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Die Zukunft, 4000 nach Christus. Der Wissenschaftler Sarnac unternimmt eine Forschungsreise in die Vergangenheit. Er besucht 2000 Jahre alte Ruinen einer untergegangenen Kultur. Unter dem Eindruck dieser für ihn urzeitlichen Zivilisation beginnt er zu träumen, von einer rückständigen Welt, die der unseren so sehr ähnelt. Wells' Zukunftsreisender hält uns den Spiegel vor, in dem er uns zeigt, wie man die Probleme der Menschheit irgendwann einmal überwunden haben wird … irgendwann … Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 436
H. G. Wells
Der Traum
Roman
H. G. Wells
Der Traum
Roman
(The Dream)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954189-38-0
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Inhaltsverzeichnis
Erster Teil – Das Werden des Harry Mortimer Smith
Erstes Kapitel – Der Ausflug
Zweites Kapitel – Der Anfang des Traumes
Drittes Kapitel – Die Familie Smith gerät ins Unglück
Viertes Kapitel – Die Witwe Smith übersiedelt nach London
Zweiter Teil – Leben und Tod des Harry Mortimer Smith
Fünftes Kapitel – Fanny tritt wieder auf
Sechstes Kapitel – Eine Heirat in Kriegszeiten
Siebentes Kapitel – Liebe und Tod
Achtes Kapitel – Epilog
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Ihr Jürgen Schulze
Auf zwei Planeten
Der Herr der Welt
Der Brand der Cheopspyramide
Die Macht der Drei
Befehl aus dem Dunkel
Die Spur des Dschingis-Khan
Der gestohlene Bazillus
Der Krieg der Welten
Der Unsichtbare
Die ersten Menschen auf dem Mond
und weitere …
Sarnac hatte etwa ein Jahr hindurch fast ununterbrochen die subtilen chemischen Reaktionen der Nervenzellen des sympathetischen Systems erforscht. Die ersten Versuche hatten einen Ausblick auf neue, überraschende Möglichkeiten gegeben, die ihn wieder zu noch weiter reichenden und faszinierenden Plänen angeregt hatten. Er arbeitete wohl zu angestrengt; nicht daß Hoffnung und Wissensdrang in ihm dadurch Schaden genommen hätten, aber seine Experimente hatten an Feinheit eingebüßt, und er dachte langsamer und weniger genau. Er brauchte eine Erholungspause. Er hatte ein Kapitel seiner Arbeit abgeschlossen und wünschte sich zu kräftigen, ehe er ein neues anfing. Heliane hoffte seit langem auf eine gemeinsame Ferienreise; auch ihre Arbeit befand sich in einer Phase, die eine Unterbrechung gestattete, und so begaben sich die beiden auf eine Wanderung durch das seenreiche Gebirgsland.
Ihr Zusammenleben hatte sich sehr glücklich entwickelt. Eine innige Beziehung und Freundschaft verband sie seit langem, sie waren völlig ungezwungen miteinander; trotzdem aber bestand keine allzu große Vertraulichkeit zwischen ihnen, die dem einen das lebhafte Interesse am Tun und Lassen des andern geschmälert hätte. Heliane liebte Sarnac zärtlich und voll Freude, und Sarnac war glücklich und froh erhoben, wenn Heliane bei ihm weilte. Heliane hatte das reichere Herz von den beiden und verstand besser zu lieben. Sie sprachen nun von all und jedem, nur von Sarnacs Arbeit nicht, denn die sollte ruhen und wieder frisch werden. Von ihrer Tätigkeit jedoch sprach Heliane sehr viel. Sie hatte an Schilderungen und Bildern des Glücks und Leids vergangener Zeitalter gearbeitet und war erfüllt von dem Bemühen, Denken und Fühlen entschwundener Geschlechter zu erfassen.
Sie vergnügten sich einige Tage lang auf den Wassern des großen Sees, segelten, paddelten und landeten ihr Boot im süß duftenden Schilfrohr der Inseln, um zu baden und zu schwimmen. Das Boot brachte sie von einem Gästehaus zum andern, und sie trafen verschiedene interessante und anregende Leute. In einem der Gästehäuser wohnte unter anderen ein achtundneunzigjähriger Greis, der sich in diesem hohen Alter die Zeit mit der Herstellung kleiner Bildwerke vertrieb, kleiner Statuetten voll Anmut und Humor, und es war wunderbar anzusehen, wie der Ton in seinen Händen Gestalt annahm. Überdies verstand er es, die Fische des Sees auf eine sehr wohlschmeckende Art zuzubereiten; er pflegte große Mengen zu kochen, so daß jeder, der im Hause aß, etwas davon bekommen konnte. Auch ein Musiker war da, der Heliane veranlaßte, von längst vergangenen Zeiten zu erzählen, und dann selbst Weisen auf dem Klavier spielte, die die Gefühle jener entschwundenen Menschen zum Ausdruck brachten. Er spielte ein Stück, das, wie er sagte, zweitausend Jahre alt war; es stammte von einem Mann namens Chopin und hieß »Revolutionäre Etüde«. Heliane hätte nie gedacht, daß ein Klavier solch leidenschaftlich grollender Klänge fähig sei. Der Musiker spielte dann noch groteske, böse Kriegsweisen und rohe Märsche aus jenen halbvergessenen Zeiten und schließlich eigene zornige und leidenschaftliche Kompositionen.
Heliane saß unter einer goldig schimmernden Laterne, lauschte der Musik und beobachtete die flinken Hände des Klavierspielers. Sarnac war tiefer bewegt. Er hatte noch nicht viel Musik gehört, und dieser Spieler öffnete ihm den Blick für wilde, dunkle Abgründe, die der Menschheit seit langem verschlossen waren. Er saß, die Wange in die Hand gelegt, den Ellbogen auf die Gartenmauer gestützt, und blickte über die stahlblaue Wasserfläche des Sees gegen den dunklen Nachthimmel. Das Firmament war sternklar gewesen, doch nun sammelte eine riesige Wolkenbank gleich einer Hand, die sich schließt, die Sterne in ihre dunkle Faust. Der nächste Tag sollte wohl Regen bringen. Die Laternen hingen ruhig, nur dann und wann ließ sie ein sanfter Lufthauch leicht schwingen. Ein großer weißer Nachtfalter kam aus der Dunkelheit hervorgeflattert, flog um die Laternen und verschwand wieder. Bald darauf kehrte er zurück – er oder ein anderer, der ihm glich. Und dann waren plötzlich drei oder vier dieser flüchtigen Phantome da – anscheinend die einzigen Insekten, die in dieser Nacht schwärmten.
Ein leises Plätschern des Wassers drunten zog Sarnacs Blick auf das Licht eines Bootes, ein rundes, gelbes Licht, einer leuchtenden Orange gleichend, das aus dem dunklen Blau der Nacht bis dicht an die Mauer der Terrasse heranglitt. Man hörte, wie ein Ruder eingezogen und das Geräusch des abtropfenden Wassers schwächer wurde. Die Leute im Boot saßen still und lauschten, bis der Musiker geendigt hatte. Dann kamen sie die Stufen der Terrasse herauf und baten den Leiter des Gästehauses um Zimmer für die Nacht. Sie hatten in einem andern Hause, weiter oben am See, Abendbrot gegessen.
Vier Menschen waren es: zwei dunkle, schöne Leute südländischer Herkunft, Bruder und Schwester, und zwei blonde Frauen, blauäugig die eine, mit braunen Augen die andere, beide dem Geschwisterpaar offenkundig sehr zugetan. Sie kamen näher, sprachen über das Klavierspiel und erzählten dann von einer Klettertour im Gebirge oberhalb der Seen, die sie unternehmen wollten. Die Geschwister hießen Beryll und Stella; ihre Lebensarbeit, so erzählten sie, sei die Erziehung von Tieren, sie hätten für diese Beschäftigung eine natürliche Begabung. Die beiden blonden Mädchen, Salaha und Iris, waren Elektrikerinnen. Während der letzten Tage hatte Heliane immer wieder sehnsüchtig zu den glitzernden Schneefeldern emporgeblickt; schneebedeckte Berge übten eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Sie beteiligte sich sehr lebhaft an dem Gespräch über das Gebirge, und bald wurde vorgeschlagen, daß sie und Sarnac die neuen Bekannten bei der geplanten Gipfelbesteigung begleiten sollten. Vor einem Ausflug ins Gebirge aber wollten Heliane und Sarnac gewisse Altertümer besichtigen, die man vor kurzem in einem von Osten her gegen den See verlaufenden Tale ausgegraben hatte. Die vier Ankömmlinge waren voll Interesse für Helianes Mitteilungen über jene Ruinen und beschlossen, sich ihr und Sarnac anzuschließen. Nachher wollte man zu sechst in die Berge wandern.
