Der Untertan - Heinrich Mann - E-Book

Der Untertan E-Book

Heinrich Mann

0,0

Beschreibung

Mit der Besprechung von Kurt Tucholsky Diederich Hessling ist ein katzbuckelnder obrigkeitshöriger Opportunist, ganz so, wie es ihn zur wilhelminischen Zeit massenweise gab. Schon in der Jugend zeigt er sich feige und ohne jegliche Courage. Ob als Student, als Familienoberhaupt oder (schließlich sogar) als Fabrikbesitzer, immer zeigt er sich als kriecherischer Mann ohne Charakter. Er nutzt und verehrt die Macht aufgrund eigener Schwäche und ist damit jederzeit das passende Rädchen im Obrigkeitsstaat. Sein einziges Prinzip ist das der grenzenlosen Kaiserverehrung und der Huldigung eines deutschen Nationalismus. Er sieht das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm Zwo als absolute Weltmacht. Auch dieses prophetische Buch landete bei den Nazis auf dem Scheiterhaufen. Kurt Tucholsky, dessen bekannte Rezension hier ebenfalls veröffentlich ist, lobte Manns Werk als ein "Herbarium des deutschen Mannes", in dem er (der Mann) sich zeigt, in seiner "Sucht, zu befehlen und zu gehorchen." Der typische Deutsche Mann seiner Zeit dachte nur in Gewaltstrukturen: Gewalt von oben oder Gewalt nach unten. Für Tucholsky war Hessling nur ein "Herrscherchen" Null Papier Verlag

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 667

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinrich Mann

Der Untertan

Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

Heinrich Mann

Der Untertan

Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021 EV: Kurt Wolff Verlag, Leipzig, 1918 1. Auflage, ISBN 978-3-962818-23-4

null-papier.de/707

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

An­mer­kun­gen zur Be­ar­bei­tung

Be­spre­chung von Kurt Tuchols­ky

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

Ihr

Anmerkungen zur Bearbeitung

Schreib­wei­se und In­ter­punk­ti­on des Ori­gi­nal­tex­tes wur­den über­nom­men; le­dig­lich of­fen­sicht­li­che Druck­feh­ler wur­den kor­ri­giert.

Die Or­tho­gra­fie wur­de der heu­ti­gen Schreib­wei­se be­hut­sam an­ge­gli­chen.

Grund­la­ge die­ser Ver­öf­fent­li­chun­gen bil­den fol­gen­de Aus­ga­ben:

Kurt Wolff Ver­lag, Leip­zig, 1918

Ver­lag Phil­ipp Re­clam jun., 1919

Besprechung von Kurt Tucholsky

A­ber es wäre un­nütz, euch zu ra­ten. Die Ge­schlech­ter müs­sen vor­über­ge­hen, der Ty­pus, den ihr dar­stellt, muss sich ab­nut­zen: die­ser wi­der­wär­tig in­ter­essan­te Ty­pus des im­pe­ria­lis­ti­schen Un­ter­ta­nen, des Chau­vi­nis­ten ohne Mit­ver­ant­wor­tung, des in der Mas­se ver­schwin­den­den Machtan­be­ters, des Au­to­ri­täts­gläu­bi­gen wi­der bes­se­res Wis­sen und po­li­ti­schen Selbst­kas­tei­ers. Noch ist er nicht ab­ge­nutzt. Nach den Vä­tern, die sich zer­ra­cker­ten und Hur­ra schri­en, kom­men Söh­ne mit Arm­bän­dern und Mo­no­keln, ein Stand von form­vollen Frei­ge­las­se­nen, der sehn­süch­tig im Schat­ten des Adels lebt …

Hein­rich Mann 1911

Die­ses Buch Hein­rich Manns, heu­te, gott­sei­dank, in al­ler Hän­de, ist das Her­ba­ri­um des deut­schen Man­nes. Hier ist er ganz: in sei­ner Sucht, zu be­feh­len und zu ge­hor­chen, in sei­ner Ro­heit und in sei­ner Re­li­gio­si­tät, in sei­ner Er­fol­gan­be­te­rei und in sei­ner na­men­lo­sen Zi­vil­feig­heit. Lei­der: es ist der deut­sche Mann schlecht­hin ge­we­sen; wer an­ders war, hat­te nichts zu sa­gen, hieß Va­ter­lands­ver­rä­ter und war kai­ser­li­cher­seits an­ge­wie­sen, den Staub des Lan­des von den Pan­tof­feln zu schüt­teln.

