Der Überläufer - Siegfried Lenz - E-Book

Der Überläufer E-Book

Siegfried Lenz

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Beschreibung

Ein Roman von Siegfried Lenz erscheint mit 65 Jahren Verspätung. 1951 geschrieben, ist "Der Überläufer" Siegfried Lenz' zweiter Roman. Obgleich vollendet und vom Autor mehrfach überarbeitet, blieb er bis 2016 unveröffentlicht. Es ist der letzte Kriegssommer, die Nachrichten von der Ostfront sind schlecht. Der junge Soldat Walter Proska wird einer kleinen Einheit zugeteilt, die eine Zuglinie sichern soll und sich in einer Waldfestung verschanzt hat. Bei sengender Hitze und zermürbt durch stetige Angriffe von Mückenschwärmen und Partisanen, aufgegeben von den eigenen Truppen, werden die Befehle des kommandierenden Unteroffiziers zunehmend menschenverachtend und sinnlos. Die Soldaten versuchen sich abzukapseln: Einer führt einen aussichtslosen Kampf gegen einen riesigen Hecht, andere verlieren sich in Todessehnsucht und Wahnsinn. Und Proska stellen sich immer mehr dringliche Fragen: Was ist wichtiger, Pflicht oder Gewissen? Wer ist der wahre Feind? Kann man handeln, ohne schuldig zu werden? Und: Wo ist Wanda, das polnische Partisanenmädchen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf geht?  Nach 65 Jahren in der Schublade, wurde der Roman zu einem überragenden Presse- und Publikumserfolg und stand wochenlang auf Platz 1 der Bestsellerlisten.

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Seitenzahl: 365

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Siegfried Lenz

Der Überläufer

Roman

Hoffmann und Campe

1. Kapitel

Niemand öffnete die Tür.

Proska klopfte ein zweites Mal, heftiger, entschlossener, mit angehaltenem Atem. Er wartete, beugte den Kopf und blickte auf den Brief in seiner Hand. In der Tür steckte ein Schlüssel; es mußte jemand im Hause sein. Aber niemand öffnete.

Der Mann ging langsam von der Tür weg und wagte einen Blick durch ein halbblindes Fenster. Die Sonne zielte dabei nicht schlecht auf seinen Hinterkopf, das machte ihm jedoch nichts aus. Plötzlich begannen Proskas Knie, die Knie eines fünfunddreißigjährigen, kräftigen Assistenten zu zittern. Er riß die Lippen auseinander, ein dünner Speichelfaden klemmte sich zwischen sie.

Vor ihm, zwei Meter hinter der Glasscheibe, saß ein alter Mann auf einem Stuhl, ein Greis, der seinen linken Arm, einen dürren, gelblichen, halb schon hingewelkten Ast des Körpers völlig entblößt hatte und mit unerträglicher Pedanterie eine Injektionsspritze füllte. Die leere, ausgediente Ampulle ließ er achtlos auf den Fußboden fallen. Proska glaubte, ein Geräusch unbedeutenden Zerbrechens zu vernehmen; er täuschte sich aber; die Fensterscheibe ließ den winzigen Laut nicht ins Freie.

Der Alte legte die Spritze vorsichtig auf ein niedriges Tischchen, zupfte mit fleischlosen Fingern aus einem Wattebausch ein kleines Stück heraus, drehte es zitternd zu einem Pfropfen und hielt diesen an einen Flaschenhals. Dann hob er langsam das Gefäß hoch und kehrte es um. Die Flüssigkeit tränkte den Wattepfropfen, der unersättlich schien und seine Farbe änderte.

Proska ließ sich keine Bewegung, keinen auch noch so geringen Vorgang entgehen. Er hatte den Alten erst vier- oder fünfmal in seinem Leben gesehen, hatte ihn erst vier- oder fünfmal in seinem Leben gegrüßt. Proska wußte nicht mehr über ihn, als daß er Apotheker war. Auf seinem Türschild stand ›Adomeit‹ – weiter nichts.

Der Alte rieb mit dem Wattepfropfen eine Stelle auf seinem Unterarm ab und wartete einen Augenblick. Während er wartete, schielte er über den metallenen Rand seiner Brille auf die Injektionsnadel, die harmlos in der Sonne blinkte.

›Was wird er tun? Wird er sich in den Arm stechen? In eine Ader? Warum tut der Alte das?‹

Proskas Mundwinkel zuckten.

Adomeit griff nach der Spritze und führte sie dicht an seine Brillengläser. Er drückte flüchtig auf den Stengel: Aus der Nadel schoß in dünnem Strahl eine braune Flüssigkeit. Das Instrument war zuverlässig, es funktionierte gehorsam. Da stieß es der Alte so unvermittelt in seinen Arm, daß Proska wie gelähmt vor dem Fenster stand. Er konnte nicht schreien, nicht die Hand heben, nicht davonlaufen. Während er auf den Mann sah, der etwas an seinem Körper verübte, glaubte er selbst einen spitzen, tiefen Schmerz zu empfinden, einen Schmerz so spitz wie eine Haarwurzel und so tief wie der Brunnen eines menschlichen Auges. Der Zeigefinger des Greises drückte die Flüssigkeit in sein Blut, stetig, unnachgiebig.

Als der Alte die Nadel mit einem Ruck aus seinem Arm zog, fühlte sich Proska wieder der Bewegung fähig. Er lief zur Tür zurück, schlug gegen das Holz und wartete. Aber niemand öffnete ihm. Vorsichtig drückte er die Klinke hinunter; die Tür bewegte sich knarrend und widerwillig, sie ließ ihn vorbei.

»Guten Tag«, sagte Proska. Seine Stimme klang heiser.

Der Alte antwortete nicht. Er hatte den Mann, der in sein Zimmer getreten war, offenbar noch nicht bemerkt.

»Ich wollte Sie fragen …«, sagte Proska laut. Er ließ den Satz unvollendet, als er entdeckte, daß Adomeit mit dem Wattepfropfen die Stelle auf seinem Arm abrieb, aus der er gerade die Injektionsnadel gezogen hatte. Danach erhob sich der Alte von seinem Stuhl und trat an das Fenster. Er tauchte den gelben Arm in das Sonnenlicht und murmelte: »Da, leck es ab, schnell, trockne es.« Proska bemerkte über einer Ader einen kleinen, roten Punkt; den Biß der Nadel.

»Herr Adomeit!«

Der Alte drehte sich nicht um.

»Guten Tag, Herr Adomeit!«

Der Alte sah aus dem Fenster und krempelte den Ärmel herunter. Da schrie Proska: »Ich wünsche Ihnen einen guten Tag!!!«

Der Apotheker wandte sich langsam um, entdeckte den Besucher und sah ihn aus freundlichen, grauen, verwunderten Äuglein an. »Guten Tag, Sie sind Herr Proska, nicht wahr?«

»Ja. Ich wollte fragen, ob Sie mir eine Briefmarke leihen können.« Proska hielt den Umschlag hoch.

»Ein Brief für mich?« fragte Adomeit, »wer schreibt mir denn da?«

»Nein«, sagte Proska, »ich wollte Sie fragen …«

»Sie müssen lauter sprechen«, unterbrach ihn der Apotheker, »ich höre sehr schlecht.« Er setzte sich auf den Stuhl, ließ seinen Besucher aber stehen.

