Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als junge Frau war sie lebenshungrig, mutig und sehr verliebt. Beatrice wollte nicht so leben wie ihre Eltern, sondern studieren und als Biologin nach Venezuela auswandern. Doch es kommt anders. Vierzig Jahre später, kurz vor ihrem siebzigsten Geburtstag, verlässt sie von einem Tag auf den anderen ihre Familie und macht sich auf den Weg in den Urwald, umgeben von den bis heute geheimnisumwobenen Tafelbergen. Sie will die Spuren ihrer großen Liebe Paul finden und versucht gleichzeitig, die Schuld am Tod ihres Ehemannes zu verarbeiten. Gustavo, ein Pemón, hilft ihr bei ihrem ungewöhnlichen Vorhaben und wird dabei zum überraschenden Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Familie schickt aus Sorge um die herzkranke Beatrice einen Privatdetektiv hinterher. Er denkt, dass es eine leichte Aufgabe sein wird, die Siebzigjährige zu finden. Doch er irrt. Es wird der ungewöhnlichste Auftrag seines Lebens, der auch ihn verändert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 244
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Cordula Hamann
Der Traumapfel
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Traumapfel
Kapitel 1 (Dienstag, 14. Juni 1988)
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7 (Mittwoch, 15. Juni 1988)
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10 (Donnerstag, 16. Juni 1988)
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22 (Freitag, 17. Juni 1988)
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Wenige Tage später
Juli 2004
Impressum neobooks
Cordula Hamann
Der Traumapfel
Roman
Cover eBook: Copyright CASANDRA KRAMMER DESIGN
www.casandrakrammer.com
Titel und Text: Copy
right Cordula Hamann
www.cordulahamann.de
© 2013
Vollständig überarbeitete Fassung
der Printausgabe »Der Traumapfel«
ISBN: 978-3-85022-040-8, September 2007, novum Verlag
Beatrice sitzt auf der Wartebank im Abfertigungsraum der American Trans Air. Sie sieht auf die Uhr: 11.3o. Noch eine halbe Stunde bis zum Abflug. Sie starrt aus dem Fenster, durch das sie einen Teil des Flugfeldes sehen kann. Hoffentlich wird der Anschlussflug in New York klappen, denn wegen der Ferienzeit konnte sie keinen Direktflug nach Caracas mehr buchen. Aber das Reisebüro hatte sie beruhigt. 45 Minuten Zeit zwischen den Flügen seien zum Umsteigen absolut ausreichend.
Beatrice greift in ihre Manteltasche und fühlt die Pillendose, die sie nun schon seit einigen Monaten begleitet. Sie wird sie vielleicht nicht mehr lange brauchen, aber bis dahin müssen die Tabletten immer greifbar sein.
Bei der Erinnerung an den Mitarbeiter der American Trans Air, der sich beim Durchchecken des Gepäcks über ihre kleine Reisetasche gewundert hat, muss sie lächeln. Doch mehr benötigt sie nicht für diese letzte Reise.
Draußen ziehen Wolken auf, noch scheint die Sonne durch. Ein wunderschöner Vormittag. Beatrice beobachtet die Wolkengebilde und allmählich verliert sich ihr Blick in den weißen Formen. Wie Bleigießen an Silvester regen sie die Fantasie an. Blumen, ein Kind mit einer Schultüte, ein pausbäckiges Gesicht. Doch plötzlich erschrickt sie. Eine der Wolken sieht wie ein liegender Mensch aus, den Kopf verkrampft nach hinten gestreckt. Er ähnelte Tom, als er im Garten gelegen hat. Sein Körper lang hingeschlagen, mit dem Genick über der Beetkante aus Naturstein, die er selbst Jahre zuvor in mühseliger Arbeit verlegt hatte, der Hinterkopf sanft gebettet in der dunklen Erde, die sein Blut aufsog. Es war nur eine Frage der Zeit und des Zufalls, dass irgendjemand der Zeitunterschied zwischen ihrem Schrei und ihrem Notruf auffallen würde. Aber ein Zufall kommt immer, auch nach vier Jahren noch, und sie will nicht darauf warten. Sie kann es auch nicht. Wenn Dr. Harrison recht hat, würde ihr Herz nicht mehr lange mitmachen.
