Der Übermuslim - Fethi Benslama - E-Book

Der Übermuslim E-Book

Fethi Benslama

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Beschreibung

Warum radikalisieren sich Jugendliche, die weder aus besonders schwierigen Verhältnissen stammen, noch als ungewöhnlich religiös bekannt waren, innerhalb kürzester Zeit zu gewaltbereiten Islamisten und wollen fortan in Syrien oder hierzulande in den Dschihad ziehen? Warum gelingt es islamischen Fundamentalisten weltweit so leicht, moderate Muslime unter Druck zu setzen, weil sie nicht islamisch genug seien? Fethi Benslama, der 15 Jahre in der Pariser Vorstadt mit radikalisierten Jugendlichen gearbeitet hat, zeigt in seinem wegweisenden Essay, dass weder theologische noch soziologische Erklärungsansätze ausreichen, sondern psychologisch gefragt werden muss, welchen seelischen Gewinn die Einzelnen aus der islamistischen Radikalisierung ziehen: Nur wenn wir begreifen, welcher bis zur Tötung von anderen und sich selbst treibende Genuss die Täter motiviert, lassen sich Gegenmittel finden. Benslama demonstriert eindrucksvoll die Aufklärungskraft der Psychoanalyse und zeigt, wie sich in den muslimischen Gemeinschaften das Ideal des Übermuslims etablieren konnte, dem man bis zur völligen Aufopferung nacheifern muss. Er zeigt aber auch, warum die bloße Deradikalisierung die zugrunde liegenden Probleme nicht beseitigen wird, und schlägt andere Lösungsansätze zur Überwindung des Übermuslims vor. Überraschenderweise gibt ihm dafür gerade der Blick auf den von vielen als gescheitert betrachteten ›Arabischen Frühling‹ Anlass zu einer optimistischen Perspektive.

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Fethi Benslama

DER ÜBERMUSLIM

Was junge Menschenzur Radikalisierung treibt

Aus dem Französischen vonMonika Mager und Michael Schmid

Freiheit bedeutet nicht, die Fesseln des Lebens abzulegen, sondern sie ist der Wunsch, es von den versteinerten Phantasmen zu befreien, die es umgeben.

Tahar Haddad (1899–1935)1

Inhalt

Einleitung

Zur Radikalisierung

Radikalisierung als Bedrohung

Radikalisierung als Symptom

Der Übermuslim und seine Überwindung

Die Erfindung des Islamismus

Der Übermuslim

Fatwa-Wahn: Das Geschlecht und der Übermuslim

Von einer Überwindung des Übermuslims: Der politische Spiegel

Anmerkungen

Einleitung

Wie lässt sich das Verlangen, sich im Namen des Islam zu opfern, das so viele junge Menschen ergriffen hat, verstehen? Was zieht sie in den Bann und treibt sie zu den furchtbarsten Taten? Dieser Essay schlägt eine Erklärung vor, in dessen Zentrum eine Figur steht, die ich Übermuslim genannt habe. Dabei geht es nicht so sehr um ein logisches Konzept als um einen Begriff, der zunächst überprüft werden soll. So gesehen wäre es angemessener, vom »Problem des Übermuslims« zu sprechen und zu ergründen, inwieweit diese Formulierung es erlaubt, verständlicher zu machen, was zurzeit mit den Muslimen geschieht und die Welt erschüttert.

Das Schreckgespenst des Übermuslims ist mir zum ersten Mal im Zuge meiner klinischen Arbeit während einer Sprechstunde in einem psychologischen Zentrum im Departement Seine-Saint-Denis begegnet. Über viele Jahre konnte ich immer deutlicher das quälende Gefühl beobachten, »nicht muslimisch genug zu sein«, das viele dazu brachte, einen flammenden Glauben zu entwickeln, die Forderungen und Stigmata einer identitären Gerechtigkeit zu übernehmen und zu versuchen, sich mithilfe einer paradoxen Aufwallung arroganter Unterwürfigkeit, die Respekt und Furcht hervorrufen soll, zu erhöhen. Bei der Analyse des Diskurses radikaler Islamisten ist das Motiv der »Kränkung des islamischen Ideals«2 aufgetaucht, von dem ein Ruf nach Wiedergutmachung, ja sogar nach Rache ausgeht. Diese Überschneidung von Klinischem und Sozialem ermöglichte schließlich die Klärung der Gestalt des Übermuslims. Sei es in Form einer Tendenz oder als Avatar, diese Figur ist ein – bewusstes oder unbewusstes – Produkt von fast hundert Jahren Islamismus. Deswegen möchte ich hier, in Zusammenhang mit dem Auftauchen des Übermuslims, eine Lesart der Entstehung des Islamismus einbringen, die von der heute gängigen abweicht. Es erscheint mir in der Tat so, dass der Islamismus zu oft in den Kategorien der modernen politischen Theorien wiedergegeben wurde (politischer Islam), wobei man übersehen hat, dass seine grundsätzliche Ausrichtung auf den Aufbau einer ultra-religiösen Macht abzielt, die an das archaische Sakrale und die Opferung anknüpft, auch wenn sie die Hilfsmittel der modernen Technologie verwendet.