Das er­staun­lichs­te an dem Buch ist si­cher­lich die Vor­be­mer­kung: »Der Ro­man wur­de ab­ge­schlos­sen An­fang Juli 1914.« Wenn ein Künst­ler die­ses Ran­ges das schreibt, ist es wahr: bei je­dem an­de­ren wür­de man an My­sti­fi­ka­ti­on1 den­ken, so über­ra­schend ist die Se­her­ga­be, so haar­scharf ist das Ur­teil, be­stä­tigt von der Ge­schich­te, be­stä­tigt von dem, was die Un­ter­ta­nen als al­lein maß­ge­bend be­trach­ten: vom Er­folg. Und es muss im­mer­hin be­merkt wer­den, dass die al­ten Macht­ha­ber – ach, wä­ren sie alt! – die­ses Buch von ih­rem Stand­punkt aus mit Recht ver­bo­ten ha­ben: denn es ist ein ge­fähr­li­ches Buch.

Ein Stück Le­bens­ge­schich­te ei­nes Deut­schen wird auf­ge­rollt: Die­de­rich Hess­ling, Sohn ei­nes klei­nen Pa­pier­fa­bri­kan­ten, wächst auf, stu­diert und geht zu den Korps­stu­den­ten, dient und geht zu den Drücke­ber­gern, macht sei­nen Dok­tor, über­nimmt die vä­ter­li­che Fa­brik, hei­ra­tet reich und zeugt Kin­der. Aber das ist nicht nur Die­de­rich Hess­ling oder ein Typ.

Das ist der Kai­ser, wie er leib­te und leb­te. Das ist die In­kar­na­ti­on des deut­schen Macht­ge­dan­kens, das ist ei­ner der klei­nen Kö­ni­ge, wie sie zu Hun­der­ten und Tau­sen­den in Deutsch­land leb­ten und le­ben, ge­treu dem kai­ser­li­chen Vor­bild, gan­ze Herr­scher­chen und gan­ze Un­ter­ta­nen.

Die­se Par­al­le­le mit dem Staats­ober­haupt ist er­staun­lich durch­ge­ar­bei­tet. Die­de­rich Hess­ling ge­braucht nicht nur die­sel­ben Tro­pen und Aus­drücke, wenn er re­det wie sein kai­ser­li­ches Vor­bild – am lus­tigs­ten ein­mal in der An­tritts­re­de zu den Ar­bei­tern (»Leu­te! Da ihr mei­ne Un­ter­ge­be­nen seid, will ich euch nur sa­gen, dass hier künf­tig forsch ge­ar­bei­tet wird.« Und: »Mein Kurs ist der rich­ti­ge, ich füh­re euch herr­li­chen Ta­gen ent­ge­gen.«) – er han­delt auch im Sin­ne des Ge­wal­ti­gen, er beugt sich nach oben, wie der sei­nem Got­te, so er sei­nem Re­gie­rungs­prä­si­den­ten, und tritt nach un­ten.

Denn die­se bei­den Cha­rak­terei­gen­schaf­ten sind an Hess­ling, sind am Deut­schen auf das sub­tils­te aus­ge­bil­det: skla­vi­sches Un­ter­ord­nungs­ge­fühl und skla­vi­sches Herr­schafts­ge­lüst. Er braucht Ge­wal­ten, Ge­wal­ten, de­nen er sich beugt, wie der Na­tur­mensch vor dem Ge­wit­ter, Ge­wal­ten, die er selbst zu er­rin­gen sucht, um an­de­re zu du­cken. Er weiß: sie du­cken sich, hat er erst ein­mal das ›Am­t‹ ver­lie­hen be­kom­men und den Er­folg für sich. Nichts wird so re­spek­tiert wie der Er­folg; ein­mal heißt es gra­de­zu: »Er be­han­del­te Mag­da mit Ach­tung, denn sie hat­te Er­folg ge­habt.« Aber wie wird die­ser Er­folg ge­ach­tet! Wür­de er es mit nüch­ter­nem Tat­sa­chen­sinn, so hät­ten wir den Ame­ri­ka­nis­mus, und das wäre nicht schön. Aber er wird ge­ach­tet auf ganz ver­lo­gne Art: man schämt sich der al­ten Ver­gan­gen­heit und be­schwört die al­ten Göt­ter, die den wirk­li­chen Dich­tern und Den­kern von einst noch et­was be­deu­te­ten, zi­tiert sie, legt Me­ta­phy­sik in den Er­folg und don­nert voll Über­zeu­gung: »Die Welt­ge­schich­te ist das Welt­ge­richt!« Und ap­pel­liert an kei­ne hö­he­re In­stanz, weil man kei­ne an­de­re kennt.

