem Bein auf dem Rande ihrer Waschzuber, mit einem entkorkten Liter Wein zu ihren Füßen, Würstchen zu Stücken langen Brotes. Nur die daheim eine Wirtschaft hatten und hier nur ein kleines Paket Wäsche wuschen, beeilten sich und sahen oft nach der großen Uhr, die über dem Bureau angebracht war. Hin und wieder ertönte noch ein verlorener Schlag mit dem Waschholz inmitten gedämpften Gelächters und abgerissener Unterhaltungen, die in dem Geräusch gierig kauender Kinnbacken untergingen, während die Dampfmaschine ohne Rast und Ruhe fortarbeitete und mit ihrer zitternden, schnarchenden Stimme den ungeheuren Raum erfüllte. Aber keine der Frauen hörte sie, sie war gleichsam die Lunge der Waschanstalt, deren glühender Atem die Wolken von Laugedämpfen unter dem Gebälk der Decke anhäufte, die dort auf und nieder wogten. Die Hitze wurde mit der Zeit unerträglich. Die durch die hohen Fenster zur Linken hereinbrechenden Sonnenstrahlen erzeugten in den rauchenden Dämpfen opalfarbige Gebilde, die in lichtem Rosa und feinem Graublau schimmerten. Als man sich beklagte, ging der Hausknecht Karl von einem Fenster zum anderen und ließ die Vorhänge von grober Leinwand herunter, auf der Schattenseite öffnete er die Luftfenster. Man belobte ihn und klatschte ihm Beifall; eine allgemeine Lustigkeit bemächtigte sich der Gesellschaft. Bald verstummten auch die letzten Schläge der Waschhölzer. Die Wäscherinnen saßen mit vollem Munde da und machten keine anderen Bewegungen mehr als mit den geöffneten Messern, die sie in den Fäusten hielten. So stille wurde es, daß man ganz am Ende des Raumes das Geräusch der Schaufel des Heizers hörte, wenn er die Steinkohlen in den Ofen der Maschine warf. Indessen wusch Gervaise ihre farbigen Wäschestücke in dem heißen Seifenwasser, das sie noch erübrigt hatte. Als es beendet war, holte sie einen Bock herbei und warf die Wäschestücke quer darüber, was auf dem Fußboden bläuliche Lachen entstehen ließ. Hierauf begann sie zu spülen. Hinter ihr floß kaltes Wasser aus einem Hahn, der über einer großen, auf dem Boden befestigten Waschbütte angebracht war. Im Innern dieser Bütte waren zwei Querhölzer zum Auflegen der Wäsche. Darüber etwas höher befanden sich zwei andere Hölzer, um die Wäsche abtropfen zu lassen.
»Jetzt ist ja endlich alles fertig«, sagte Madame Boche. »Ich bleibe und helfe Ihnen alles ausringen.«
»Das verlohnt nicht der Mühe, ich danke schön!« antwortete die junge Frau, die mit ihren: Fäusten die farbigen Stücke im klaren Wasser durchknetete und umschwenkte. »Wenn es Bettücher wären, wollte ich nichts sagen.«
Aber nichtsdestoweniger mußte sie sich die Hilfe der Pförtnersfrau gefallen lassen. Sie rangen gerade beide, jede an einem Ende einen Unterrock von schlecht gefärbter kastanienbrauner Wolle aus, von dem ein gelbliches Wasser abfloß, als Madame Boche plötzlich ausrief:
»Sieh da! Die große Virginie! … Was will denn die hier waschen, etwa die vier ins Taschentuch gebundenen Lappen?«
Gervaise hatte lebhaft den Kopf erhoben. Virginie war ein Mädchen in ihrem Alter, größer als sie, sehr brünett, jedoch hübsch trotz ihres etwas länglichen Gesichts. Sie trug ein altes schwarzes Kleid mit Spitzen und hatte ein rotes Band um den Hals gebunden; sie war sorgfältig frisiert und ihr Haarknoten mit einem blauen Netz bedeckt. Als sie den Mittelgang erreicht hatte, kniff sie einen Augenblick mit der Miene jemandes, der etwas sucht, ihre Augenwimpern zusammen; sowie sie Gervaise bemerkt hatte, ging sie hart an ihr vorbei mit unverschämter Miene, sich in den Hüften wiegend; sie nahm ihren Platz in derselben Reihe, etwa fünf Waschzuber von ihr entfernt.