Es braucht keinen Beweis dafür, dass die Kriege, die einen Teil der muslimischen Welt heimsuchen, Zerstörungskräfte freigesetzt haben, in deren Folge zahlreiche Akteure des realen Theaters der Grausamkeit auftreten: Opfer und Henker, Helden und Verräter, Terroristen und Terrorisierte usw., und insbesondere der gefährlichste dieser Akteure, der Märtyrer, dessen Fähigkeit zur Brandstiftung überall auf der Welt in direktem Zusammenhang mit dem Opferwillen steht.

Doch darf man nicht den andauernden Bürgerkrieg übersehen, der seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen den Muslimen herrscht und bei dem es um die entscheidenden Fragen geht: Was heißt es, ein Muslim zu sein? Wer hat die Macht, es zu definieren? Was bedeutet es, Mann oder Frau zu sein? Die letzte Frage stellt sich vor allem dann, wenn die Frau aus dem Eingeschlossensein heraustritt und die Sichtbarkeit ihres Körpers die patriarchalen Anordnungen zu Geschlecht und Begehren durcheinanderbringt. Auf diesem Nährboden, auf dem nichts mehr klar zu sein scheint und die identitären Gewissheiten zusammengebrochen sind, hat der Islamismus den inneren Feind (die ursprüngliche Definition des Über-Ichs bei Freud) des Muslims sprießen lassen, der die Obsession des Übermuslims in ständige Angst versetzt.

Insofern ist auf Karl Marx’ Epoche des »Seufzers der bedrängten Kreatur« eine Zeit der Wut des blind Opfernden gefolgt, der nicht davor zurückschreckt, sich selbst in seine mörderische Tat einzuschließen. Dabei fällt mir der Satz eines Jugendlichen ein, der verkündete: »Ich liebe es zu hassen, denn das gibt mir so viel Kraft.« Und warum sollte man sich von dieser Liebe zum Hass sich selbst gegenüber ausschließen, wenn man sie dem anderen so freigiebig aufdrängen will? Ist es erstaunlich, dass die Dschihadisten deklarieren, sie »töten aus Liebe«, was im Grunde nichts anderes bedeutet, als dass das von vornherein legitimierte Verbrechen aus Leidenschaft zum System erhoben wird? Doch muss man im Auge behalten, dass es sich um nichts weiter handelt als eine Rechtfertigung des Mörders aus Liebe zu Gott. Diese Rechtfertigung bringt es mit sich, dass das Verbrechen in Indifferenz gegenüber den Menschen begangen wird, und es ist stimmiger, wenn es als Massenmord geschieht.

Sicher kann der chaotische Zustand der derzeitgen globalisierten Welt, in der die institutionellen Strukturen erschüttert sind, nur das befördern, was man heutzutage »Radikalisierung« in all ihren Formen nennt, und insbesondere die religiöse, die so viele Bedeutungen bereithält – für was und für wen auch immer. Dabei wird sichtbar, wie sehr die Anwendungsmöglichkeiten des Begriffes »Radikalisierung« zum Dreh- und Angelpunkt des diskursiven und auch des sicherheitsbezogenen Apparates geworden sind, der die Terrorismusprävention zum Ziel hat.