Jene Ruinen waren gut zweitausend Jahre alt.
Sie waren die Überreste einer kleinen alten Stadt, die ein Eisenbahnknotenpunkt von einiger Bedeutung gewesen war, und eines Eisenbahntunnels durchs Gebirge. Der Tunnel war eingestürzt, aber man war bei den Ausgrabungen hindurchgedrungen und hatte mehrere zerstörte Züge gefunden, die offenbar dicht von Soldaten und Flüchtlingen besetzt gewesen waren. Die Überreste dieser Menschen, von Ratten und anderm Ungeziefer zernagt, lagen in den Eisenbahnwagen und auf den Schienen. Augenscheinlich war der Tunnel mit Sprengstoffen verbarrikadiert gewesen und hatte die Züge samt den Insassen begraben. Später war die Stadt selbst und alle ihre Einwohner durch ein Giftgas vernichtet worden; welche Art von giftigem Gas man dabei verwendet hatte, sollte von den emsig arbeitenden Forschern erst festgestellt werden. Es hatte eine ungewöhnlich konservierende Wirkung ausgeübt, so daß viele der Leichname mehr Mumien als Skelette waren; und in vielen Häusern fanden sich Bücher, Papiere, Gegenstände aus Papiermaché und Ähnliches recht gut erhalten vor. Sogar wohlfeile Baumwollstoffe waren unversehrt geblieben, nur hatten sie alle Farbe verloren. Nach der Katastrophe war die Gegend offenbar einige Zeit hindurch ganz unbewohnt geblieben, und ein Erdrutsch hatte den tiefer gelegenen Teil des Tales versperrt, das Gewässer abgedämmt und Stadt und Tunnel unter einer Schlammschicht begraben. Nun hatte man die Erd- und Schlammmassen durchbrochen und dem Flußlauf seine ursprüngliche Richtung wiedergegeben, und dabei waren die Spuren eines der charakteristischen Unglücksfälle aus der letzten Kriegsperiode der Menschheitsgeschichte ans Tageslicht gefördert worden.
Auf die sechs Ferienwanderer machte die Besichtigung des Ortes einen starken, ja fast allzu erschütternden Eindruck. Sarnac besonders, der immer noch an Übermüdung litt, fühlte sich tief ergriffen. Man hatte das in der Stadt gesammelte Material geordnet und in einem aus Glas und Stahl erbauten Museum untergebracht. Viele der Leichname waren vollständig erhalten; eine kranke alte Frau, durch das Gas mumifiziert, war in das Bett zurückgelegt worden, aus dem die Wasserfluten sie herausgeschwemmt hatten; das eingeschrumpfte Körperchen eines Säuglings lag in einer Wiege. Die Bettlaken und Decken waren ausgebleicht und verfärbt, doch konnte man sich ganz gut vorstellen, wie sie einst ausgesehen haben mochten. Die Leute waren offenbar überrascht worden, während sie das Mittagsmahl zubereiteten; in vielen Häusern war eben der Tisch gedeckt gewesen. Nun hatte man die alten maschinengewebten Tischtücher und die plattierten Eßbestecke, die zwei Jahrtausende unter Schlamm, Schilf und Fischen verborgen gelegen hatten, wieder hervorgeholt und auf den Tischen geordnet; es waren große Mengen solchen traurigen, verfärbten Geräts aus dem entschwundenen Leben der Vergangenheit zu sehen.
Die Ferienwanderer gingen nicht sehr weit in den Tunnel hinein. Der Anblick, der sich hier bot, war ihnen zu schrecklich; Sarnac stolperte über eine Schiene und zerschnitt sich an den Scherben eines zerbrochenen Waggonfensters die Hand. Die Wunde schmerzte ihn später und heilte nicht schnell genug. Offenbar war irgend ein Gift in sie gedrungen, und sie ließ ihn nachts nicht schlafen.
Den ganzen Tag sprachen die sechs von den Schrecken der letzten Kriege, die die Welt gesehen hatte, und von dem Elend des Daseins in jenem Zeitalter. Iris und Stella meinten, das Leben damals müsse kaum zu ertragen gewesen sein, müsse von der Wiege bis zum Grabe aus nichts als Haß, Schrecken, Mangel und Unbehagen bestanden haben. Beryll hingegen vertrat die Ansicht, daß die Menschen damals nicht unglücklicher und nicht glücklicher gewesen seien als er selbst. Es gebe, behauptete er, in jedem Zeitalter einen Normalzustand; jede Erhebung des Gefühls oder der Hoffnung darüber hinaus bedeute Glück, jedes Hinabsinken unter das Durchschnittsmaß Unglück; es komme dabei nicht darauf an, wie der Normalzustand beschaffen sei. »Jene Menschen erfuhren in der einen wie in der andern Hinsicht starke Erschütterungen«, sagte er. Wohl habe es in ihrem Leben mehr Dunkelheit und mehr Schmerz gegeben, trotzdem seien sie alles in allem nicht unglücklicher gewesen. Heliane neigte zur gleichen Ansicht.
Salaha jedoch erhob Einwände gegen Berylls psychologische Betrachtung. Sie sagte, ein kranker Körper oder ein Leben unter verhaßtem Zwang könne ein andauerndes Niedergedrücktsein des Gemüts verursachen. Es könne vorwiegend unglückliche Geschöpfe geben, so wie es vorwiegend glückliche gebe.
»Gewiß«, warf Sarnac dazwischen, »sobald sie nämlich einen Idealzustand zu erstreben beginnen.«
»Warum nur führten sie solche Kriege?«, rief Iris. »Warum taten sie einander so Schreckliches an? Sie waren doch Menschen wie wir.«
»Nicht besser«, sagte Beryll, »und nicht schlechter. So weit es sich um die natürliche Veranlagung handelt. Keine hundert Generationen trennen uns von ihnen.«
»Sie hatten einen ebenso großen und ebenso wohlgeformten Schädel wie wir.«
»Die Ärmsten in dem Tunnel!«, sagte Sarnac. »Wie schrecklich, auf solche Weise in einem Tunnel eingeschlossen zugrunde zu gehen! Dabei scheint mir, es müsse sich damals jeder dauernd so gefühlt haben, als sei er in einem Tunnel eingeschlossen.«
Inzwischen war ein Gewitter heraufgezogen, das ihr Gespräch unterbrach. Sie wollten über einen nicht sehr hohen Gebirgspaß zu einem Gästehaus am oberen Ende des Sees und gerieten unweit der Paßhöhe in das Unwetter. Es gab einige heftige Donnerschläge, und keine hundert Schritt von ihnen entfernt wurde eine Tanne vom Blitz getroffen. Sie jubelten bei dem herrlichen Anblick. Der tosende Aufruhr der Elemente erfüllte sie mit Freude. Der Regen peitschte ihre kräftigen, nackten Körper, ein Windstoß um den andern machte sie taumeln, lachend und atemlos waren sie immer wieder genötigt, stehen zu bleiben. Es war nicht leicht, den Weg zu finden; eine Zeitlang hatten sie die an Bäumen und Felsen angebrachte Markierung verloren. Das Unwetter ging schließlich in einen gleichmäßigen Regenguß über, und sie platschten stolpernd den von Gischt bedeckten Felsenpfad hinunter, ihrem Ziel entgegen. Erhitzt und naß, als ob sie eben aus dem Bade gestiegen wären, langten sie an; nur Sarnac, der mit Heliane hinter den andern zurückgeblieben war, fühlte sich müde und fror. Der Leiter des Gästehauses schloß die Fensterladen, machte ihnen mit Holz und Tannenzapfen ein Feuer an und bereitete ein warmes Nachtessen.
Bald kam das Gespräch wieder auf die ausgegrabene Stadt und die eingeschrumpften Leichname, die nun im Scheine des elektrischen Lichtes innerhalb der Glaswände des stillen Museums lagen, gleichgültig fortan gegen den Sonnenschein wie gegen die Stürme des Lebens.
