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Ob als Alltagsphänomen wie der verordneten Verschleierung oder in der gewalttätigen Form des Terrorismus – fundamentalistische Strömungen im Islam sind auf dem Vormarsch. Doch wie lässt sich die weltweite Konjunktur des islamischen Extremismus jenseits kulturkämpferischer und relativistischer Muster erklären? In seiner bahnbrechenden Studie, die im englisch- und französischsprachigen Raum längst zum Standardwerk avanciert ist, interpretiert Fethi Benslama den Islamismus als Zeichen der Krise des Islam in Konfrontation mit der sündhaften Moderne : Der Leidensdruck durch Verbot von Lust führt zur Aggression gegenüber Ambivalenzen – bis hin zum Terror. Fethi Benslama füllt eine Lücke in Sigmund Freuds Werk: Er erklärt das Unbehagen in der muslimischen Kultur, analysiert die Gründungsmythen und die Glaubenspraktiken des Islam und weist auf die kritische Stellung der Frau als Quelle der Angst vor Veränderung und Begehren hin. Eine monumentale Studie und ein unentbehrlicher Beitrag in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sowie ein erster Schritt in Richtung seiner Therapierung.
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Seitenzahl: 518
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Wie der Islam die Psychoanalyseauf die Probe stellt
Aus dem Französischen vonMonika Mager und Michael Schmid
Für Frédérique
Vorwort
IDie Qual der Quelle
1Die Überschreitung
2Rückkehr und Umwege
Der Islam und die Islame | Das Interesse für die Psychoanalyse | Die Qual des Ursprungs | Das Absprechen des Ursprungs bei Freud | Das Offene am UrsprungDie Satanischen Verse | Von der Wirklichkeit der Religion
3Die Aufhebung
Rückkehr und Deutung | Rückkehr, Theorie und Wahn
4Ein verwesender Körper
Der Schleier des Schmerzes | Die Schuld
5Autoimmunisierung
Auflösung und Neubildung | Sinnesverwirrung
6Die Zäsur der Moderne und die Verzweiflung der Massen
Vom Wandel in der Kultur | Von der Verzweiflung mit Freud und jenseits von ihm | Von der Verzweiflung der Massen in der islamischen Welt | Der Staat und das Ich
7Postskriptum: Nach dem 11. September
IIDie Verstoßung am Ursprung
1Aneignung und Übersetzung des Vaters
Freud und der Islam | Genese des Vaters, Gabe des OrtesDer Vater als Übersetzung
2Die Genesis nach Hagar
Eine Sackgasse der Gabe | Das Versprechen und der Name | Die Möglichkeit des Unmöglichen | Die Spaltung zwischen den zwei Prinzipien | Es gibt Es-gibt-nichtVom ursprünglichen Entzug | Zwischen-zwei-Frauen
3Das Fortbestehen der Verstoßung
Die Transmission Ismaels | Überlieferbar und nicht überlieferbar | Von der Verlassenen zum VerlassenKontroversen rund um Hagar
III Lebensschicksale der anderen Frau
1Eine Hypothese über eine Verleugnung
2Der Lichtschein
Die Zeugung des Gründers | Die Aspekte der MontageElemente eines Vergleichs | Das Zwischen-zwei-Frauen in der Psychoanalyse | Das Unmögliche des VatersZwischen Leere und Fülle | Die Fiktion der Mutter
3Der Schleier
Die Aktualität des Schleiers | Der Schleier in der Theologie | Die Frau als sehende Macht | Anmerkungen und Annahmen zum »pinealen Auge« | Die De-monstration der Frau | Die Kehrtwendung | Rückkehr zur Aktualität
4Das Sprechen in Tausendundeiner Nacht
Vom Engelsgruß zum Verruf | Das Problem des Genießens | Von der Ausstreichung | Das Sprechen, das Genießen, der Tod | Die Aufhebung der Ausstreichung
IV Vom Er zum Er
1Die Klinik der Tausendundeinen Nacht oder die Aufgaben der Schahrasad
Die Inszenierung einer Leidenschaft | Der König und sein Double | Die Geschichte von Jawdar | Die zweite Aufgabe der Schahrasad | Die Achse Schahrasad – Schahriyar
2Das Opfer und die Deutung
Vom Begehren zu opfern | Der Sohn als Verlust
3Das Kind (im) Volk
Moses im Koran | Moses – Summe der Leben
4Der Brudermord
Die Morderzählung | Zweimal Hass
5Er Er
Eine Übertragung der Form | Vom DoppelDas Exponierte und das Singuläre | Vom SubjektIndividualität, Islam und Psychoanalyse
6Das Unmögliche in der Teilung
Die Gemeinschaft und das Unmögliche | Eine Allegorie der Gemeinschaft | Teilhabe und ihre Passion
Nachwort
Anmerkungen
Allgegenwärtig ist die Religion in seinem gesamten Werk, aber nirgendwo zieht Freud in seinen Überlegungen zum Monotheismus den Islam in Betracht. Nur in seinem letzten Buch »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« geht er, nicht ohne den Ausdruck des Bedauerns, ihn in seinen Untersuchungen vernachlässigt zu haben, kurz auf ihn ein. Freuds Theorie der Religion beschränkt sich nicht auf im engen Sinn religiöse Phänomene, sondern stellt Fragen nach den Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, der Genese des Gesetzes und der fortwährenden Krise der Kultur. Was ergibt sich, wenn wir, ein Jahrhundert später, die Ursprungsmythen des Islam und die Quellen seiner symbolischen Institution in diese große Werkstatt bringen? Welche Umarbeitungen des monotheistischen Gedächtnisses haben in den Gründungsreden und -schriften des Islam stattgefunden? Bringen sie eine andere Perspektive auf den Vater und den Ursprung, die sich mit dem ausschließlichen Blick auf Judentum und Christentum nicht dechiffrieren ließen?
Dieses Buch verfolgt die Absicht, das Freud’sche Projekt auf den Islam auszudehnen, d. h. die konstitutiven Verdrängungen der religiösen Institutionen zutage zu fördern und ihre Metaphysik in Metapsychologie zu übersetzen. Es beruht auf einer psychoanalytischen Annäherung an Texte und Ereignisse, die für diese Religion eine bedeutende Rolle spielen und mit dem Ursprung der beiden anderen Monotheismen in Verbindung stehen.
Dieser Typus von Untersuchung wäre sicher nicht denkbar, wenn der Islam, der lange Zeit nur dem Reservat der Orientalistik vorbehalten und von jedem Hinterfragen durch die Moderne weit entfernt war, nicht schlagartig auf die aktuelle Weltbühne getreten wäre und uns nicht gezwungen hätte, uns mit ihm mit Nachdruck und Notwendigkeit auseinanderzusetzen, die in enger Beziehung damit stehen, wie er seinen Zugang zur Moderne sucht. Dieser Weg in die Moderne hat schon vor langer Zeit begonnen, aber tritt nun in eine entscheidende Phase ein: Plötzlich taucht in den islamischen Gesellschaften ein Subjekt auf, das sich vom traditionellen Subjekt unterscheidet und sich in ein das Feld des Bewusstseins übersteigendes historisches Handeln stürzt. Dieses Heraustreten, die Zerrissenheit und die Widersprüche, aus denen es resultiert, bilden den Ausgangspunkt unserer Überlegungen.
Obwohl es sich um eine Untersuchung der Grundlagen des Islam handelt, trifft sie ins Herz quälender aktueller Fragen. Das erste Kapitel dieses Essays widmet sich, ausgehend von der Entstehung und ihrer besonderen Symptomatik (der islamistischen Bewegung), der gegenwärtigen Krise des Islam, wobei sich meine Interpretation von gängigen Interpretationen der politischen Soziologie unterscheidet.
Die seit einigen Jahrzehnten anhaltende Aktualität des Islam belegt in der Tat auf vielfache Weise den Bruch mit dem Subjekt der Tradition und, von diesem Bruch bewirkt, die Entfesselung der destruktiven Kräfte der Zivilisation. Es handelt sich um einen historischen Wandlungsprozess, der es erforderlich macht, darüber nachzudenken, wie der Übergang des Menschen von der göttlichen Seele zur Psyche des Unbewussten zu verstehen ist. Darin liegt der Grund für den Untertitel des Buches: Wie der Islam die Psychoanalyse auf die Probe stellt. Mit der Wahl dieses Untertitels habe ich versucht, eine Herausforderung und eine Aufgabe zu benennen, der ich mich seit vielen Jahren gewidmet habe, wie die zahlreichen Arbeiten belegen, die hier nun in einem Werk zusammenfließen. Der Untertitel Wie die Psychoanalyse den Islam auf die Probe stellt wäre bestimmt ebenso zutreffend gewesen, aber ich habe mich als Psychoanalytiker und im Rahmen der Psychoanalyse an den Islam herangewagt und versucht, bestimmte Probleme seiner Aktualität und seiner Entstehung zu erhellen, um sie schließlich in das allgemeine psychoanalytische Wissen über die Beziehungen zwischen dem Psychischen und der Kultur zu überführen.
Den Übergang von der göttlichen Seele zum Unbewussten zu denken, bedeutet nicht, das Alte zu liquidieren – dies zu veranlassen steht außerhalb unserer Macht –, sondern eine Beziehung zu ihm zu entwickeln, eine Deutungsbeziehung, die von der Annahme ausgeht, dass wir zu den alten Interpretationen und zu den Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, einen Zugang gewinnen können. Da es sich um – insbesondere religiöse – Symbolsysteme handelt, betrachtet die Psychoanalyse die Macht der fundamentalen Voraussetzungen als eine Funktion der Verdrängung: Was im Unbewussten fortwirkt, unterwirft das Leben der Menschen seiner Herrschaft.
