Der Unsichtbare - Herbert George Wells - E-Book

Der Unsichtbare E-Book

Herbert George Wells

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt an einem kalten, regnerischen Wintertag. Ein seltsamer Mann kehrt in das Gasthaus »Zum Fuhrmann« ein. Er ist vollkommen vermummt, sein Gesicht bandagiert, die Augen hinter dunklen Gläsern versteckt. Das anfängliche Misstrauen der Dorfbewohner gegenüber dem Fremden, der offensichtlich länger verweilen will, wandelt sich in Furcht und Abscheu, als in der Umgebung seltsame Einbrüche zu vermelden sind, die sich niemand erklären kann. Mit seiner stimmungsvollen Schauergeschichte lädt uns Wells zum Fantasieren ein: Was würden wir machen, wenn wir unsichtbar sein könnten? Neben »Krieg der Welten« und »Die Zeitmaschine« gehört »Der Unsichtbare« sicherlich zu den bekanntesten Werken von H.G. Wells. Die Geschichte eines genialen aber psychisch labilen Wissenschaftlers, der einen Weg findet, sich unsichtbar zu machen, hat schon mehrmals den Weg auf die Leinwand gefunden. Die Figur eines unsichtbaren, den Blicken verborgenen Straftäters, ist schon längst in den Kanon der bekanntesten Horrorfiguren eingegangen. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 240

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H. G. Wells

Der Unsichtbare

Ein grotesker Roman

H. G. Wells

Der Unsichtbare

Ein grotesker Roman

(The Invisible Man)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Alfred Winternitz 3. Auflage, ISBN 978-3-954189-16-8

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Inhaltsverzeichnis

1. Ka­pi­tel – Die An­kunft des Frem­den

2. Ka­pi­tel – Mr. Ted­dy Hen­freys ers­te Ein­drücke

3. Ka­pi­tel – Tau­send­und­ei­ne Fla­sche

4. Ka­pi­tel – Mr. Cuss in­ter­viewt den Frem­den

5. Ka­pi­tel – Der Ein­bruch im Pfarr­haus

6. Ka­pi­tel – Das ver­hex­te Zim­mer

7. Ka­pi­tel – Die De­mas­kie­rung des Frem­den

8. Ka­pi­tel – Auf dem Wege

9. Ka­pi­tel – Mr. Tho­mas Mar­vel

10. Ka­pi­tel – Mr. Mar­vels Be­such in Iping

11. Ka­pi­tel – Im »Fuhr­mann«

12. Ka­pi­tel – Der Un­sicht­ba­re ver­liert die Ge­duld

13. Ka­pi­tel – Mr. Mar­vel will ab­dan­ken

14. Ka­pi­tel – In Port Sto­we

15. Ka­pi­tel – Der Flücht­ling

16. Ka­pi­tel – Im Wirts­haus »Zu den lus­ti­gen Cricke­tern«

17. Ka­pi­tel – Dr. Kemps Gast

18. Ka­pi­tel – Der Un­sicht­ba­re schläft

19. Ka­pi­tel – Op­ti­sche Grund­prin­zi­pi­en

20. Ka­pi­tel – Im Hau­se in Gre­at Port­land Street

21. Ka­pi­tel – In Ox­ford Street

22. Ka­pi­tel – Im Wa­ren­haus

23. Ka­pi­tel – In Dr­u­ry Lane

24. Ka­pi­tel – Der Plan miss­lingt

25. Ka­pi­tel – Die Ver­fol­gung des Un­sicht­ba­ren

26. Ka­pi­tel – Der Mord im Dickicht

27. Ka­pi­tel – Die Be­la­ge­rung von Kemps Haus

28. Ka­pi­tel – Der Jä­ger wird ge­jagt

Nach­schrift

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr Jür­gen Schul­ze

Science Fic­ti­on & Fan­ta­sy bei Null Pa­pier

Auf zwei Pla­ne­ten

Der Herr der Welt

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de

Die Macht der Drei

Be­fehl aus dem Dun­kel

Die Spur des Dschin­gis-Khan

Der ge­stoh­le­ne Ba­zil­lus

Der Krieg der Wel­ten

Der Un­sicht­ba­re

Die ers­ten Men­schen auf dem Mond

und wei­te­re …

1. Kapitel – Die Ankunft des Fremden

An ei­nem win­ter­lich kal­ten Fe­bruar­ta­ge, bei schnei­den­dem Wind und Schnee­ge­stö­ber – dem letz­ten Schnee des Jah­res – kam der Frem­de von der Bahn­sta­ti­on Bramb­le­hurst zu Fuß über die Düne, einen klei­nen, schwar­zen Man­tel­sack in der warm ver­wahr­ten Hand. Er war von Kopf bis zu Fuß ein­gehüllt, und der Rand des wei­chen Filz­hu­tes ver­barg sein Ge­sicht bis auf die glän­zen­de Na­sen­spit­ze voll­kom­men. Der Schnee hat­te sich auf sei­nen Schul­tern und sei­ner Brust fest­ge­setzt und den Sack, den er trug, mit ei­ner wei­ßen Krus­te be­deckt. Mehr tot als le­ben­dig wank­te er in den Gast­hof »Zum Fuhr­mann« und warf sein Ge­päck auf den Bo­den. »Ein Feu­er!«, rief er. »Um der Barm­her­zig­keit wil­len! Ein Zim­mer und ein Feu­er!« In der Schank­stu­be schüt­tel­te er den Schnee von sei­nen Klei­dern und folg­te Mrs. Hall in das Gast­zim­mer, um we­gen sei­ner Un­ter­kunft zu ver­han­deln. Ohne dort noch ein wei­te­res Wort zu ver­lie­ren, warf er nach­läs­sig zwei Gold­stücke auf den Tisch und schlug in die­ser form­lo­sen Wei­se sein Quar­tier in dem Gast­ho­fe auf.

Mrs. Hall mach­te Feu­er im Ka­min und ließ ihn dann al­lein, um ihm in der Kü­che ei­gen­hän­dig eine Mahl­zeit zu be­rei­ten. In Iping zur Win­ters­zeit einen Rei­sen­den zu be­her­ber­gen, der über­dies nicht knau­se­rig zu sein schi­en, war ein un­er­hör­ter Glücks­fall, und die Wir­tin war ent­schlos­sen, sich ih­res gu­ten Sterns wür­dig zu er­wei­sen.