»Ob sie jemals lachten wie wir?«, fragte Salaha. »Einfach aus Freude zu leben?«
Sarnac sprach wenig. Er saß dicht am Feuer, warf von Zeit zu Zeit Tannenzapfen in die Glut und betrachtete sie, wie sie aufflammten und knisternd verbrannten. Nach einer Weile erhob er sich, sagte, er sei müde, und ging zu Bett.
Es regnete die ganze Nacht und auch den nächsten Morgen bis gegen Mittag, dann heiterte sich das Wetter auf. Am Nachmittag wanderte die kleine Gesellschaft weiter, das Tal aufwärts gegen die Berge, die bestiegen werden sollten. Man ging gemächlich und gönnte sich einen und einen halben Tag für eine Strecke, die eigentlich leicht an einem Tag zurückgelegt werden konnte. Der Regen hatte alles erfrischt, und eine Fülle von Blumen war aufgeblüht.
Der folgende Tag war heiter und sonnig.
Am frühen Nachmittag gelangten sie zu einer von Asphodillen besäten Wiese auf einem Plateau und lagerten sich dort, um den mitgebrachten Proviant zu verzehren. Sie waren nur zwei Stunden von dem Schutzhaus entfernt, in dem sie die Nacht verbringen wollten, es bestand darum kein Grund, gleich weiter zu wandern. Sarnac war träge und gestand, daß er Lust verspüre, zu schlafen. Er hatte in der Nacht etwas Fieber gehabt, und Träume von verschütteten und durch Giftgas getöteten Menschen hatten ihn gequält. Die anderen waren belustigt über den Einfall, am hellen Tag schlafen zu wollen, Heliane aber sagte, sie werde seinen Schlummer behüten. Sie suchte ihm einen Platz im Gras, Sarnac legte sich neben ihr nieder und schlief, an sie gelehnt, so plötzlich und vertrauensvoll ein wie ein Kind. Und wie die Wärterin eines Kindes saß sie an seiner Seite und bedeutete den anderen, keinen Lärm zu machen.
»Nach diesem Schlaf wird er gesundet sein«, sagte Beryll lächelnd und stahl sich mit Iris davon, während Salaha und Stella in die andere Richtung gingen, um einen nahegelegenen Felsvorsprung zu erklettern, von wo aus sie einen umfassenden und vielleicht sehr schönen Ausblick auf die Seen unten zu gewinnen hofften.
Einige Zeit lag Sarnac ganz still, dann begann er sich im Schlafe unruhig hin und her zu bewegen. Heliane neigte ihr warmes Antlitz aufmerksam zu dem seinen hinab. Er wurde wieder ruhig, bewegte sich aber bald aufs neue und murmelte etwas, doch waren keine Worte zu unterscheiden. Dann warf er sich heftig herum, schlug mit den Armen um sich und sagte: »Ich kann es nicht ertragen. Nein, ich kann nicht! Es ist aber nicht mehr zu ändern. Du bist beschmutzt und entehrt für alle Zeit.« Heliane faßte ihn sanft und legte ihn wieder bequem zurecht, wie eine Mutter ihr Kind. »Liebste«, flüsterte er und griff im Schlafe nach ihrer Hand …
Als die anderen zurückkamen, war er eben erwacht.
Er saß aufrecht mit verschlafenem Gesicht, und Heliane kniete neben ihm, die Hand auf seiner Schulter. »Wach auf!«, sagte sie.
Er sah sie an, als ob er sie nicht kennte, dann blickte er verdutzt auf Beryll. »Es gibt also noch ein Leben!«, sagte er schließlich.
»Sarnac!«, rief Heliane und schüttelte ihn. »Kennst du mich denn nicht?«
Er strich sich mit der Hand über die Stirn. »Ja«, sagte er zögernd. »Dein Name ist Heliane. Ich weiß schon. Heliane … nicht Hetty – – nein. Obgleich du Hetty sehr ähnlich bist. Sonderbar! Und ich – ich heiße Sarnac.
Ja, gewiß! Ich bin Sarnac.« Er lächelte Salaha zu. »Ich meinte aber, ich sei Harry Mortimer Smith. Wahrhaftig! Vor einem Augenblick noch war ich Harry Mortimer Smith … Harry Mortimer Smith.«
Er blickte um sich. »Berge«, sagte er, »Sonnenschein und weiße Narzissen. Jawohl – wir gingen heute vormittag hier herauf. Bei einem Wasserfall spritzte Clelia mich an … Ich erinnere mich ganz genau … Trotzdem lag ich eben in einem Bett – erschossen. Ich lag in einem Bett … Ein Traum? … Dann habe ich ein ganzes Menschenleben geträumt, ein Leben, das sich vor zweitausend Jahren abspielte!«
»Was meinst du nur?«, fragte Heliane.
»Ein ganzes Leben – Kindheit, Jugend, Mannesalter. Und Tod. Er tötete mich. Der arme Teufel! – Er tötete mich!«
»Ein Traum?«
»Ja, ein Traum – aber ein äußerst lebendiger Traum. Der wirklichste der Träume, den man sich denken kann. Wenn es ein Traum war … Nun kann ich alle deine Fragen beantworten, Heliane. Ich habe ein ganzes Leben durchlebt in jener alten Welt. Ich weiß …
Es ist mir immer noch so, als wäre jenes Leben die Wirklichkeit und dieses hier nur ein Traum … Ich lag im Bett. Vor fünf Minuten noch befand ich mich in einem Bett. Ich lag im Sterben … Der Arzt sagte: ›Es geht zu Ende.‹ Und ich hörte noch, wie meine Frau durchs Zimmer auf mich zukam …«
»Deine Frau!«, rief Heliane.
»Ja – meine Frau – Milly.«
Heliane blickte mit hochgezogenen Augenbrauen und hilflosem Ausdruck zu Salaha hinüber.
Sarnac starrte sie in traumhafter Verwunderung an. »Milly«, wiederholte er ganz leise. »Sie stand am Fenster.«
Einige Augenblicke lang sprach niemand.
Beryll stand, den Arm um Iris’ Schulter gelegt.
»Erzähle uns mehr davon, Sarnac. War es schlimm, zu sterben?«
»Es war mir, als sänke ich hinab, immer tiefer, in einen ganz stillen Raum – und dann erwachte ich hier oben.«
»Erzähle es uns, solange es noch als lebendige Wirklichkeit vor dir steht.«
»Wollten wir nicht das Schutzhaus vor Anbruch der Nacht erreichen?«, sagte Salaha mit einem Blick nach der Sonne.
»Fünf Minuten von hier entfernt steht ein kleines Gästehaus«, meinte Iris dagegen.
Beryll setzte sich neben Sarnac. »Erzähl’ uns deinen Traum gleich. Wenn dir die Erinnerung daran schwindet oder deine Erzählung uns nicht interessiert, gehen wir weiter; fesselt sie uns aber, so hören wir dich hier zu Ende und übernachten in dem kleinen Hause. Der Platz hier ist schön, die grauvioletten Felsen mit dem leichten Nebeldunst in den Spalten sind so herrlich, daß ich sie eine Woche lang betrachten könnte, ohne zu ermüden. Erzähl’ uns deinen Traum, Sarnac.«
Er schüttelte den Gefährten. »Wach auf, Sarnac!«
Sarnac rieb sich die Augen. »Es ist eine so seltsame Geschichte. Und so vieles wird zu erklären sein.«
Er dachte eine Weile nach.
»Es ist eine lange Geschichte.«
»Das versteht sich, wenn sie einen ganzen Lebenslauf schildert.«
»Ich will erst für uns alle Rahm und Obst aus dem Gästehaus herbeiholen«, sagte Iris, »dann möge Sarnac mit seiner Erzählung beginnen. Fünf Minuten nur, und ich bin wieder da.«
»Ich komme mit«, sagte Beryll und eilte ihr nach.
Was nun folgt, ist die Geschichte, die Sarnac erzählte.