»Haben Sie eine Briefmarke übrig, Herr Adomeit?«

»Geben Sie mir den Brief, ich kann mir nicht denken, wer mir schreiben sollte.«

»Der Brief ist nicht für Sie«, schrie Proska. »Ich wollte nur fragen, ob Sie mir eine Briefmarke borgen können. Bis morgen vielleicht.«

»Sie wollen eine Marke haben?«

»Ja. Morgen gebe ich sie Ihnen wieder.«

»Ich habe viele Marken«, sagte der Greis freundlich. »Ich kann Ihnen mehrere geben. Unsereins braucht sie ja nicht mehr. An wen soll ich schreiben? Ich habe noch einen Freund, der lebt bei Braunschweig. Den kenne ich schon sechzig Jahre lang. Wir waren früher Nachbarn, so wie wir jetzt Nachbarn sind. Alles, was sich zwei Menschen erzählen können, haben wir uns in diesen sechzig Jahren erzählt. – Wieviel Marken brauchen Sie?«

»Zwei!«

»Wieviel sagten Sie? Sie müssen lauter sprechen, ich kann nicht gut hören.«

»Ich brauche zwei Briefmarken«, schrie Proska, »bis morgen.«

»Sollen Sie haben«, murmelte Adomeit und erhob sich. Er öffnete eine Kommode, nahm ein Schreibheft heraus und lief mit trippelnden Schritten zu seinem Besucher.

»Hier, nehmen Sie sich die Marken heraus.«

Der Assistent öffnete das Heft, blätterte flüchtig und fand einen Zehnerstreifen.

»Da sind sie«, sagte der Alte, »nehmen Sie, soviel Sie brauchen.«

Ein unangenehmer Krankenhausgeruch ging von ihm aus. Proska fühlte einen leichten Kopfschmerz in der linken Stirnhälfte und sehnte sich nach frischer Luft.

»Nehmen Sie doch«, ermunterte ihn der Apotheker, als er zögerte.

»Diese Marken sind alt, nicht mehr gültig.«

»Sie können mehr als zwei nehmen«, sagte der Alte. Er beobachtete aufmerksam die Lippenbewegungen des Besuchers.

»Ich sagte Ihnen, diese Marken sind ungültig.« Proska schrie: »Ihre Marken taugen nichts! Sie sind alt und ungültig!«

»Aber sie kleben noch ganz gut.«

»Das interessiert heutzutage keinen. Die Marken müssen kleben und Gültigkeit haben …«

»Sie können trotzdem welche nehmen«, sagte der Alte hilfsbereit.

»Aber sie nützen mir doch nichts.«

»Wieviel?«

»Sie nützen mir nichts!« schrie Proska.

Adomeit schob den Zehnerstreifen in das Heft, zuckte bedauernd die Achseln und trippelte zur Kommode zurück. Bevor er sie schloß, wandte er sich um und fragte:

»Haben Sie etwas gesagt?«

Proska schüttelte den Kopf und blickte auf den unfrankierten Brief in seiner Hand.

Der Apotheker setzte sich wieder.

»Müssen Sie denn schreiben?« fragte er.

»Ja.«

»In Ihrem Alter«, sagte Adomeit und zwinkerte hinter der Brille, »in Ihrem Alter habe ich auch noch geschrieben.«

»Dieser Brief soll an meine Schwester gehen.«

»Meine Mutter ist schon lange tot.«

Proska schrie: »Dieser Brief ist für meine Schwester!«

»Schwester, ja. Schwester? Haben Sie eine Schwester?«

»Ja. Natürlich. Das ist nichts Besonderes.« Proska wollte gehen, aber etwas zwang ihn, in diesem Raum zu bleiben. Der Kopfschmerz wurde stärker, hinter der linken Stirnhälfte schien ein Preßluftbohrer zu arbeiten.

Adomeit juckte der Arm, in den er die Nadel getrieben hatte. Er scheuerte mit dem Handballen die Injektionsstelle.

»Warum schreiben Sie denn Ihrer Schwester? Familienmitglieder haben sich gewöhnlich doch nicht viel zu sagen. Haben Sie einen langen Brief geschrieben?«

»Fünfzehn Seiten!« schrie Proska.

»Ach du lieber Gott, fünfzehn Seiten.«

Proska fühlte wieder, daß seine Knie zu zittern begannen. Er strich sich über die kurze, breite Stirn, über das strähnige, sonnengebleichte Haar und schloß die Augen.

»Sind Sie müde?« fragte der Alte.

»Es kann sein. Ich habe meinen Kopf sehr angestrengt. So etwas nimmt immer mit.«

»Man muß eben nicht zu viel arbeiten«, sagte der Alte.

Proska schrie: »Ich habe nachgedacht!«

»Nachgedacht? So. Nachgedacht. Das bringt aber doch nichts ein.« Der Alte schob die Finger zusammen und lächelte.

»Mag sein«, sagte Proska teilnahmslos. Plötzlich hob er den Kopf, sah den Alten hart an, länger, als man es gewöhnlich tut, und fragte:

»Warum haben Sie sich mit diesem Ding da«, er ließ seine Augen für eine Sekunde zur Spritze hinübergleiten, »in den Arm gestochen? Ich habe Sie dabei beobachtet.«

»Wollen Sie nun doch die Marken haben?«

»Warum haben Sie sich«, schrie Proska so laut, daß er über die Gewalt seiner Stimme erschrak, »warum haben Sie sich diese Nadel in die Ader gestochen?«

»Die Nadel?« Der Alte schnalzte mit der Zunge. »Die Nadel ist scharf. Man fühlt keinen Schmerz. Wenn die Medizin unter der Haut ist, schwillt diese an der Einstichstelle etwas an. Das geht aber bald vorüber.«

»Warum tun Sie es?«

»Wollen Sie probieren? Das ist ganz einfach. Man faßt das Ding so an, sehen Sie …«

Der Apotheker ergriff die Spritze und hielt sie senkrecht in die Luft.

»Warum spritzen Sie sich etwas ein?« brüllte Proska wütend. Er wurde wütend auf den Alten, obwohl er keinen Grund dazu hatte; er ballte seine Hand zur Faust und schlug sie gegen den eigenen Schenkel. Er hatte große, rötliche Hände.

Adomeit legte die Spritze auf das Tischchen, lächelte freundlich, kicherte eine Weile und hob dann den Kopf wie ein alter Rehbock, dem ein Geräusch verdächtig vorkommt.

»Ich will Ihnen genau sagen, Herr Proska, warum ich mir das einspritze. Das wollten Sie doch wissen?«

»Ja. – Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Gut, ich werde es Ihnen haargenau erzählen. Aber werden Sie um Gottes willen nicht böse.« Er kratzte sich an der Injektionsstelle, sah flüchtig durch das Fenster und wandte sich mit hinterlistigem Augenzwinkern an Proska.