Diese Untersuchung hat mich, ohne dass ich es zuvor geplant hätte, schrittweise und unaufhaltsam zum Schicksal der Frau, des Weiblichen und der Weiblichkeit in den Verdrängungsprozessen geführt, die der symbolischen und institutionellen Struktur des Islam zugrunde liegen. Der größte Teil dieser Untersuchung ist deshalb dieser Frage gewidmet, der im zweiten Kapitel, »Die Verstoßung am Ursprung«, und im dritten Kapitel, »Lebensschicksale der anderen Frau«, nachgegangen wird. Indem, immer entlang der Verkettungen seiner Syntax, das Weibliche im Ursprung des Islam betrachtet wird, kommt es an einem bestimmten Punkt, der hier mit »Klinik der Tausendundeinen Nacht« bezeichnet wird, zu einer Wende. Meine Analyse will die ursprüngliche Äußerung mit der Problematik des männlichen Narzissmus verknüpfen und versuchen, seine Sackgassen und seine Gewalt aufzuklären, was mir die zentrale Herausforderung der Kulturarbeit im Monotheismus zu sein scheint. Das ist der Gegenstand des vierten Kapitels mit dem Titel »Vom Er zum Er«.
Natürlich gelten die in dieser Untersuchung behandelten Aspekte nicht spezifisch für den Islam. Zwischen der islamischen und der europäischen Kultur finden sich zahlreiche Überschneidungen und Intersektionen, vorausgesetzt, man versteht intersectio zugleich als Überlappung und Schnitt. Man verfiele dem differenzialistischen Essentialismus, hätte man nur das Spezifische im Auge, umgekehrt würde man in Verlautbarungen des abstrakten Universalismus verharren, unterzöge man das Universelle nicht einer Prüfung durch die konkrete Wirklichkeit und die Reflexionen der Alterität.
Diese Probe ist für die Psychoanalyse insofern von Interesse, als ihre Ausbreitung in der islamischen Welt, die sich individuell, in kleinen Gruppen und manchmal auch durch die Gründung von spezifischen Institutionen ihren Weg zu bahnen beginnt,1 mit neuen Fragen und Problemen konfrontiert sein wird. Denn die Übersiedlung der Psychoanalyse erfolgt in eine Sphäre, die sich von ihrer historischen und anthropologischen Einfassung in Europa ebenso unterscheidet wie von ihren amerikanischen Erweiterungen.
Diese Probe ist ebenso für die Frauen und Männer in der islamischen Welt von Interesse, die mit einer Veränderung der kritischen Subjektivität konfrontiert. Das Wissen und die Erfahrung der Psychoanalyse bieten eine Möglichkeit und eine Chance, sie auf dem langen Weg der Bildung des modernen Subjekts und in der dazugehörenden Kulturarbeit2 zu begleiten.
Dieses doppelte Interesse beruht für mich auf dem Grundsatz, dass die metapsychologische Übersetzung, die Freud als eine der Aufgaben der Psychoanalyse bestimmt hat, nicht in einer einfachen Anwendung der Theorie besteht. Er denkt sie radikal als eine Dekonstruktion, denn er benutzt für dieses Sujet die Begriffe Auflösen3, das heißt das Aufheben, Entflechten, Auseinandernehmen der mythologischen Begriffe der Welt, und Umsetzen4, das heißt umwandeln, versetzen, verschieben.5 Seine Operationen an der Architektur der mytho-theo-logischen Gebäude zielen darauf ab zu verstehen, aus was ihre unsichtbaren Fundamente gemacht sind, und darauf, den jedem Gebilde zugrunde liegenden Kern des Unmöglichen zu enthüllen, um den herum sich mithilfe der Sprache seine imaginäre Hülle gebildet hat, das heißt, die Projektion der Psyche in die äußere Welt.
Wenn es dieser Untersuchung gelänge, diese Interessen mit der selbst gestellten Aufgabe und mit ihrem Erwartungshorizont in Einklang zu bringen, hätte sie ihr Ziel erreicht.
Weder ich noch meine Generation hatten vor, uns für den Islam zu interessieren. Ich habe beschlossen, mich mit dem Islam zu beschäftigen, weil der Islam begonnen hat, sich mit uns zu beschäftigen. Diese Generation, der durch das Ende des Kolonialismus und der Errichtung des Nationalstaates die Augen geöffnet wurden, dachte, dass es mit der Religion nun vorbei sei und diese in der entstehenden Zivilgesellschaft keine Rolle mehr spielen werde. Obwohl Religion zur Mobilisierung des Aufstandes gegen die Kolonialherrschaft beigetragen hat, machten wir sie dafür verantwortlich, unsere Welt für Jahrhunderte in die Nacht hinabgezogen zu haben, in der wir erst durch das Getöse der europäischen Besatzungsarmeen geweckt wurden. Lehrte uns der Aufschrei des Poeten nicht endgültig die Ursache dieses Unglücks? »Oh Volk, du bist im Grunde nichts als ein kleines Kind / das in der Dunkelheit mit Sand spielt / eine Macht, durch die Finsternis in Ketten gelegt seit Anbeginn der der Zeit«. Abu al-Qasim asch-Schabbi (1909–1934) lehrte uns, dass diese Ketten der Finsternis nichts anderes waren als die der Religiosität, der strengen Hüterin eines Schicksals, das dem Ruf der Lebenden gegenüber taub war, weil es nur die Sprache der Gräber kannte. Angesichts des fanatisierten Gezeters (»Haltet diesen abscheulichen Ketzer vom Tempel fern«) bestand die Antwort der Politik darin, den Tempel von uns fernzuhalten. Sehr schnell, gleich zu Beginn der 1960er-Jahre übernahm Habib Bourguiba1 diese Aufgabe: Er schloss die große, fast 1300 Jahre alte theologische Universität von Zitouna, trieb ihre Gelehrten auseinander und ernannte sie als Gipfel der Demütigung zu Sekundarlehrern. Im gleichen Atemzug revolutionierte er die Frauenrechte: rechtliche und politische Gleichstellung mit dem Mann, Abschaffung der Verstoßung, der Polygamie und des Verschleierungszwangs. Er brachte das islamische Recht der Filiation zu Fall, indem er die Möglichkeit einer Volladoption mit der Anpassung des Zivilstandes des Kindes eröffnete.2 Und mitten im Ramadan erhob er vor laufenden Kameras das Glas und trank auf die Gesundheit des Volkes.
Die Kühnheit einer solchen Geste lässt sich heute vielleicht gar nicht mehr ermessen. Abbildungen davon sollten über Jahre in der arabischen Welt zirkulieren, welche vom religiösen Gesetz weiterhin sehr geprägt war. Bourguiba wurde Tausende Mal verflucht, ebenso oft verdammt, und mehr als ein Imam rang auf seiner Kanzel nach Luft. Die Geste bekam auf Anhieb den Wert einer radikalen Überschreitung, die eine Zäsur im Denken herbeiführt, durch die das Mögliche sich plötzlich mit dem Unmöglichen verknüpft. Seit ihrem Aufkommen in den Siebzigerjahren gilt den sogenannten islamistischen Bewegungen diese Geste als Paradebeispiel eines absolut gottlosen Akts, dessen Auslöschung das Auftreten dieser Bewegungen rechtfertige. Tatsächlich handelte es sich nicht um die Aktion eines Menschen, der die Vorschriften einer Religion verletzt, indem er sich zu seinem eigenen Vorteil über ihre Ordnung und ihre Verbote hinwegsetzt. Es handelte sich um ein politisches Statement, das in aller Öffentlichkeit die heilige Zeit, die durch unumstößliche Rituale geregelt ist, unterbrach, um die Befreiung des Volkes aus der theologischen Unterwerfung zu verkünden und den Anbruch einer neuen Zeit im Herzen dieses Bruches zu proklamieren. Das spektakuläre Löschen des Durstes mitten in der Lähmung durch die Fastenzeit sagte mehr als alle Reden über Freiheit und alle Liberalisierungsversprechen. Es war ein Akt der Überschreitung, der Transgression, den Georges Bataille als souverän hätte bezeichnen können, insofern der Akt nicht auf ein partikulares Objekt zielte, sondern auf die Zeit, in der sich alle Objekte bewegen.
Es ist klar, dass diese Überschreitung ein Ereignis war, das meine gesamte Generation geprägt hat, auch wenn wir mit bestimmten Aspekten der Regierung des Mannes, der es vollzog, nicht übereinstimmten. Wir waren weit davon entfernt zu verstehen, was dieser Entschluss für eine Bedeutung hatte: die Ersetzung des normativen Systems des Islam und seines Subjekts durch andere Grundlagen und durch eine neue Rechtsordnung. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass der Bruch mit der Tradition eine Zeit der Gefahr mit sich bringen würde, einen Übergang, in dessen Verlauf viele Affekte und viel Gewalt entfesselt werden sollten.
Damals entfachte diese Überschreitung, insbesondere bei Jugendlichen, die die Respektlosigkeit der modernen Welt zu entdecken begannen, das für mein Verständnis machtvollste Begehren, das die Moderne hervorgebracht hat und überall propagiert: das Begehren, ein Anderer zu sein, welches von der Wirkmächtigkeit der Technik und ihrer Diskurse getragen wird. Wer war dieser Andere? Der Marx’sche Revolutionär, das Freud’sche Subjekt des Unbewussten, der Sade’sche Libertin, der Segalen’sche »Exot«, der Rimbaud’sche Wortalchimist, der Universalist, der Weltbürger …? Es waren Bruchstücke und Eindrücke von allen zugleich, denn die Texte, auf die diese Konzepte und Namen verwiesen, kannten wir kaum, doch ihre Atome lagen in der Luft, die wir atmeten.