»Was fällt denn der ein?« fuhr Madame Boche mit leiserer Stimme fort. »Niemals hat sie auch nur ein Paar Manschetten eingeseift … Ah, eine solche Faulenzerin gibt's nicht noch mal, dafür stehe ich Euch! Eine Nähterin, die nicht einmal ihre aufgeplatzten Schuhe zunäht! Die ist wie ihre Schwester, die Plätterin Adele, die Lotterliese; von drei Tagen geht sie immer nur einen auf Arbeit. Das hat weder Vater noch Mutter gekannt; das lebt, kein Mensch weiß, wovon. Wenn man da reden wollte! … Was schrubbt die denn da? Sieh doch, das ist ein Unterrock? Na, der ist aber ekelhaft; der muß saubere Dinge gesehen haben!«
Madame Boche wollte mit dem, was sie sagte, Gervaise ein Vergnügen machen. In Wahrheit ließ sie sich sehr oft mit Kaffee traktieren, wenn Adele und Virginie Geld hatten. Gervaise antwortete nicht, sie eilte, mit fliegenden Händen ihre Arbeit zu enden. Sie hatte soeben in einer kleinen Waschbütte, die auf drei Füßen stand, ihr Waschblau zurechtgemacht, tauchte die weißen Wäschestücke hinein und bewegte sie einen Augenblick in dem gefärbten Wasser, dessen Oberfläche lackfarbigen Widerschein zeigte; nach einem leichten Ausringen fügte sie die Stücke zu den übrigen, die auf den Hölzern zum Abtropfen hingen. Während dieser Beschäftigungen drehte sie Virginie absichtlich den Rücken zu. Aber sie hörte ihr spöttisches Gelächter und fühlte die auf sie gerichteten Seitenblicke. Virginie schien nur hierhergekommen zu sein, um sie herauszufordern. Einen Augenblick, als Gervaise sich herumgedreht hatte, sahen sie einander gerade in die Augen.
»Laßt sie doch zufrieden'«, flüsterte Madame Boche. »Ihr werdet euch doch nicht etwa in die Haare fahren … Wenn ich Euch sage, es ist nichts! Mit der hat er nichts vorgehabt!«
In diesem Augenblick ertönte, als die junge Frau ihr letztes Wäschestück aufhängte, Gelächter an der Eingangstür der Waschanstalt.
»Da sind ein paar Schlingel, die nach ihrer Mutter fragen!« rief Karl.
Alle Frauen sahen sich um. Gervaise erkannte Claude und Etienne. Sobald sie die Mutter erblickt hatten, liefen sie mitten durch alle Pfützen auf sie zu und klapperten mit den Hacken ihrer noch nicht zugebundenen Schuhe auf dem Fußboden. Claude, der ältere, hielt seinen jüngeren Bruder an der Hand. Die Wäscherinnen, an denen sie vorüberkamen, redeten ihnen mit zärtlichen Worten zu, da sie sahen, daß die Kinder trotz all ihrer Befangenheit lächelten. Bei ihrer Mutter angekommen, blieben sie stehen, ohne sich loszulassen und hoben ihre blonden Köpfchen in die Höhe.
»Papa schickt euch?« fragte Gervaise.
Als sie sich niederbeugte, um Etiennes Schuhe zuzubinden, bemerkte sie an Claudes Fingern den Zimmerschlüssel, dessen kupfernes Nummerschildchen herabhing.