Sie muss an die herzliche Aufnahme ihrer Kinder denken, als sie vor vier Jahren von ihnen aus Asheville geholt wurde, um den lästigen Nachforschungen der Polizei zu entgehen. Die ersten Tage nach ihrer Ankunft hatte sie sich durch die Fürsorglichkeit der Familie regelrecht schlecht gefühlt. Nach dem, was sie ihrem Sohn angetan hat, ist ein harmonischer Lebensabend bei ihm nicht gerade etwas, das sie verdient. Und den einzigen Schutz, den sie aufbauen konnte, war die Vergänglichkeit ihrer Anwesenheit. Steven und Ellen dagegen sahen ihre Ankunft als etwas Endgültiges und haben ihr sogar das eigene Schlafzimmer abgetreten. Und dann, nach nur wenigen Wochen, hat ihr Simon einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mit der Neugierde und Offenheit eines Sechsjährigen nahm er die Oma als selbstverständliches neues Mitglied der Familie auf und ihre Abwehr schmolz in überraschend kurzer Zeit dahin. Er ist das Abbild seines Großvaters, wie sie ihn sich als kleinen Jungen vorstellt; hat seine Augen und seinen wachen Verstand. Und mit beidem hielt er sie gefangen und das schon ganze vier Jahre. Das letzte bisschen an Kraft hat sie gebraucht, um nun endlich zu gehen und das zu tun, was sie ein halbes Leben lang versäumt hat.
Als Ellen den Parkplatz vom Wal-Mart erreicht, ist sie bereits genervt, denn wie jeden Freitag ist er proppenvoll. Sie ranchiert ihren Buick ein zweites Mal langsam durch die engen Reihen.
“Mum, da guck, der braune Chevi, der Typ fährt weg.” Ellen beeilt sich, vor irgendeinem anderen Fahrzeug in die Lücke einzuparken und lächelt ihren Sohn dankbar an. “Los, ihr beiden. Wir müssen wegen Omas Geburtstag heute besonders viel einkaufen.”
Simon springt aus dem Auto. “Ich hol schon einen Wagen, Mum.” Sandra braucht wie immer etwas länger, um mit der einen Hand den Teddy und den neuen Minirucksack zu greifen, den Oma ihr geschenkt hat, und mit der anderen den Sicherheitsgurt ihres Kindersitzes zu lösen. Ellen darf das seit einigen Wochen nicht mehr tun. Sie liebt ihre beiden Kinder heiß und innig, aber bei Sandras Anblick wird ihr jedes Mal warm ums Herz. Mit ihren hellblonden Locken und ihrem runden Gesicht sieht sie aus, als wäre das ganze Jahr Weihnachten und sie das Christkind. “Allein die beiden sind schon Grund genug, alles mit Steven zu versuchen“, denkt Ellen und schlägt ihrer Tochter vor: “Lass doch den Rucksack im Auto, Spatz.”
“Nein, den brauche ich”, entgegnet Sandra bestimmt. “Ich muss Omas Geschenk da reinpacken.”
“Aber hier im Supermarkt kaufen wir jetzt nur Lebensmittel für Omas Geburtstagsparty. Ein Geschenk können wir uns nachher zu Hause überlegen.” Doch Sandra ist bereits draußen, mit samt ihrem Teddy und dem Rucksack. Nie würde Ellen ihrer Tochter vorschlagen, das Kuscheltier im Auto zu lassen. Auch dieses hat ihr Oma geschenkt, letztes Jahr zu Weihnachten.
Ellen und Sandra beeilen sich, Simon einzuholen, der ungeduldig mit dem großen Einkaufswagen vorm Eingang auf sie wartet. Ellen holt ihren Einkaufzettel aus der Jackentasche, während Simon Sandra in den Kindersitz des Einkaufswagens hebt. Normalerweise braucht Ellen keine schriftliche Gedankenstütze. Aber am Freitag sollen fünfzehn Gäste kommen und sie will für Stevens Mutter den runden Geburtstag auch kulinarisch angemessen gestalten. 70 ist schließlich schon etwas und außerdem liebt sie ihre Schwiegermutter Beatrice. Von Anfang an nennt sie sie mit dem Vornamen. Zum einen hat es Beatrice selbst vorgeschlagen und zum anderen passt die Anrede viel besser als Mum oder etwas Ähnliches. Nicht, dass man sie nicht für eine Schwiegermutter und Großmutter halten könnte, aber sie hat eine Art natürlicher Jugendlichkeit. Nicht so mondän oder krampfhaft jünger aussehend wie viele Frauen gleichen Alters. So kann sich Ellen nicht daran erinnern, dass Beatrice jemals einen Schönheitssalon besucht hat. Zum Frisör geht sie nur, wenn ihre dunkelbraunen, noch immer dichten Locken eine Zähmung benötigen. Ihre Kleidung ist zeitlos modern und gibt ihrer schlanken Gestalt eine gewisse Eleganz, und ihre persönliche Ausstrahlung wirkt stets warmherzig. Seit sie vor vier Jahren zu ihnen gezogen ist, empfindet Ellen die Anwesenheit ihrer Schwiegermutter immer wieder als Bereicherung und hofft, dass Beatrice trotz ihres Herzleidens noch lange bleiben wird.