Spät, viel später erst, haben wir die ganze Tragweite des Aktes von Bourguiba verstanden. Noch als wir uns der Gefahr bewusst wurden, die vom islamistischen Extremismus ausgeht, einem Bewusstsein, das sich bei jedem von uns erst allmählich ausbildete, waren wir weit von diesem Verständnis entfernt. Es entstand erst, als wir uns gezwungen sahen zu begreifen, was uns da widerfuhr, und überall Stimmen laut wurden, ein Phänomen zu bekämpfen, dessen Natur und Grundlagen man gleichzeitig verkannte. Ich erinnere mich, dass Bourguiba in der Rede, die seine Überschreitung begleitete, seinen Akt nicht im Namen der Laizität, der Menschenrechte oder der großen Prinzipien der Aufklärung begründete, sondern im Namen des Islam selbst! Im Wesentlichen sagte er, dass es notwendig sei, von der Zeit des heiligen Krieges, dem Dschihad gegen den Kolonialismus, der nur als kleiner Kampf gelten könne, zum wichtigeren Kampf, dem der inneren Anstrengung [idschtihād], fortzuschreiten, der Nachdenken, Neubewertung der Wirklichkeit, Auslegung und harte Arbeit mit sich bringe. Er wollte das Volk davon überzeugen, dass das Ritual des Fastens, das einen Monat dauert, innerhalb des Rhythmus der Welt des 20. Jahrhunderts im Widerspruch zu diesen Anforderungen steht. Sein Vorgehen bestand darin, dem Begriff »Dschihad« zwei Buchstaben hinzuzufügen und den Bruch so nicht durch die explizite Bezugnahme auf okzidentale Werte zu legitimieren, sondern vielmehr zwischen Islam und Islam einen inneren Widerspruch herbeizuführen. Er unterschied zwischen einem Islam, dessen Sinn geschlossen ist, der keinen Horizont hat (da die Abwesenheit eines Horizonts typisch für einsinnige, festgelegte Menschen ist), und einem Islam, in dem nichts vollendet ist, in dem Sinn, dass er endlose innere Anstrengung verlangt, einschließlich eines Denkens, das zum Unbekannten hin ausgerichtet ist. Als ich in der schwierigen Situation zu Beginn der Achtzigerjahre, als der Fanatismus hohe Wellen schlug und seine Themen breites Echo fanden, über meine eigene intellektuelle Aufgabe nachdachte, schien es mir geboten, dass sich mein Denken genau jener Kluft zwischen einem abgeschlossenen und einem unendlichen Islam widmen müsse.
Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass der Politiker, der diese innere Subversion in Gang gesetzt hat, von den Prinzipien des europäischen Kampfes um Freiheit inspiriert und mit den Erfahrungen vertraut war, die bei ihrer Umsetzung zu Beginn des Jahrhunderts in der kemalistischen Türkei gemacht wurden. Ausgebildet an einer französischen Universität, beherrschte er zwar die Sprache des universalistischen Bewusstseins, aber als Mann des Volkes, der sich ein politisches Gespür für Situationen angeeignet hatte, hielt er es für notwendig, diese Geschichte zu bestehen, indem er seine eigene Sprache und ihre symbolischen Bezugssysteme einsetzte. Deshalb hat er seine Überschreitung in Form einer Übersetzung artikuliert, anstatt stark auf den europäischen Diskurs zurückzugreifen. Mithilfe eines Spiels mit Buchstaben hat er ein Stück der aufgeklärten Geschichte des Islam in Erinnerung gerufen, um eine denkbare Zukunft zu eröffnen, und das in einer Sprache, die zu allen spricht, auch wenn ihm da und dort Widerstand entgegengesetzt wurde.
Später sollte sich diese transhistorische und transkulturelle Übersetzung, die eine unabdingbare Voraussetzung für eine Politik der Moderne ist und für Freud eine »Notwendigkeit für die Kontinuität des psychischen Lebens der nachfolgenden Generationen«3 darstellt, von der doppelten Bürde der raschen Ausbreitung der Technik und der Enteignungs- oder Entselbstungs-Mechanismen [méchanismes de dépropriation] des globalen Kapitalismus erdrückt werden. Seither ist es, als ob die Menschen, die in der modernen Zeit ankommen, ihre Erfahrungen nicht mehr über eine ihnen zugängliche Sprache erleben könnten, als ob sie nicht mehr die Fähigkeit hätten, mittels ihrer Idiome Bedeutungsverbindungen zu knüpfen, sondern die physischen Umformungen ihrer Welt und die vom sogenannten westlichen Diskurs bewirkten Verstörungen ohne Vermittlung ertragen müssten. Innerhalb und außerhalb des Landes machte sich eine Gruppe von furchtbaren »Experten« breit, die alte kollektivistische oder liberale Leiern anstimmten, Lektionen erteilten, Anweisungen gaben oder gewaltsam einschritten und vorgaben, auf allen Gebieten mit dem Realen umgehen zu können. Die Nüchternheit ihres Jargons, der die Wissenschaft und das Universelle für sich in Anspruch nahm, sollte eine Bestätigung dafür sein, dass sie im Besitz einer unantastbaren Wahrheit für den Eintritt in eine glänzende Zukunft sind. Unter dem Begriff der »Entwicklung« wurde der Übergang zur Moderne zu einem Umherirren im Undenkbaren.
Diese zwei Jahrzehnte andauernde massive Zerstörung von Sprache und politischer Bedeutung führte zu allgemeiner Abgestumpftheit. Jede Art von Lüge war möglich. Der Boden war bereitet für die Sprache des Islamismus und ihre extremen Erscheinungsformen. In einer Sprache, die im Predigerton daherkam und die Nähe zum Körper und zu den Existenznöten suchte, errichteten die Islamisten einen monolithischen Islam, der unter keinem inneren Widerspruch leidet, spitzten den Gegensatz zwischen Islam und Westen zu und proklamierten das Projekt der Wiederherstellung des Eigenen und Reinen [propre] (im doppelten Sinne von exklusiv und unbefleckt) durch eine andere Form der Unmittelbarkeit, nämlich den Zugang zur ursprünglichen Ganzheit der Politik. Es ist das Versprechen der Rückkehr in das Goldene Zeitalter der Gründung des Islam, in dem Ursprung und Befehlsgewalt im selben Prinzip, in den Händen des Propheten-Gründers-Gesetzgebers, dann in denen seiner vier Nachfolger, vereint waren; eine Zeit vermeintlich idealer Gerechtigkeit auf Erden vor dem Fall in die Spaltung und den inneren Aufruhr [fitna], den die Gemeinschaft in der Folge erlitten hat.4 Einer der Gründe für den islamistischen Extremismus liegt in der Katastrophe, die sich im Zentrum der Sprache abspielt: Die Sprache war nicht mehr in der Lage, dem Volk eine historische Erfahrung von besonderer Intensität zu übersetzen, die Erfahrung der modernen Zeit, die nicht nur die wissenschaftliche und technische Transformation der Welt beinhaltet, sondern die Verbindung zwischen der Gewalt dieser rasanten Umwälzung und dem Begehren, ein Anderer zu sein. Daher wurde der »islamistische« Extremismus durch einen Impuls in Bewegung gesetzt, der nur die Kehrseite dieses Begehrens darstellt, ein Anderer zu sein: die Verzweiflung, man selbst sein zu wollen, wie Kierkegaard sagt.5 Aber was ist das Selbst? Seine Identität ist definiert durch die Herkunft, und die Herkunft hält fest an einer Quadratur des Kreises, nämlich einer Verbindung folgender einzigartiger Züge: eine Religion (der Islam), eine Sprache (das Arabische), ein Text (der Koran), dem häufig das Nationale hinzugefügt wird.
Der Wechsel vom Begehren, ein Anderer zu sein, zur Verzweiflung, man selbst sein zu wollen, hat die Epoche zum Kippen gebracht und hält uns in einer Konfrontation gefangen, deren Begriffe jeweils das Unmögliche bezeichnen.
Bis man das Auftauchen des »Islamismus« begriff, brauchte es sehr lange. Es hat viel Zeit in Anspruch genommen, um von dem Glauben an eine lineare Fortschrittsentwicklung Abstand zu nehmen, anzuerkennen, dass es sich beim Islamismus nicht um ein vorübergehendes Phänomen handelte, und zu beginnen zu verstehen, was sich abspielte. Behalten wir in Erinnerung, wie viele Menschen von diesen Ereignissen betroffen sind. Hinter den Wörtern »Islam« oder »Islamismus« verbirgt sich die bunte Realität einer Milliarde Menschen, verteilt über verschiedene Kontinente, in ganz unterschiedlichen Gesellschaften, in heterogenen kulturellen Sphären, manchmal ohne jegliche Kommunikation untereinander. Bei aller Diversität der Sprachen, der Traditionen und der Geschichte, die bedeutsame regionale und lokale Besonderheiten hervorgebracht haben, konnte man in dieser Perspektive davon sprechen, dass hinter dem Islam verschiedene Islame stecken. Der Islam ist überall durch die jeweils existierende Kultur verfeinert worden, die er nicht auszulöschen versucht hat, sondern mit der er sich vertraut gemacht hat, indem er sich mit Ausnahme seines theologischen und juridischen Kerns von ihr transformieren ließ. Das gilt für Asien mit seinen indischen, pakistanischen, afghanischen und indonesischen Anteilen, für Afrika mit dem Maghreb im Norden und dem schwarzen Kontinent im Süden der Sahara, für Europa mit der Türkei, seinen slawischen Ausläufern, den Menschen in der ehemaligen UdSSR oder auch für den Mittleren Osten mit der Einflusssphäre des Irans und der arabischen Welt, die in diesem riesigen Gebiet nur eine Minorität darstellt.