»Mein Traum begann«, sagte er, »wie unser aller Leben beginnt, in Bruchstücken, mit einer Reihe unzusammenhängender Eindrücke. So entsinne ich mich zum Beispiel, daß ich einmal auf einem Sofa lag, auf einem Sofa, das mit einem merkwürdig harten, rot und schwarz gemusterten, schon fadenscheinigen Stoff bezogen war; ich schrie – warum, weiß ich nicht mehr. Mein Vater erschien in der Tür des Zimmers und blickte mich an. Er sah unheimlich aus, war halb bekleidet, in Hosen und einem Flanellhemd, und das blonde Haar stand ihm ungebürstet in die Höhe; er rasierte sich eben und hatte das Kinn voll Seifenschaum. Und er war böse, weil ich schrie. Ich glaube, ich hörte alsbald zu schreien auf, bin dessen aber nicht sicher. Ein andermal kniete ich auf demselben harten, rot und schwarz gemusterten Sofa neben meiner Mutter, sah zum Fenster hinaus – das Sofa stand gewöhnlich mit der Rückseite gegen das Fensterbrett – und beobachtete, wie der Regen auf die Straße fiel. Das Fensterbrett roch ein wenig nach Farbe – weiche, schlechte Farbe war es, die in der Sonne Blasen geworfen hatte. Es regnete heftig und die Straße, aus sandigem, gelblichem Lehm, war schlecht. Sie war mit schmutzigem Wasser bedeckt, und der Regenguß verursachte eine Menge glänzender Blasen, die der Wind vor sich her trieb, bis sie platzten und ihnen wieder neue folgten.
›Schau sie dir an, Liebling‹, sagte meine Mutter, ›wie Soldaten.‹
Ich glaube, ich war noch sehr klein, als sich dies ereignete, aber ich hatte doch schon oft Soldaten mit Helmen und Bajonetten vorübermarschieren gesehen.«
»Das dürfte also einige Zeit vor dem Großen Krieg und dem sozialen Zusammenbruch gewesen sein«, sagte Beryll.
»Ja, einige Zeit«, erwiderte Sarnac. Er dachte nach. »Einundzwanzig Jahre vorher. Das Haus, in dem ich geboren wurde, war kaum drei Kilometer von dem großen britischen Militärlager zu Lowcliff in England entfernt; zur Eisenbahnstation Lowcliff hatten wir nur einige hundert Schritt zu gehen. ›Soldaten‹ waren die auffälligste Erscheinung in meiner Welt außerhalb meines Heims. Sie trugen lebhaftere Farben als andere Leute. Meine Mutter pflegte mich jeden Tag in einem sogenannten Kinderwagen spazieren zu fahren, damit ich an die frische Luft käme, und so oft Soldaten auftauchten, rief sie: ›Ei, die schönen Soldaten!‹
›Soldaten‹ muß eines meiner frühesten Wörter gewesen sein. Ich zeigte mit meinem in Wolle gehüllten Fingerchen auf sie – damals zog man nämlich den Kindern ganz unglaublich viel an, und ich trug sogar Handschuhe – und sagte: ›Daten.‹
Ich will versuchen, euch zu schildern, wie mein Heim beschaffen und was für Leute meine Eltern waren. Dergleichen Haushalte, Wohnhäuser und Orte gibt es nun seit langem nicht mehr, es sind uns kaum Überreste von ihnen erhalten, und wenn ihr auch wahrscheinlich viel über die damalige Lebensweise gehört und gelernt habt, so bezweifle ich doch, daß ihr euch die Dinge, die mich umgaben, richtig vorstellen könnt. Der Name des Ortes war Cherry Gardens; er gehörte zu dem größeren Ort Sandbourne und war etwa drei Kilometer vom Meer entfernt. Auf der einen Seite lag die Stadt Cliffstone, von der aus Dampfschiffe nach Frankreich hinüber verkehrten, auf der andern Lowcliff mit seinen endlosen Reihen häßlicher roter Ziegelbauten für das Militär und einem großen Exerzierplatz. Landeinwärts erstreckte sich eine Art Plateau, von neuen, roh beschotterten Straßen durchzogen – ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Straßen das waren! – und bedeckt von Gemüsegärten und eben fertiggestellten oder noch im Bau begriffenen Häusern; und dahinter kam eine Hügelkette, nicht sehr hoch, aber ziemlich steil, mit Gras bewachsene, sonst jedoch kahle Hügel, die Downs. Die Downs bildeten einen reizvollen Abschluß meiner kleinen Welt gegen Norden, während sie im Süden von einem saphirfarbenen Meeresstreifen begrenzt wurde, und diese ihre beiden Grenzlinien waren wohl das einzig wahrhaft Schöne in ihr. Alles übrige war von menschlicher Verworrenheit berührt und entstellt worden. Schon als ganz kleiner Junge dachte ich oft, was wohl hinter jenen Hügeln liegen möge, doch erst in meinem siebenten oder achten Jahre trieb mich die Wißbegier, sie zu besteigen.«
»Gab es damals noch keine Aeroplane?«, fragte Beryll.
»Die ersten Flugversuche wurden gemacht, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Ich sah den ersten Aeroplan, der den Kanal zwischen dem europäischen Festland und England überquerte. Er galt als etwas ganz Wunderbares. (›Das war er wohl auch‹, meinte Heliane.) Ich zog mit einer Schar anderer Knaben aus, und wir drängten uns durch die Menge, die sich rings um die sonderbare Maschine gesammelt hatte und sie anstarrte – sie glich einer riesigen Heuschrecke aus Segeltuch mit ausgespannten Flügeln –, es war auf einem Feld in der Nähe von Cliffstone. Man bewachte das Wunderding, die Leute wurden mittels Stangen und Seilen davon ferngehalten.
Es fällt mir schwer, euch zu schildern, was für Orte Cherry Gardens und Cliffstone waren – obwohl wir eben die Ruinen von Domodossola besucht haben. Auch die Stadt Domodossola muß recht planlos angelegt gewesen sein, aber jene beiden Orte breiteten sich noch weit zweck- und sinnloser über Gottes Erdboden hin aus. Ihr müßt wissen, daß die dreißig oder vierzig Jahre, die meiner Geburt vorangingen, eine Zeit verhältnismäßigen Wohlstands, eine Periode der Produktivität gewesen waren. Selbstverständlich war dies in jenen Tagen keineswegs das Resultat irgendwelcher Staatskunst oder Voraussicht; es ergab sich zufällig – etwa so, wie sich mitten im Lauf eines Regen-Sturzbaches da oder dort ein ruhiger kleiner Tümpel bildet.
Die Geld- und Kreditgebarung funktionierte leidlich gut; Handel und Verkehr blühten; es gab keine weit um sich greifenden Seuchen, nur wenige größere Kriege und etliche besonders gute Ernten. Das Ergebnis dieses Zusammenwirkens günstiger Bedingungen war ein deutlich wahrnehmbarer Aufschwung in der Lebensführung der Allgemeinheit; doch wurde dieser Fortschritt durch eine starke Bevölkerungszunahme zum größten Teil wieder aufgehoben. ›Damals wurde der Mensch sich selbst zur Heuschreckenplage‹, wie es in unseren Schulbüchern heißt. In meinem späteren Leben sollte ich des öftern über ein verbotenes Thema leise flüstern hören, nämlich über eine vernünftige Einschränkung der Geburten; in den Tagen meiner Kindheit jedoch befand sich die ganze Menschheit in einem Zustand völliger und sorgfältig behüteter Unwissenheit über die grundlegenden Tatsachen des menschlichen Lebens und Glücks. Die Menschen um mich herum standen unter dem Druck einer unvorhergesehenen und ungehemmten Vermehrung. Sinnlose Vermehrung, das war das Grundmotiv meiner Umgebung, mein Drama, meine Atmosphäre.«
»Sie hatten aber doch Lehrer, Priester, Ärzte und Herrscher, die sie eines Bessern hätten belehren können«, sagte Salaha.