»Aber werden Sie ja nicht böse: Sie sitzen wohl auch gern an Fenstern, wie? Und wenn Sie rausschauen, dann kommen Ihnen wohl manchmal auch Gedanken, wie? Erinnerungen? Oder nicht? Und wenn Sie die alten, dummen Straßen sehen und den Wald mit seinen weichen Verstecken und den schönen Plätzen hinterm Kadick, dann fällt Ihnen wohl nichts ein, wie? Und wenn dann ein Mädchen über diese Straße zum Wald geht, dann denken Sie sich ebenfalls nichts dabei? Dann spucken Sie vielleicht seelenruhig in den Wind oder schälen sich einen Apfel. Auch wenn Sie wissen, daß ein Mädchen hinterm Kadick Ihnen mehr bedeuten könnte als auf der platten Straße?

Sehen Sie, ich bin ein alter Mann, ein lahmer Fuchs, dem jedes Huhn fortlaufen kann. Aber ich habe Erinnerungen, wissen Sie. Manche können zwanzig Jahre davon leben. Sie schleppen sie mit sich herum; sie binden die Erinnerungen an eine Uhrkette und tragen sie in der sichersten Tasche. Ich kann das nicht, ich hasse das! Aber die Erinnerungen kommen ungerufen, sie sind da, ob man sie brauchen kann oder nicht. Bei mir ist das wenigstens so. Wenn ich auf die Straße sehe, und … verstehen Sie mich? Man soll sich nicht erinnern! Wenige können aus dem lernen, was gewesen ist. Ich nicht. Und darum schicke ich die Erinnerungen zum Teufel, und damit sie niemals wiederkehren, spritze ich mir das ein. Können Sie das verstehen, wie? Jetzt sind Sie mir böse.«

Proska legte seinen vierkantigen Schädel auf die Seite und räusperte sich.

»Haben Sie etwas gesagt? Sie müssen lauter sprechen.«

»Nein«, schrie Proska, »nichts gesagt und nichts gedacht.«

»Ich bin auch noch nicht fertig«, sagte der Apotheker. »Erinnerungen taugen nicht viel. Sie sind schwer wie Zuckersäcke. Wer sie ewig mit sich herumschleppt, muß eines Tages in die Knie gehen. Ich mag keine Erinnerungen. Jeder Tag ist anders, nichts wiederholt sich.«

Proskas Stirn bedeckte sich mit Schweiß. Der Kopfschmerz klopfte regelmäßig gegen die Stirn.

»Darf ich mich setzen?« fragte er.

»Warum schon jetzt? Müssen Sie denn schon fort?«

»Ob ich mich setzen darf«, schrie Proska.

»Ja, ja – hier, auf das Bett. Nur immer zu, nur immer hingesetzt. Ich bin noch nicht am Ende, noch einen kleinen Augenblick. Sie sind mir doch nicht böse, wie? Nein, nicht? Sehen Sie: Ich war auch mal Soldat. Ich habe einen Krieg mitgemacht, nicht den letzten, aber damals gab es auch Tote. Und ich habe auch einen erschossen, einen schönen, jungen Mann. Er hatte schwarzes Haar und eine hübsche Mädchennase, klein, schmal, und vorn etwas hochgezogen. Eine Stupsnase nennt man das wohl. Was nützt es mir, wenn ich mich an all das erinnere? Nützt es was? Sehen Sie: Ich hatte mich damals der Länge nach an einer Waldschneise hingelegt, die Arme unter der Brust, das Kinn auf den Händen. Die Nadeln waren feucht und weich, ihr Geruch – Sie wissen, wie Tannennadeln aus der Nähe riechen – betäubte mich fast. Der Eichelhäher schrie über mir und am Himmel zogen einsame große Wolken, und alles war still und friedlich und schön. Da kam plötzlich ein Mann seelenruhig den schmalen Weg herunter, ein schöner, russischer Feind, ein junger Mann. Er konnte mich nicht sehen und hatte auch keine Ahnung, daß da einer lag, der ihn ebensowenig aus den Augen ließ wie ein Bussard die Feldmaus. Er kam näher heran, und da entdeckte ich, daß er auf der Brust einen großen silbernen Orden trug, der blau eingefaßt war. Zehn Schritte von mir entfernt blieb er stehen und rieb sich das Auge, ein schönes dunkles Auge. Offenbar war ihm ein Insekt ins Auge geflogen. Ich ließ ihn das ruhig tun, aber als er damit fertig war und noch näher zu mir herankam, so nah, daß er mich jeden Augenblick entdecken mußte, da drückte ich ab. – Wissen Sie jetzt, warum uns Erinnerungen so wenig nützen? Sehen Sie: Vielleicht war dieser Mann sehr unglücklich. Vielleicht ist er mir heute dankbar. Was hat man davon, wenn man sich an solche Sachen erinnert? Die daraus lernen können, sollen es tun. Die es nicht können, sollen sich darum kümmern, wovon sie heute betroffen werden; das ist wichtiger.«

Adomeit schwieg und blickte auf die Spritze. Seine Augenlider schlossen sich zu einem schmalen Spalt. Er fühlte, daß er mehr gesagt hatte, als er eigentlich sagen wollte; er ärgerte sich darüber.

Proska erhob sich und schrie: »Wohin zielten Sie?«

Der Apotheker murmelte: »Auf den silbernen Orden.«

Beide Männer schwiegen eine Weile, ihre Blicke kreuzten sich im Raum. Plötzlich sagte der Alte mit verwandeltem Gesicht:

»Vielleicht habe ich doch noch andere Marken.«

Er zog eine Schublade heraus, suchte lange, fand ein abgegriffenes Notizbuch und zischte: »Da ist es ja. Manche Dinge verstecken sich vor uns, nicht? Sehen Sie mal nach! Ich glaube, da sind noch neue Marken drin.«

Proska nahm das Büchlein in seine Hände und blätterte. Er fand vier Briefmarken. Er rief: »Die sind gültig. Kann ich zwei haben? Bis morgen?«

»Ja, ja«, sagte der Apotheker, »nehmen Sie. Der Brief wird schon ankommen. Alles Gute. Auf Wiedersehen.«

Auf dem Hof blieb Proska stehen; die frische Luft besänftigte den Kopfschmerz. Hinter einem Maschendrahtzaun blühte ein alter Kirschbaum; der Frühling zwang ihn dazu. Über Adomeits Fenster hing ein Taubenschlag; nichts regte sich in ihm, das gurrende Volk war unterwegs. Proska feuchtete die Rückseite der beiden Briefmarken mit der Zunge an und klebte sie auf. Dann ging er zur Pforte des niedrigen, weißgetünchten Holzzaunes, schlüpfte hindurch und sah sich lange auf der Straße um. Aber da er weder ein Mädchen bemerkte, das zu den weichen Verstecken des Waldes lief, noch einen Mann oder ein Kind, öffnete er die Klappe des gelben Briefkastens, hob den Brief empor, betrachtete ihn mit einem Ausdruck ernster Nachdenklichkeit – gerade so, als ob es gälte, zu einer großen, einmaligen Entscheidung zu kommen – und warf ihn schließlich schnell in den schmalen, düsteren Rachen des Postkäfigs. Die Klappe fiel herab, etwas Endgültiges war geschehen. Jetzt gehörte der Brief nicht mehr ihm, er konnte keinen Anspruch mehr stellen; er hatte etwas aus der Hand gegeben – für immer.