Ellen konzentriert sich wieder auf ihre Einkäufe. An der Salat- und Gemüseabteilung fordert Sandra: ”Mama, heb mich raus aus dem Wagen.” Alles geht langsamer, wenn Sandra beschließt, allein durch den Supermarkt zu marschieren. Und das ausgerechnet heute. Aber Ellen kennt inzwischen den Gesichtsausdruck ihrer Tochter, wenn diese etwas auf jeden Fall will. Und zu einer Auseinandersetzung mit ihr hat Ellen jetzt noch weniger Lust. Also hebt sie Sandra aus dem Wagen und sieht zu, wie sie zielstrebig, mit Teddy und Rucksack beladen, zur Obstabteilung geht. Dort bleibt sie vor den Äpfeln stehen, stellt sich auf die Zehenspitzen und schafft es gerade so, an einen großen roten Apfel heranzureichen. Sie dreht ihn prüfend nach allen Seiten und ist gerade dabei, ihn in den Rucksack zu stecken, als Ellen ihr den Apfel aus der Hand nimmt. “Sandra, das darfst du nicht! Die Leute, die hier arbeiten, denken doch, du willst den Apfel stehlen. Pack ihn wieder weg. Wir haben noch Äpfel zu Hause.”
“Ich will aber den hier - für Oma!” Ellen denkt an die vielen Dinge, die sich auf ihrem Einkaufszettel aber noch nicht im Wagen befinden. ”Okay. Wir nehmen diesen für Oma mit, aber erst muss er in den Wagen. Nach der Kasse darfst du ihn dann einpacken.” Damit gibt sich ihre Tochter zufrieden.
Ellen arbeitet hintereinander die Gänge des Supermarktes ab. Sandra lässt den roten Apfel nicht aus den Augen. Jedes Mal, wenn Ellen oder Simon etwas Neues in den Wagen legen, nimmt sie den Apfel hoch und legt ihn anschließend sorgsam wieder als Oberstes hinein. Nach einer drei viertel Stunde stehen sie an der Kasse. Simon begeistert das Einkaufen immer schon und er freut sich, besser als seine Mutter zu wissen, wo die einzelnen Produkte stehen. Fachmännisch sortiert er jetzt die Waren auf dem Band, schiebt die Eier ans Ende, die schweren Flaschen nach vorn. Als Ellen noch beim Bezahlen ist und Simon fleißig beim Einpacken, ist der rote Apfel schon in Sandras Rucksack verschwunden. Still und stolz steht sie da und wartete, bis ihre Mutter und ihr Bruder fertig sind.
Es ist doch hektisch geworden beim Umsteigen auf dem Flughafen New York. Aber nun sitzt sie im Flugzeug auf direkten Weg nach Caracas. Die Wolken sind so dicht, dass man bereits wenige Minuten nach dem Start von der Stadt nichts mehr sieht. Es ist ihr egal, denn sie hat keinen besonderen Bezug zu New York. Einmal war sie mit Tom Anfang Dezember zu den berühmten Weihnachtseinkäufen dort. Wie fast alle in- und ausländischen Touristen hat sie New York als Großstadt begeistert. Aber sie hätte niemals hier leben wollen. Sie hätte in keiner Großstadt jemals leben wollen. Vielleicht, weil sie auf dem Lande aufgewachsen ist? Weil sie Weite und Raum benötigt? Die Straßen New Yorks sind hierfür viel zu eng.