»Ei, sieh da, du bringst mir den Schlüssel!« sagte sie sehr überrascht. »Warum denn?«
Als das Kind den Schlüssel bemerkte;, den es vergessen hatte, schien es sich zu erinnern und rief mit seiner hellen Stimme:
»Papa ist fort!«
»Er ist gegangen, um das Frühstück zu holen, und hat euch gesagt, ihr solltet hierher gehen und mich abholen.«
Claude sah seinen Bruder zaghaft an und wußte nicht mehr, was er sagen sollte.
Plötzlich fing er an:
»Papa ist weg … Er ist vom Bett gesprungen, hat alle Sachen in den Koffer getan, dann hat er den Koffer hinuntergetragen in eine Droschke. Er ist fortgefahren!«
Gervaise, die zusammengekauert war, erhob sich langsam mit bleichem Gesicht; sie legte die Hände an Backen und Schläfe, als ob der Kopf ihr zerspringen wollte. Sie fand keine Worte, wohl zwanzigmal wiederholte sie in demselben Tone:
»O mein Gott! O mein Gott! … O mein Gott! … «
Madame Boche fragte indessen ihrerseits die Kinder aus; sie war ganz erregt, in eine so interessante Sache verwickelt zu sein.
»Sieh mal, mein Kleiner, man muß die Sache ordentlich erzählen … Er schloß die Tür zu und sagte euch, ihr solltet den Schlüssel hierher bringen, nicht wahr? Und leise sagte sie Claude ins Ohr: War eine Dame im Wagen?«
Das Kind wurde verlegen. Endlich fing es noch einmal mit triumphierender Miene seine Geschichte an.
»Er ist vom Bett gesprungen, hat die Sachen in den Koffer getan, und dann ist er fort« …
Da Madame Boche die Kinder gehen ließ, zog Claude seinen Bruder an einen Hahn. Hier amüsierten sich beide, das Wasser laufen zu lassen.
Gervaise konnte nicht weinen. Gegen ihre Waschbank gelehnt, die Hände vor dem Gesicht, war es ihr, als müsse, sie ersticken. Von Zeit zu Zeit überrieselte sie ein Schüttelfrost, und tiefe Seufzer entrangen sich ihrer Brust. Sie preßte ihre Hände fester gegen die Augen, gleichsam sich verlierend in das schwarze Nichts ihrer Verlassenheit. Es schien ihr ein von Nebeln umwogter Abgrund, den sie unaufhörlich hinabstürzte.
»Aber zum Teufel auch, mein Kind!« murmelte Madame Boche.
»O wenn Ihr wüßtet! Wenn Ihr wüßtet!« sagte sie endlich ganz leise. »Heute morgen hat er mich meinen Schal und meine Hemden ins Leihhaus tragen lassen, um diesen Wagen zu bezahlen.« …
Sie weinte. Die Erinnerung an den Weg nach dem Leihhause vergegenwärtigte ihr die Vorgänge des Morgens und entriß ihr Seufzer, die sie zu ersticken drohten. Dieser Gang war eine Abscheulichkeit, in all ihrer Verzweiflung schmerzte das am heftigsten. Die Tränen, die ihre Hände schon genetzt hatten, flossen über ihr Kinn herab, ohne daß sie daran dachte, ihr Taschentuch zu nehmen.