So­bald der Speck am Feu­er, und Mil­lie, das Haus­mäd­chen, von ihr durch ei­ni­ge wohl­ge­ziel­te Schelt­wor­te auf­ge­mun­tert wor­den war, trug sie Tisch­tuch, Tel­ler und Glä­ser ins Gast­zim­mer und be­gann mit der größ­ten Auf­merk­sam­keit den Tisch zu de­cken. Sie war er­staunt, zu se­hen, dass der Gast ihr den Rücken wen­de­te, trotz des lus­tig fla­ckern­den Feu­ers Hut und Über­rock an­be­hal­ten hat­te und auf das Schnee­trei­ben im Hof hin­aus­sah.

Er hat­te die be­hand­schuh­ten Hän­de auf dem Rücken ge­fal­tet und war an­schei­nend in Ge­dan­ken ver­sun­ken. Sie be­merk­te, dass der Schnee auf sei­nen Klei­dern zu Was­ser wur­de und auf ih­ren Tep­pich her­ab­tropf­te.

»Kann ich Ih­nen Hut und Rock ab­neh­men, mein Herr, und sie in der Kü­che trock­nen?«, frag­te sie.

»Nein«, ant­wor­te­te er, ohne sich um­zu­wen­den.

Sie war nicht si­cher, ob er sie ver­stan­den hät­te, und woll­te schon ihre Fra­ge wie­der­ho­len.

Da wand­te er den Kopf und sah sie über die Schul­ter hin­weg an. »Ich zie­he es vor, sie an­zu­be­hal­ten«, er­klär­te er mit Nach­druck, und sie konn­te be­mer­ken, dass er eine große, blaue Bril­le trug und ein bu­schi­ger Ba­cken­bart sei­ne Wan­gen voll­kom­men be­deck­te.

»Gut, mein Herr«, sag­te sie, »wie’s ge­fäl­lig ist. Das Zim­mer wird gleich warm wer­den.«

Er hat­te sich wie­der ab­ge­wandt und ant­wor­te­te nicht. Da Mrs. Hall fühl­te, dass die Zeit zur An­knüp­fung ei­nes Ge­sprä­ches nicht gut ge­wählt sei, vollen­de­te sie rasch und ge­räusch­los das De­cken des Ti­sches und husch­te hin­aus. Als sie zu­rück­kehr­te, stand er noch an der­sel­ben Stel­le, wie aus Stein ge­hau­en, mit ge­krümm­tem Rücken, auf­ge­schla­ge­nem Rock­kra­gen und trie­fen­der, ab­wärts ge­bo­ge­ner Hut­krem­pe, die Ge­sicht und Ohren voll­stän­dig ver­barg. Wür­de­voll setz­te sie die Schüs­sel mit Ei­ern und Speck nie­der und rief ihm zu:

»Ihr Früh­stück ist fer­tig, mein Herr.«

»Dan­ke«, er­wi­der­te er dar­auf, ohne sich zu rüh­ren, be­vor sie die Tür hin­ter sich ge­schlos­sen hat­te. Dann aber dreh­te er sich schnell um und wand­te sich mit Heiß­hun­ger dem Tisch zu.

Als Mrs. Hall in die Kü­che hin­ter der Schank­stu­be ging, hör­te sie einen Ton, der sich in re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men wie­der­hol­te. Klick, klick, klick ging es, der Klang ei­nes Löf­fels, der in ei­nem Ge­fäß klap­pert. »Die­ses Mäd­chen!«, rief sie. »Ich hat­te es ganz ver­ges­sen. Das kommt von ih­rer Lang­sam­keit.« Und wäh­rend sie das Mi­schen des Senfs selbst be­sorg­te, be­kam Mil­lie ei­ni­ge saf­ti­ge Be­mer­kun­gen über ihre Lang­sam­keit zu hö­ren. Sie (Mrs. Hall) hat­te Schin­ken und Eier ge­kocht, den Tisch ge­deckt, kurz al­les ge­tan, wäh­rend Mil­lie – wahr­lich eine schö­ne Hil­fe – nicht ein­mal mit dem Sen­früh­ren zu­stan­de kam. Und ein neu­er Gast im Hau­se, der hof­fent­lich lan­ge blei­ben wür­de! Dann füll­te sie das Senf­glas, setz­te es voll Selbst­be­wusst­sein auf ein schwarz-gol­de­nes Ser­vier­brett und trug es ins Frem­den­zim­mer.

Sie klopf­te an die Türe und trat so­fort ein. Als der Gast sie ge­wahr­te, mach­te er eine ra­sche Be­we­gung, und einen flüch­ti­gen Au­gen­blick sah sie et­was Wei­ßes hin­ter dem Tisch ver­schwin­den, als ob der Frem­de et­was vom Bo­den auf­he­ben wol­le. Mrs. Hall setz­te das Senf­glas auf den Tisch; da­bei be­merk­te sie, dass der Über­rock ab­ge­nom­men und über einen Stuhl am Feu­er aus­ge­brei­tet war, und ein Paar nas­se Stie­fel ihr Ka­min­git­ter mit Rost be­droh­ten. Sie ging ent­schlos­sen dar­auf zu: »Jetzt kann ich sie doch wohl zum Trock­nen neh­men?«, sag­te sie in ei­nem Ton, der kei­nen Wi­der­spruch dul­de­te.

»Las­sen Sie den Hut da«, sag­te der Frem­de mit dump­fer Stim­me, und als sie sich um­wand­te, be­merk­te sie, dass er den Kopf er­ho­ben hat­te und sie an­blick­te.

Ei­nen Au­gen­blick lang starr­te sie ihn an, zu über­rascht, um spre­chen zu kön­nen.