Zuhause bei ihren Eltern war es anders. Sie lebten am Rande der kleinen Stadt Fayetteville, die über ein Minimum an kulturellen und sonstigen Einrichtungen verfügte. Jedenfalls genug, damit ein Kind sich geborgen und behütet fühlt und trotzdem eine Brise der Welt schnuppern kann. Es gab eine erstaunlich gut bestückte Bibliothek, eine Grundschule und – das führte zum ständigen Wachsen der Stadt – die einzige Oberschule für Mädchen im Umkreis von 300 Kilometern. Jungengymnasien gab es mehrere in den umliegenden Städten. Aber die Gemeinden hatten sich noch nicht aufraffen können, die Mädchen der fortschrittlicheren Eltern dort ebenfalls zur Schule gehen zu lassen.
Die Menschen ihrer Stadt verdienten ihren Unterhalt mit der umliegenden Landwirtschaft und immer häufiger als Inhaber kleiner Geschäfte, Betreiber von Restaurants und Bars, Tankstellen und Pensionen. Ja, Fayetteville war ein wachsendes Städtchen und die in der Umgebung möglichen Freizeitaktivitäten und die Landschaft förderten einen ebenso zaghaften wie aufsteigenden Tourismus.
Im Laufe der Jahre ist Fayetteville nun zur viertgrößten Stadt in North Carolina herangewachsen mit über 100.000 Einwohnern, aber davon war in Beatrices Kindheit noch wenig zu spüren gewesen. Zur Unterhaltung der Touristen aus den Großstädten, die sich im Sommer hier erholten, eröffnete man auch ein weiteres Kino. Der Kirchenchor wurde mit einem Orchester ergänzt, während die Schulen durch Theateraufführungen zum kulturellen Niveau der Stadt beigetrugen.
In solch einer Theatergruppe erlebte Beatrice die ersten Berührungen mit der Weltliteratur und im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen fand sie daran Gefallen. Diese Gedanken gingen weit über das hinaus, was ihre Eltern und Geschwister zu Hause berührten und sich ihre Freundinnen nach Schulschluss erzählten. Ihre Neugier auf alles, das sich außerhalb ihrer kleinen Stadt abspielte, war außergewöhnlich und konnte nur durch ihre regelmäßigen Besuche in der Bibliothek gestillt werden. Sie war Stammgast dort; entgegen allen Lästerungen ihrer Freundinnen und Vorwürfen ihrer Familie, sie ginge versponnen irgendwelchen Träumen nach, anstatt sich auf ein ordentliches Leben vorzubereiten.
Einmal drohte ihr Vater sogar damit, sie aus dem Gymnasium zu nehmen und sie in eine Lehre zu stecken, damit sie auf den Boden der Tatsachen zurückkehren würde. Dies war die Zeit, in der Beatrice nur noch heimlich in ihrem Zimmer las und darauf vertraute, dass die Bibliothekarin, eine nette jüngere Frau, sie nicht verriet.
Und es war die Zeit, in der ihr das Buch in die Hände fiel, ganz neu noch, und von einem jungen Biologen geschrieben, über ein Land im Süden des Kontinents. Über eine „Urwelt“, die dort abgeschieden von der übrigen Erdentwicklung seit Jahrmillionen erhalten geblieben sein soll. Weiße Flecken auf der Landkarte, unerforscht, unerreichbar und kaum jemals betreten: Die Tafelberge der Gran Sabana in Venezuela, an deren Fuß nur wenige indianische Menschen lebten.
Dieses Buch ließ sie nie wieder los und eines Tages, nachdem sie es zum elften Male aus der Bibliothek ausgeliehen hat, schenkte es ihr die nette Bibliothekarin. Sie trug das Buch in ihrer Registratur als „von unbekannter Hand nicht wiederherstellbar beschädigt“ ein und forderte ein neues an.