Und doch kam, trotz aller Diversität und der gewaltigen geopolitischen und kulturellen Ausdehnung, überall diese Bewegung auf, die einen wichtigen Teil der Tradition und ihrer konservativen Anhänger außer Rand und Band geraten ließ und eine Anzahl von ihnen zu dem getrieben hat, was man mit verschiedenen Begriffen wie »Islamismus«, »islamistische Bewegung«, »Fundamentalismus« oder »radikaler Islam« bezeichnet hat. Die vielen Bezeichnungen, die in diesem Kontext im Gefolge einer neuen politischen Soziologie des Islam unter dem Druck entstanden, die Aktualität wenn auch nur oberflächlich zu kommentieren, haben nicht zu einer Klärung der Situation beigetragen. Im Gegenteil, sie haben das verstärkt, was ich den Widerstand gegen das Verstehen des Islam nenne. Dieser stammt aus einer in der Geschichte des europäischen Westens verwurzelten Verweigerung, gegen die die wenn auch wachsenden Erkenntnisse der Islamwissenschaftler machtlos bleiben. Die Verwirrung hat sich in jüngster Zeit sogar noch vergrößert, indem man den Turbulenzen der aktuellen Situation neue Motive unterlegte. Auch die Psychoanalytiker haben sich daran, und nicht zu knapp, beteiligt; so hat es, wie wir noch sehen werden, schon Freud, als Erster in seiner Zeit, getan.
Diesem Widerstand gegen das Verstehen wird kaum beizukommen sein, indem man den Sinn der Begriffe, von denen quer durch die Gebiete ungeregelt Gebrauch gemacht wurde, willkürlich festlegt. Ihre Unschärfe und die daraus resultierende Konfusion im Denken ist ein viel zu schwerwiegendes Symptom der internen Umwälzungen des Islam und der chronischen Krise seiner Beziehungen mit dem, was man »den Westen« nennt, um sie einfach als eine Unsitte oder als einen Missbrauch der Sprache abzutun. In diesem Kapitel soll schrittweise vorgegangen werden, indem wir das Hindernis in der ganzen Tragweite seiner Bedeutung betrachten. Wir beschränken uns zunächst darauf, an die vier Aspekte zu erinnern, die es zu unterscheiden gilt, wenn man auf den Signifikanten »Islam« trifft: 1. Die muslimische Religion als Glaube, Dogma und Ritual; sie ist verankert im Phänomen der Offenbarung des Textes des Koran und in der Tradition des Propheten, in seinem Verhalten und seinen Reden. 2. Die Muslime in ihrer Verschiedenheit im Hinblick auf ihre Art zu leben, ihre Kultur, die Verschiedenheit ihrer Empfindungen und Meinungen. Zu diesen beiden grundlegenden Elementen muss man zwei Kräfte hinzufügen, die zur gegenwärtigen Verwirrung wesentlich beigetragen haben: 3. Der normale Fundamentalismus, den es immer schon gab und der unter Berufung auf die ursprüngliche Botschaft die strikte Anwendung der islamischen Vorschriften propagiert. Das ist der konservative und strenge Islam, der sich als zeitlos versteht, der Literatur, Musik und Poesie unterdrückt, der nicht versucht, die staatlichen Institutionen an sich zu reißen, sondern im Gegenteil die Distanz, sogar die Trennung vom Staat gutheißt. 4. Die politischen Bewegungen, die den Staat ganz für sich in Anspruch nehmen wollen, die den Islam nicht nur als Religion verstehen, sondern auch als eine Ideologie und ein Regierungssystem. Ihr Ziel ist die vollständige Islamisierung der Gesellschaft und die Errichtung eines islamischen Staates. Dies sind die mehr oder weniger radikalen, mehr oder weniger gewalttätigen Bewegungen, die im Laufe der Siebzigerjahre in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind. Offensichtlich existieren auch andere Kräfte wie die Traditionalisten, die Reformer, die Laizisten etc., aber keine dieser Bewegungen hat die verzweifelten Massen so angesprochen wie der militante politische Islamismus.
Zwischen diesen vier Aspekten treten immer wieder Überschneidungen auf, daher muss jeder von ihnen mit großer Vorsicht analysiert werden. Man kann die verschiedenen Aspekte jedoch nicht in dem einen Begriff des Islamismus verschmelzen, ohne die Möglichkeit zur Unterscheidung einzubüßen. Zuvorderst, weil die Muslime, zumindest in den meisten Ländern, die religiösen Institutionen des Islam nicht mit der buntscheckigen menschlichen Realität und den Fundamentalismus nicht mit der militanten Politik verwechselt haben, konnten Verzweiflung und Terror noch nicht alles mit sich reißen.
Gewiss haben nicht alle Länder eine Transformation wie die von Bourguiba in Gang gesetzte durchgemacht, bei Weitem nicht. Gleichwohl variieren die Virulenz und die Tragweite dieses Phänomens je nach Kontext in Abhängigkeit vom Ausmaß der ökonomischen und politischen Gewalt, von den sozialen Reformen und der plastischen Kraft jedes Volkes, um eine Formulierung Nietzsches aufzunehmen. Wenn nun aber derselbe Protest überall in der muslimischen Welt ausbricht, dann deshalb, weil dieselbe Erschütterung überall dieselbe Grundlage hat.
Wenn wir Zeuge eines heftigen Zusammenbrechens einer Welt werden, die einst durch das Versprechen der Freiheit erhellt war, wenn an jedem Tag Stürme des Protestes und der Gewalt im Namen des Glaubens aufkommen und wenn man einst ausgeglichene Frauen und Männer sehen kann, die ohne Grund in Zorn ausbrechen und dabei Flüche ausstoßen, in denen ein wachsendes Gefühl der Furcht vor ihrem Gott und der Schuld zum Ausdruck kommt, als ob sie durch ein schweres Verbrechen belastet wären, dann drängt sich der Gedanke auf, dass ein vitales Interesse berührt worden sein muss, wenn sie eine derart große politische Enttäuschung erzeugt, die sich im Geschrei der Massen entlädt oder sich in Ausschreitungen und Mordanschlägen Luft macht. Wie kann man diese Erschütterung und ihre verheerenden Folgen verstehen?
Ergriffen von der Turbulenz der Ereignisse, die mit Dramen und Desillusionierungen einhergingen, veränderte sich mein Interesse für die Psychoanalyse von Grund auf. Von einer persönlichen Unternehmung, einer auf die »individuelle Psychologie« beschränkten Forschung, habe ich mich einer viel weiteren Perspektive geöffnet: Ich wurde dazu gebracht, meine Überlegungen in einem politischen Rahmen zu verorten, im grundlegenden Sinne dieses Begriffs, und einen engen und fortgesetzten Bezug zu den Texten Freuds über die Kultur und das Unbehagen an ihr, über die Massenpsychologie, über Religion und den Ursprung der Gesellschaft herzustellen. Die ständige Aktualität des Islam forderte immer wieder zu Analysen und Interpretationen in dieser Richtung heraus, weil die Ereignisse so heftig und bedrängend waren. Man erinnere sich an die wichtigsten Krisen der vergangenen Jahre, die Rushdie-Affäre, den Golfkrieg, Bosnien, Algerien, an den chronischen und immer wieder aufflammenden israelisch-palästinensischen Konflikt, die Logik der Einschüchterung und des Terrors, die mit dem Fanatismus einhergingen, ebenso an die Kopftuchfrage, die Fatwas, die Ermordung von Intellektuellen und die Massaker an der Zivilbevölkerung.
Diese Aktualität des Islam zwang mich, aber nicht nur mich, sondern uns alle in der Redaktion der Cahiers Intersignes6 dazu, sich in einer Zeit der beschleunigten Transformation der Welt mit einer bisher unbekannten Erfahrung des Unbewussten und des Politischen zu konfrontieren. Dies spielte sich im Zwischenraum zweier Zivilisationen ab, die vor dem Hintergrund historischer Auseinandersetzungen, welche durch gegenseitige Abhängigkeiten vielfältiger Natur und vielfältigen Zuschnitts erneuert wurden, tatsächlich oder vermeintlich zusammenstießen. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass diese Situation fortlaufend Widersprüche und Paradoxien produzierte, die uns ununterbrochen dazu zwangen, unsere Position zu ändern und zu verwerfen und die unterschiedlichsten Standpunkte in Betracht zu ziehen, um manchmal beim Unentscheidbaren zu landen, das vielleicht – Unglück oder Klarsicht – in der Zeit der Globalisierung eine Verlockung für die menschliche Psyche darstellt.
Gleichzeitig musste ich sowohl in Bezug auf das klinische Feld als auch auf das alltägliche Leben anerkennen, dass man bei einer Annäherung an das Unbewusste von Subjekten, die in der Tradition des Islam aufgewachsen sind, den Bezug zum Islam nicht aussparen kann und noch weniger angesichts ihrer beängstigenden Vergegenwärtigung durch den fundamentalistischen Aktivismus und die politische Militanz. Das bedeutet keineswegs eine Komplizenschaft mit dem Kulturalismus, den ich bereits kritisiert und dessen Sackgassen ich aufgezeigt habe. Ich habe einfach nur festgestellt, dass der Islam in sehr vielen Fällen mit den subjektiven und überindividuellen Strukturen in Zusammenhang steht. Die Distanz von Politik und Religion war schwankend, ja sogar illusorisch, weil keine Trennung vollzogen wurde, die Möglichkeiten zur Ablösung und zweifellos auch zur Verdrängung eröffnet hätte, wie sie sich über mehrere Jahrhunderte in Europa entwickeln konnten. Es handelte sich bestenfalls um eine Abgrenzung, die keine neue Markierung etablierte.