Er hielt ein wei­ßes Tuch – eine Ser­vi­et­te, die er mit­ge­bracht hat­te – vor den un­te­ren Teil sei­nes Ge­sichts, so­dass es Mund und Kinn­ba­cken ganz be­deck­te und die Stim­me nur halb er­stickt dar­aus her­vor­drang. Aber nicht das er­schreck­te Mrs. Hall, son­dern der Um­stand, dass ein wei­ßer Ver­band sei­ne gan­ze Stirn über den blau­en Glä­sern ver­hüll­te, wäh­rend ein zwei­ter die Ohren ver­barg und von sei­nem gan­zen Ge­sicht nichts als die spit­ze, rote Nase frei ließ. Die­se war leuch­tend rot und glänz­te wie bei sei­ner An­kunft. Er trug eine dun­kel­brau­ne Samt­ja­cke mit ei­nem ho­hen, schwar­zen, lei­nen­ge­füt­ter­ten Kra­gen, der in die Höhe ge­schla­gen war. Das dich­te schwar­ze Haar, das hie und da zwi­schen dem Kreuz­ver­band vor­lug­te, bil­de­te selt­sam ge­form­te Schwän­ze und Hör­ner und ver­lieh ihm das denk­bar merk­wür­digs­te Aus­se­hen … Die­ser ver­hüll­te und ver­bun­de­ne Kopf war dem, was sie er­war­tet hat­te, so un­ähn­lich, dass sie einen Au­gen­blick lang wie er­starrt da­stand. Er leg­te die Ser­vi­et­te nicht weg, son­dern hielt sie in der mit ei­nem brau­nen Hand­schuh be­klei­de­ten Hand fest, wo­bei er sei­ne Wir­tin durch die un­er­gründ­li­chen Au­genglä­ser hin­durch un­ver­wandt an­blick­te. »Las­sen Sie den Hut da«, wie­der­hol­te er un­deut­lich durch das wei­ße Tuch hin­durch.

Ihre Ner­ven be­gan­nen sich von dem Schre­cken zu er­ho­len. Sie leg­te den Hut auf den Stuhl ne­ben dem Feu­er zu­rück. »Ich wuss­te nicht, mein Herr«, be­gann sie, »dass –« und sie schwieg ver­wirrt still.

»Dan­ke«, sag­te er kurz, von ihr zur Tür und dann wie­der auf sie bli­ckend.

»Ich will sie gleich schön trock­nen, mein Herr«, sag­te sie und trug sei­ne Klei­der aus dem Zim­mer. Wäh­rend sie zur Tür schritt, warf sie noch einen Blick nach dem weiß­ver­hüll­ten Kopf und den un­durch­sich­ti­gen Au­genglä­sern, aber er hielt sein Tuch noch im­mer vor das Ge­sicht. Es durch­schau­er­te sie ein we­nig, als sie die Tür hin­ter sich schloss, und in ih­rem Ge­sicht spie­gel­ten sich Über­ra­schung und Be­stür­zung wie­der. »Du mei­ne Güte«, flüs­ter­te sie. »So et­was!« Ganz sach­te ging sie in die Kü­che und war zu sehr mit ih­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt, um Mil­lie zu fra­gen, was sie jetzt wie­der in Un­ord­nung brin­ge.

Der Gast saß ganz still und lausch­te auf die ver­hal­len­den Fuß­trit­te. Er warf einen for­schen­den Blick nach dem Fens­ter, ehe er die Ser­vi­et­te ent­fern­te und wie­der zu es­sen an­fing. Er nahm einen Bis­sen, blick­te miss­trau­isch nach dem Fens­ter – aß einen zwei­ten Bis­sen. Dann er­hob er sich, ging mit der Ser­vi­et­te in der Hand quer durchs Zim­mer und ver­hüll­te den obe­ren Teil der Fens­ter bis da­hin, wo wei­ße Vor­hän­ge über das Glas ge­spannt wa­ren, wor­auf das Zim­mer in Däm­mer­licht ge­taucht schi­en, und er mit er­leich­ter­ter Mie­ne zum Tisch und sei­nem Mahl zu­rück­kehr­te.

»Der arme Mensch hat einen Un­fall er­lit­ten oder eine Ope­ra­ti­on oder so et­was durch­ge­macht«, dach­te Mrs. Hall. »Nein, wie mich die­ser Ver­band er­schreckt hat.«

Sie leg­te fri­sche Koh­len auf, mach­te den Klei­der­stock frei und brei­te­te den Rock des Rei­sen­den dar­über. »Und die­se Bril­le! Er sieht gar nicht wie ein leib­haf­ti­ger Mensch aus.« Sie häng­te sein Hals­tuch auf den Klei­der­stän­der. »Und die gan­ze Zeit hat­te er das Tuch vor dem Mun­de und sprach durch das Tuch durch! – – Vi­el­leicht hat er auch am Mun­de Ver­let­zun­gen. Wahr­schein­lich so­gar!«

Sie wand­te sich um, wie je­mand, der sich plötz­lich an et­was er­in­nert. »Gott sei mei­ner See­le gnä­dig!«, rief sie. »Bist du mit den Kar­tof­feln noch nicht fer­tig, Mil­lie?«

Als Mrs. Hall das Früh­stück des Frem­den weg­räum­te, wur­de sie in ih­rer Ver­mu­tung, dass auch sein Mund durch einen Un­fall ver­letzt oder ent­stellt wor­den war, be­stärkt. Denn, ob­wohl er sei­ne Pfei­fe rauch­te, ent­fern­te er doch wäh­rend der gan­zen Zeit, die sie im Zim­mer zu­brach­te, auch nicht ein ein­zi­ges Mal das sei­de­ne Hals­tuch, wel­ches er um den un­te­ren Teil des Ge­sich­tes ge­schlun­gen hat­te, um das Mund­stück der Pfei­fe an die Lip­pen zu füh­ren. Doch ge­sch­ah dies nicht aus Ver­ge­ss­lich­keit, denn sie sah ihn nach der Pfei­fe schie­len, aus der der Rauch im­mer schwä­cher em­por­stieg. Er saß in der Ecke, mit dem Rücken ge­gen das ver­dun­kel­te Fens­ter, und sprach nun, nach­dem er ge­ges­sen und ge­trun­ken hat­te und be­hag­lich durch­wärmt war, in we­ni­ger ver­let­zen­der Kür­ze als zu­vor. Der Wi­der­schein des Feu­ers ver­lieh sei­ner un­ge­heu­ren Bril­le ein ge­wis­ses Le­ben, das ihr bis­her ge­fehlt hat­te.