Seit den Anschlägen vom Januar und November 2015 in Frankreich hat der Ausdruck »Radikalisierung« den öffentlichen Raum im gleichen Maße erobert wie die diffuse und neue Bedrohung, die das Land belagert und keine Region der Welt ausspart. Wenn ein Wort eine so große Bedeutung gewinnt, dass man es verwendet, um eine Störung der Ordnung zu bezeichnen, so kann man – wie es einige tun – seine Aussagekraft in Zweifel ziehen; man kann es sich aber auch aneignen, um es innerhalb eines Wissensgebiets zu etablieren, wie es ein Teil der Soziologie unternommen hat. Aus Sicht der Psychoanalyse liegt die Aufgabe darin zu untersuchen, inwiefern dieser Begriff einen symptomatischen Wert hat oder nicht. Damit beginnt dieses Buch, indem es zwischen der Radikalisierung als Bedrohung und der Radikalisierung als Symptom unterscheidet.

Es erschien mir in diesem Essay dringend geboten, dass die psychoanalytische Methode, welche mit dem hier zu beschreitenden Terrain durchaus vertraut ist, – zusammen mit anderen Wissensbereichen – eine Bresche öffnet, um generalisierende, die Subjektivität verneinende Erklärungen der Worte und Taten des Terrors infrage zu stellen, wo das Genießen seiner Akteure doch offenkundig ist. Denn es ist zu einfach, sich nur auf die Intention, das Bewusstsein und die sozialen Umstände zu beschränken, bleibt auf diese Wiese doch eine Erklärung für die Grausamkeiten des Genießens verstellt.

Erinnern wir uns daran, dass die Psychoanalyse nicht dazu da ist, die Menschen im geschützten Behandlungszimmer zu »therapieren« – wovor Freud uns immer gewarnt hat –, sondern um mittels der Erkenntnisse aus ihren klinischen Untersuchungen Anhaltspunkte zu gewinnen, um die kollektiven Kräfte der Gegenzivilisation im Herzen des zivilisierten Menschen und seiner Moral zu erforschen. Damit ließen sich die zwangsläufigen Verbindungen zwischen dem Psychischen und dem Politischen deutlich herausstellen, welche sich als Paradigma für eine »Psychepolis« bezeichnen ließen, um schließlich Gewalt und Möglichkeiten der Gewaltfreiheit denkbar werden zu lassen.

In diesem Sinne dient die Bezeichnung Übermuslim als Hinweis auf das Wesen der Gefahr, der die Muslime und ihre Kultur ausgesetzt sind. Deswegen steht am Ende dieses Essays ein Kapitel über die Überwindung des Übermuslims, verbunden mit dem Ausblick auf eine andere Zukunft für die Muslime.

Zur Radikalisierung

Radikalisierung als Bedrohung

Mit dem Auftauchen des Dschihadismus im globalen Maßstab avancierte der Begriff der Radikalisierung zum allgemeinen Modell für die Ursache des Terrorismus. War er bis zu den Attentaten des 11. September 2001 noch marginal vertreten, so hat er sich seither durchgesetzt, um Personen zu identifizieren und zu überwachen, die unter dem Verdacht stehen, zur Gewalt zu greifen, was auch immer sie dazu bewegt. Dieser Begriff hat die globale Figur des Radikalisierten als ein bedrohendes Individuum entstehen lassen, und er hat einen weltweiten Diskurs über Gewalt und Politik erzeugt, welcher unsere Epoche über lange Zeit prägen wird. Zum Aufspüren der Radikalisierten ist ein Wissen vonnöten, das Anzeichen erkennt und sie mithilfe eines Beobachtungs- und Sprachapparats interpretiert. Die Überwachung setzt das Vorhandensein eines Polizeiaufgebots voraus, dessen Existenzberechtigung auf der Angst vor zerstörerischen Handlungen und auf der Prävention beruht. Die Radikalisierung hat damit ein theoretisches und praktisches Feld für den Zusammenhang von Wissen und Angst eröffnet. Es führte zur Errichtung eines gewaltigen engmaschigen Abhörnetzes ohne Beispiel, das aus dem Ozean von Worten und Taten der Menschen schöpft. Inmitten einer Zeit, in der Zirkulation und Kommunikation ungeahnte Intensität erreichen, werden wir überall in der Welt Zeuge eines Aufbaus unsichtbarer Mauern der Verdächtigung. Es ist ein grausames Paradoxon, dass jetzt, wo sich die Welt sich selbst gegenüber weit öffnet, gerade aus dieser Öffnung eine derartige Angst machende Gefahr auftaucht.