»Die belehrten sie keines Bessern«, erwiderte Sarnac. »Die Führer und Lenker des Lebens waren damals höchst absonderliche Leute. Es gab ihrer zahllose, aber sie leiteten niemanden. Weit davon entfernt, Männer und Frauen über eine Einschränkung der Geburten oder die Abwehr von Krankheiten zu belehren oder ein edelmütiges Zusammenarbeiten der Allgemeinheit zu fordern, traten sie solchem Fortschritt vielmehr hindernd in den Weg. Der Ort Cherry Gardens war etwa fünfzig Jahre vor meiner Geburt entstanden; aus einem winzigen Dörfchen war er zu einem sogenannten städtischen Vorort geworden. In jener alten Welt, in der es weder Freiheit noch Führung gab, wurde der Grund und Boden in Flecken der verschiedensten Art und Größe aufgeteilt, und die Besitzer konnten, abgesehen von einigen wenigen ärgerlichen und zwecklosen Einschränkungen, die ihnen auferlegt waren, damit tun, was sie wollten. In Cherry Gardens nun kauften sogenannte Häuserspekulanten Grundstücke – oftmals ganz ungeeignet für ihre Zwecke, und bauten Wohnhäuser für den zunehmenden Schwarm der Bevölkerung, die kein anderes Obdach hatte. Dieses Bauen erfolgte völlig planlos. Der eine Spekulant baute hier, der andere dort, jeder aber baute so billig als möglich und verkaufte oder vermietete, was er gebaut hatte, so teuer er konnte. Manche dieser Häuser standen in Reihen, andere voneinander getrennt, mit kleinen Privatgärten ringsherum – man nannte sie Gärten, in Wirklichkeit aber waren es verwilderte oder öde Grundstücke – eingezäunt, um fremde Leute davon fernzuhalten.«
»Warum wollte man fremde Leute davon fernhalten?«
»Es freute den Hausbesitzer, das zu tun – es war ihm eine Befriedigung. Dabei aber waren die Gärten keineswegs den Blicken Neugieriger verschlossen, jedermann konnte über den Zaun gucken, wenn es ihm beliebte. Und jedes Haus hatte seine eigene Küche – es gab keine öffentliche Speiseanstalt in Cherry Gardens –, sowie seine besonderen Haushaltungsgeräte. In der Regel bestand der Haushalt aus einem Mann, der außer Haus arbeitete, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – man lebte damals eigentlich nicht, um zu leben, sondern vielmehr, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen –, und nur zum Essen und zum Schlafen heimkam, und aus einer Frau, seinem Weib, die allen Dienst versah, für Nahrung sorgte, das Haus rein hielt, und so weiter, und auch Kinder gebar, eine Menge ungewollter Kinder – sie verstand es eben nicht besser. Sie war viel zu beschäftigt, als daß sie sie hätte gut pflegen können, und viele von ihnen starben. Den größten Teil des Tages verbrachte sie mit der Zubereitung der Mahlzeiten. Sie kochte – nun, immerhin, es war ja wohl eine Art Kochen!«
Sarnac machte eine Pause und runzelte die Stirn. »Das Essen damals! Nun ja! Jetzt hab’ ich es ja jedenfalls überstanden.«
Beryll lachte belustigt.
»Fast jedermann litt an Verdauungsstörungen, und die Zeitungen wimmelten von Heilmittelanzeigen«, fuhr Sarnac fort, immer noch ganz düster in seiner rückblickenden Betrachtung.
»Es wäre mir niemals eingefallen, diese Seite des Lebens der Vergangenheit ins Auge zu fassen«, meinte Heliane.
»Sie war aber von grundlegender Bedeutung«, sagte Sarnac. »Die damalige Welt war in jeder Hinsicht krank.
Jeden Morgen, den Sonntag ausgenommen, nachdem der Mann sich an seine Arbeit begeben hatte und die Kinder aus den Betten geholt und angezogen und die größeren in die Schule geschickt worden waren, machte die Hausfrau ein wenig Ordnung, und dann kam die Frage der Lebensmittelbeschaffung – für ihr häusliches Kochen. Jeden Werktagmorgen fuhren Männer mit kleinen Pony-Wagen oder Handkarren, die sie vor sich herschoben, die Straßen von Cherry Gardens entlang. Sie hatten Fleisch, Fische, Gemüse und Obst zum Verkauf auf ihren Karren – all das dem Wetter ausgesetzt und jeglichem Schmutz, der daher geweht kam – und riefen mit lauter Stimme aus, welche Art von Ware sie feilboten. Die Erinnerung läßt mich wieder auf dem schwarz-roten Sofa am Fenster stehen, ich bin noch einmal ein kleiner Junge. Es gab da einen Fischverkäufer, der mir besonderen Eindruck machte. Was für eine Stimme der hatte! Ich versuchte, sein prächtiges Geschrei mit meinem schrillen Kinderstimmchen nachzuahmen: ›Makrelen, kauft Makrelen, schöne Makrelen! Drei ein Shilling. Makrelen!‹
Die Hausfrauen kamen aus den geheimen Schlupfwinkeln ihrer Wohnstätten hervor, um zu kaufen oder zu feilschen, und vertrieben sich, wie man damals sagte, bei dieser Gelegenheit ein wenig die Zeit mit den Nachbarinnen. Doch war nicht alles, was sie brauchten, bei den Straßenverkäufern zu haben. Hier setzte die Tätigkeit meines Vaters ein. Er hatte einen kleinen Laden, war ein sogenannter Krämer. Er verkaufte Obst und Gemüse, armseliges Obst und erbärmliches Gemüse, von der Art eben, wie man es damals zu ziehen verstand, ferner Kohlen, Petroleum (man benützte damals Petroleumlampen), Schokolade, Ingwerbier und andere Dinge, die für die barbarische Haushaltung jener Zeit nötig waren. Überdies handelte er mit Schnittblumen und Topfpflanzen, sowie mit Samen, Stöckchen, Bindfaden und Harken für die kleinen Gärten. Sein Laden befand sich in einer Reihe mit einer Anzahl anderer; die Häuserzeile war genau so wie eine gewöhnliche Häuserzeile im Ort, nur hatte man die Erdgeschoßräume zu Laden gemacht. Mein Vater erwarb seinen und unseren Lebensunterhalt, indem er seine Waren so billig einkaufte, als er konnte, und möglichst viel dafür zu bekommen trachtete. Es war ein sehr ärmlicher Verdienst, denn Cherry Gardens hatte außer ihm noch einige Krämer aufzuweisen, tüchtige Kerle, und wenn er zuviel Profit auf seine Waren schlug, gingen seine Kunden weiter und kauften bei seinen Konkurrenten, und er verdiente dann überhaupt nichts.
Ich, mein Bruder und meine beiden Schwestern – meine Mutter hatte sechs Kinder geboren und vier davon waren am Leben – verbrachten unsere Tage in diesem Laden oder in dessen nächster Nähe. Im Sommer waren wir meist vor dem Hause oder in einem Zimmer oberhalb des Geschäftes, in der kalten Jahreszeit aber kostete es zuviel Geld und zuviel Mühe, in jenem Zimmer Feuer anzumachen – man heizte in ganz Cherry Gardens mit offenem Kohlenfeuer – und da mußten wir denn in die finstere unterirdische Küche, in der meine Mutter, die Ärmste, kochte, so gut sie es verstand.«
»Ihr wart ja Höhlenbewohner!«, rief Salaha.
»Tatsächlich. Wir nahmen alle unsere Mahlzeiten in dem unterirdischen Raum ein. Im Sommer waren wir wohl sonnverbrannt und rotbäckig, im Winter aber wurden wir infolge dieses – Höhlenlebens blaß und recht mager. Mein Bruder, der zwölf Jahre älter war als ich und mir riesengroß erschien, hieß Ernst, meine beiden Schwestern Fanny und Prudence. Ernst fing bald an, außer Haus zu arbeiten, etwas später ging er dann nach London, und ich sah ihn nur selten, bis zu der Zeit, da ich selbst nach London kam. Ich war das jüngste Kind. Als ich neun Jahre alt war, faßte mein Vater Mut, verwandelte Mutters Kinderwagen in einen kleinen Schubkarren und benützte ihn fortan zur Lieferung von Kohlen und ähnlichen Waren.
Fanny, die ältere von meinen beiden Schwestern, war ein sehr hübsches Mädchen; ihre zarte Hautfarbe stand in lieblichem Gegensatz zu den natürlich gewellten braunen Haaren, die ihr Gesicht anmutig umrahmten, und sie hatte sehr dunkle blaue Augen. Auch Prudence hatte eine helle, aber viel mattere Gesichtsfarbe, und ihre Augen waren grau. Sie neckte mich viel oder nörgelte an mir herum, Fanny hingegen beachtete mich entweder gar nicht oder war sehr freundlich mit mir, und ich liebte sie innig. Merkwürdigerweise kann ich mich an das Aussehen meiner Mutter nicht deutlich erinnern, obwohl sie selbstverständlich die Hauptrolle in meinem jungen Leben spielte. Sie war mir wohl zu vertraut, als daß ich ihr die Art von Aufmerksamkeit zugewendet hätte, die dem Gedächtnis ein Bild einprägt.