Proska überquerte die einsame Straße, stieg die Treppe zu seiner niedrigen Kammer empor und stellte sich ans offene Fenster. Dort drüben, dreißig Meter entfernt, hing der Briefkasten. Die Sonne brannte auf ihn herab, er warf einen messerscharfen Schatten.

›Was wird sie tun, wenn sie diesen Brief gelesen hat? Was wird Maria tun? Sie wird die Hände an die Brust pressen, sie wird versuchen, den Schlag ihres Herzens zu beruhigen. Aber es wird ihr nicht möglich sein. Maria wird, wenn sie diesen Brief kennt, an mich denken. Sie wird mich verfluchen. Vielleicht hätte ich ihr nicht schreiben sollen; es wäre wohl besser gewesen. Dieser Brief wird wie ein guter Schuß ihre Hoffnung töten. Sie wird auf den Stuhl fallen, sie wird nicht weinen können, die Verzweiflung wird ihr die Kehle zuschnüren, fest und lange. Sie wird die Schürze abnehmen, ein zweites Mal den Brief lesen, und dann, wenn sie sich etwas beruhigt hat … Aber sie kann ja nicht zur Ruhe kommen. Kein Mensch könnte es, wenn er solch einen Brief erhielte. Aber ich mußte ihn schreiben, die Verzweiflung trieb mich dazu. Sie jagte mich an den Schrank, sie zwang mich eines Tages, Papier und Feder herauszunehmen und mich hinzusetzen und zu schreiben. Soll Maria mich anzeigen! Sie ist meine Schwester, sie wird schon wissen, was zu tun ist. Ich bin auf alles gefaßt, ich bin zu allem bereit. Heute haben wir Dienstag, einen sonnigen, warmen Frühlingsdienstag. Übermorgen wird sie den Brief erhalten, an einem Donnerstag, gegen zehn Uhr. Dann wird sich alles entscheiden, wenn es überhaupt etwas gibt, das entschieden werden muß. Es ist meine Schuld, daß sie allein ist – ich war es, der damals, vor sechs Jahren …‹

Der fünfunddreißigjährige Assistent Proska angelte sich mit müder Bewegung den einzigen Stuhl heran, der in seinem Raum stand, setzte sich, stützte die Ellenbogen auf das Fensterbrett, legte sein Kinn in die großen Hände und starrte auf den Postkasten. Er hörte schnellen, klatschenden Flügelschlag; die Tauben kehrten zurück. Der Mann atmete mehrmals tief ein und aus. Dabei erfaßte ihn ein leichtes, angenehmes Schwindelgefühl. Für eine Sekunde durchzuckte ihn die Vorstellung, daß er von irgendwo hinabstürzte, von einer Mauer, von einem Dach, von einem Baum oder Felsen. Dann wieder glaubte er, seinen Kopf über einen Brunnen zu beugen und atemlos hinabzulauschen in eine tiefe, tröstliche Landschaft des Schweigens. Und während er so gleichsam hinunterhorchte in die abgestandene Welt der Vergangenheit, während er seine kurze, breite Stirn, den muskulösen Hals und sein sonnengebleichtes Haar auf dem fernen Spiegel des Brunnens zu gewahren vermeinte, in dem Spiegel des Gewesenen, des Durchlebten und Durchstandenen: Während ihm das widerfuhr, tauchten aus dem Nebel der Zeit die Bilder seiner Erinnerung herauf. Walter Proska, der Assistent, hörte plötzlich eine Lokomotive pfeifen …

2. Kapitel

In Prowursk bekam die kleine Lokomotive zu trinken. Ein eiserner Rüssel wurde über ihren glühenden Körper geschwenkt, ein Handrad gedreht, und dann schoß ein dicker Wasserstrahl in ihre geöffnete Flanke.

Proska hörte das Rauschen des Wassers und trat an das zerbrochene Abteilfenster. Ein winziges, weißes Stationshäuschen, das auf der Stirn eine Nummer trug, ein verwahrloster Bahnsteig, zwei Holzstapel; mehr konnte er nicht entdecken, denn das Dorf selbst lag eine gute halbe Stunde von der Station entfernt hinter einem Laubwald. Vor dem Zug patrouillierte ein Posten. Er hatte sich, da es heiß war, den Kragen aufgeknöpft. Über dem Rücken trug er ein Sturmgewehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie eine afrikanische Mutter ihren Säugling. Wenn er das Ende der Kleinbahn, die aus der Lokomotive, einem Verpflegungs- und einem Postwagen bestand, erreicht hatte, machte er, ohne den Kopf zu heben, kehrt und latschte zurück. Das wiederholte sich einige Male. Die Landschaft machte den Eindruck einer riesigen, verlassenen Feuerstelle; kein Wind, kein Luftzug war festzustellen, in den dürren Heckensträuchern knisterte es nie.

»Bleiben wir hier lange?« fragte Proska, als der Posten auf seiner Höhe war.

»Bis wir weiterfahren!«

»Ich glaube, die Lokomotive braucht nur Wasser.«

»So«, sagte der Posten mürrisch, »braucht sie das?« Plötzlich hob er den Kopf und blickte den Lehmweg hinunter, der nach Prowursk führte. Proska sah, am Fenster stehend, in die gleiche Richtung und entdeckte ein Mädchen, das zum Zug herüberwinkte und sich rasch näherte. Sie trug ein laubgrünes Kleidchen und einen breiten Gürtel um die Taille, die schmal war wie ein Stundenglas. Mit schnellen Schritten kam sie auf den Bahnsteig und ging geradewegs auf den Posten zu. Sie hatte mattglänzendes rotes Haar, ein kurzes Näschen und grünblaue Augen. Ihre Füße steckten in braunen Stoffschuhen. »Was wollen Sie?« brummte der Posten und starrte auf ihre nackten Beine.

»Herr Soldat …«, sagte sie und zitterte. Sie setzte einen irdenen Krug ab und legte einen zusammengefalteten Regenmantel darauf.

»Haben Sie Milch in dem Krug oder Wasser?«

Sie schüttelte den Kopf und strich sich das Haar zurück. Proska bewunderte das Profil ihrer Brüste.

»Wahrscheinlich wollen Sie mitfahren?« fragte der Posten.

»Ja, ein kleines Stück. Bis zu den Rokitno-Sümpfen. Ich kann Ihnen Geld geben dafür oder …«

»Verschwinden Sie, aber schnell! Wir dürfen niemanden mitnehmen. Das müßten Sie doch eigentlich wissen. Haben Sie mich nicht schon einmal danach gefragt?!«

»Nein, Herr.«

»Sie sind Polin, wie?«

»Ja.«

»Wo haben Sie deutsch gelernt?«

In diesem Augenblick pfiff die kleine Lokomotive zweimal; einmal lang und einmal kurz. Der Posten ließ das Mädchen stehen, warf Proska einen mürrischen Blick zu und ging nach vorn. Fluchend kletterte er in den Verpflegungswagen, setzte sich auf eine Kiste und begann zu rauchen. Das Sturmgewehr drückte; er nahm es nicht ab, weil er zu faul war.

Über der ausgedörrten Erde flimmerte die Hitze.