Die Sorge über eine Militarisierung des Alltagslebens und eine Erschütterung der demokratischen Verfassungen nach den Anschlägen von 2001 wurde in mehrerer Hinsicht weitgehend bestätigt. Dort, wo mörderische Anschläge verübt wurden, hat sich der Rechtsstaat zurückgezogen und Ausnahmeregelungen zugelassen, die der Grausamkeit des Terrorismus einen Staat im Notstand, anders gesagt einen Staat in ständiger Überreaktion gegenüberstellen. Auch wenn nicht jeder Radikalisierte notwendigerweise zum Terroristen wird, so hat doch die Tatsache, dass jedem Anschlag ein Radikalisierungsprozess vorangeht, dem Begriff die furchterregende Vorstellung eines Vorzimmers des Terrors verliehen. Auch tendiert die Radikalisierung dazu, mit dem Terrorist-Werden, gar mit dem zu erwartenden Terror zu verschmelzen. Daraus entwickelt sich ein allgemeiner Zustand, in dem jeder Einzelne darauf geeicht ist, in der Erwartung des Attentats alarmbereit zu sein, be alert, wie die Amerikaner sagen. Wer hat nicht in Paris, in Tunis oder Timbuktu in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf öffentlichen Plätzen beim Gedanken an sich und seine Angehörigen das angstvolle Gefühl von Verletzlichkeit empfunden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, furchtsam, dass gleich eine Bombe hochgeht? Wenn uns ein arbiträrer Tod auflauert, der uns nicht persönlich meint, wenn wir aus Zufall umkommen, einen Tod erleiden können, der nicht der unsere ist, dann ist jener namenlose Tod in unser Leben getreten, den wir mit der Wendung »blinder Terror« zu benennen suchen.

Haben wir es aber nicht auch mit einem Terrorismus zu tun, der ganz sichtbar auftritt? Er stellt nicht nur seine Taten zur Schau, er will uns darüber hinaus in das grausame, von ihm aufgeführte Schauspiel hineinziehen, indem er uns in die Position der Attentäter versetzt. So geschehen im beispielhaften Fall von Mohammed Merah, der seine Morde, darunter auch die Morde an den jüdischen Kindern der Ozar Hatorah-Schule in Toulouse, mit einer Körperkamera filmte und dann eine Videomontage davon dem Sender Al Jazeera zusandte, der nach einigem Zögern … die Ausstrahlung verweigerte. Die Kommunikation kann also zur Fortsetzung des Terrors mit anderen Mitteln werden. Man erinnere sich auch an den Slogan al-Sawahiris: »Der mediatisierte Dschihad ist schon der halbe Kampf.«3 Seither findet sich fast immer eine Überwachungskamera oder eine Handy-Kamera in unmittelbarer Nähe eines Attentatsortes, deren Bilder sofort von Medien übertragen und bis zum Überdruss in Spots wiederholt werden, als wollten sie uns den Schockzustand des Überlebenden aufdrängen. Diese Fenster hin zum Realen des Terrors haben das Eindringen der Angst ins Subjekt verstärkt und sein traumatisches Gewicht erhöht. Ebendiese Fähigkeit, in großem Maßstab Schrecken zu verbreiten, ist bei denen, die zu Herrschern über Tod und Leben werden wollen, eine starke Triebfeder, extreme Optionen in Betracht zu ziehen.