Ich lernte von meiner Familie, und zwar hauptsächlich von meiner Mutter sprechen. Keiner von uns sprach gut. Die Redewendungen, deren wir uns bedienten, waren dürftig und schlecht, wir sprachen vieles falsch aus, und lange Wörter vermieden wir, denn sie waren uns zu gefährlich und dünkten uns anmaßend. Ich hatte sehr wenig Spielzeug; ich entsinne mich einer kleinen Blechlokomotive, einiger Zinnsoldaten und einer recht spärlichen Menge von hölzernen Bauklötzen. Niemand wies mir einen bestimmten Platz an, wo ich hätte spielen können; hatte ich mein Spielzeug auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet, so kam sicherlich gerade eine Mahlzeit und fegte mir alles hinweg. Ich weiß noch ganz genau, wie gerne ich mit Gegenständen aus dem Laden gespielt hätte, besonders mit den Brennholzbündeln, die es da gab, und mit gewissen radförmigen Zündspänen, die sehr verlockend auf mich wirkten. Mein Vater aber entmutigte derartige Wünsche. Er sah mich nicht gern im Laden, solange ich noch zu klein war, um ihm zu helfen, und so hielt ich mich, wenn ich nicht ins Freie durfte, meist in dem erwähnten oberen Zimmer auf oder in dem Kellerraum, der als Küche diente. Wenn der Laden geschlossen war, wurde er für meine Knabenphantasie ein kalter, dunkler, höhlenartiger Ort; düstere Schatten lauerten darin, in denen Schreckliches verborgen sein mochte, und selbst wenn ich auf dem Weg zur Schlafstube die Hand meiner Mutter ganz fest hielt, fürchtete ich mich hindurchzugehen. Es war da auch immer ein unangenehm dumpfer Geruch von verfaulendem Zeug; er änderte sich stets ein wenig, je nach dem Obst oder Gemüse, das gerade am meisten verlangt wurde, das Petroleum war aber ein ständiges Element darin. An Sonntagen, wenn der Laden den ganzen Tag geschlossen blieb, machte er einen andern Eindruck auf mich. Er war dann nicht so drohend dunkel, nur sehr, sehr still. Wenn ich zur Kirche oder zur Sonntagsschule geführt wurde, kam ich hindurch. (Ja, ja, von der Kirche und der Sonntagsschule will ich euch sofort erzählen.) Als ich meine Mutter auf dem Totenbette liegen sah – sie starb, da ich noch nicht ganz sechzehn Jahre alt war –, kam mir alsbald der sonntägliche Laden in den Sinn …
So war das Heim geartet, liebste Heliane, in dem ich mich im Traume sah. Und ich glaubte fest, daß mein Leben dort angehoben habe. Es war der tiefste Traum, den ich jemals träumte. Sogar dich hatte ich vergessen.«
»Und wie wurde das zufällig in die Welt gesetzte Kind für das Leben vorbereitet?«, fragte Beryll. »Wurde es in einem Kindergarten erzogen?«
»Es gab damals keine Kindergärten, wie wir sie heute besitzen«, sagte Sarnac. »Man hatte sogenannte Elementarschulen, und eine solche besuchte ich, nachdem ich das sechste Lebensjahr vollendet hatte; meine Schwester Prudence brachte mich zweimal täglich hin.
Auch hier fällt es mir schwer, euch ein getreues Bild der Wirklichkeit zu vermitteln. Unsere Geschichtsbücher berichten euch von den Anfängen einer allgemeinen Erziehung in jener fernen Zeit und von dem eifersüchtigen Groll der alten Priesterschaften und gewisser privilegierter Personen gegen die neue Art von Lehrern; doch können sie euch keine lebendige Vorstellung von den elend ausgestatteten Schulhäusern geben, in denen eine viel zu spärliche Zahl von Lehrpersonen wirkte, noch von der tapferen Arbeit dieser schlecht bezahlten und für ihre Aufgabe schlecht vorbereiteten Männer und Frauen, denen die Menschheit die ersten rohen Versuche auf dem Gebiete der Volkserziehung zu danken hat. In der Schule zu Cherry Gardens hatte ein hagerer, dunkelhaariger Mann, der immer hustete, die größeren Knaben unter sich, und ein sommersprossiges kleines Frauchen von etwa dreißig Jahren plagte sich mit den kleineren ab. Heute sehe ich ein, daß sie Märtyrer waren. Wie er geheißen, habe ich vergessen, der Name des kleinen Frauchens war Miß Merrick. Sie hatten riesengroße Klassen zu leiten und bewerkstelligten den Unterricht größtenteils mit Hilfe von Stimme und Gebärde und mit einer schwarzen Tafel, auf der sie mit Kreide schrieben. Ihre Ausstattung mit Lehrmitteln war erbärmlich. Die einzigen, die ihnen in genügender Menge zur Verfügung standen, waren abgegriffene schmutzige Lesebücher, Bibeln und Gesangbücher und eine Anzahl von kleinen Schiefertafeln in Holzrahmen, auf denen wir mit Griffeln schrieben, um Papier zu sparen. Zeichenmaterial hatten wir eigentlich gar nicht; die meisten von uns lernten niemals zeichnen. Ihr könnt es mir glauben! Viele normal entwickelte Erwachsene jener Zeit waren nicht imstande, auch nur eine Schachtel zu zeichnen. Es gab in jener Schule nichts, woran die Schüler hätten zählen lernen können; es gab auch keinerlei geometrische Modelle. Bilder waren nur sehr spärlich vorhanden: eines, das die Königin Victoria darstellte, und ein Blatt mit Tieren; zwei sehr vergilbte Landkarten von Europa und Asien waren um zwanzig Jahre veraltet. Die Grundregeln der Mathematik lernten wir, indem wir sie im Chor aufsagten. Wir standen in Reihen und leierten ein sonderbares Lied, das Einmaleins genannt:
›Einmalzwei–sinzwei, zweimalzwei–sinvier, dreimalzwei–sinsechs, viermalzwei–sinacht.‹
Wir sangen auch im Chor – einstimmig – meist religiöse Hymnen. Die Schule besaß ein altes, aus zweiter Hand gekauftes Klavier, auf dem man unser Geheul begleitete. Als dieses Instrument erstanden wurde, gab es in Cliffstone und Cherry Gardens große Aufregung, man nannte den Kauf einen Luxus, eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen.«
»Eine Verwöhnung der arbeitenden Klassen!«, wiederholte Iris. »Es wird wohl stimmen. Aber es ist mir völlig unbegreiflich.«
»Ich kann euch nicht alles und jedes erklären«, sagte Sarnac. »Aber ihr dürft mir’s glauben: England bedachte die Kinder seines eigenen Volkes mit einem äußerst dürftigen Unterricht und das nur widerwillig; übrigens verfuhren andere Länder ziemlich ähnlich. Man sah die Dinge damals ganz anders als heute. Die ganze Menschheit war besessen von der Idee des Wettbewerbs. Amerika, das sich eines viel größeren Wohlstands erfreute als England – so weit man in Bezug auf die damalige Zeit überhaupt von Wohlstand reden kann –, hatte wenn möglich noch schlechtere und schäbigere Schulen für die Masse des Volks … Ja, meine Lieben! Ich sage euch, es war so. Ich bin daran, euch eine Geschichte zu erzählen, nicht euch das Universum zu erklären … Selbstverständlich lernten wir Kinder trotz der hingebungsvollen Bemühungen so tapferer Menschen wie Miß Merrick sehr wenig und dieses Wenige schlecht. Der größte Teil meiner Erinnerungen an die Schulzeit bedeutet Langeweile. Wir saßen auf Holzbänken an abgenutzten Pulten, zahllose Reihen hintereinander. Ich sehe noch all die kleinen Köpfe vor mir – und ganz vorn stand Miß Merrick und versuchte, uns Interesse an den Flüssen Englands beizubringen:
›Tai. Weer. Tihsömber.‹«
»Hast du nun eben das getan, was man damals fluchen nannte?«, fragte Salaha.