Die Revolution des modernen Interpreten, um einen Ausdruck von Pierre Legendre zu verwenden, hat nicht stattgefunden. Die Religion ist nicht zurückgekehrt, denn sie war nie verschwunden. Schlimmer noch, wie ein Schläfer, der in ein künstliches Koma versetzt wurde, erwachte der Islam plötzlich, schreckte hoch und starrte die Welt an wie ein Schlafwandler.
Und tatsächlich, während eine Elite sich voll und ganz in der Moderne wähnte und Pläne für ein freies Denken verkündete, sprossen die Minarette und breiteten ihre Schatten aus. Die Modernisierung war nur eine Nachahmung (Imitation, nicht Mimesis) der Moderne, eine täuschend echte Kulisse.
Diese grausame und beklemmende Feststellung, die uns später bei der Ausarbeitung der Diagnose helfen wird, wurde fünf Jahre vor der Rushdie-Affäre (1989) getroffen, die für diese Situation und ihre folgenschweren Implikationen zweifellos zu den symptomatischsten Ereignissen gehört. Es ist daher dringend geboten, die Konsequenzen aus dieser Ernüchterung zu ziehen: theoretische und praktische, politische und psychoanalytische Konsequenzen, insbesondere in Hinsicht auf den Beitrag zu einem intellektuellen Projekt, das zum Ziel hat, die Wurzeln des Islam zu erforschen, und das die Psychoanalyse auf die Probe stellt, indem sie auf der Ebene der Klinik und der Theorie in einen anderen kulturellen Kontext transferiert wird als den, in dem sie sich herausbildete.
Transfer der Psychoanalyse, Transfer mit der Psychoanalyse – damit komme ich auf den mythischen Ort der Herkunft zurück, obwohl ich glaubte, mich durch meine geografische und kulturelle Übersiedlung nach Europa, die vom Begehren nach einem anderen Wissen geleitet war, von ihm entfernt zu haben. Bin ich je von dieser Reise in die Geschichte zurückgekommen? Von meinem Erstaunen darüber, was da zurückkehrte und zu was ich zurückkehrte? In Wahrheit war es eine Rückkehr ohne Rückkehr, da der Islam, den ich untersuchen werde, nie mehr der Islam sein wird, der mir überliefert wurde, sondern ein Islam, der unter dem Gesichtspunkt des Unbewussten gedeutet wird. Einen ersten Schritt hinaus in die Öffentlichkeit unternahm das Kolloquium mit dem Titel »Die Psychoanalyse an den Grenzen des Islam«, das vom Pariser Collège international de philosophie im Mai 1987 organisiert worden ist.7
Weshalb dieser Transfer hin zum Ursprung, der ohne Zweifel auch ein Transfer und eine Übertragung des Ursprungs ist? Gehen wir kurz auf meine persönlichen Motive ein. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass sich das Subjekt nicht von der Ordnung der »historischen Wahrheit« (so hat Freud den »Wahrheitsgehalt« der Religion bezeichnet) abwenden kann, die in seiner Kindheit bestimmend war, ohne auf die eine oder andere Weise wieder von ihr eingeholt zu werden. Die Aufgabe besteht daher darin aufzuschlüsseln, aus welchen Quellen diese Wahrheit des Ursprungs stammt. Anders gesagt, ihre imaginäre und symbolische Genese aufzunehmen und anzuerkennen, um das Feld ihrer Wirkungen erfassen zu können.
Sobald ich begonnen hatte, meine Aufmerksamkeit auf den Diskurs der islamistischen Strömungen zu lenken, bemerkte ich, dass sie von der Frage des Ursprungs besessen waren und dass es ihnen schrittweise gelang, die Massen durch ein Versprechen an diese Frage zu binden, die keinen Erwartungshorizont in die Zukunft öffnete, sondern in eine Regression zurück an einen Anfang führte, in der die Zeit nur eine immergleiche Wiederholung dessen darstellt, was schon in der Gründungsepoche des Islam stattfand.
Dieser Versuch, die Massen mit dem Ursprung zu verleimen, löste bei manchen Erstarrung und Ungläubigkeit aus, führte aber zu einem hypnotischen Zustand, der viele Menschen aus dem Volk und der Mittelschicht in seinen Bann gezogen hat. Er erlaubte die Infantilisierung des Gedächtnisses und einen Anachronismus, in dem das Archaische und das Ideale das öffentliche Leben lautstark bestimmten. Verächtliche Äußerungen, die direkt auf den Körper zielten – wie man sich kleidete, wie man sich gab und wie man sich in der Gruppe verhielt –, nahmen überall zu, als ob der Moder eine Garantie für Authentizität wäre. Die Sprache wurde zu einer leiernden Wiederholung althergebrachter Plattitüden. Manche fanden es sogar ungerecht, in der Jetztzeit geboren worden zu sein. Sie nahmen Ausdrucksformen an, die sie als Sprechweisen, Gestik und Haltungen der Menschen unterstellten, welche während der »Morgenstunden des Islam« lebten. Die Gegenwart wurde unentwegt mit den Ereignissen einer ursprünglichen Vorzeit verglichen und als Palimpsest dieser Vergangenheit wahrgenommen, die an der Oberfläche der erlebten Zeit wieder auftauchte und die Gegenwart überschrieb.
Zuweilen wurde man angesichts dieses lächerlichen »Reenactments« von einem Lachanfall ergriffen, doch brachte sich der unheilvolle Charakter dieser Passion des Ursprungs dem Beobachter sehr schnell wieder in Erinnerung, weil sie von Gefühlen der Ungerechtigkeit, der Erniedrigung und des Hasses und einer ansteigenden Welle von Ressentiments begleitet war. Der Drang, zum Ursprung zurückzukehren, war nicht zu haben ohne den Wunsch nach einer furchtbaren Rache an der Gegenwart. Die soziale und psychische Misere wurden als Zeichen der Abtrünnigkeit vom Ursprung gedeutet, der darunter litt, von dem Weg abgeschnitten worden zu sein, den er einst bahnte. Man versuchte daher, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie, getrennt von der Urquelle, an deren Austrocknung mitwirken und dass ihr momentanes Unglück nur die gerechte Strafe für das Verbrechen sei, sich von den Anfängen entfernt zu haben. Außerdem finde ihr Sein seine Bestimmung nur in der Wiederaneignung des Eigenen [propre], das sie ausmachte. Diese Verbindung von Makellosigkeit und Exklusivität, von Eigensein [propriété] und Sauberkeit [propreté], von Zugehörigkeit und Reinheit, die der Begriff »eigen« [propre] im Französischen enthält, ist für das von dieser Ideologie versprochene Heil bezeichnend und folglich auch für die Gefahr, die sie abwenden will.
Was bedeuten dieses politische Begehren nach dem Ursprung und der Terror, der es begleitet? Was bedeutet diese Rückwendung zu Urszenen und was der bis zum Tod geführte Kampf, der ihretwegen gefochten wird? Wie lässt sich dieses Begehren nach dem Exil der Gegenwart deuten, diese Zukunft, reduziert auf eine abgeschlossene Vergangenheit, von der sich immer nur dasselbe sagen lässt, so als wäre die Gegenwart nicht mehr als der Schatten dessen, was bereits stattgefunden hat? Ist diese Einengung der zukünftigen Entwicklung nicht der Nullpunkt des Messianismus, seine Kehrseite oder vielleicht das Scheitern seiner Perspektive, die die Religion immer zu bewahren versucht hat?
Mir schien, dass die psychoanalytische Position, die ich immer beizubehalten versucht habe, in dieser kritischen Situation nur Sinn behalten konnte, wenn sie sich direkt dieser Qual der Quelle8 zuwenden würde, die wir erlitten und noch immer erleiden. Natürlich ging es darum, sich dieser Situation als dem symptomatischen Ausdruck einer Störung anzunähern, die es zu identifizieren gilt, aber es handelte sich auch um einen überlebenswichtigen Einsatz angesichts der drohenden Gefahr der Zerstörung der Sprache und der Kultur, die von dieser Verleimung mit dem Ursprung ausging.
In diesem Kontext hat die Studie »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, die Freud in Zeiten großer Gefahr verfasst hat (1939), innerhalb meiner Überlegungen einen besonderen Stellwert bekommen. Es geht mir nicht darum, den Ansturm des »Islamismus« mit dem des Nationalsozialismus zu vergleichen, wie dies in den letzten Jahren leichtfertig getan worden ist. Solche Analogien sind dem Denken nicht dienlich und reproduzieren nur die Fehler derer, die die Gegenwart als eine »ikonische Portraittreue« der Vergangenheit leben wollen, um einen Ausdruck Nietzsches zu verwenden.9 Was der Betrachtung lohnt, ist meiner Ansicht nach vielmehr, wie Freud mit dem Dämon des Ursprungs gerungen hat.
Man erinnere sich an seine vorsichtigen Anfangsworte: »Einem Volkstum den Mann absprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt […].«10 Mit diesem Absprechen des Ursprungs und der Herkunft, mit seinem Bestreben zu zeigen, dass Moses ein dem hebräischen Volk Fremder war, hat uns Freud in seinem letzten Werk eine Konstruktion hinterlassen, die der Selbstbegründung des Eigenen und seiner Geschlossenheit die ursprüngliche Gastfreundschaft des »großen Fremden« (so nannte er Moses) als Voraussetzung der Zivilisation entgegenstellte. Keine Religion, keine Kultur, keine Gedächtnis- oder Sprachgemeinschaft kann am Beginn sie selbst sein, kann zu sich selbst kommen, bevor sie nicht die Erfahrung des Anderen, des Fremden gemacht hat. Daher ist das Eigene des Selbst ein Resultat, dessen Voraussetzung ein ursprüngliches Nicht-Eigen-Sein ist.