Beatrice drückt sich gemütlich in ihren Sitz. Das Flugzeug ist voll, aber nicht so, dass nicht einige Sitze frei geblieben sind; neben ihr sind sogar beide Plätze unbesetzt. Soweit sie es überblicken kann, ist sie die Einzige, die dieses Glück hat. Oder verdankte sie es der netten Angestellten des Reisebüros? Beatrice hat einen Kurierdienst beauftragt, dieser Mitarbeiterin übermorgen einen kurzen Dankesbrief zusammen mit einem 100 Dollar-Schein zuzustellen, denn das Reisebüro hat alles für sie organisiert. Beinahe wäre dabei der Zeitplan geplatzt, den sie sich ausgedacht hat. Die Flüge nach Caracas und der Weiterflug nach Ciudad Bolívar waren nicht das Problem. Aber von Ciudad Bolívar gelangt man nur noch mit kleinen sogenannten Buschflugzeugen weiter ins Landesinnere. Die Piloten fliegen stets mit drei bis maximal fünf Touristen. Leider lag für morgen keine weitere Anmeldung vor und der Pilot wollte mit nur einem Passagier nicht fliegen. Die nette Frau vom Reisebüro war erfahren genug zu erkennen, dass Beatrice zwar nicht wohlhabend aber finanziell gut gesichert ist, und bot kurzerhand dem Piloten über die Reiseagentur in Puerto La Cruz den dreifachen Preis. Sie erhielt die Zusage. So kann Beatrice nun sicher sein, dass sie an ihrem Geburtstag da sein wird, wo sie sein will.
Die Stewardess schreitet langsam den Gang entlang und bietet den Passagieren Gläser mit Orangensaft und Mineralwasser zur Erfrischung an. Beatrice nimmt dankend ein Glas Orangensaft, greift in die Jacke ihres Blazers und holt die Pillendose heraus. Die Tabletten sind klein und rund und es bereitet ihr keine Probleme, sie zu schlucken. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Jetzt, da sie in diesem Flugzeug sitzt, das sie direkt nach Caracas bringen wird, weichen alle Zweifel und Unruhe von ihr ab. Obwohl sie weiß, dass das weitaus Schwierigere noch vor ihr liegt, fühlt sie eine tiefe Zufriedenheit. Etwas wehmütig denkt sie daran, dass alles leichter sein würde, hätte sie früher diese Reise unternommen. Dann wäre sie noch nicht herzkrank gewesen und jung genug, um einen Teil ihrer Träume zu verwirklichen. Über 40 Jahre lang schob sie alles, aber auch alles, was mit ihrem Leben vor Tom zu tun hat, rigoros beiseite. Sie verbot sich, irgendwelche Nachrichten und Berichte über Venezuela zu lesen oder nur anzuschauen. Lange 40 Jahre lang, bis sie der Arzt an ihrem Krankenbett aus dieser Lethargie herausgerissen und sie damit daran erinnert hat, dass der Mensch sterblich ist.
„Sehr geehrte Reisende, wir fliegen auf ein Gebiet mit einigen kleinen Turbulenzen zu. Wir bitten Sie, sich zu Ihrer eigenen Sicherheit anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Wir danken für Ihr Verständnis.“ Die Durchsage reißt Beatrice aus ihren Gedanken. Sie vergewissert sich, dass sie noch immer angeschnallt ist und wartet die folgende Ansage in spanischer Sprache ab, bevor sie wieder ihre Augen schließt. Sie versucht, die Gedanken dort aufzunehmen, wo sie soeben unsanft unterbrochen wurden. Aber es gelingt ihr nicht. Sie ist schläfrig geworden und kann die Gedanken nicht mehr ordnen. Sie kreisen um das „Warum nicht früher?“ wie Wellen, die aus der Oberfläche des Meeresspiegels sich langsam aufbauen. Und wenn sie ihre größte Höhe erreicht haben, an der man meint, sie fassen zu können, verlieren sie ihre Form und lösen sich in den sie umspülenden Wassermassen auf. Als wollten sie damit die Erinnerung an sie auszulöschen. Was Beatrice empfindet, bevor sie endgültig einschläft, ist das angenehme Gefühl der Gewohnheit und Sicherheit, das sich während der Ehe mit Tom ihrer ebenso bemächtigte wie jetzt der Schlaf.
Das Essen war nicht schlecht, jedenfalls für die Angebote in einem Flugzeug. Jetzt läuft über den Köpfen der Passagiere der obligatorische Spielfilm auf den kleinen, ausschwenkbaren Monitoren. Sie hat sich keine Kopfhörer geben lassen. Viel lieber will sie die wirren Gedanken ihres Schlafes, der eher einem Halbschlaf geglichen hat, wieder aufnehmen.