»Ach nein! Das ist Geographie. Und Geschichte war so:
›Willemdaroberer – tausendsechsundsechzig Willemrufiß – tausendsiebnundachtzig.‹«
»Was hat das bedeutet?«
»Für uns Kinder? Ziemlich dasselbe, was es für euch bedeutet – Kauderwelsch. O die Stunden, diese nicht endenwollenden Stunden der Kindheit in der Schule! Wie endlos lange sie schienen! Habe ich gesagt, ich hätte in meinem Traume ein ganzes Leben durchlebt? In der Schule durchlebte ich Ewigkeiten. Selbstverständlich erfanden wir allerlei, um uns zu unterhalten. Wir zwickten oder pufften zum Beispiel unseren Nachbarn und sagten: ›Gib’s weiter.‹ Oder wir spielten verstohlen mit kleinen Kugeln. Es ist komisch, wenn ich bedenke, daß ich nicht durch den Rechenunterricht, sondern durch das verbotene Kugelspiel zählen lernte, addieren, subtrahieren, und so weiter.«
»Aber was leisteten Miß Merrick und der hustende Märtyrer nun eigentlich?«, fragte Beryll.
»Ach, sie konnten ja nicht, wie sie wollten. Sie waren in eine Maschine eingespannt. Es gab regelmäßige Inspektionen und Prüfungen, um festzustellen, ob sie sich an die Vorschriften hielten.«
»Der Singsang ›Willemdaroberer‹ und so weiter«, sagte Heliane, »das bedeutete doch etwas? Dem lag doch, wenn auch verborgen, irgendeine vernünftige oder halbwegs vernünftige Idee zugrunde?«
»Wohl möglich«, meinte Sarnac nachdenklich. »Ich habe sie aber nie entdecken können.«
Iris versuchte, ihm zu Hilfe zu kommen. »Du sagtest, es sei Geschichte gewesen …?«
»Ja, ja«, bestätigte Sarnac. »Ich glaube, die Kinder sollten Interesse am Tun und Treiben der Könige und Königinnen von England gewinnen. Wahrscheinlich war das eine der langweiligsten Reihen von Monarchen, die die Welt je gesehen hat. Interessant wurden sie uns nur zeitweise, wenn sie Gewalttätigkeit an den Tag legten. Es gab da besonders einen Herrscher, den wir gerne mochten, Heinrich VIII. hieß er; der hatte eine derartige Liebesgier in sich und besaß dabei so viel Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Ehe, daß er seine Gemahlin jeweils ermordete, bevor er die nächste nahm. Und dann gab es einen gewissen Alfred, der Kuchen backen sollte – ich weiß nicht, warum – und sie anbrennen ließ, was seinen Feinden, den Dänen, auf irgendeine rätselhafte Weise Schaden brachte.«
»Aber das kann doch nicht alles gewesen sein, was man euch an Geschichte lehrte!«, rief Heliane.
»Königin Elisabeth von England trug eine Halskrause, und Jakob der Erste von England und Schottland küßte seine Günstlinge.«
»Aber Geschichte!«
Sarnac lachte. »Ja, es ist absonderlich. Nun, da ich wieder wach bin, sehe ich das sehr gut ein. Ihr könnt mir’s aber glauben, mehr wurde uns nicht gelehrt.«
»Erzählte man euch nichts über Anfang und Ende des Lebens, nichts über seine unendlichen Freuden und Möglichkeiten?«
Sarnac schüttelte den Kopf.
»In der Schule nicht«, sagte Stella, die offenbar noch gut wußte, was in ihren Lehrbüchern gestanden hatte. »Das geschah in der Kirche. Sarnac vergißt die Kirchen. Ihr müßt bedenken, daß jenes Zeitalter eines intensiver Religiosität war. Es gab allenthalben Stätten der Andacht. Ein ganzer Tag von sieben wurde der Betrachtung des Menschheitsschicksals und dem Studium der göttlichen Absichten gewidmet. Der Arbeiter feierte an diesem Tage. Von einem Ende des Landes bis zum andern war die Luft erfüllt vom Klange der Kirchenglocken und vom Gesang der Gläubigen. Lag darin nicht eine gewisse Schönheit, Sarnac?«
Sarnac lächelte sinnend. »Es war nicht ganz so, wie du sagst. Unsere Geschichtsbücher bedürfen in dieser Hinsicht einer kleinen Revision.«
»Aber man sieht doch zahllose Kirchen und Kapellen auf alten Photographien und kinematographischen Bildern. Auch besitzen wir ja noch eine Menge der damaligen Kathedralen. Manche von ihnen sind recht schön.«
»Sie mußten allesamt gestützt, die Mauern mit Stahlklammern zusammengeheftet werden«, sagte Heliane, »weil sie nachlässig oder gewissenlos erbaut worden waren. Und sie stammen nicht aus Sarnacs Zeit.«
»Mortimer Smiths Zeit«, verbesserte Sarnac. »Sie wurden Jahrhunderte früher erbaut.«
»Ihr dürft die Religiosität eines Zeitalters nicht nach seinen Tempeln oder Kirchen beurteilen«, fuhr Sarnac fort. »Ein ungesunder Körper birgt in der Regel mancherlei in sich, was er abzustoßen nicht die Kraft hat; je schwächer er ist, desto weniger vermag er dem Wachstum abnormer und unnützer Gebilde zu steuern, die an sich mitunter ganz schön sind.
Ich will versuchen, euch das religiöse Leben in meiner Heimat und die religiöse Seite meiner Erziehung zu schildern. Es gab in England eine Art Staatskirche, doch hatte diese zu meiner Zeit ihr offizielles Ansehen bei der Gesamtheit des Volkes bereits zum größten Teil eingebüßt. Sie besaß zwei Gotteshäuser in Cherry Gardens; das eine, ältere, stammte aus den Tagen, da der Ort ein Dörfchen gewesen war, es hatte einen viereckigen Turm und war, verglichen mit anderen Kirchen, recht klein; das andere war neuer, geräumiger und mit einem spitzen Turm versehen. Überdies hatten zwei nicht der Staatskirche angehörende christliche Sekten, die Kongregationalisten und die Methodisten, sowie auch die alte römisch-katholische Glaubensgemeinde ihre Kapellen in Cherry Gardens. Jede dieser Kirchen gab vor, die einzig wahre Form des Christentums zu vertreten, und jede unterhielt einen Geistlichen, das größere Gotteshaus der Staatskirche sogar zwei, einen Pfarrer und einen Unterpfarrer. Ihr denkt nun gewiß, daß in diesen Kirchen Ähnliches dargeboten wurde wie in den Geschichtsmuseen und Visionstempeln, die unsere heutige Jugend besucht; ihr denkt, daß dort die Geschichte der Menschheit und das große Abenteuer des Lebens, an dem wir alle teilhaben, so eindrucksvoll und schön als möglich geschildert, daß die Zuhörer an die Bruderschaft aller Menschen gemahnt und aus dem Kreis selbstsüchtiger Gedanken emporgehoben wurden … Laßt mich euch berichten, was Religion und Kirche für mich bedeuteten.
Der ersten religiösen Unterweisungen, die ich erhielt, entsinne ich mich nicht mehr. Sehr früh lernte ich ein kleines Gebet in Versen auswendig, das mit den Worten anhob:
›Sanfter Jesus, lieb und lind, Blick auf mich, dein kleines Kind!‹
Ein anderes Gebet, das ich lernte, blieb mir fast völlig unverständlich. Schon die Anfangsworte ›Vater unser – der du – bis in den Himmel –‹ waren mir ein Rätsel. Es war darin von ›Schulden‹ die Rede, ferner enthielt es die Bitte ›Gib uns unser tägliches Brot‹ und den Wunsch ›Zu uns komme dein Reich‹. Meine Mutter muß mich diese Gebete gelehrt haben, als ich noch ganz klein war, und ich sagte sie jeden Abend auf, manchmal auch des Morgens. Sie hielt offenbar die altehrwürdigen Worte viel zu sehr in Ehren, als daß sie sie mir erklärt hätte. Als ich einmal nicht nur um das tägliche Brot, sondern auch um etwas Butter dazu bat, schalt sie mich heftig. Sehr gerne hätte ich sie gefragt, was wohl mit der guten Königin Victoria geschehen würde, sobald das Reich Gottes käme, doch fand ich nie den Mut dazu. Ich hatte die sonderbare Idee, daß dann eine Heirat geschlossen werden müßte, daß aber noch niemand an diese Lösung gedacht habe. Ich muß damals noch recht jung gewesen sein, denn Victoria die Gute starb, als ich fünf Jahre alt war, während des sogenannten Burenkrieges, eines heute fast vergessenen, aber ziemlich langwierigen Kampfes in Afrika.