Die Verbindung von blinder Gewalt und willentlicher Zurschaustellung stellt eine neue Überschreitung dar, die aus Mord und Selbstmord eine Spielart von Kommunikation und ein Spektakel macht. Sie vergrößert die Allmacht des Henkers. Bis vor Kurzem galt noch die Regel, dass Mörder ihre Verbrechen verbergen, ihre Spuren verwischen und ihre Untaten leugnen. Jetzt aber geht es darum, das Massaker sichtbar werden zu lassen. Weshalb verwenden der »Islamische Staat« und andere Gruppen aus dem dschihadistischen Universum die Ausstrahlung ihrer grausamen Taten für ihre Propaganda? Gewiss besteht immer ein enger Zusammenhang zwischen den Techniken einer Zeit und den in ihr stattfindenden Massenmorden, doch wenn man es bei der Kontingenz der Mittel bewenden lässt, ohne die Ziele zu bedenken, dann versteht man die Absichten des heutigen religiösen Terrorismus nicht. Dieser Terror will eine furchtlose destruktive Macht zur Schau stellen, die misshandeln kann, wie es ihr beliebt, um damit die Vorstellung ihrer völligen Straflosigkeit unter der menschlichen Justiz zu untermauern. Da die Täter nur Gottes Gesetz unterstehen, als dessen Richter sie sich aufspielen, zeigen sie ostentativ, dass sie ohne Angst und Mitleid exekutieren, erwürgen, kreuzigen, amputieren, verbrennen, steinigen können. Sie begehen ihre Untaten zum Ruf Allah akbar, um auszudrücken, dass Gott selbst durch sie handelt, und deshalb können sie vorführen und glauben machen, dass für sie nichts unmöglich bleibt. Wenn Gott in den Händen der Menschen lebendig wird, dann scheint ihnen alles möglich, ganz im Widerspruch dazu, was Dostojewski Dimitri Karamasov sinngemäß proklamieren lässt.4 Die Äußerungen von Jugendlichen in den sozialen Netzwerken drücken aus, wie sehr sie von den scheußlichen Szenen fasziniert sind, die sogar erotische Regungen bewirken können. Diese Jugendlichen hoffen ihre Fesseln abzustreifen, um im Terror die Phantasmen absoluter Befreiung, göttlicher Gerechtigkeit ohne Prozess, einer bereits erlangten Vergebung zu verwirklichen, und das in einem Grad, dass das Töten zur Tugend wird. Erst wenn man sich selbst vor nichts mehr fürchtet, zieht man jene an, die Furcht und Schrecken verbreiten werden. Darin liegt die Verführungskraft dieser Verbindung, in der der Horror des Sehens und der des Glaubens aufeinandertreffen.

Dennoch gibt es Anlass, die Vorstellung einer blinden Gewalt zu relativieren. Sie ist blind, wenn man bedenkt, dass die Opfer für die Mörder »niemand« sind, lediglich Lebewesen, die man auf Kadaver, wenn nicht auf Fleischfetzen reduziert; sobald aber das Massaker in den Räumen von Charlie Hebdo geschieht, im Bardo-Museum, im Bataclan, in einer jüdischen Schule, einer schiitischen oder sunnitischen Moschee, werden diejenigen, die sich dort befinden, wegen ihrer Anwesenheit an diesem Ort und ihrer Verbindung zu ihm umgebracht: Sie werden getötet wegen dem, was sie sind, und nicht wegen dem, was sie tun, was den mörderischen Charakter dieser Taten definiert, wie Richard Rechtman nach den Attentaten des 13. November in Paris in Erinnerung gerufen hat.5 Man ist versucht zu sagen, dass sie jeden, aber nicht jeden Beliebigen um sein Leben bringen. Sie töten Leute für das, was sie nicht sind, und für das, was sie sind: Der Terrorismus ist ein Omnizid.

Die Schwierigkeit, die Mäander des Terrorismus nachzuvollziehen und ihn zu charakterisieren, hängt eng zusammen mit seinen Drohungen, seiner durchtriebenen Logik und seinen stetigen Transformationen. Seine Geschichte ist voller Kasuistiken der Rechtfertigung von Morden. Bezeichnete er einmal die Ausübung der Staatsgewalt zur Rettung der wahren Französischen Revolution, so hat er sich heute dahin entwickelt, dass er den Kampf gegen den Unterdrückerstaat meint. Immer wieder wird er gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt, um die Regierenden dazu zu bringen, Forderungen nachzugeben. Im Falle der Befreiungsbewegungen vom Kolonialismus war sein Ziel die nationale Unabhängigkeit, im Falle von Al-Kaida jedoch liegt keinerlei vergleichbare pragmatische Zielsetzung vor. Dieselben Aktivisten, die »als Kämpfer für die Freiheit« in Afghanistan auftraten, sind zu Partisanen eines heiligen Weltterrors geworden, des Dschihads,6 der keine territoriale Macht anstrebt, sondern die Zerrüttung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die moralische Zwiespältigkeit der Gewalt liegt in dieser Kehrtwendung vom Widerständler zum Terroristen und umgekehrt, je nach den Standpunkten und Umständen. Zahlreiche Terroristen sind Staatschefs geworden, deren Stimme im Konzert der Nationen Respekt entgegengebracht wird. Von Al-Kaida bis zum »Islamischen Staat« hat sich vor unseren Augen erneut eine Wandlung des Dschihadismus vollzogen, wobei der Terror nun der Erschaffung eines »Kalifats« und der Utopie seiner idealen Gemeinschaft dienen soll. Laut seinen Theoretikern muss diese zuerst eine Phase der Erzeugung von Chaos durchmachen, um dann auf der Grundlage der Scharia »das Bestialische zu managen«7.