Die Lokomotive ruckte an; sie stöhnte, und langsam setzte sich die Kleinbahn in Bewegung.

Das Mädchen hob den Krug auf und den Mantel und ging neben dem Zug her. Sie blickte flehend zu Proska auf. Sie kam ganz nah an ihn heran und flüsterte:

»Bitte, nehmen Sie mich mit!«

Und der Assistent konnte ihren Augen nicht widerstehen, ihrem Haar, den schlanken, nackten Beinen und dem herausfordernden Profil ihrer Brüste. Er stieß die Tür auf, setzte einen Fuß auf das Trittbrett und streckte eine Hand aus. Sie reichte ihm Krug und Regenmantel, sprang selbst auf das Trittbrett und ließ sich von ihm in das Abteil helfen. Er schloß die Tür und drehte sich um. Sie stand vor ihm, sah ihn an und lächelte.

»Ich steige noch vor den Sümpfen aus«, sagte sie, wie um sich zu entschuldigen.

Er schwieg und starrte auf ihre kräftigen Zähne.

»Ihr Kamerad wird böse sein«, flüsterte sie.

Es fiel ihm nicht leicht, die Hände in den Taschen zu behalten.

»Wird er mich erschießen?« fragte sie lächelnd.

Er lächelte auch, zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche und sagte:

»Nehmen Sie eine Zigarette. Das wird Sie etwas beruhigen.«

»Ich rauche nicht.«

»Dann wollen wir uns aber hinsetzen.«

Sie setzten sich. Seine Knie waren wenige Zentimeter von den ihren entfernt.

Die Sonne schoß einen Lichtstrahl in das Abteil. Proska sah den Staub auf und nieder tanzen. Sie schwiegen und hörten die kleine Lokomotive stöhnen, und an dem zerbrochenen Fenster zog die Landschaft vorüber: Wiesen und verbrannte Äcker und kleine Birkenwälder und sehr selten ein strohgedecktes Häuschen, über dem manchmal reglos eine Rauchsäule in der trockenen Luft stand. Niemand arbeitete auf den Feldern, und auf den Wiesen standen wenige Kühe und äugten stumpfsinnig vor sich hin, während ihre Schwänze in träger Gewohnheit dann und wann auf das knochige Hinterteil klatschten und die Fliegen zu verjagen suchten.

»Wohnen Sie in Prowursk?« fragte Proska.

»Ja, ich bin hier geboren.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß hier solche Mädchen wachsen. Hat Ihr Vater auch Kühe?«

»Mein Vater war Förster. Er ist tot.«

»Schon lange?«

»Zwei Jahre.«

»Ist er im Krieg gefallen?«

»Ich weiß nicht. Vor zwei Jahren wurde in Prowursk ein Soldat erschossen. Im Morgengrauen kamen die Gendarmen in unser Dorf. Sie durchsuchten jedes Haus nach Männern und Gewehren. Wir wohnen am Rande des Dorfes, und zu uns kamen sie zuerst. Mein Vater hatte keine Zeit mehr, um sich richtig zu verstecken. Er kroch in den Schrank, und als die Gendarmen kamen, führte ich sie durch das Haus und zeigte ihnen alles, und fast wären sie auch fortgegangen. Aber als wir wieder in dem Raum waren, wo der Schrank stand, mußte mein Vater husten, und ein Gendarm zog seine Pistole und schoß viermal in den Schrank; zweimal oben und zweimal unten.«

»Das wird alles bald vorüber sein«, sagte Proska. Sie legte ihre Hände auf die Schenkel und wippte mit den Füßen.

»Sind Sie verheiratet?« fragte er.

»Nein. Man soll es nicht vor achtundzwanzig tun …«

»Warum nicht?«

Sie sah ihn lange an. Plötzlich rutschte sie zu ihm hin, nahm seinen Kopf zwischen ihre heißen Hände und hauchte gegen seine Stirn. Proskas Hand legte sich um ihre Schulter, aber sie rückte sofort wieder von ihm ab und setzte sich auf ihren alten Platz.

»Ich wollte auf Ihrer Stirn lesen.«

Er sagte: »So, könnt ihr das hier? Was steht denn da?« – er schlug sich mit der flachen Hand gegen den Kopf –, »was kann man denn da lesen?« Sie zog die Luft ein, ihre Brust hob sich. Sie sah ihn geheimnisvoll an, und er glaubte unvermutet in ihren grünblauen Augen untertauchen zu können wie in einem Teich.

»Alles wird gut«, sagte sie, »vielleicht auch nicht.«

Er lachte und sagte: »Steht das so geschrieben?«

»Genau so«, sagte sie.

»Dann bist du ja ein kleiner Prophet. Und solchen Propheten wie dir glaubt man alles gern. Wie heißt du?«

»Wanda.«

»Und wie alt bist du?«

»Siebenundzwanzig. Und du?«

»Neunundzwanzig.«

»Und wie heißt du?«

»Walter«, sagte er.

»Walter und Wanda. Wenn dein Kamerad mich nicht erschießt, werden wir uns noch einmal begegnen.« Sie lächelte schalkhaft.

»Das ist Unsinn«, sagte Proska, »er wird dir nichts tun.«

Sie schwiegen und blickten aneinander vorbei und horchten auf den Rhythmus des fahrenden Zuges: hm-tm-tm, hm-tm-tm, hm-tm-tm. Und er dachte, daß manche Worte etwas mit diesem Rhythmus gemein haben, Worte abgrundtiefer Melancholie, Worte einer friedvollen Sehnsucht und verflossenen Liebesglücks. Hm-tm-tm, hm-tm-tm: Das klang wie Fe-derbett, oder der-maleinst oder hab-mich lieb, oder glaubst-du nun oder küß-mich doch.

Es wurde unerträglich heiß im Abteil. Proska trat der Schweiß auf die Stirn, sein Gaumen verlangte nach Flüssigkeit. Sie sah auf sein Sturmgewehr, das, den schwarzen Lauf nach unten, an einem Haken hing.

»Hast du schon damit geschossen?« fragte sie.

Er antwortete nicht, erhob sich, trat an die Tür und hielt seinen Kopf durch die Fensteröffnung. Der Fahrtwind schnitt ihm ins Gesicht und riß sein blondes Haar nach hinten. Die Kühlung tat wohl. Er spürte, daß sie ihn beobachtete, und dachte: ›Wenn wir doch an einem Abend in Prowursk gehalten hätten! Sie hat ungewöhnliche Brüste. Wie gut das rote Haar und die grünblauen Augen zueinander passen. In zwei Stunden wird es dunkel werden. Hoffentlich …‹

Er drehte sich um und fragte: »Weißt du, wie lange der Zug noch zu den Sümpfen braucht?«

»Vier Stunden etwa. Wenn nichts passiert.«

»Und was kann passieren?«

»Minen«, sagte sie lächelnd.

»Woher weißt du das?«

»Die Leute erzählen es sich manchmal im Dorf.«

»In Prowursk?«

»Ja. Woher sie es erfahren, weiß ich nicht, aber sie sprechen manchmal davon.«

»Die Hitze wird es ihnen verraten«, sagte er, »der scheinheilige Himmel oder eure schlappen Bäume. Wie oft reden die Leute von einem Zugunglück!?«

»Jeden Tag«, sagte sie.