Warum habe ich ihn sterben lassen? Weshalb habe ich ihn nicht verlassen oder, einfacher noch: Ich hätte fahren können. Und als er tot war, warum habe ich nicht dann die Reise begonnen? Nein, sie kann sich nicht verzeihen, was sie getan hat und sie kann es auch nicht verstehen. Ist sie ein schlechter Mensch? Egoistisch darauf bedacht, die eigenen Lebensträume über das Leben eines Menschen zu stellen? Auch, um das herauszufinden, hat sie sich aufgemacht, in dieses Flugzeug zu steigen. Es ist ihre letzte Chance, sich selbst zu begreifen, wenn sie sich schon niemals verzeihen kann.
Nachdem Ellen die Auffahrt zu ihrem Haus hochgefahren ist und der Wagen stillsteht, hopst Sandra so schnell es geht aus dem Auto, nimmt ihren Teddy und den Rucksack und stampfte auf das Haus zu. Ellen und Simon bringen die Tüten in die Küche und achten wenig darauf, dass Sandra gleich in ihrem Zimmer verschwindet.
Dort setzt Sandra den Teddy auf das Kopfkissen, wo er immer sitzt, damit er alles sehen kann. Sie nimmt den Apfel aus dem Rucksack und legt ihn auf ihren kleinen Schreibtisch, den sie erst nach langem Drängen bekommen hat. Weil sie noch nicht wie ihr großer Bruder in die Schule gehen darf. Sie setzt sich und verschränkt die Arme auf der Schreibtischplatte. Den Kopf legt sie so, dass sie den Apfel anschauen kann. Er wird Oma gefallen. Hoffentlich sind alle Träume noch drinnen. Er hat keine angeschlagenen Stellen. Die Träume müssen eigentlich noch alle darin sein. Sie lächelt bei der Erinnerung an den Nachmittag, an dem Simon aus der Schule gekommen ist und Oma die Geschichte aus dem Religionsunterricht erzählt hat. Die Geschichte von Adam und Eva im Paradies. Und dass Gott gesagt habe, wenn sie von dem Apfel äßen, würden sie wissen, dass sie nackt sind und sie müssten dann aus dem Paradies heraus. Simon hat das mit dem Apfel nicht verstanden. Die Oma hat ein wenig herumgedruckst, Simon lange angeschaut und dann erklärt: „Weißt du, das ist so: Gott hat in den Äpfeln des Baumes der Erkenntnis die Träume der Menschen eingeschlossen, und wenn ein Mensch davon abbeißt, erweckt er die Träume zum Leben. Sie begleiten ihn und er muss deshalb aus dem Paradies, weil der Platz dort viel zu klein ist, um alle Träume zu leben. So viele Träume sind in einem Apfel.“
Simon hat zwar anfangs zugehört, aber dann ist er ungeduldig geworden, weil seine Lieblingssendung im Fernsehen angefangen hat.
Nur sie hat ehrfürchtig ihrer Oma gelauscht. Sie ist so ganz anders als die Omas ihrer Freundinnen. Sie weiß alles und ist nie genervt, wie Mama es manchmal ist, und sie hat immer Funken in den Augen. Aber Oma hat sie wohl gar nicht wahrgenommen und beim Verlassen der Küche leise gemurmelt: „Anstatt Tom zu heiraten, hätte ich mal auch besser in den Apfel gebissen. So bleiben meine Träume ungeträumt.“
Sandra hat versucht, mit Simon über die Apfelgeschichte zu sprechen, aber er hat gar nicht richtig zugehört. Er versteht oft gar nichts, obwohl er doch schon so viele Jahre älter ist. Manchmal findet sich Sandra viel erwachsener als ihn und es macht sie traurig, dass Oma offenbar immer lieber mit Simon zusammen ist als mit ihr.
Einmal hat sie Mama gefragt, weshalb Oma sie nicht so lieb hat wie Simon. Aber Mama hat ihr erklärt, das stimme nicht und ihr Eindruck läge bestimmt nur daran, dass sie einfach noch ein wenig zu klein sei, um sich über wichtige Sachen zu unterhalten. Sandra findet das gar nicht. Und wenn sie der Oma den Apfel zum Geburtstag schenkt, wird sich alles ändern. Sie wird Oma ihre Träume wiederbringen und dann wird sich Oma viel besser mit ihr unterhalten können als mit Simon.