»Seid doch vernünftig und verhaltet Euch ruhig, man beobachtet Euch«, sagte Madame Boche, die sich um sie bemühte. Wie kann man sich nur eines Mannes wegen soviel Gram machen! … Ihr liebt ihn wohl immer noch, wie? mein armes Herzchen. Eben wäret Ihr doch gar nicht so besonders gut auf ihn zu sprechen, und jetzt heult Ihr um ihn, daß es Euch das Herz abstößt … Mein Gott, was sind wir Frauen für dumme Geschöpfe!«
In mütterlichem Tone fuhr sie fort:
»Ein so hübsches kleines Frauenzimmer wie Ihr! Ist das wohl erhört! … Jetzt kann man Euch wohl alles sagen, nicht wahr? Ihr erinnert Euch, als ich heute morgen an Euren Fenstern vorbeiging, da ahnte ich schon so etwas … Stellt Euch vor: als Adele heute nacht nach Hause kam, hörte ich den Schritt eines Mannes neben dem ihrigen. Da ich wissen wollte, was vorging, guckte ich die Treppe hinauf. Das Bürschchen war schon im zweiten Stock, aber ich habe dennoch sehr gut den Überrock von Herrn Lantier erkannt. Boche, der diesen Morgen auf der Lauer lag, hat ihn ruhig die Treppe herabkommen sehen … Wie ich Euch sagte, er war mit Adele. Virginie hat jetzt einen Herrn, zu dem sie zweimal die Woche geht. Aber das ist ganz gleich; eine unsaubere Geschichte bleibt es immer, denn sie haben nur ein Zimmer und einen Alkoven, und ich weiß nicht recht, wo Virginie geschlafen haben kann.«
Sie unterbrach sich einen Augenblick, und nachdem sie sich umgewandt hatte, fuhr sie fort und dämpfte ihre grobe Stimme:
»Sie lacht, das herzlose Geschöpf da unten, weil sie Euch weinen sieht. Ich lege meine Hand ins Feuer, daß ihre ganze Wäscherei eine Falle ist … Sie hat die beiden anderen fortgeschafft und ist hierhergekommen, um ihnen zu erzählen, was Ihr für ein Gesicht zu der Sache schneiden werdet.«
Gervaise nahm ihre Hände vom Gesicht und blickte um sich. Als sie Virginie bemerkte, die, umgeben von drei oder vier Weibern, lebhaft sprach und zu ihr hinüber zeigte, ergriff sie eine blinde Wut. Mit vorgestreckten Armen, am ganzen Leibe zitternd und sich um sich selber drehend, suchte sie am Boden; einige Schritte vorstürzend, ergriff sie einen vollen Eimer mit beiden Händen und leerte ihn auf einen Wurf.
»Rindvieh! bist du unsinnig?« schrie die große Virginie.
Sie hatte einen Sprung nach rückwärts gemacht, und nur ihre Schuhe waren naß geworden. Indes strömte das ganze Waschhaus zusammen, das durch die Tränen des jungen Weibes schon in Aufruhr war. Alles wollte die Schlacht sehen. Die Wäscherinnen, die noch an ihrem Frühstücksbrot kauten, stiegen auf die Waschbütten. Andere liefen mit ihren Händen voll Seife herbei. Es bildete sich ein Kreis um die beiden.
»Dieses Vieh!« wiederholte die große Virginie. »Was fällt der denn ein, dieser Tollen!«
Gervaise antwortete nicht, sie hatte noch nicht die Zungenfertigkeit der Pariserinnen; wie zum Sprunge bereit stand sie mit vorgestrecktem Kinn und krampfhaft zuckendem Gesicht. Die andere fuhr fort:
»Seht doch! Die ist es müde, sich in der Provinz herumzutreiben, zu zwölf Jahren ist das schon Soldatenliebste gewesen, ein Bein hat sie zu Hause gelassen … Es war angefault, das Bein … «
Alles lachte. Als Virginie ihren Erfolg sah, trat sie zwei Schritte näher heran, reckte sich zu ihrer ganzen Höhe auf und fuhr lauter fort:
»Holla! Komm doch ein bißchen näher, damit ich es dir besorgen kann. – Das wäre schön, hierherkommen und die Spielverderberin machen … Ich kenne sie gar nicht mal, dieses Weibsbild! Wenn sie mich begossen hätte, würde ich ihr das Fell lose gemacht haben. Da hättet ihr mal sehen sollen. Wenn sie wenigstens sagte, was ich ihr getan habe … Sage doch, altes Wrack, was man dir getan hat?«