Das gan­ze bom­bas­ti­sche und doch so klei­ne We­sen des kai­ser­li­chen Deutsch­land wird scho­nungs­los in die­sem Buch auf­ge­rollt. Sei­ne Sucht, Amü­sier­ver­gnü­gen an Stel­le der Freu­de zu set­zen, sei­ne Un­fä­hig­keit, in der Ge­gen­wart zu le­ben, ohne auf die Le­se­bü­cher der Zu­kunft hin­zu­wei­sen, und sei­ne Un­fä­hig­keit, an­ders als nur in der Ge­gen­wart zu le­ben, sei­ne Lust am rau­schen­den Ge­prän­ge – tiefer ist nie die Po­pu­la­ri­tät Wa­gners ent­hüllt wor­den als hier an ei­ner ›Lo­hen­grin‹- Auf­füh­rung, die voll wit­zi­ger Be­zie­hun­gen zur deut­schen Po­li­tik strotzt (»denn hier er­schei­nen ihm, in Text und Mu­sik, alle na­tio­na­len For­de­run­gen er­füllt. Em­pö­rung war hier das­sel­be wie Ver­bre­chen, das Be­ste­hen­de, Le­gi­ti­me ward glanz­voll ge­fei­ert, auf Adel und Got­tes­gna­den­tum höchs­ter Wert ge­legt, und das Volk, ein von den Er­eig­nis­sen ewig über­rasch­ter Chor, schlug sich wil­lig ge­gen die Fein­de sei­ner Her­ren«) –, und vor al­lem zeigt Hein­rich Mann, wo­nach eben das Buch sei­nen Na­men führt: die Un­frei­heit des Deut­schen.

Die alte Ord­nung, die heu­te noch ge­nau so be­steht wie da­mals, nahm und gab dem Deut­schen: sie nahm ihm die per­sön­li­che Frei­heit, und sie gab ihm Ge­walt über an­de­re. Und sie lie­ßen sich alle so wil­lig be­herr­schen, wenn sie nur herr­schen durf­ten! Sie durf­ten. Der Schutz­mann über den Passan­ten, der Un­ter­of­fi­zier über den Re­kru­ten, der Lan­drat über den Dör­f­ler, der Guts­ver­wal­ter über den Bau­ern, der Be­am­te über Leu­te, die sach­lich mit ihm zu tun hat­ten. Und je­der streb­te nur im­mer da­nach, so ein Amt, so eine Stel-lung zu be­kom­men – hat­te er die, er­gab sich das Üb­ri­ge von selbst. Das Üb­ri­ge war: sich du­cken und re­gie­ren und herr­schen und be­feh­len.

Die voll­kom­me­ne Un­fä­hig­keit, an­ders zu den­ken als in sol­chem Ap­pa­rat, der weit wich­ti­ger war denn al­les Le­ben, die Stu­pi­di­tät, zwi­schen Be­am­ten­miss­wirt­schaft und An­ar­chie nicht die ein­zig mög­li­che drit­te Ver­fas­sung zu se­hen, die es für an­stän­di­ge Men­schen gibt: sie bil­det den Grund­bass des Bu­ches. (Und of­fen­bart sie sich nicht heu­te wie­der aufs herr-lichs­te?) Sie kön­nen alle nur ihre Pf­licht tun, wenn man sie du­cken und ge­duckt wer­den lässt; un­zer­trenn­lich er­scheint Bil­dung und Skla­ven­tum, Be­sitz und Duo­dez­re­gie­rung, bür­ger­li­ches Le­ben und Un­ter­ge­be­ne und Vor­ge­setz­te. Sie fas­sen es nicht, dass es wohl Leu­te ge­ben mag, die sach­lich Wei­sun­gen er­tei­len, aber nim­mer­mehr: Vor­ge­setz­te; wohl Men­schen, die für Geld aus­füh­ren, was an­de­re ha­ben wol­len, aber nim­mer­mehr: Un­ter­ge­be­ne. Das Land war – war … – ein ein­zi­ger Ka­ser­nen­hof.