Nachdem Ellen alle Einkäufe in den Schränken und im Kühlschrank verstaut hat, setzt sie den Wasserkessel auf den Herd und ruft nach oben: „Beatrice, wir sind zurück. Möchtest du auch einen Kaffee?“ Es kommt keine Antwort. Sie ruft noch einmal: „Beatrice, bist du da?“ Aber scheinbar ist sie noch zu einer Bekannten gegangen.
Ellen nimmt ihre Kaffeetasse und geht ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf den Sessel, lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Tisch. Simon hat gleich nach dem Einkaufen gefragt, ob er zu Pit, seinem besten Freund, gehen darf und Sandra ist noch immer oben in ihrem Zimmer. Sie ist gerne einmal allein. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der ständig jemanden um sich herum braucht und fast mehr bei seinen Freunden ist als zu Hause. Oder er bringt eine Horde von fünf, sechs Jungs hierher.
Ellen ist froh, dass das Chaos heute woanders stattfindet und sie ihre Ruhe hat. Sie würde sich jetzt nur gerne ein wenig mit Beatrice unterhalten. Ungewöhnlich, dass ihre Schwiegermutter keinen Zettel in der Küche hinterlassen hat. Normalerweise tut sie dies, wenn sie das Haus verlässt. Vielleicht wollte sie schneller als gedacht wieder zu Hause sein und kommt schon bald.
Ellen weiß auch nicht genau, weshalb sie sich so gerne mit Beatrice unterhält, denn eigentlich sagt ihre Schwiegermutter nicht viel bei diesen Gesprächen. Aber trotzdem strömt sie eine solche Ruhe und Gelassenheit aus, dass allein ihre Anwesenheit Sicherheit und Geborgenheit gibt. Es ist wohltuend zu wissen, dass noch jemand da ist, der notfalls hilfreich eingreifen kann, wenn man sich selbst überfordert fühlt. Für Beatrice scheint es derartige Probleme nie gegeben zu haben. Sie denkt und lebt gradlinig, und selbst den plötzlichen Tod ihres Mannes hat sie gut verkraftet.
Ellen hatte zunächst Angst, wie es wohl sein würde, Beatrice den ganzen Tag um sich zu haben. Als Steven den Vorschlag machte, seine Mutter nach dem plötzlichen Tod des Vaters bei sich aufzunehmen, hat sie trotzdem alle Bedenken heruntergeschluckt und zugestimmt. In der ersten Zeit war Beatrice oft allein in ihrem Zimmer geblieben. Aber so langsam sind es vor allen Dingen die Kinder gewesen, die sie zu einem normalen Leben zurückführten. Ellen war erstaunt, wie unheimlich warmherzig Beatrice sein konnte, ohne sich jemals in persönliche Dinge wie Kindererziehung oder ihre Ehe mit Steven einzumischen. Sie kennt keinen anderen Menschen, der so viel Nähe und gleichzeitig Distanz ausströmt. Alle ihre Freundinnen, die sie davor gewarnt haben, sich nur nicht zu sehr mit ihrer Schwiegermutter anzufreunden, weil sie sich dann überall einmischen würde, haben sich geirrt. Wenn Beatrice gefragt wird, sagt sie offen und unverblümt ihre Meinung, auch gegenüber den Kindern. Aber niemals ist auch nur eine Spur von Vorwurf in ihren Worten, wenn Ellen oder Steven eine andere Meinung vertreten. Ein Außenstehender könnte denken, sie sei eine freiwillig ausgewählte, mütterliche Freundin.
Und weil sich Beatrice im Laufe der vier Jahre, die sie jetzt bei ihnen lebt, einen netten Bekanntenkreis aufgebaut hat, müssen sich weder Steven noch Ellen ständig um sie kümmern. Es blieben genug Freiräume für sie selbst. Ja, Ellen liebte ihre Schwiegermutter und würde ihr am Freitag eine schöne Feier ausrichten, um es ihr auch zu zeigen.
Das Telefon klingelt. Aus ihren Gedanken gerissen, hebt Ellen den Hörer ab. Es ist Mrs. Stevensen, eine Bekannte Beatrices. Ellen notiert sich die Nummer und verspricht, Beatrice um Rückruf zu bitten, sobald sie eintrifft. Da sie nun ohnehin in ihrer Pause gestört ist, geht sie in die Küche und beginnt mit den Vorbereitungen für das Essen. Auf dem Weg nach oben ruft sie Sandra, ob sie ihr helfen will.