Auf diese Weise dekonstruierte Freud im Jahre 1939, in der dunkelsten Periode der Abstammungs- und Reinheitsideologie in Europa, die Einzigartigkeit der Abstammung, um eine vielfältige und wiederholte Einschreibung der Herkunft vorzuschlagen, die immer heterogen ist und außerhalb der Totalität liegt, die man in ihrem Namen erzwingen möchte. Die Verschiedenheit der Abstammung ist, wie er anführt, zeitlicher, geografischer, materieller und sprachlicher Natur; und auch der Gründer selbst entgeht nicht dem zusammengesetzten Charakter seiner Identität, da es nach Freud mindestens zwei Moses gegeben hat! Diese Idee eines unendlichen Ursprungs scheint den dekonstruktivistischen Zug in »Der Mann Moses« unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, es ist ein unendlicher Ursprung, der die Unabschließbarkeit des Ursprungs darstellt.
Dieser in der Kultur des Monotheismus radikalste Schritt bezüglich des »Ideals der Volkszugehörigkeit« (ein Ausdruck von Freud) geht von einem Mann aus, der sich just in einem Moment, wo er selbst wegen seiner Abstammung bedroht ist, dazu entscheidet, den »Fluchtpunkt des Ursprungs«, wie Pierre Fédida es genannt hat, offenzulegen. In seinem Buch Le site de l’étranger beschreibt Fédida den »Mann Moses« als Höhepunkt der Befreiung vom Vater, gedacht als Verzicht, Entzug und ein Schweigen des Neutralen, das der Sprache ihre Stätte gibt (Fluchtpunkt des Ursprungs), die von der »monströsen Rückkehr der Masse« bedroht ist.11 Dieser Schritt Freuds aus dem »Mann Moses«, so mein Plan, sollte in einem ersten Anlauf auch in Bezug auf die Frage der Abstammung im Islam getan werden.
Angesichts der Vorstellung ursprünglicher Ganzheit, die der Extremismus zu verbreiten begann, wurde es zum Ziel meines ersten Buches12, mich auf die Spuren der Erfahrung des Gründers zu begeben und zu zeigen, an welchem Punkt sie gefährlich zu werden begann. Die Neuerfindung eines weiteren Monotheismus war kein Akt der Selbstgefälligkeit, sie gehört nicht in die Logik der narzisstischen Vergewisserung und der Selbstschöpfung des prophetischen Subjekts, sondern sie beruht auf einem Durchleben von Angst und Unsicherheit und dem Ausgeliefertsein gegenüber einer Auslöschung, in der sich nichts mehr ereignet. Der Unterschied (so lautet einer der Namen des Koran) zu den anderen Monotheismen ergibt sich nicht aus dem, was in unauslöschlichen Buchstaben auf Kristalltafeln niedergeschrieben wurde, sondern kommt durch den zuvor erfolgten Entzug und die Agonie des so geprüften Selbst zustande, das erstarrt, weil es von der Stelle entfernt ist, an der der Ort stattgefunden hat.
Schon in den ersten biografischen Berichten des Propheten erscheint diese Erfahrung als von einem ursprünglichen Entzug gekennzeichnet, der eine Leere im Herzen des Kindes Mohammed hinterließ. Im Alter von vier Jahren, vaterlos, bevor er schließlich auch seine Mutter verliert und bei einer Amme lebt, hat er eine schreckliche Vision von drei weiß gekleideten Männern, die ihm die Brust öffnen, das Herz herausnehmen, um so ein Stück dunkles Fleisch zu entfernen, an dessen Stelle in der Folge der Buchstabe seinen Ort als Umrandung und Grenze im kindlichen Körper finden wird, denn der Buchstabe [harf] bedeutet im Arabischen wörtlich »Rand«. Diese Operation markiert das Ereignis des Öffnens [fath] als Gabe des Entzugs. Das Offene ist der Ursignifikant der mohammedanischen Religion [al fath al muhammadi] und ihrer Spiritualität. Tatsächlich aber beruhen die theologischen Institutionen und besonders der Extremismus auf dem Vergessen der Wahrheit dieser Erfahrung und auf der Umwendung seiner Bedeutung in »Sieg«, denn derselbe Signifikant dient später auch zur Bezeichnung der »militärischen Eroberung«. Auf diese Weise wird aus dem Mangel eine Erfüllung.
Die Operation der Öffnung setzt sich fort in einer Reihe von Prüfungen, in denen alles, was als Islam galt, sein Eigenes nur kraft seiner Herkunft vom Fremden erlangte, das in dieser Kerbe des infantilen Narzissmus Aufnahme findet. Die Herkunft ist dabei keine passive Rezeption, sie ist Effekt einer Verschiebung in der Sprache, denn die Offenbarung des Koran versteht sich als eine Aufnahme des Ur-Textes des Anderen in das arabische Idiom, genannt Mutter des Buches.13 Wenn »lies« die durch den Befehl des Engels Gabriel übermittelte eröffnende Anweisung des islamischen Textes geworden ist, dann deshalb, weil er bereits geschrieben war, alles bereits auf der Wohlverwahrten Tafel geschrieben ist. Der Ursprung wäre demnach nur eine Methode zur Entzifferung eines alten Textes, den der Prophet in einem Einschnitt seines Selbst empfangen hat, von wo die Erfindung eines künftigen Textes ausgehen wird. Lesen bedeutet daher mit dem Text des Anderen schwanger gehen. Das ist die wichtigste Anweisung des Gesetzes. Das Gesetz im Islam erlöst von keiner ursprünglichen Schuld und die Unterwerfung unter die Vernunft und das universelle Recht ist nur sein sekundärer Effekt; es zielt vor allem auf eine Öffnung für die interne Differenz und das Feld des Möglichen durch einen Leerraum im Fleisch. Der Eindringling14 in das Innere des Menschen ist die Sprache. Daraus ergibt sich, dass der Mensch niemals ganz Mensch ist. Im Innersten ist er seiner Spezies gegenüber fremd.15
Die zweite Dimension der Prüfung durch die Fremdheit liegt in der Beziehung zu den vorangehenden Versionen des Monotheismus und nicht zuletzt zum biblischen Text, in dem der Ursprung des Islam vor seinem im eigentlichen Sinne islamischen Beginn durch die Geschichte von Hagar und Ismael angekündigt wird. Erinnern wir uns an die Darstellung des Dramas der Unfruchtbarkeit von Abraham und Sarah in der Genesis und den Rückgriff auf die fruchtbare Dienerin Hagar durch den Patriarchen, der mit ihrer Hilfe seine Nachkommenschaft sichert. Nach der wunderbaren Geburt Isaaks wird Ismael, der älteste Sohn Abrahams, auf Betreiben Sarahs zusammen mit seiner Mutter verjagt, damit er nicht das Erbe seines Vaters antreten kann (Gen 21,12–14). Aber der biblische Gott hatte Hagar und ihrem Sohn zuvor das Versprechen gegeben, dass aus ihnen eine große Nation hervorgehen werde. So wird Ismael in der biblischen Tradition als der Stammvater von zwölf arabischen Stämmen zwischen Transjordanien und Nordarabien betrachtet (Gen 12,25). Wir werden dieser entscheidenden Sequenz in der Erzählung über den Ursprung des Islam im zweiten Teil dieser Untersuchung auf den Grund gehen. Sein Begründer wird den arabischen Monotheismus, der der Islam von Anfang an ist, einerseits als genealogische Kette kreieren, die von Ismael auf Abraham zurückweist, und andererseits als Emanation einer ersten monotheistischen Filiation aus dem erstgeborenen Sohn, wie es in den Blättern von Abraham [Shuhuf Ibrahim] angekündigt worden ist. Alles in allem war der Islam ein Versprechen der Bibel. Sein Begründer liest sie, ruft sie in Erinnerung und hält an ihr fest.
Aus diesem Grund ist das Konzept des Ursprungs im Islam stets zwiegespalten zwischen Anschnitt und Anfang. Der Anschnitt geht dem Anfang voraus, er ist immer eine Öffnung und eine Bahnlegung im Gedächtnis des Anderen und kann dort lange verharren und auf den Beginn der Lektüre warten. In diesem Sinne gibt es niemals einen Anfang. Wenn einmal der Anstoß gegeben ist, verliert sich der Anschnitt dennoch nicht, denn er wirkt in der Geschichte auf unbewusste Weise weiter über den Anfang hinaus, der auf ihn folgt und ihn verhüllt.
Dieses Eintauchen in die Sprache und die alten Texte des Islam hat mir die Gelegenheit gegeben, eine religiöse Geschichte näher kennenzulernen, die mir von der vorhergehenden Generation so nicht überliefert wurde, sondern eher auf spirituelle und säkularisierte Weise, das heißt theologisch lückenhaft. Durch diesen vorausgehenden Bruch kam es, dass ich die Erkundung der Sprache, die der Ordnung des islamischen Diskurses und seiner Institution zugrunde liegt, mit meinen eigenen Mitteln in Angriff nahm. Freud hat zu Recht betont, dass der Ursprung einer Religion »an sich etwas Grandioses hat«16, zumal im Falle des Islam ihr Auftauchen (im sechsten Jahrhundert), dank seiner reichhaltigen Bestände, unter Aufsicht der Geschichte erfolgt, wie Ernest Renan formulierte. Innerhalb der Weitergabe von einer Diskontinuität auszugehen, macht frei für die Deutung des Materials und macht es zugleich möglich, Distanz gegenüber den sensiblen Bereichen der Verdrängung zu wahren, der das Subjekt durch sein Erbe umso mehr unterworfen ist. Darin liegt eine Zäsur mit beträchtlichen Konsequenzen, die sich auf subjektiver wie politischer Ebene zu einem gewaltige Bruch mit der Tradition steigern kann.