»Ich habe et­was Ge­päck auf der Sta­ti­on in Bramb­le­hurst«, sag­te er und frag­te sie, wie er es ho­len las­sen kön­ne. Ganz höf­lich neig­te er das ver­bun­de­ne Haupt zum Dan­ke für ihre Er­klä­rung. »Mor­gen!«, sag­te er. »Kann es nicht frü­her sein?«, und schi­en ent­täuscht, als sie ver­nein­te. »Ob sie des­sen ganz si­cher sei? Könn­te es nicht je­mand mit ei­nem Hand­wa­gen ab­ho­len?«

Be­reit­wil­lig be­ant­wor­te­te Mrs. Hall sei­ne Fra­gen und such­te hier­auf ein Ge­spräch in Gang zu brin­gen. »An der Düne läuft die Stra­ße steil hin­ab, mein Herr«, er­klär­te sie in Beant­wor­tung sei­ner Fra­ge be­züg­lich des Hand­wa­gens. Dann füg­te sie, froh einen An­knüp­fungs­punkt ge­fun­den zu ha­ben, hin­zu: »Vor ei­nem Jahr oder noch län­ger warf dort ein Wa­gen um, ein Rei­sen­der und der Kut­scher blie­ben tot. Ein Un­glück ge­schieht oft im Handum­dre­hen, nicht wahr?«

Aus dem Frem­den war je­doch nicht so leicht et­was her­aus­zu­brin­gen. »Das stimmt«, sag­te er hin­ter dem Tuch her­vor, Mrs. Hall durch die un­durch­dring­li­chen Au­genglä­ser un­ver­wandt be­trach­tend.

»Aber die Hei­lung dau­ert zu­wei­len gar lang, nicht wahr? Mein Schwes­ter­sohn schnitt sich mit der Sen­se in den Arm – er stol­per­te näm­lich im Heu über sie – und muss­te wahr­haf­tig vol­le drei Mo­na­te in ei­nem Gips­ver­band lie­gen. Sie wer­den es kaum glau­ben. Seit­her habe ich einen hei­li­gen Schreck, wenn ich eine Sen­se zu Ge­sicht be­kom­me.«

»Das kann ich ganz gut ver­ste­hen«, sag­te der Frem­de.

»Wir fürch­te­ten eine Zeit lang, dass er ope­riert wer­den müs­se, so schlimm stand es mit ihm.«

Der Gast lach­te kurz auf – ein bel­len­des La­chen, das er im Mun­de zu kau­en schi­en. »Wirk­lich?«, frag­te er.

»Ganz ge­wiss, mein Herr. Und für die­je­ni­gen, die ihn pfle­gen muss­ten, wie ich – mei­ne Schwes­ter hat­te mit ih­ren Klei­nen so viel zu tun – war nichts zu la­chen da­bei. Ver­bän­de an­le­gen und Ver­bän­de ab­neh­men – so, wenn ich mir die Frei­heit neh­men darf, es zu sa­gen, mein Herr –.«

»Wol­len Sie mir Zünd­hölz­chen brin­gen«, un­ter­brach sie der Frem­de un­ver­mit­telt. »Mei­ne Pfei­fe ist aus­ge­gan­gen.«

Mrs. Hall ver­stumm­te. Eine sol­che Takt­lo­sig­keit, wäh­rend sie ihm so­eben er­zähl­te, was sie al­les ge­tan hat­te. Sie hat­te schon den Mund zu ei­ner schar­fen Ent­geg­nung ge­öff­net, als sie sich noch recht­zei­tig der bei­den Gold­stücke er­in­ner­te und nach den Zünd­höl­zern ging.

»Dan­ke«, sag­te er mit un­höf­li­cher Kür­ze, als sie die Schach­tel nie­der­stell­te, dreh­te ihr den Rücken und starr­te wie­der zum Fens­ter hin­aus. Das Ge­spräch über Ope­ra­tio­nen und Ver­bän­de war ihm sicht­lich un­an­ge­nehm. So kam sie schließ­lich da­von ab, sich »die Frei­heit zu neh­men, zu sa­gen –« Aber sein ab­wei­sen­des Be­neh­men hat­te sie in eine ge­reiz­te Stim­mung ver­setzt und Mil­lie muss­te das an je­nem Nach­mit­tag bü­ßen.

Bis 4 Uhr blieb der Frem­de im Gast­zim­mer, ohne Mrs. Hall auch nur den Schat­ten ei­nes Vor­wan­des zum Hin­ein­ge­hen an die Hand zu ge­ben. Wäh­rend die­ser Zeit ver­hielt er sich meist ganz still: er schi­en in der zu­neh­men­den Dun­kel­heit rau­chend, viel­leicht schlum­mernd, beim Feu­er zu sit­zen. Ein- oder zwei­mal hät­te ihn ein neu­gie­ri­ger Hor­cher beim Koh­len­kes­sel hö­ren kön­nen, und fünf Mi­nu­ten lang ging er im Zim­mer auf und ab. Er schi­en mit sich selbst zu spre­chen. Dann hör­te man den Lehn­stuhl kra­chen, als er sich wie­der nie­der­ließ.

2. Kapitel – Mr. Teddy Henfreys erste Eindrücke

Um 4 Uhr – es war schon ziem­lich dun­kel, und Mrs. Hall nahm eben ih­ren Mut zu­sam­men, um ins Gast­zim­mer zu ge­hen und den Frem­den zu fra­gen, ob er Tee wün­sche – kam Ted­dy Hen­frey, der Uhr­ma­cher, ins Wirts­haus.

»Bei Gott, Mrs. Hall«, sag­te er, »ein bö­ses Wet­ter für dün­ne Stie­felsoh­len!«

Der Schnee fiel drau­ßen im­mer dich­ter.