Gibt es einen Unterschied zwischen Krieg und Terrorismus? Das Streitgespräch zwischen Jacques Derrida und Jürgen Habermas nach den Anschlägen vom 11. September 20018 lässt die Antwort offen, und die Problematik wird immer wieder neu aufgenommen, weil sie in Fragen ethischer und juridischer Konsequenzen bei Einzelfällen von Relevanz ist, wie etwa bei dem Status der Kämpfer. Handelt es sich eher um einen Krieg »mit niedriger Intensität«, wie Farhad Khosrokhavar meint,9 oder um einen »diffusen Krieg« gemäß Frédéric Gros10? Unter all den Fragen, die dieses Gewimmel von Problemen mit sich trägt – und die ich hier nicht alle behandeln werde – , taucht die Frage nach der Legitimität und den Grenzen der Gewalt auf. Wenn sie in einer revolutionären Perspektive »als einer gewaltsamen Abschaffung der Gewalt« auftritt, wie Étienne Balibar über den Marxismus schreibt, dann wäre ihre gerichtliche Verfolgung schlussendlich ein für die Justiz selbstzerstörerisches Unterfangen.11 Das Problem lässt sich nicht auf den Gegensatz von Recht und Politik reduzieren, denn das Recht ist einerseits auf die Gewalt gegründet und durch sein Monopol geschützt, wie Freud in seinem Gedankenaustausch mit Einstein über den Krieg bemerkt.12 Andererseits ist in der Perspektive Walter Benjamins13, der die Unterscheidung zwischen »mythischer Gewalt« und »göttlicher Gewalt« vorschlägt, letztere außerhalb des Rechts angesiedelt. Ihre Besonderheit läge darin, das Opfer zu akzeptieren, im Gegensatz zu der mythischen Gewalt, die es verlangt.14 Entlang dieser Kategorisierung gehört die vom »Islamischen Staat« befohlene und ausgeübte Gewalt – im Gegensatz zu seinen Beteuerungen – zum mythischen Register.

In Anbetracht des weiten Geflechts der Problemstellungen des Terrorismus, welcher historisch gesehen vor und nach der Französischen Revolution15 Bedeutsamkeit hatte, lässt sich fragen, was der Begriff der Radikalisierung nun Neues hinzufügt. Die Sozialwissenschaften, für die der Terrorismus seit langem ein Thema ist, haben sich nachdrücklich auf ihn bezogen und ihn zur Erforschung der ideologisch geprägten Gewalt fruchtbar gemacht. Ohne das Zusammenspiel dieser wissenschaftlichen Legitimation mit der Frage der öffentlichen Ordnung und der Nutzung in den Medien hätte die »Radikalisierung« niemals ihren heutigen Status erlangt: den eines Wissensgebietes und eines überquellenden Diskurses, der mit strategischen Maßnahmen des Staates einhergeht, wie es seit 2014 in Frankreich und vielen anderen Ländern der Fall ist.

Nach dem Soziologen und Anthropologen Farhad Khosrokhavar bestand der Beitrag des Begriffs der Radikalisierung in der Soziologie in einem Blickwechsel, der frühere Terrorismuseinschätzungen zu vervollständigen vermochte. Die Soziologie untersuchte insbesondere Gruppen, die ideologisch motivierte Gewalt ausübten, sowie deren politische und soziale Bedeutung. Mit dem Begriff der Radikalisierung konnten die Individuen, ihre Subjektivität, ihr Werdegang und ihre Interaktionen in den Gruppen berücksichtigt werden. Dabei geht es um eine Herangehensweise, die die Prozesse der individuellen Verläufe untersucht, welche sie zur Gewalt führen, insofern als es kein plötzliches Umkippen gab, sondern eine Entwicklung über kürzere oder längere Zeit.16