Inzwischen ist es bereits fünf Uhr. Steven wird gleich nach Hause kommen. Das Essen ist so weit fertig, dass sie nur noch den Tisch decken muss. Simon hat angerufen und gefragt, ob er bei Pit schlafen darf. Sie hat Schlafanzug, Zahnbürste und seinen Schlafsack bereits zu den Thorntons gebracht, die nur drei Häuser weiter wohnen. Inzwischen geht ihr die Frage, warum Beatrice nicht nach Hause kommt, immer weniger aus dem Kopf. Immerhin wird sie 70 Jahre alt und womöglich ist etwas passiert. Sie beschließt, einige Bekannte Beatrices anzurufen. Aber keine weiß etwas von ihrem Verbleib. Als Ellen die beste Freundin von Beatrice am Telefon erreicht, macht diese eine Bemerkung, die Ellen mehr als merkwürdig vorkommt: „Beatrice hier? Nein, ich dachte, sie sei verreist. Sie wollte doch zu ihrem Geburtstag diese große Reise machen?“
Ellen reagiert verständnislos: „Welche Reise? Was hat sie Ihnen denn erzählt?“
„Eigentlich nicht viel. Sie hat sich nur gestern bei mir verabschiedet und meinte, sie würde wegfahren. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht nur einem großen Trara an ihrem Geburtstag entgehen wollte. Aber so, wie sie geklungen hat, schien es mir nicht nur ein Kurztrip zu sein.“
Ellen bedankt sich für die Auskunft und legt fassungslos den Telefonhörer auf. Weshalb hat sich Beatrice von ihrer besten Freundin verabschiedet, die zu ihrem Geburtstag einer ihrer Hauptgäste sein sollte? Welche Reise will Beatrice machen? Sie hat kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Ellen hört Stevens Auto vor dem Haus vorfahren und geht zur Eingangstür.
Steven nimmt seine Aktentasche vom Beifahrersitz, schließt die Autotür und geht auf Ellen zu. Er bemerkt sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass irgendetwas nicht stimmt, als es bereits ohne weitere Begrüßung aus ihr heraussprudelt: „Steven, Beatrice ist nicht da!“
„Ja, und? Weshalb ist das so schlimm?“, fragt er amüsiert. Ellen erzählt ihm von ihren Anrufen und dass kein Zettel in der Küche gewesen ist und vor allen Dingen berichtet sie ihm, was Mrs. Crouwn gesagt hat. Es klingt tatsächlich alles etwas merkwürdig.
„Hast du denn einmal in ihrem Zimmer nachgesehen?“
„Nein, daran habe ich nicht gedacht“, antwortet Ellen und er muss zugeben, dass er auch nie auf die Idee kommen würde, in Mutters Zimmer zu gehen, wenn diese nicht da war.
„Liebling, sei so nett und kümmere dich schon ums Essen. Heute Mittag hatte ich keine Zeit und bis jetzt war die große Besprechung mit der North-West-Corporation, von der ich dir erzählt habe. Und ich gehe unterdessen einmal nach oben und sehe nach.“
Er legt Tasche und Autoschlüssel an der Garderobe ab und steigt die Treppe hinauf. Im ersten Stockwerk kommt ihm Sandra entgegen.
„Hallo mein Spatz, wie geht es dir?“
„Guck mal, Papa“, Sandra zieht ihren Vater energisch in ihr Zimmer. Voller Stolz zeigt sie auf den Apfel auf ihrem Schreibtisch. „Guck mal, was ich Oma zum Geburtstag gekauft habe.“ Sie sieht ihren Vater erwartungsvoll an. Er ist schon an einige, für einen Erwachsenen kaum verständliche Ideen seiner Tochter gewöhnt und zeigt deshalb die gebotene Begeisterung. „Tolles Geschenk, Sandra. Er ist so schön rot und rund. Und nun geh schnell nach unten und hilf Mama, ja? Ich komme auch gleich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger, weißt du. Sonst muss ich noch vor lauter Hunger diesen Apfel da essen.“
„Nein!“ schreit Sandra entsetzt. Aber dann erkennt sie, dass ihr Vater nur Spaß macht und lacht.