»Fliegt jeden Tag ein Zug in die Luft?«

»Nein. Aber wenn es passiert, haben die Leute sich eine Woche lang etwas zu erzählen. Dann geschieht’s wieder.«

Er setzte sich neben sie und drückte seinen Schenkel gegen ihren.

»Wann wurde hier zum letztenmal gesprengt?«

»Vor fünf Tagen.« Sie wandte sich ihm zu, legte ihm ihre weichen Arme auf die Schulter, spitzte die Lippen und sagte: »Ich bin müde. Die Hitze macht mich faul.«

Proska blickte an ihrem Ohr vorbei auf das zerbrochene Fenster. Sie fuhren durch einen Mischwald, der sich bereits die halbe Böschung des Bahndamms zurückerobert hatte, indem er kleine Birken, Fichten und Weidensträucher gegen ihn vorschickte. Die kleine Lokomotive pfiff einmal kurz; sie schien selbst nicht zu wissen, warum.

»Mich macht die Hitze durstig«, sagte Proska. »Ich möchte jetzt etwas zu trinken haben. Ein kaltes Bier oder – was hast du dort in dem Krug? Milch oder Wasser?«

Sie schüttelte den Kopf und zog ihre Arme von seiner Schulter zurück.

»Nichts zu trinken. In diesem Krug ist mein Bruder.«

Er schaute auf das irdene Gefäß und sagte: »Was soll denn das schon wieder bedeuten?«

»Glaubst du’s mir nicht?«

Proska kniff sie in den Oberarm; sie schien keinen Schmerz zu empfinden.

»Jetzt wird der Prophet zum Zauberer. Im Sumpf gedeihen die Dotterblumen ganz besonders gut; warum soll ein Bruder dort nicht auch vorzüglich sprießen. Du willst ihn wohl einpflanzen?«

Sie tat, als ob sie ernst würde und strich das laubgrüne Kleidchen über den Knien glatt und vermied es, ihm in die Augen zu sehen.

»In diesem Krug ist die Asche meines Bruders. Wir haben ihn in Lemberg verbrennen lassen. Er war Eisenbahner und ist mit einem Zug in die Luft geflogen. Ich fahre bis Tamaschgrod. Dort wohnt die Frau meines Bruders. Sie hat mich gebeten, ihr die Asche zu bringen.«

»Ist dein Bruder auf dieser Strecke verunglückt?«

»Ich weiß es nicht.«

Proska legte seinen Arm um sie und starrte unruhig auf das nichtssagende, irdene Gefäß. Er hatte ein Gefühl, als ob er nun unter dauernder Beobachtung stünde, und je mehr er sich bemühte, diese Empfindung zu unterdrücken, desto hartnäckiger und intensiver setzte sie sich in ihm fest. Er verspürte ein gewisses Mitleid für Wanda und ließ seine großen, kräftigen Finger an ihrem Hals auf- und abgleiten. Er zog ihren Kopf zu sich heran und küßte sie auf das Haar.

»Das wird alles bald vorüber sein«, sagte er ehrlich. »Ich glaube, daß alles über Nacht verschwindet, so wie es über Nacht gekommen ist. Du wirst dein Fenster öffnen – nicht morgen, sondern eines schönen Tages –, und die Sonne wird dir in deine Augen fallen und wird dir einen guten Morgen wünschen. Die Schwarzdrossel wird im Garten sitzen, und du wirst ihr zuhören und erfahren, daß alles sich geändert hat. – Glaubst du, Wanda, daß es so kommen wird? Du kannst es dir wohl nicht vorstellen, wie? – Du bist ja erst siebenundzwanzig und hast noch ein ganzes Jahr Zeit.«

Sie schwiegen. Einige alte Fichten, die in dunkler Würde hart am Bahndamm lebten, blickten für einen Augenblick gleichmütig zu ihnen herein. Er ließ seine Finger auf ihrem Schlüsselbein trommeln, und plötzlich ließ er sie hinabgleiten und berührte ihre rechte Brust. Sie entzog sich sofort seiner Umarmung, rückte von ihm ab und lächelte drohend. Und dieses Lächeln stand wie ein magisches Hindernis, wie eine unüberwindbare Barriere zwischen ihnen.

»Ich möchte jetzt schlafen«, sagte sie.

»Du kannst dich an meine Schulter anlehnen«, sagte er.

»Das ist mir zu gefährlich.«

»Solange du den Krug nicht mit dem Mantel bedeckst, tue ich dir nichts.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie.

Der Assistent deutete auf das Gefäß und erklärte: »Ich habe das Gefühl, als ob dieses Ding mich ansähe. Es scheint – für mich wenigstens – Augen zu haben. Mir ist, als ob ich ständig beobachtet würde. Kannst du das verstehen?«

»Wenn es wirklich so ist«, sagte sie, streckte sich der Länge nach auf dem Sitz aus und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Sie sah freundlich zu ihm auf und begann tief zu atmen.

»Schläfst du schon?« fragte er nach einer Weile.

»Ja«, sagte sie, »ich träume von dir und einem Wiedersehen.«

»Ist dein Bruder auch dabei? Ich meine: Siehst du den Krug in unserer Nähe?«

»Nein, wir sind allein. Wir sind sehr allein – und es ist wundervoll. Niemand beobachtet uns. Wir haben uns lieb. Nur dein Gewehr ist dabei und sieht uns zu. Aber es schweigt. Dein Gewehr kann doch schweigen?«

»Wenn es sein muß. Schlaf, Wanda, schlaf und träume. – Du sollst es aber noch bequemer haben.«

Er zog, so gut es sitzend ging, seinen Uniformrock aus und hob ihren Kopf von seinem Schoß auf und schob ihr die zusammengefaltete Jacke als Kissen unter.

»Danke schön«, flüsterte sie.

Er sagte nichts und starrte auf den Krug. Er dachte: ›Wenn ich ihr nicht weh täte, würde ich dieses dumme Ding hinauswerfen. Solch einen Reisebegleiter habe ich noch nie gehabt. Wenn sie den Zug hochjagen, wird ihr Bruder in die Luft wirbeln, und wenn sie Glück hat, kann sie ihn hinterher von den Blättern abstreifen. Von der Birke vielleicht einen Finger, vom Fichtenstamm vielleicht einen Zeh.‹

Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken. Er erhob sich, machte ein paar Schritte durch das Abteil und blieb dann vor dem Krug, der in einer Ecke stand und durch die Schaukelbewegungen des Zuges leise vibrierte, stehen. Es war ein einfaches, wahrscheinlich selbstgebranntes Gefäß mit einem stabilen Henkel an der Seite. Die Öffnung war mit Pergamentpapier verschlossen, und damit sich das Papier nicht löste, war von dem Mädchen oder wer immer den Krug verschlossen hatte, eine dünne, aber haltbare Schnur darumgewickelt, und die Enden waren gewissenhaft verknotet worden.