Meine kindlichen Zweifel wuchsen, doch als ich das Alter erreicht hatte, in dem Kinder die Kirche und die Sonntagsschule zu besuchen begannen, machten sie einer Art selbstschützerischer Gleichgültigkeit Platz.
Der Sonntag-Morgen bedeutete für meine Mutter die allergrößte Anstrengung der ganzen Woche. Den Abend vorher bekamen wir allesamt in der unterirdischen Küche eine Art Bad, die Eltern ausgenommen, die sich, glaube ich, niemals am ganzen Körper wuschen – ich kann das aber nicht mit Bestimmtheit behaupten –, und am Sonntag-Morgen standen wir etwas später auf als gewöhnlich und zogen reine Wäsche an sowie die besten Kleider, die wir besaßen. (Man trug in jenen Tagen eine erschreckende Menge von Kleidungsstücken. Jedermann war infolge schwächlicher Gesundheit überaus empfindlich gegen Nässe oder Kälte.) In Erwartung größerer Dinge war das Frühstück ein hastiges und durchaus nicht feiertägliches Mahl. Dann mußten wir uns hinsetzen und still verhalten, damit unsere Kleider weder schmutzig würden noch sonst irgendwie Schaden nähmen, und dabei so tun, als ob wir eines der zehn oder zwölf Bücher, die unser Heim besaß, mit Interesse betrachteten oder läsen – bis es Zeit war, zur Kirche zu gehen. Die Mutter bereitete das Sonntagsmahl, meist eine bestimmte Art von Fleischgericht, das Prudence zu einem benachbarten Bäcker trug, wo es gebraten wurde, während wir dem Gottesdienst beiwohnten. Der Vater erhob sich noch später als wir anderen und erschien, seltsam verwandelt, in einem schwarzen Rock, mit Kragen, Vorhemd und Manschetten und mit niedergebürsteten, gescheitelten Haaren. In der Regel gab es irgendeinen unvorhergesehenen Zwischenfall, der unseren Abgang verzögerte. Eine meiner Schwestern hatte ein Loch im Strumpf, oder meine Schuhe waren noch nicht zugeknöpft und der Schuhknöpfer nirgends zu finden, oder eines der Gebetbücher war verlegt worden. Solches verursachte allgemeine Verwirrung, und es gab angstvolle Augenblicke, wenn die Kirchenglocken zu läuten aufhörten und ein monotones Bimmeln ertönen ließen, das den Beginn des Gottesdienstes anzeigte.
›Ach, nun kommen wir wieder zu spät!‹ rief meine Mutter. ›Nun kommen wir wieder zu spät!‹
›Ich geh’ mit Prue voraus‹, pflegte der Vater zu sagen.
›Und ich geh’ auch mit‹, sagte Fanny.
›Nicht, ehe du mir den Schuhknöpfer gefunden hast, Fräulein Hurlebusch‹, schrie meine Mutter, ›ich weiß genau, du hast ihn gehabt.‹
Fanny zuckte die Achseln.
›Warum hat der Junge nicht Schnürstiefel wie andere Kinder, das möcht’ ich wissen‹, meinte Vater unfreundlich.
Und Mutter, blaß vor Aufregung, erwiderte zusammenfahrend: ›Schnürstiefel in seinem Alter! Abgesehen davon, daß er die Schnürbänder zerreißen würde.‹
›Und was ist das dort auf der Kommode?‹ rief Fanny dann plötzlich.
›Aha, natürlich weißt du, wo er ist.‹
›Ich gebrauch’ eben meine Augen.‹
›Um eine Antwort bist du nie verlegen, du schlechtes Geschöpf!‹
Fanny zuckte wieder die Achseln und schaute zum Fenster hinaus. Zwischen ihr und Mutter bestand eigentlich eine weit bösere Verstimmung als dieser Zwist wegen des verlegten Schuhknöpfers. Am Abend vorher war ›Fräulein Hurlebusch‹ noch lange nach Einbruch der Dämmerung außer Haus gewesen, ein arges Vergehen, vom Standpunkt einer Mutter aus betrachtet, wie ich euch später noch erklären werde.
Schwer atmend und mit strenger Miene knöpfte mir Mutter die Schuhe zu, und dann zogen wir endlich los. Prue hängte sich an den Vater, der vorausging, Fanny schritt, verächtlich dreinblickend, etwas abseits dahin, und ich bemühte mich unterwegs, meine in weißen Baumwollhandschuhen steckende kleine Hand dem festen Griff meiner Mutter zu entwinden.
Wir besaßen einen eigenen Platz in der Kirche, eine Bank mit Binsenmatten darauf; an der Rückseite der Bank vor uns war unten eine breit vorspringende Leiste angebracht, auf der wir zum Gebete niederknieten. Wir schoben uns auf unsere Plätze, knieten einen Augenblick nieder, erhoben uns dann und waren nunmehr bereit für den sogenannten Sonntagsmorgen-Gottesdienst.«
»Dieser Gottesdienst war nun auch etwas sehr Sonderbares. Wir lesen in unseren Geschichtsbüchern über die alten Kirchen und den damaligen Gottesdienst und vereinfachen und idealisieren das Bild, das wir gewinnen. Wir nehmen alles für bare Münze. Wir sind der Meinung, daß die Menschen die absonderlichen Glaubensbekenntnisse der alten Religionen verstanden und wirklich glaubten; daß sie voll einfältiger Inbrunst zu ihrem Gott beteten; daß ihr Herz erfüllt war von geheimnisvollen Tröstungen und Illusionen – Vorstellungen, die mancher von uns heute wieder zu gewinnen strebt. Doch das Leben ist stets komplizierter als ein Bericht darüber, als jedwede Schilderung. Der menschliche Geist dachte damals trüber und verworrener, er vergaß seine primären Betrachtungen über sekundären, nahm häufig wiederholte, gewohnheitsmäßige Handlungen für beabsichtigte und verlor seine ursprünglichen Regungen aus dem Gesicht. Das Leben ist im Laufe der Zeit klarer und deshalb einfacher geworden. Wir damaligen Menschen hatten ein komplizierteres Leben, weil wir selbst verworrener waren. Und so saßen wir am Sonntagmorgen in den Kirchenbänken, fügsam, aber gleichgültig, ohne wirklich an das zu denken, was wir taten, die Vorgänge um uns mehr mit dem Gefühl als mit dem Verstande erfassend – und unsere Gedanken kamen und gingen, wie Wasser durch ein undichtes Gefäß sickert. Wir beobachteten die anderen verstohlen, aber genau und waren uns stets bewußt, daß wir ebenso beobachtet wurden. Wir standen auf, beugten die Knie und setzten uns, wie es die rituellen Gepflogenheiten erforderten. Ich erinnere mich noch lebhaft an das lange andauernde und vielfältige Geräusch, das entstand, so oft die versammelte Gemeinde sich hinsetzte oder erhob.
Der Vormittagsgottesdienst bestand aus Gebeten der Priester – Vikar und Kurat nannten wir sie – und aus Wechselreden zwischen ihnen und der Gemeinde, ferner wurden Hymnen in Versen gesungen und einzelne Stellen aus der hebräisch-christlichen Bibel gelesen; und schließlich folgte eine Predigt. Von dieser Predigt abgesehen, hatte der Gottesdienst eine genau festgelegte Form, die vorschriftsmäßigen Gebete, Wechselreden und so weiter standen in den Gebetbüchern, doch war die Abfolge nicht immer dieselbe, wir mußten oft Seiten überschlagen oder zurückblättern, und für mich kleinen Jungen, der ich noch dazu zwischen einer übergeschäftigen Mutter und Prue saß, war das Auffinden der richtigen Stellen eine schwere geistige Anstrengung.