»Redet nur nicht soviel,« stotterte Gervaise, »Ihr wißt es wohl … Man hat meinen Mann gestern abend gesehen … Haltet das Maul, wenn ich Euch nicht erwürgen soll.«
»Ihren Mann! Ah, der Spaß ist gut! … Madames Gatte; als ob das einen Mann hätte, so ein Tolpatsch! … Kann ich was dafür, wenn er dich hat sitzen lassen … Habe ich ihn dir etwa gestohlen? Man kann mich durchsuchen … Willst du, daß ich dir's sage? Er hat einen Ekel vor dir, dieser Mann! Er war viel zu schade für dich … Hatte er wenigstens sein Halsband? Hat denn niemand Madames Gatten gefunden? … Sie zahlt Finderlohn … «
Alle fingen wieder an zu lachen. Gervaise murmelte immer nur mit leiser Stimme:
»Ihr wißt wohl, Ihr wißt es wohl … Eure Schwester ist es, Eure Schwester, ich drehe ihr den Hals um … «
»Ja doch, geh' du nur und reibe dich an meiner Schwester!« erwiderte Virginie höhnisch. »Also meine Schwester soll es sein! Das ist wohl möglich, meine Schwester sieht ein bißchen anders aus wie du … Aber was geht denn das mich an, kann man denn hier nicht mehr ruhig seine Wäsche waschen? Laß mich in Ruhe, hörst du, ich habe jetzt genug davon!«
Nachdem sie fünf oder sechs Schläge mit dem Waschholze getan hatte, kam sie zurück; die ausgestoßenen Beschimpfungen hatten sie berauscht und fortgerissen. Sie schwieg und begann dann wieder, wobei sie dreimal den ersten Satz wiederholte:
»Nun ja, es ist meine Schwester. Bist du nun zufrieden? … Sie lieben sich einmal, die beiden. Man muß es sehen, wie sie sich schnäbeln! … Er hat dich mit deinen Bastarden sitzen lassen! Das sind hübsche Wechselbälge, die die Gesichter voll Schmutz haben! Eins ist von einem Gendarmen, nicht wahr? und drei andere hast du krepieren lassen, weil du zur Reise nicht soviel Überfracht haben wolltest … Dein Lantier hat uns alles erzählt … Ach! der ist gut auf dich zu sprechen, der hat genug von dir, Vogelscheuche!«
»Du Schlampe! Du Loddrige!« heulte Gervaise ganz außer sich, während ein neuer Wutanfall bei ihr losbrach.
Sie wandte sich und suchte wieder am Boden; da sie nichts anderes fand als die kleine Waschbütte, ergriff sie diese bei den Füßen und schleuderte Virginie das Waschblau ins Gesicht.
»Schindluder! Jetzt hat sie mein Kleid verdorben!« schrie jene, deren eine Schulter ganz durchnäßt und deren linke Hand blau gefärbt war. »Warte, Dirne!«
Jetzt ergriff sie ihrerseits einen Eimer und entleerte ihn über die junge Frau. Jetzt entwickelte sich ein regelrechter Kampf. Sie liefen beide an den Waschbänken entlang, bemächtigten sich der vollen Eimer, kamen damit zurück und warfen sich das Wasser ins Gesicht. Jedes Sturzbad begleiteten sie mit lautem Geschrei und Schimpfen. Auch Gervaise antwortete jetzt:
»Da, du Drecksau! … Den hast du gekriegt. Das wird dir den Hintern abkühlen!«
»Ah! du Vettel! Da hast du was für deinen Dreck! Jetzt wirst du doch einmal in deinem Leben waschen!«
»Ja, ja, ich werde dich schon rein kriegen, du langer Stockfisch!«
»Da hast du noch einen! … Spüle dein Maul aus und mache Toilette für dein Geschäft heut abend an der Ecke der Belhommestraße.«
Sie füllten schließlich die Eimer an den Hähnen; während sie warteten, bis sie voll liefen, beschimpften sie sich weiter mit schmutzigen Worten. Die ersten schlecht geworfenen Eimer hatten sie kaum getroffen. Aber mit der Zeit bekamen sie Übung. Virginie erhielt zuerst einen vollen Eimer ins Gesicht. Das Wasser kam ihr in den Nacken und floß den Rücken hernieder, es strömte ihr in den Hals und rieselte unter ihrem Kleide hervor. Sie war noch ganz betäubt, als ein zweiter sie von der Seite traf und ihr einen starken Schlag gegen das linke Ohr