Er sah rasch zu ihr hinüber, und da er feststellte, daß sie ihre Lider nicht hob und zu schlafen versuchte, ergriff er, entschlossen, den Regenmantel, wickelte ihn auseinander und warf ihn über den Krug. Sie schien nichts davon gemerkt zu haben. Proska glaubte, sich mit einem Mal wieder freier und mutiger zu fühlen; er spannte die Arme und trat an das Fenster. Die Sonne grüßte ihn durch die Baumwipfel, auf dem Waldboden schlug ein Kaninchen wilde Haken und stob davon. Die kleine Lokomotive schleppte rumpelnd ihre Last durch den Mischwald. Er dachte an die waldreiche Umgebung von Lyck, dem masurischen Städtchen, in dem er geboren wurde. Es roch dort genau so; der Borek, zumal dort, wo er an den Sunowo-See grenzte, hatte einst auf ihn den gleichen Eindruck gemacht. Der Assistent entdeckte ein Eichhörnchen, das aus dunklen, glänzenden Augen auf den Zug herabschaute.

›Ihr Haar hat fast die Farbe seines Pelzes. Ich werde sie Eichhörnchen nennen.‹

Er wandte sich vom Fenster ab. Sie lag ruhig auf der Sitzbank, die Beine übereinandergeschlagen, eine Hand im Schoß, die andere am Mund. Vorsichtig trat er an sie heran und nahm den Saum ihres Kleides zwischen zwei Finger und schob den Stoff etwas hinauf. Dann bückte er sich und küßte sie auf das sonnengebräunte Bein, dicht über dem Knie. Er blickte in ihr Gesicht: Sie hielt die Augen geschlossen, ihre Lippen zuckten. Als er sich aufrichtete, sagte sie:

»Nicht auf den Mund.«

»Ich denke, du schläfst«, sagte er.

»Wer mich auf den Mund küßt, den erwartet ein Unglück.«

»Tatsächlich?«

»Hüte dich!«

»Es macht mir nichts aus. Auf die Gefahr hin –«

»Tu es nicht«, sagte sie und lächelte.

Er hob ihren Kopf empor und küßte sie. Sie erwiderte seinen Kuß und schlang die Arme um seinen muskulösen Nacken und stieß ihn wieder zärtlich von sich.

»In anderthalb Stunden wird es dunkel«, sagte er. »Wir müssen uns wiedersehen.«

»Du hast den Mantel über den Krug gedeckt.«

»Ja, ich konnte es nicht mehr aushalten. Es wurde mir ungemütlich.«

»Nimm ihn wieder fort, bitte. – In anderthalb Stunden ist es dunkel.«

Proska tat es gleichgültig, legte sich auf die andere Bank, winkte Wanda zu und versuchte zu schlafen. Aber der Schlaf duldet keine Befehle, und je mehr der Mann versuchte, seine Sinne fahrenzulassen und alles, was ihn umgab, zu vergessen, desto geringer wurden seine Chancen. Er blinzelte zu ihr hinüber und fragte leise:

»Eichhörnchen?«

»Was meinst du?« fragte sie.

»Du kannst ja auch nicht schlafen, Eichhörnchen.«

»Was ist ein Eichhörnchen?«

»Du bist eins.«

»Was bin ich?« fragte sie matt.

»Ein rotbraunes Tierchen mit neugierigen Augen und kleinen spitzen Ohren. Du spielst in den Bäumen und hast Freundschaft geschlossen mit einem alten mürrischen Haselstrauch. Und du neckst die jungen Äste und forderst sie heraus und läßt dich von ihnen in die Luft schnellen. Aber im Winter, mein Eichhörnchen, da schläfst du, und wenn du Hunger hast, greifst du nur hinter dich in das Nußmagazin …«

»Du hast mich auf den Mund geküßt«, sagte sie.

»Weißt du nun, was ein Eichhörnchen ist?« fragte er.

»Du hast mich geküßt, und es gibt ein Unglück.«

Sie sagte das mit mildem Ernst, und er glaubte, ihre Stimme nicht wiederzuerkennen. Er wurde unruhig; er erhob sich.

»Glaubst du, daß dem Zug etwas geschehen wird?«

»Ich warnte dich –«

»Hast du denn keine Angst? Wäre es dir gleichgültig, wenn plötzlich …«

Er nahm sein Sturmgewehr vom Haken, wog es in seiner Hand, streichelte den Verschluß und kramte aus seinem Brotbeutel ein Magazin heraus.

»Was willst du tun?« fragte sie, die ihn im Liegen beobachtet hatte.

»Für alle Fälle«, sagte er und klemmte das Magazin ein.

»Wieviel Kugeln sind da drin?«

»Es genügt.« Er stellte das entsicherte Gewehr in eine Ecke und steckte den Kopf durch die Fensteröffnung.

»Was siehst du?« fragte sie.

»Die Dämmerung.«

»Kann man die sehen?«

»Sie benimmt sich sehr ängstlich, und man muß schon genau aufpassen, wenn man erkennen will, auf welchen Wegen sie sich zu uns schleicht. – Was würdest du sagen, wenn ich schießen müßte?«

»Warum willst du das wissen?«

»Es wären immerhin deine Leute«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an.

»Gleich werden sie uns angreifen.«

Er trat dicht an sie heran.

»Steh auf«, sagte er.

Sie blieb liegen.

»Du sollst aufstehen, Wanda.«

»Ich bin so müde. Es wird bald dunkel sein.«

Er wurde von einer seltsamen Unruhe erfaßt; er fragte schroff:

»Wer wird uns gleich angreifen? Was soll dieses prophetische Geplapper?«

»Die Mücken. In den Sümpfen hier gibt es so viele Mücken!«

Er lachte und war der Meinung, daß dieses Lachen ihn befreite.

»Ihr müßt euch mehr Vögelchen halten, weißt du, dann gäbe es weniger Mücken. Aber in eurem Land sterben die Vögel sehr jung. Und die wenigen, die ich gesehen habe, fühlen sich einsam und fliegen traurig über den Himmel. Die Lieder sind ihnen in der Kehle steckengeblieben.«

»Früher war das anders«, sagte sie.

»Ich weiß«, sagte er.

Plötzlich stieß die kleine Lokomotive einen heiseren, langgezogenen Pfiff aus und verlangsamte die Fahrt. Der Mann ergriff sein Sturmgewehr und setzte den Kolben in die Hüfte.

»Bis Tamaschgrod ist es noch weit.«

»Das kann ich mir denken«, sagte er. »Wahrscheinlich geht’s gleich los.«

Der Zug fuhr nur noch in Schrittgeschwindigkeit.

»Am Tage«, sagte er, »da hocken sie wie Eulen in ihren Nestern und wagen sich nicht heraus. Aber sobald die Dämmerung kommt, erwachen sie und werden munter. Sie sitzen unter den Röcken der Nacht und machen sich kleine Schlitze und schießen durch sie wie am hellichten Tag.«

»Wen meinst du?« fragte sie.

»Die Burschen, die die Züge in die Luft jagen.«

»Dürfen sie es denn nicht tun?«

»Sei still, du.«

Er öffnete langsam die Abteiltür, bückte sich und warf einen Blick in die Fahrtrichtung. Dann drehte er sich zu ihr um und sagte hastig:

»Du mußt sofort verschwinden. Schnell, es sind Feldgendarmen. Wahrscheinlich werden sie den Zug kontrollieren. – Mach doch schon! Leg dich platt auf die Böschung und warte. Ich gebe dir ein Zeichen, wenn die Luft wieder rein ist. Du mußt auf der andern Seite hinaus.«

Sie sprang sofort auf und stürzte zur Tür.