Mrs. Hall war der­sel­ben An­sicht und be­merk­te dann, dass er sei­nen Werk­zeug­kas­ten bei sich hat­te. »Da Sie ein­mal da sind, Mr. Hen­frey«, mein­te sie, »wäre es mir lieb, wenn Sie sich die alte Uhr im Gast­zim­mer ein we­nig an­se­hen woll­ten. Sie geht zwar gut und schlägt auch laut und rich­tig, aber der Stun­den­zei­ger zeigt im­mer auf sechs.«

Und sie ging vor­an zur Gast­zim­mer­tür, poch­te und trat ein.

Als sie die Tür öff­ne­te, sah sie ih­ren Gast im Lehn­stuhl vor dem Feu­er sit­zen; den ver­bun­de­nen Kopf zur Sei­te ge­neigt, schi­en er zu schlum­mern. Das Licht im Zim­mer ging von der ro­ten Glut des Feu­ers aus. Al­les er­schi­en ihr röt­lich, schat­ten­haft und un­deut­lich, be­son­ders da sie kurz vor­her die Lam­pe in der Schank­stu­be an­ge­zün­det hat­te und ihre Au­gen noch ge­blen­det wa­ren. Aber eine Se­kun­de lang schi­en es ihr, als ob der Mann, den sie vor sich sah, einen un­ge­heu­ren, weit ge­öff­ne­ten Mund habe, einen un­glaub­lich großen Mund, der den gan­zen un­te­ren Teil sei­nes Ge­sichts weg­nahm. Es war der Ein­druck ei­nes Au­gen­blicks: der weiß­ver­bun­de­ne Kopf, die rie­si­ge Schutz­bril­le und die­se un­ge­heu­re, gäh­nen­de Lee­re dar­un­ter. Dann mach­te er eine Be­we­gung, fuhr von sei­nem Stuhl auf und hob die Hand em­por. Sie riss die Tür weit auf, so­dass das Licht von au­ßen ins Zim­mer drang und dann sah sie ihn deut­lich, mit dem Hals­tuch vor dem Ge­sicht, ge­ra­de wie er vor­her die Ser­vi­et­te ge­hal­ten hat­te. Sie dach­te, die Schat­ten müss­ten ihr Spiel mit ihr ge­trie­ben ha­ben.

»Wäre es Ih­nen un­an­ge­nehm, mein Herr, wenn der Mann hier die Uhr an­se­hen wür­de?«, frag­te sie, sich von ih­rer au­gen­blick­li­chen Ver­wir­rung er­ho­lend.

»Die Uhr an­se­hen?«, wie­der­hol­te er, ver­schla­fen um sich bli­ckend, hin­ter der Hand her­vor. Dann wur­de er vollends wach und sag­te: »Mei­net­hal­ben!«

Mrs. Hall hol­te die Lam­pe und er stand auf und reck­te sich. Dann kam das Licht, Mr. Ted­dy Hen­frey trat ein und stand der ver­mumm­ten Ge­stalt ge­gen­über. Er war, wie er spä­ter sag­te, ganz be­trof­fen.

»Gu­ten Abend!«, sag­te der Frem­de, in­dem er Mr. Hen­frey, wie die­ser in An­spie­lung auf die un­ge­heu­ren Bril­lenglä­ser an­gibt, »wie ein Hum­mer« anglotz­te.

»Ich hof­fe, ich stö­re nicht«, sag­te Mr. Hen­frey.

»Durchaus nicht«, ver­setz­te der Frem­de. »Ob­gleich ich an­neh­me«, fuhr er zu Mrs. Hall ge­wen­det fort, »dass die­ses Zim­mer aus­schließ­lich für mei­nen Pri­vat­ge­brauch be­stimmt ist.«

»Ich dach­te, mein Herr«, ent­geg­ne­te Mrs. Hall, »es wür­de Ih­nen lie­ber sein, wenn die Uhr –«

»Ge­wiss«, sag­te der Frem­de, »ganz ge­wiss. In der Re­gel zie­he ich es aber vor, al­lein und un­ge­stört zu sein.«

Er lehn­te sich an den Ka­min und leg­te die Hän­de auf den Rücken. »Und dann, wenn die Uhr in Ord­nung ist, hät­te ich gern eine Tas­se Tee. Aber nicht frü­her.«

Mrs. Hall woll­te hier­auf das Zim­mer ver­las­sen – dies­mal mach­te sie kei­nen Ver­such, ein Ge­spräch an­zu­knüp­fen, weil sie sich in Mr. Hen­freys Ge­gen­wart nicht ei­ner Ab­wei­sung aus­set­zen woll­te – als ihr Gast sie frag­te, ob sie we­gen sei­nes Ge­päcks in Bramb­le­hurst et­was ver­an­lasst hät­te. Sie er­wi­der­te, sie hät­te mit dem Post­meis­ter dar­über ge­spro­chen und der Fuhr­mann wür­de es am nächs­ten Mor­gen brin­gen.

»Ist es be­stimmt frü­her nicht mög­lich?«, sag­te er.

Es sei un­mög­lich, lau­te­te die küh­le Ant­wort.

»Ich muss Ih­nen noch et­was mit­tei­len«, füg­te er hin­zu, »frü­her war ich zu durch­käl­tet und zu müde dazu: ich be­schäf­ti­ge mich mit wis­sen­schaft­li­chen Ex­pe­ri­men­ten.«

»Wirk­lich, mein Herr!«, sag­te Mrs. Hall sehr ge­spannt.

»Und mein Ge­päck ent­hält die er­for­der­li­chen Ap­pa­ra­te und Hilfs­mit­tel.«

»Ge­wiss sehr nütz­li­che Din­ge«, mein­te Mrs. Hall.

»Es liegt mir na­tür­lich dar­an, in mei­nen For­schun­gen fort­zu­fah­ren.«

»Na­tür­lich, mein Herr.«

»Der Grund mei­ner Rei­se nach Iping«, fuhr er mit ei­ner ge­wis­sen Über­le­gung fort, »war – der Wunsch nach Ein­sam­keit. Ich wün­sche nicht in mei­ner Ar­beit ge­stört zu wer­den. Au­ßer die­sen Ar­bei­ten zwingt mich ein Un­fall –«

»Ich dach­te es mir gleich«, sprach Mrs. Hall zu sich selbst.