gab, gleichzeitig ihren Haarknoten so durchnäßte, daß er sich wie ein Bindfaden aufrollte. Gervaise wurde zuerst an den Beinen getroffen, ein Eimer füllte ihre Schuhe, bespritzte ihre Beine, zwei andere durchnäßten sie bis an die Hüften. Bald wurde es unmöglich, die Würfe zu zählen. Sie waren eine wie die andere, triefend vom Kopf bis zu den Füßen, die Taillen klatschten an den Schultern und die Röcke klebten an den Schenkeln; abgemagert, steif und zitternd, an allen Seiten tropfend, machten sie den Eindruck von Regenschirmen nach einem Wolkenbruch.
»Das hört schon auf, spaßhaft zu sein«, sagte die rauhe Stimme einer Wäscherin.
Die ganze Waschanstalt belustigte sich ganz außerordentlich. Man hatte sich zurückgezogen, um nicht von den Würfen erreicht zu werden. Beifallsbezeugungen und Scherzworte erhoben sich inmitten des Geräusches der Wassermengen, die den hoch im Bogenwurf entleerten Eimern entströmten. Am Boden flossen Wasserlachen, die beiden Frauen wateten darin bis an die Knöchel. Unterdessen dachte Virginie an einen Überfall; sie bemächtigte sich plötzlich eines Eimers kochend heißen Laugenwassers, den eine ihrer Nachbarinnen hatte kommen lassen; diesen schleuderte sie auf Gervaise. Ein Schrei ertönte. Man glaubte, Gervaise sei verbrüht. Aber nur ihr linker Fuß war leicht gestreift worden. Mit aller Kraft und außer sich vor Schmerz schleuderte sie Virginie einen Eimer, den sie dieses Mal nicht füllte, zwischen die Beine. Diese stürzte zu Boden.
Alle Waschfrauen sprachen durcheinander.
»Sie hat ihr einen Fuß gebrochen!«
»Donnerwetter! die andere hat sie verbrühen wollen!«
»Sie hat recht, die Blonde, wenn man ihr ihren Mann abspenstig gemacht hat!«
Madame Boche hob rufend ihre Arme empor. Sie hatte sich klugerweise zwischen zwei Waschzubern gut gedeckt, und die Kinder, Claude und Etienne, hängten sich weinend, schluchzend und zu Tode erschrocken an ihre Röcke mit dem ewigen Schrei: »Mama! Mama!« den sie zwischen Schluchzen ausstießen. Als sie Virginie auf der Erde sah, lief sie herbei und zog Gervaise an den Röcken, indem sie sagte:
»Laßt es genug sein und geht fort! Seid vernünftig … Auf mein Wort! es dreht sich alles in mir um! Hat man jemals solchen Mord und Totschlag gesehen?«
Aber sie zog sich zurück und flüchtete zwischen die beiden Waschbütten mit den Kindern. Virginie war Gervaise an die Kehle gefahren. Sie zog ihren Hals hernieder und suchte sie zu erwürgen. Allein diese machte sich mit einem heftigen Rucke frei und hing sich an Virginies Chignon, als ob sie ihr den Kopf abreißen wollte. Der Kampf begann aufs neue, schweigend, ohne einen Schrei, ohne ein Schmähwort. Sie packten sich nicht Körper an Körper, sie griffen nach den Gesichtern mit geöffneten Händen; die Finger gekrümmt, kniffen und kratzten sie, was ihnen unter die Finger kam. Das rote Band und blaue Netz der großen Brünette wurden herabgerissen; ihre Kleidertaille war am Halse zerfetzt und zeigte ihre nackte Haut, ein ganzes Stück ihrer Schulter; indessen fehlte der Blonden ein Ärmel ihrer weißen Nachtjacke, ohne daß sie wußte, wie es zugegangen war, außerdem hatte sie einen Riß in ihrem Hemde, der den Ansatz ihrer Taille bloßlegte. Fetzen Stoffes flogen umher. Zuerst floß bei Gervaise Blut, drei lange Kratzwunden gingen ihr vom Munde zum Kinn; sie schützte ihre Augen, indem sie sie bei jedem Schlage schloß aus Furcht, einäugig gemacht zu werden. Virginie blutete noch nicht. Gervaise zielte auf ihre Ohren und war wütend, sie nicht greifen zu können; endlich faßte sie einen der Ohrringe, eine Birne von gelbem Glas, sie zog und zerriß das Ohrläppchen, nun floß auch hier Blut.