Dieser Bruch verläuft nicht nur zwischen Toleranten und Fanatikern, zwischen Rationalisten und Gläubigen, zwischen der Logik der Wissenschaft und der Logik des Glaubens, sondern auch zwischen einer Position, die glaubt, eine Wahrheit des Ursprungs in den Texten der Tradition zu finden – und das kann mit rationalen Verfahren, die mit einer vorzeigbaren Abhandlung über die historische Methode ausgerüstet sind, einhergehen –, und einer Position, die dieselben Texte wie eine Fiktion oder wie eine Fabel behandelt. Die Opposition gegen diese letzte Auffassung wird seit einiger Zeit stärker, weil das Fiktive als das verstanden wird, das nicht wahr, nicht real ist, also als das, was kein Sein hat, nicht ist. Auf der einen Seite behauptet man, in den Aussagen über den Ursprung eine Sprache vorzufinden, die eine klare Bedeutung hat: die Wahrheit, das Sein, das Absolute. Auf der anderen Seite verdächtigt man sie der Falschmünzerei, indem man daran erinnert, dass die Wahrheit des Ereignisses durch die notwendige Übermittlung durch einen Text, also als Ergebnis eines Niederschreibens und eines Autors, immer verzerrt ist. Damit wird das Ereignis, selbst wenn es wahr ist, in seiner Darstellung der Sprache ins Fiktive gezogen, das heißt, in den Bereich, den wir heute Literatur nennen.
Dieser Konflikt, das gilt es zu beachten, ist im Text des Koran von Anfang an anwesend, wenn das Wort Gottes sich dagegen verwahrt, irgendeinen Bezug zu dem der Dichter aufzuweisen, die als wirre Lügner qualifiziert werden, welche die Menschen in die Irre führen.17 Anders gesagt, seit den Anfängen des Islam versetzt die Differenz zwischen göttlich-wahr / poetisch-gelogen die Sprache des Koran in Unruhe und beeinflusst den Diskurs seines Gesetzes. Im sechsten Jahrhundert liegt die Zeit der biblischen Schriften als der wahrhaftigen Zisterne des göttlichen Logos über den Ursprung und die Bestimmung der Welt hinter uns. Die Bibliothek des Monotheismus ist in der Zwischenzeit sehr viel umfangreicher geworden und seine Schriften sind bereits Gegenstand unzähliger Kontroversen gewesen. Von Anbeginn löst die Aussage des Koran innerhalb des Textes einen Krieg aus, einen gewaltigen Konflikt zwischen wahrem Buchstaben und fiktionalem Sprechen, dessen extremste Manifestation die Episode der Satanischen Verse darstellt.
Diese Episode ist im Islam bekannt und in zahlreichen schriftlichen Quellen kommentiert,18 wurde aber vom gewöhnlichen Gläubigen verdrängt. Worum ging es? Während der Offenbarung einer Sure, die die absolute Einzigkeit Gottes bekräftigt, soll Satan die Identität des Engels der Offenbarung angenommen haben, des Erzengels Gabriel, um eine Lobrede auf die weibliche Göttin des präislamischen arabischen Pantheons zu halten. Der Prophet sagt daraufhin, dass der (männliche) Eine sein Reich mit anderen (weiblichen) Einen teilen würde. Dieser Vorfall ereignet sich in einem Moment, in dem der Prophet auf der Suche nach einem politischen Arrangement mit seinen polytheistischen Gegnern ist, die diese Göttin anbeten. Demnach habe Satan die Situation eines verlockenden Kompromisses ausgenutzt, um das wahre Wort zu verfälschen, ohne dass der Prophet in diesem Moment etwas davon bemerkt hätte. Obwohl er diesen Fehler rasch wieder korrigierte, hatte die Lüge doch Gelegenheit, sich als wahres Wort zu deklarieren, und sei es auch nur für einen Moment.
Der Glaube an den Ursprung würde nicht existieren, wenn die Erzählung darüber nicht durch eine grundlegende Wahrheit beglaubigt wäre, die in der Balance von Sein und Wort besteht. Ohne ursprüngliche Enthüllung der Wahrheit gibt es keine Transzendenz, keinen Ursprung, alles wird zur Fabel, zu Simulacrum oder Wahn. Genau dieser Bruch zwischen Wahrheit und Fiktion hat sich in der Rushdie-Affäre aufgetan. Sowohl der Terror, der jeden Intellektuellen der muslimischen Welt bedroht, welcher das Material des Ursprungs anrührt, als auch die sich zutragenden realen Gewaltakte hätten keine Grundlage, wenn unsere Epoche nicht dem tragischen Scheitern dieser Trennung von »fiktiv« und »wahr« ausgesetzt wäre.
Seit dem Beginn der Rushdie-Affäre haben die Verteidigung des Autors und die folgenden Streitereien dazu geführt, dass die Lektüre des Werkes selbst in den Hintergrund geriet: Die satanischen Verse.19 Dabei kehrten diese auf literarische Weise an den Ursprung zurück, um dessen theologische Wahrheit zu zerlegen und sie auf ihre Bestandteile zurückzuführen, die man nach eigenem Gutdünken wieder zusammensetzen kann, wie beim Spielen mit Bauklötzen, das kleine Kinder erfreut. In den Satanischen Versen hat das falsche Sprechen für einen Moment den Anschein von Wahrheit angenommen, um eine mögliche Fortsetzung zu dieser Usurpation zu entwerfen: Was wäre, wenn Satan weiterhin die Offenbarung diktiert hätte, ohne dass man etwas davon bemerkt hätte und die Wahrheit nur eine verkleidete Lüge und alles nur Fiktion wäre? Die Annahme des Romans geht von der unausgesprochenen Unterstellung aus, dass die Wahrheit der Quelle von den Einflüsterungen des Bösen infiltriert sein könnte und zu einer Geschichte der Irrfahrt, der Verwirrung, zu einer unentwirrbaren Mischung von Wahrem und Falschem, von Wirklichem und Fiktivem hätte werden können.
Der Roman beginnt mit dem Absturz der beiden Hauptpersonen, Muslime indischer Abstammung, die sich in einem Flugzeug befinden, das über London explodiert. Man könnte sagen, dass dieser Absturz die Erzählungen über den Ursprung des Islam in eine Geschichte des Lachens, des Spiels, der verzerrten Darstellung von Menschen und Geschehnissen des islamischen Anfangs hineinzieht, die sicher jedem in Erinnerung geblieben sind, der in dieser Tradition erzogen worden ist. Alles stürzt ab, alles verfällt: die Menschen, ihre Identität, die ihnen eigene Sprache, ihr heiliges Leben im Exil und die ewigen Abirrungen. Eine aufmerksame Lektüre dieses Romans20 zeigt, dass es sich um ein Zerstückeln des Textkörpers des Vaters der Tradition handelt, das mit Vorsatz ausgeführt wurde, in der klaren Absicht, die Islamisten mit der Sinnlosigkeit ihrer Rückkehr zum Ursprung zu konfrontieren. Da, wo es ursprünglich Wahrheit gegeben hat, Heiligkeit und Heil, gibt es nichts als einen Lachanfall, ein kindisches Fantasiespiel ohne Glauben, ohne Bestimmung. Ich habe vorgeschlagen, diesen Sturz des Mythos des Vaters, der mit dem Eintritt in die moderne Welt zusammenfällt, »vertikales Exil« zu nennen. Er führt zur Zerstreuung der Einheit seiner Erzählung in der Literatur. Literatur bezeichnet hier gewissermaßen nichts anderes als das Weiterexistieren des Ursprungssignifikanten in der Diaspora, nachdem der Ursprung explodiert ist. Es ist bekannt, was darauf folgte: Vorwurf der Blasphemie, Todesurteil, Demonstrationen und Gewalt in der gesamten muslimischen Welt. Darauf erwiderte der Autor, dass es Blasphemie nur dort gibt, wo es Glauben gibt; trotzdem habe er, obwohl er in ein muslimisches Milieu hineingeboren wurde, das Recht zu denken, dass diese Erzählung keinen Wahrheitsgehalt hat, um allen im Namen der Literatur einen neuen Pakt vorzuschlagen, der lautet:
Vielleicht sind die Muslime damit einverstanden anzuerkennen, dass der Wirbel, der um die Satanischen Verse gemacht wurde, im Grunde nur ein Ziel hatte: herauszufinden, wer die Macht über die große Erzählung, über die Geschichte des Islam innehaben wird und dass diese Macht allen zusteht. Dass, selbst wenn mein Roman nicht die Kompetenz dazu hatte, er den Versuch darstellt, der nicht weniger wichtig ist, von Neuem die Geschichte zu erzählen. Dass, sollte ich damit scheitern, andere damit Erfolg haben werden, weil diejenigen, die nicht die Macht haben, von Neuem diese Geschichte zu erzählen, die ihr Leben beherrscht, wahrhaft ohnmächtig sind. Sie können sie nicht denken und dekonstruieren und daran Vergnügen finden, und sie, so wie sich die Zeiten ändern, nach und nach verändern, weil sie nicht auf neue Weise denken können.21
Salman Rushdie preist hier die Literatur als einen Akt der Gerechtigkeit gegenüber dem Ursprung an, damit die Literatur nicht länger die Domäne einer auserwählten Autorität bleibt. Seine Erzählung des Ursprungs soll nicht länger in einem allgemeinen und unantastbaren oder nur von dazu Berechtigten berührbaren Archiv verwahrt werden. Der Satz, dass »diese Macht allen zusteht«, zeigt in aller Deutlichkeit die Natur des von ihm vorgeschlagenen Paktes als ein Spiel des freien Gebrauchs (»dekonstruieren, »scherzen«, »ändern«), durch den jeder zu seiner eigenen Komposition kommt. Die Arché, in der das Gedächtnis des Anfangs verwahrt ist, geht daher von der Instanz des göttlichen Rechts in die des allgemeinen Rechts der Subjekte über. Seine Wahrheit wird im eigentlichen Sinne subjektiv. In dieser Überschreitung konstituiert sich so etwas wie ein Recht auf Literatur.