»Zu­rück­ge­zo­gen zu le­ben. Ich habe ziem­lich schwa­che Au­gen, die mir oft so star­ke Schmer­zen ver­ur­sa­chen, dass ich mich für Stun­den bei ge­schlos­se­nen Tü­ren im Dun­keln ein­schlie­ßen muss. Hie und da, nicht jetzt ge­ra­de. Zu sol­chen Zei­ten ist mir die lei­ses­te Stö­rung, der Ein­tritt ei­nes Frem­den, eine au­ßer­or­dent­li­che Qual. Ich möch­te, dass wir uns ein für al­le­mal ver­ste­hen.«

»Ge­wiss, mein Herr«, er­wi­der­te Mrs. Hall. »Nur wenn ich mir die Frei­heit neh­men dürf­te, zu fra­gen –«

»Das ist al­les, glau­be ich«, sag­te der Frem­de in je­ner ru­hig ab­wei­sen­den Art, der man nichts ent­ge­gen­set­zen, und die er nach Be­lie­ben an­neh­men konn­te. Mrs. Hall spar­te also ihre teil­neh­men­den Fra­gen für eine bes­se­re Ge­le­gen­heit auf.

Nach­dem sie das Zim­mer ver­las­sen hat­te, blieb der Frem­de vor dem Feu­er ste­hen, um, wie Mr. Hen­frey be­haup­tet, ihn bei sei­ner Ar­beit an­zu­star­ren. Mr. Hen­frey hat­te die Lam­pe dicht ne­ben sich ste­hen und der grü­ne Schirm warf, wäh­rend er ar­bei­te­te, ein blen­den­des Licht auf das Ge­häu­se und die Rä­der der Uhr. Sonst blieb das Zim­mer im Schat­ten. Wenn er auf­blick­te, flim­mer­te es ihm vor den Au­gen. Er war von Na­tur aus neu­gie­rig, und so hat­te er ganz un­nö­ti­ger­wei­se das Werk aus­ein­an­der ge­nom­men, in der Ab­sicht, sein Fort­ge­hen da­durch hin­aus­zu­schie­ben und viel­leicht mit dem Frem­den ein Ge­spräch an­zu­knüp­fen. Aber die­ser stand un­be­weg­lich und still auf sei­nem Platz, so still, dass es Hen­frey ner­vös mach­te. Er hat­te das Ge­fühl, al­lein im Zim­mer zu sein, und blick­te auf. In schat­ten­haf­ten Um­ris­sen, wie durch einen grü­nen Ne­bel­schlei­er, sah er den weiß­ver­bun­de­nen Kopf und die rie­si­gen, dun­keln, starr auf sich ge­hef­te­ten Glä­ser. Es war Hen­frey so un­heim­lich, dass er den an­de­ren eine Mi­nu­te lang wort­los an­blick­te. Dann sah er wie­der auf sei­ne Ar­beit. Eine un­ge­müt­li­che Lage! Wenn er we­nigs­tens ein paar Wor­te hät­te spre­chen kön­nen! Vi­el­leicht, dass das Wet­ter für die­se Jah­res­zeit sehr kalt sei?

Er blick­te auf, be­vor er die ein­lei­ten­den Wor­te her­aus­brach­te. »Das Wet­ter –« be­gann er.

»Wa­rum be­ei­len Sie sich nicht, fort­zu­kom­men?«, frag­te die un­be­weg­li­che Ge­stalt des Frem­den, au­gen­schein­lich in ei­nem Zu­stand müh­sam un­ter­drück­ter Wut. »Sie ha­ben hier nichts Wei­te­res zu tun als den Stun­den­zei­ger zu be­fes­ti­gen. Was Sie da mit der Uhr ma­chen, ist der rei­ne Schwin­del!«

»So­fort, mein Herr – nur eine Mi­nu­te. Ich über­sah –« Und Mr. Hen­frey mach­te, dass er fort­kam.

Aber er ging mit dem Ge­füh­le au­ßer­or­dent­li­cher Ver­drieß­lich­keit fort. »Hol’s der Teu­fel!«, brumm­te er vor sich hin, als er im Schnee durch das Dorf stampf­te, »man muss doch eine Uhr zu­wei­len re­pa­rie­ren, nicht?«

Und dann: »Darf man dich nicht ein­mal an­schau­en, du häss­li­cher Kerl?«

Und wie­der nach ei­ner Wei­le: »Es scheint dir nicht an­ge­nehm zu sein. Wenn die Po­li­zei dich such­te, könn­test du nicht mehr ver­mummt und ver­bun­den sein!«

An ei­ner Ecke kam ihm Hall ent­ge­gen, der vor kur­z­em die Wir­tin des Frem­den im Gast­hof »Zum Fuhr­mann« ge­hei­ra­tet hat­te, und der eben von Si­der­bridge kam, wo­hin er zu­wei­len, wenn Rei­sen­de an­lang­ten, den Ipin­ger Post­wa­gen kut­schier­te. Nach sei­nem Fah­ren zu schlie­ßen, moch­te er in Si­der­bridge et­was über den Durst ge­trun­ken ha­ben. »Wie geht’s, Ted­dy?«, frag­te er im Vor­bei­fah­ren.

»Ei­nen wun­der­li­chen Kauz habt ihr da­heim bei euch!«, sag­te Ted­dy.

Hall war gleich be­reit an­zu­hal­ten. »Was heißt das?«, frag­te er.

»Merk­wür­di­ger Kun­de da im ›Fuhr­mann‹«, er­klär­te Ted­dy. »Mei­ner Treu!«

Und er be­gann eine le­ben­di­ge Schil­de­rung des son­der­li­chen Gas­tes zu ge­ben. »Sieht fast nach ei­ner Ver­klei­dung aus, glaubst du nicht auch? Ich möch­te doch das Ge­sicht ei­nes Men­schen se­hen, wenn ich ihn in mei­nem Hau­se hät­te«, er­klär­te Ted­dy Hen­frey. »Aber die Wei­ber sind so ver­trau­ens­se­lig, wenn es sich um Frem­de han­delt. Er hat dei­ne Zim­mer ge­mie­tet und nicht ein­mal sei­nen Na­men ge­nannt, Hall.«

»Nicht mög­lich«, sag­te Hall, ein Mensch, der nur sehr lang­sam be­griff.