»Das Schloß klemmt«, sagte sie verzweifelt.

Er hob den Fuß und schlug mit aller Gewalt gegen den Drücker.

»Los, Wanda, du mußt jetzt raus! Wenn sie dich hier finden, ist es für uns beide unangenehm.«

Sie sprang und landete glatt auf der Böschung, rutschte noch ein kleines Stück hinunter und legte sich auf den Bauch.

Fünfzig Meter fuhr noch die Kleinbahn, dann quietschten die Bremsen.

Während er sich rasch die Uniformjacke anzog, dachte er: Hoffentlich kommt sie dem Zug nachgelaufen. Es sind nicht mehr als fünfzig Meter. Wehe, wenn sie mich im Stich läßt. Aber sie kann es nicht tun, denn dort steht ja der Krug, und ihren Mantel hat sie auch liegen lassen. Dieses verflixte Ding kann ich nicht mehr sehen!

Er schlug den Krug in den Mantel ein und schob ihn weit unter die Sitzbank. Als er sich aufrichtete, kletterte ein Gendarm in das Abteil.

»Na«, sagte der, »alles in Ordnung? Kann ich mal deinen Marschbefehl sehen?«

Proska reichte ihm einen zerknautschten, kreuz und quer gestempelten Zettel.

»Wohin willst du?« fragte der Gendarm.

»In die Nähe von Kiew.«

»Und woher kommst du?«

»Aus Lyck. Ich hatte Urlaub.«

»Und wo liegt das Nest?«

»In Masuren, siebzehn Kilometer von der polnischen Grenze entfernt.«

»Von der ehemaligen Grenze«, verbesserte ihn der Gendarm und ließ eine viereckige Taschenlampe aufblitzen, die er sich vor die Brust gehängt hatte. Er richtete den Lichtkegel auf den Papierfetzen. Er prüfte alle Stempel, deutete mit einem vernarbten Zeigefinger auf eine Unterschrift und sagte:

»Das soll wohl Kilian heißen, wie?«

»Jawoll, genau so. So heißt mein Hauptmann. Er hat den Schein unterschrieben. Ich habe ein Paket für ihn mit, von seiner Frau.«

»Das Paket kannst du gleich wieder zurückschicken. Der Hauptmann ist tot.«

»Gefallen?«

»Auch das. Ein Kalmücke traf ihn genau zwischen die Augen.«

»Wann war das?«

»Vor vier Tagen. Ich hatte vorne zu tun. Sie haben den Hauptmann noch zwei Kilometer weit zum Verbandsplatz getragen, aber dort ist er auch nicht mehr aufgewacht.«

»Und was soll ich jetzt mit dem Paket machen?«

»Was ist denn da drin?«

»Wie seine Frau mir sagte, Pulswärmer und Ohrenschützer. Winters fror er meistens an den Ohren.«

»Jetzt ist es fast Sommer«, sagte der Gendarm, »wenn du glaubst, daß du die Ohrenwärmer im nächsten Winter für dich verwenden kannst, dann behalte sie gleich.«

»Vielen Dank, ich friere nur an den Füßen.«

Der Gendarm sah auf den Himmel. »Der Mond ist heut so neugierig, ich glaube, er wird etwas zu sehen bekommen.«

»Glaubst du, daß der Zug in die Luft fliegt?«

»Halte deinen Kopf nur vom Fenster zurück«, sagte der Gendarm, schaltete seine Taschenlampe aus und verschwand.

Der Assistent stürzte zur anderen Seite des Abteils. Seine Augen tasteten die Böschung ab, von Wanda war nichts zu entdecken. Er wartete einen Augenblick und rief dann:

»Eichhörnchen! Hörst du nicht? Du kannst kommen! Wanda! Wo bist du denn? Komm doch her!« Sie kam nicht. Sie trat hinter keinem Baum hervor, wie er hoffte, und erhob sich nicht, wie er wünschte, von der Böschung des Bahndamms.

Der Zug ruckte an.

»Wanda!« rief Proska lauter, »warum kommst du nicht!«

Der Zug gewann an Geschwindigkeit.

»Wir sehen uns wieder«, rief der Mann, »wir treffen uns bald.«

Er warf die Tür ins Schloß, die er in der Hoffnung offen gelassen hatte, ihr das Aufspringen zu erleichtern, und setzte sich.

›Sie hat den Krug und den Mantel vergessen. Wahrscheinlich fürchtete sie sich mehr, als sie zugeben wollte. Ich werde den Krug in Tamaschgrod abgeben.‹

Der Mann stand auf und zog den Krug unter der Bank hervor und stellte ihn vor sich hin. Mondlicht fiel auf das Gefäß. Proska glaubte, es blinzelte ihn an.

»Hab keine Angst«, murmelte er, »ich werfe dich nicht aus dem Fenster. Es wäre ein Leichtes für mich, aber ich tue es nicht. Ich werde dich menschenwürdig behandeln, auch wenn du kein Mensch mehr bist. Aber du warst einer, und ich weiß das durchaus einzuschätzen. Das kannst du mir glauben.«

Eine uralte Neugierde überkam den Mann, eine elementare Frage begann in seinem Schädel zu brennen, und er zog langsam das Seitengewehr aus der Scheide und näherte sich dem Krug.

›Ich muß doch mal sehen, wie man aussieht, wenn man es so weit gebracht hat. Dir kann ich ja nicht mehr weh tun. Du darfst nicht böse sein, wenn ich eine Messerspitze von dir fortnehme.‹

Er stach das Seitengewehr in das Pergamentpapier über der Öffnung, riß ein größeres Loch hinein und hob mit zitternder Hand ein Häuflein Asche heraus. Er roch daran, es roch nach nichts.

›Könnte genausogut Holz gewesen sein, oder Tabak oder Papier.‹

Proska stand vorsichtig auf und hielt das Messer vor das zerbrochene Fenster. Der Fahrtwind stürzte sich darauf und wirbelte die Asche auseinander.

»Vergib mir, wenn du kannst«, knurrte der Assistent.

Er ärgerte sich, daß das Mädchen nicht zurückgekehrt war. Langsam setzte er sich wieder neben den Krug, und ohne daß er es eigentlich wollte, stach er ein zweites Mal in die Asche. Doch das Seitengewehr drang nicht sehr tief hinein. Der Krug war höchstens zu einem Drittel mit Asche gefüllt.

›Was ist denn das? Das hört sich doch beinahe so an wie Metall? Sollte unter der Asche noch etwas anderes stecken? Vielleicht hat sie mich beschwindelt, die Prophetin mit den schönen Brüsten. Will doch mal nachsehen, was unter der Asche liegt. Ihr Bruder kann genausogut ein Stück Holz gewesen sein.‹ Er nahm den Krug in beide Hände und hielt ihn durch das Fenster. Der Wind jagte die Asche hinaus. Auf dem Grunde des Gefäßes blinkten vier Dynamit-Patronen!