In den Jahren der Aufregung rund um die Satanischen Verse und ihren Autor hatte ich den Eindruck, dass eine solche Überschreitung angesichts der Macht des Religiösen die Figur des Ödipus mobilisiert hatte und ihren tragischen Beitrag zur Frage des Subjekts und der Wahrheit reaktualisierte. Mit dem Losreißen von der Sphinx und der Möglichkeit, auf das Rätsel des Schicksals selbst zu antworten, korrespondiert im Falle Salman Rushdies die Beseitigung der Quelle für die religiöse Bewahrung der Tradition. Der Position der ödipalen Selbstreflexion, die darin besteht, sich als denjenigen zu bezeichnen, um den es sich im Rätsel handelt – eine Geste, mit der sich das Selbstbewusstsein und der apollinisch-sokratische Egozentrismus bestätigt (»Mensch, erkenne dich selbst«) –, entspricht die Unterstellung, die dem von Salman Rushdie vorgeschlagenen Pakt zugrunde liegt, dass jeder Mensch »Autor« ist und jeder sich dessen bemächtigen kann, was das Vorrecht Gottes wäre: den Sinn des Lebens zu schreiben, indem man auf sich selbst als Quelle und Ressource zurückgreift. Anders gesagt, die Wahrheit des Ursprungs ist das Subjekt selbst, das auf den Ursprung antwortet, und seine Antwort lautet: Alles ist Literatur. In diesem Sinne hat Salman Rushdie die Bühne der Welt mit einer neuen Version des tragischen Konflikts zwischen der Freiheit des Subjekts (zu schreiben) und der Macht des Fatums (die religiösen Schriften der Wahrheit) bespielt. Diesem realen Theater fehlte kein Aspekt der ödipalen Tragödie, weder das Motiv des unschuldig Schuldigen, der im Zentrum des Konflikts zwischen den Verteidigern und den entschiedenen Gegnern des Schriftstellers gestanden hat, noch die Vorahnung bei Letzterem, seiner eigenen Verdammnis entgegenzusehen. Salman Rushdie legt nämlich auf der vorletzten Seite der Satanischen Verse seiner Hauptperson den überraschenden Satz in den Mund: »[…] und er dachte daran, wie er selbst wohl für diese seine Verse sterben würde, und dass es ihm nicht möglich war, das Todesurteil ungerecht zu nennen.«22
Man könnte diese neue Version der Tragödie Ödipus Schriftsteller oder besser noch, Ödipus Autogramm nennen, um eine andere Dimension in der ödipalen Transgression zu bezeichnen. Es handelt sich nicht nur um eine Beziehung zwischen dem Subjekt des Begehrens und dem Wissen als solchem – wie wir es seit Freud zu lesen gelernt haben –, auch nicht nur um das Subjekt der Wissenschaft und der Philosophie, sondern um das Subjekt der Literatur, insofern sich ihr Subjekt auf die Schrift an sich gründet, so wie sie selbst den Akt des Schreibens anstrebt. Die wesentliche Funktion des Schreibens von sich, das alles umfasst, besteht darin, der Wahrheit die Struktur einer Fiktion zu verleihen, um hinter der Verabsolutierung des Buches eine Vervielfältigung des Ich in der Geschichte zu inszenieren.
Gehen wir noch weiter. Salman Rushdie zeigt uns, dass das Subjekt der Literatur die Identifikation mit dem Vater nicht nur deshalb auf sich nehmen muss, weil die Wahrheit in der Struktur der Fiktion wiederkehrt. Während er auf vielen hundert Seiten die Erzählung über den Ursprung zerstückelt und keine Übertreibung auslässt, lässt er seine Hauptperson, Saladin Chamcha, ganz unvermittelt am Totenbett seines Vaters auftauchen. Auf den letzten zwanzig Seiten gleitet der Roman dann in die Enthüllung dessen, was er in der Tat Stück für Stück ist: eine Machenschaft im Umfeld der Frage nach dem Vater, seinem körperlichen Mythos, seinem mythischen Körpers, oder auch beim literarischen Wieder-Schreiben seiner Metapher. Zugleich fällt die hasserfüllte Grausamkeit in sich zusammen, die beim Schreiben des Romans so wichtig war – wenn man zugestehen will, dass es Hass ist, einem anderen oder seinen Worten ein Wissen über das Gute abzusprechen –, und verwandelt sich in die Liebe zum Vater und zu seinen Signifikanten. Er schreibt:
Sich nach langen, zornigen Dekaden in den Vater zu verlieben war ein heiteres und schönes Gefühl; etwas Erneuerndes, Lebensspendendes, wollte Saladin sagen, tat es aber nicht, da es vampirhaft klang; als schaffte er in Changez’ Körper [das ist der Vorname seines Vaters; F. B.] Platz für den Tod, indem er das neue Leben aus einem Vater saugte. Obwohl er es für sich behielt, fühlte Saladin sich stündlich vielen zurückgewiesenen alten Ichs näher, vielen alternativen Saladins – oder besser Salahuddin –, die sich von ihm abgespalten hatten, als er seine verschiedenen Lebenswahlen traf, die anscheinend aber dennoch weiterexistierten, vielleicht in den Paralleluniversa der Quantentheorie.23
Gleichzeitig wird es dem Subjekt möglich, es zu ertragen, dass sich in seinem Namen die Buchstaben wieder geltend machen: »Wenn er nur sein ganzes Leben lang so hätte sein können, wünschte sich Saladin (der den Klang seines vollen, unanglifizierten Namens zum ersten Mal seit zwanzig Jahren als angenehm empfand). Wie hart es war, seinen Vater wieder zu finden, wenn man nichts mehr tun konnte, außer ihm auf Wiedersehen zu sagen.«24
Die Rückkehr des Buchstabens führt das Subjekt in eine symbolische Verbindung zwischen dem individuellen toten Vater und dem Gründervater des Islam, dem Menschen Mohammed, dessen Lebensbericht er gerade auseinandergenommen hatte: »Jetzt kannst du endlich mit der Schauspielerei aufhören. Ja, es sah tatsächlich nach dem Beginn eines neuen Abschnitts aus, in dem die Welt fest und real sein würde und in dem nicht mehr die breite Gestalt eines Vaters zwischen ihm und der Unvermeidlichkeit des Grabes stünde. Ein Leben als Waise, wie das Muhammads, wie das aller. Ein Leben, erleuchtet von einem seltsam strahlenden Tod, der vor seinem geistigen Auge wie eine Art Wunderlampe weiterglomm.«25
Die Fiktionalisierung der religiösen Wahrheit führt nicht nur zu einer verrückten Profanisierung. Indem sie durch den Buchstaben und den toten Körper des Vaters geht (dieser letzte Gedanke erfolgt vor seinem Leichnam), öffnet sie auch das Bewusstsein des Subjekts für die Determinierung seiner Existenz durch den Namen des Vaters. Das Wort »Waise« ist einer der Hauptsignifikanten der islamischen Gründung, denn es bezeichnet die Prüfung des Menschen Mohammed, der, von allen verlassen, zuerst durch den Tod von Vater und Mutter, dann durch seine nachfolgenden Ersatzväter, nach einer Periode des Ausbleibens der göttlichen Inspiration glaubte, dass auch Gott ihn fallen gelassen hat. Diese Prüfung des Verwaisens, insofern er von seinen Vätern verlassen wurde, führt zum Auftauchen des Wortes »Islam«, das die Religion eines Gottes bezeichnet, der gerade in der Verlassenheit rettet oder der aus der Verlassenheit die Rettung des Seins macht. Und, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der Gott des Islam sich an den Propheten wendet, indem er ihn als »der Waise« [al-yatīm] anspricht, kann man sagen, dass es sich hier, folgt man Jacques Lacan, um einen der Namen-des-Vaters im Islam handelt.26
Ist es nicht seltsam, dass ein Roman, der als blasphemisch denunziert worden ist und der als schädlich für das Ansehen des Propheten betrachtet wurde, in eine derartige Identifikation mit dem Begründer der Religion und in die Überhöhung seines Namens mündet? Das unterstreicht zur Genüge, dass das, was man Literatur nennt, nur ein Umweg ist, um jenseits jeder religiösen Wahrheit ins Werk zu setzen, was die Existenz des Subjekts der Benennung schuldet, die es in der Sprache begründet hat. Es sei denn, die Literatur wäre selbst eine Art Religion, eine Verehrung der Heiligkeit des Buchstabens, insofern er die Wahrheit in einer Struktur der geteilten Fiktion zum Ausdruck bringt.
Jenseits der Gewalt und des weltweiten Lärms, den sie ausgelöst hat, deckt die Affäre Rushdie etwas von dem auf, was die Qual der Quelle ausmacht: die Erschütterung der Beziehungen zwischen Wahrheit, Sprache und Subjektivität im Islam. Wir befinden uns nicht nur in einer Epoche der größten Subversion der traditionellen Struktur, sondern wir erleben auch das Entdecken neuer Umwege in der Erarbeitung der zugrunde liegenden Metaphern.