»Doch«, ent­geg­ne­te Ted­dy, »mit wö­chent­li­cher Kün­di­gung. Wer er auch sein mag, vor ei­ner Wo­che könnt ihr ihn nicht los wer­den. Und mor­gen kommt ein Hau­fen Ge­päck für ihn, sagt er. Wir wol­len hof­fen, dass sei­ne Kof­fer nicht mit Stei­nen an­ge­füllt sind, Hall.«

Und er er­zähl­te, wie sei­ne Tan­te in Has­tings von ei­nem Man­ne mit lee­ren Rei­se­ta­schen be­tro­gen wor­den war. Im großen und gan­zen er­weck­te er in dem Freun­de einen lei­sen Ver­dacht. »Los, Schim­mel«, sag­te Hall, »ich muss mir die Ge­schich­te doch mal an­se­hen.«

Mit be­deu­tend er­leich­ter­tem Ge­müt stampf­te Ted­dy wei­ter.

An­statt sich die Ge­schich­te »mal an­zu­se­hen«, wur­de aber Hall bei sei­ner Rück­kehr von sei­ner Frau we­gen sei­nes lan­gen Auf­ent­hal­tes in Si­der­bridge tüch­tig ge­schol­ten und sei­ne ziem­lich schüch­ter­nen und zag­haf­ten Fra­gen schnip­pisch und aus­wei­chend be­ant­wor­tet. Doch der Sa­men des Ver­dachts, wel­chen Ted­dy ge­sät hat­te, schlug trotz die­ser Ent­mu­ti­gung in Mr. Halls See­le Wur­zel. »Ihr Wei­ber wisst auch nicht al­les«, sag­te er, ent­schlos­sen, bei der ers­ten pas­sen­den Ge­le­gen­heit Nä­he­res über sei­nen Gast in Er­fah­rung zu brin­gen. Und nach­dem der Frem­de zu Bett ge­gan­gen war, was ge­gen neun­ein­halb Uhr ge­sch­ah, ging Mr. Hall sehr un­ter­neh­mend ins Gast­zim­mer, sah sich die Mö­bel sei­ner Frau sehr ge­nau an, um zu zei­gen, dass nicht der Frem­de dort Herr sei, und maß ein Blatt Pa­pier voll ma­the­ma­ti­scher Be­rech­nun­gen, das der Frem­de lie­gen ge­las­sen hat­te, mit ver­ächt­li­chen Bli­cken. Als er zur Ruhe ging, er­mahn­te er Mrs. Hall, sich das Ge­päck des Frem­den, wenn es am Mor­gen käme, sehr ge­nau an­zu­se­hen.

»Kümm­re dich um dei­ne Sa­chen, Mann«, er­wi­der­te die­se, »und mi­sche dich nicht in mei­ne An­ge­le­gen­hei­ten.«

Sie war umso eher ge­neigt, Hall kurz ab­zu­fer­ti­gen, als der Frem­de ohne Zwei­fel et­was Un­ge­wöhn­li­ches an sich hat­te und sie selbst über ihn durch­aus nicht be­ru­higt war. Mit­ten in der Nacht schreck­te sie ein Traum von un­ge­heu­ren, wei­ßen Köp­fen, die wie Rü­ben aus­sa­hen, auf un­end­lich lan­gen Häl­sen sa­ßen und sie mit rie­si­gen schwar­zen Au­gen ver­folg­ten, aus dem Schla­fe. Aber als ver­nünf­ti­ge Frau über­wand sie ih­ren Schre­cken, dreh­te sich auf die an­de­re Sei­te und schlief gleich wie­der ein.

3. Kapitel – Tausendundeine Flasche

So ge­sch­ah es, dass am 29. Fe­bru­ar, bei be­gin­nen­dem Tau­wet­ter, die­ser merk­wür­di­ge Mensch wie aus den Wol­ken nach Iping her­ab­fiel. Am nächs­ten Tage traf sein Ge­päck ein – und auch die­ses war ei­gen­tüm­lich ge­nug. Es wa­ren al­ler­dings zwei Kof­fer da, wie je­der ver­nünf­ti­ge Mensch sie ha­ben konn­te, aber au­ßer­dem noch eine Bü­cher­kis­te – große, di­cke Bü­cher, man­che in un­ver­ständ­li­cher Schrift – und über ein Dut­zend Kör­be, Kis­ten und Kas­ten, wel­che in Stroh ver­pack­te Ge­gen­stän­de ent­hiel­ten, welch letz­te­re Hall, der in ge­recht­fer­tig­ter Neu­gier­de das Stroh un­ter­such­te, für Glas­fla­schen hielt. Der Frem­de, mit Hut, Stock, Hand­schu­hen und Hals­tuch ver­se­hen, er­schi­en vol­ler Un­ge­duld, als Fea­ren­si­des, des Fuhr­manns, Kar­ren vor dem Hau­se hielt, wäh­rend Hall mit Fea­ren­si­de ein kur­z­es Ge­spräch an­knüpf­te, be­vor er beim Ab­la­den der Kis­ten be­hilf­lich war. Ohne des Fuhr­manns Hund, der freund­lich Halls Bei­ne be­schnüf­fel­te, zu be­ach­ten, trat der Frem­de vor die Tür.

»Be­eilt euch mit den Kis­ten!«, rief er. »Ich habe lan­ge ge­nug war­ten müs­sen!« Und er kam die Stu­fen her­ab auf den Kar­ren zu, als ob er selbst mit Hand an­le­gen woll­te.

Kaum hat­te ihn Fea­ren­si­des Hund je­doch er­blickt, als er un­ru­hig wur­de und zu knur­ren be­gann; als der Frem­de un­ten an­ge­langt war, tat der Hund einen Satz und sprang dann ge­ra­de auf sei­ne Hand los. »Wupp!«, schrie Hall zu­rück­wei­chend, denn er war Hun­den ge­gen­über ge­ra­de kein Held, und Fea­ren­si­de brüll­te: »Nie­der!«, und lang­te rasch nach sei­ner Peit­sche.