»Sie töten sich, trennt sie doch, die Scheusale!« sagten mehrere Stimmen.
Die Wäscherinnen waren näher herzugetreten, es bildeten sich zwei Parteien: die einen hetzten die Frauen aufeinander wie ein Paar Hündinnen, die sich beißen; die anderen, Empfindsameren, zitterten an allen Gliedern, wandten sich fort und erklärten, sie hätten genug davon und würden sicher noch krank werden. Eine allgemeine Schlacht drohte auszubrechen, man nannte sich herzlos und Tunichtgut; nackte Arme reckten sich empor und drei Ohrfeigen hörte man schallen. Madame Boche suchte indessen den Hausknecht der Waschanstalt.
»Karl! Karl! Wo ist er denn?« Sie fand ihn auf der erhöhten Galerie, mit gekreuzten Armen zuschauend.
Er war ein großer Schlingel mit mächtig starkem Nacken. Er lachte und freute sich an den entblößten Stellen, welche die Frauen zeigten. Die kleine Blonde ist fett wie eine Wachtel, das wäre ein Spaß, wenn ihr Hemd ganz zerrisse.
»Seht doch!« murmelte er, die Augen zusammenkneifend, »sie hat ein Mal unter dem Arm.«
»Wie, Ihr seid da?« schrie Madame Boche, als sie ihn bemerkte. »Aber so helft uns doch, sie auseinander zu bringen. Ihr könnt es fertigbringen.«
»Ich denke ja gar nicht daran; als ob außer mir niemand da wäre«, sagte er ruhig. »Um mir wieder die Augen, zerkratzen zu lassen, wie neulich, nicht wahr? Dazu bin ich nicht hier, da hätte ich viel zu tun… Seid nur nicht so ängstlich! So ein kleiner Aderlaß tut ihnen gut. Das stimmt sie milder.«
Die Pförtnersfrau sprach jetzt davon, die Polizei zu benachrichtigen. Aber die Besitzerin der Waschanstalt, die junge, zarte Frau mit den kranken Augen, widersetzte sich diesem Plan in aller Form. Sie wiederholte mehrmals:
»Nein, nein, das will ich nicht, das bringt mein Haus in schlechten Ruf.«
Auf dem Boden wurde der Kampf fortgesetzt. Plötzlich richtete sich Virginie auf ihren Knien auf. Sie hatte ein Waschholz ergriffen und schwang es. Sie röchelte mit veränderter Stimme:
»Jetzt habe ich dich, warte! Nun zeige deine schmutzige Wäsche her!«
Gervaise streckte schnell ihre Hand aus und ergriff gleichfalls ein Waschholz, sie hob es empor wie eine Keule. Auch ihre Stimme klang jetzt heiser:
»Du willst große Wäsche … Gib her dein Fell, ich will es dir zu Waschlappen klopfen!«