Sie sa­hen, wie die Zäh­ne des Hun­des die Hand fah­ren lie­ßen, hör­ten einen Schlag, sa­hen den Hund zur Sei­te sprin­gen, sich in das Bein des Frem­den ver­bei­ßen und hör­ten deut­lich den Riss, der durch des­sen Bein­klei­der ging. Dann fiel Fea­ren­si­des Peit­sche auf den Hund nie­der, der sich un­ter wü­ten­dem Bel­len un­ter die Rä­der des Kar­rens ver­kroch. All dies ge­sch­ah in dem kur­z­en Zeit­raum ei­ner hal­b­en Mi­nu­te. Nie­mand sprach, alle schri­en. Der Frem­de warf einen schnel­len Blick auf sei­ne zer­ris­se­nen Hand­schu­he und auf sein Bein, schi­en sich zu dem letz­te­ren nie­der­beu­gen zu wol­len, wen­de­te sich dann aber um und eil­te über die Stu­fen in den Gast­hof zu­rück. Man hör­te ihn den Gang durch­ei­len und die Holz­trep­pen zu sei­nem Schlaf­zim­mer em­por­stei­gen.

»Du Vieh, du!«, schrie Fea­ren­si­de, mit der Peit­sche in der Hand vom Wa­gen stei­gend, wäh­rend der Hund durch die Rä­der hin­durch jede sei­ner Be­we­gun­gen be­ob­ach­te­te.

»Komm her! Wirst du wohl!«, füg­te er hin­zu.

Hall war atem­los da­ge­stan­den. »Er ist ge­bis­sen wor­den«, sag­te er end­lich, »ich will nach ihm se­hen.« Und er folg­te dem Frem­den. Im Haus­flur traf er sei­ne Frau. »Des Fuhr­manns Hund hat ihn ge­bis­sen«, teil­te er ihr beim Vor­über­ge­hen mit.

Er ging, ohne zu zau­dern, die Stie­gen hin­auf, öff­ne­te die an­ge­lehn­te Tür zu des Frem­den Schlaf­zim­mer und trat ohne Um­stän­de, nur von sei­nem Mit­ge­fühl ge­lei­tet, ein.

Die Vor­hän­ge wa­ren zu­ge­zo­gen und das Zim­mer dun­kel. Se­kun­den­lang hat­te er eine merk­wür­di­ge Er­schei­nung: er glaub­te zu se­hen, dass ihm ein Arm ohne Hand zu­win­ke und er­blick­te ein Ge­sicht mit drei rie­si­gen Fle­cken von un­be­stimm­ter Far­be auf weißem Grun­de, ei­nem hell­far­bi­gen Stief­müt­ter­chen nicht un­ähn­lich. Dann er­hielt er einen hef­ti­gen Schlag vor die Brust und wur­de zu­rück­ge­sto­ßen, wor­auf die Tür hin­ter ihm zu­ge­schla­gen und ver­rie­gelt wur­de. All das ge­sch­ah so schnell, dass es ihm an Zeit fehl­te, wei­te­re Beo­b­ach­tun­gen an­zu­stel­len: ein In­ein­an­der­flie­ßen von rät­sel­haf­ten Schat­ten, ein Schlag und ein Zu­sam­men­stoß. Da stand er auf dem dunklen klei­nen Flur und dach­te nach, was er da wohl ge­se­hen ha­ben könn­te.

Schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten schloss er sich wie­der der klei­nen Grup­pe an, die sich vor dem »Fuhr­mann« an­ge­sam­melt hat­te. Dort stand Fea­ren­si­de, der die gan­ze Ge­schich­te schon zum zwei­ten Male er­zähl­te; Mrs. Hall, die fort­wäh­rend er­klär­te, sein Hund habe kein Recht ihre Gäs­te zu bei­ßen; Hux­ter, der Krä­mer von jen­seits der Stra­ße, wel­cher un­ver­dros­sen Fra­gen stell­te, und San­dy Wad­gers, der Schmied, der für al­les Ant­wor­ten be­reit hat­te. Au­ßer­dem Frau­en und Kin­der, die alle gleich­zei­tig spra­chen: »Mir soll­te er nur kom­men!« – »Sol­che Hun­de soll­te man nicht hal­ten dür­fen!« – »Wa­rum hat er ihn denn ei­gent­lich ge­bis­sen?«, und so fort.

Mr. Hall, der auf den Stu­fen stand und zu­hör­te, hielt es be­reits für un­mög­lich, dass er die merk­wür­di­gen Din­ge im obe­ren Stock­wer­ke wirk­lich er­lebt habe. Üb­ri­gens war auch sein Wort­schatz zu klein, um sei­nen Emp­fin­dun­gen Aus­druck zu ver­lei­hen.

»Er braucht kei­ne Hil­fe«, er­wi­der­te er auf die Fra­ge sei­ner Frau. »Wir schaf­fen am bes­ten gleich das Ge­päck hin­ein.«

»Man soll­te die Wun­de gleich aus­bren­nen«, sag­te Mr. Hux­ter, »be­son­ders wenn sie ent­zün­det ist.«

»Ich wür­de den Hund ein­fach nie­der­schie­ßen, er ver­dient es«, mein­te eine Frau in der Grup­pe.

Plötz­lich be­gann der Hund von neu­em zu knur­ren.

»Nun! wird’s?«, rief eine är­ger­li­che Stim­me im Haus­flur und dort stand der ver­mumm­te Frem­de, wie im­mer den Rock­kra­gen in die Höhe ge­schla­gen und den Rand sei­nes Hu­tes nach ab­wärts ge­bo­gen. »Je frü­her Sie mei­ne Sa­chen hin­ein­tra­gen, de­sto lie­ber ist es mir.« Von ei­nem un­be­kann­ten Zuschau­er wur­de bei die­ser Ge­le­gen­heit kon­sta­tiert, dass der Frem­de Bein­klei­der und Hand­schu­he ge­wech­selt hat­te.

»Sind Sie ge­bis­sen wor­den, Herr?«, frag­te Fea­ren­si­de. »Es tut mir wirk­lich leid, dass der Hund – –«

»Durchaus nicht«, ver­setz­te der Frem­de. »Be­ei­len Sie sich mit dem Ab­la­den.«