Und noch eins scheint mir in die­sem Werk, das auch noch die klei­nen und kleins­ten Züge der Hur­ra­mie­ne mit dem auf­ge­bürs­te­ten Ka­ter­schnurr­bart ein­ge­fan­gen hat, auf das glück­lichs­te dar­ge­stellt zu sein; das Rät­sel der Kol­lek­ti­vi­tät. Was der Ju­rist Otto Gier­ke einst die rea­le Ver­bands­per­sön­lich­keit be­nann­te, die­se Er­schei­nung, dass ein Ve­rein nicht die Sum­me sei­ner Mit­glie­der ist, son­dern mehr, son­dern et­was andres, über ih­nen Schwe­ben­des: das ist hier in nuce auf­ge­malt und dar­ge­tan. Neu­teu­to­nen und Sol­da­ten und Ju­ris­ten und schließ­lich Deut­sche – es sind al­les Kol­lek­ti­vi­tä­ten, die den ein­zel­nen von je­der Verant­wor­tung frei ma­chen, und de­nen an­zu­ge­hö­ren Ruhm und Ehre ein­bringt, Ach­tung er­heischt und kein Ver­dienst be­an­sprucht. Man ist es eben, und da­mit fer­tig. Der Mus­ke­tier Lyck, der den Ar­bei­ter er­schießt – his­to­risch – und da­für Ge­frei­ter wird; der Bür­ger Hess­ling, der – nicht his­to­risch, aber mehr als das: ty­pisch – alle an­ders­ge­ar­te­ten wie Wil­de an­sieht: sie sind Skla­ven der rät­sel­vol­len Kol­lek­ti­vi­tät, die die­sem Lan­de und die­ser Zeit so un­end­lich Schmach­vol­les auf­ge­bür­det hat. »Dem Eu­ro­pä­er ist nicht wohl, wenn ihm nicht et­was vor­an­weht«, hat Mey­rink mal ge­sagt. Es weh­te ih­nen al­len et­was vor­an, und sie schwö­ren auf die Fah­ne.

Klei­ne und kleins­te Züge be­lus­ti­gen, böse Blink-feu­er der Ero­tik blit­zen auf, der Kampf der Ge­schlech­ter in Fla­nell und mö­blier­ten Zim­mern ist hier ein Gue­ril­la­krieg, es wird mit ver­gif­te­ten Pfei­len ge­schos­sen, und es ist bit­ter­lich spa­ßig, wie Lie­be schließ­lich zum le­gi­ti­men Ge­schlechts­ge­nuss wird. Eine bun­te Fül­le Le­ben zieht vor­bei, und al­les ist auf die letz­te For­mu­lie­rung ge­bracht, und al­les ist ty­pisch, al­les ein für alle Mal. Die alte For­de­rung ist ganz er­füllt: »Wenn nun gleich der Dich­ter uns im­mer nur das ein­zel­ne, in­di­vi­du­el­le vor­führt, so ist, was er er­kann­te und uns da­durch er­ken­nen las­sen will, doch die Idee, die gan­ze Gat­tung.« Lei­der: so ist die gan­ze Gat­tung.

Aus klei­nen Er­eig­nis­sen wird die letz­te Ent­hül­lung des deut­schen See­len­zu­stan­des: am fünf­und­zwan­zigs­ten Fe­bru­ar 1892 de­mons­trier­ten die Ar­beits­lo­sen vor dem Kö­nig­li­chen Schloss in Ber­lin, und dar­aus wird in dem Buch eine gran­dio­se Sze­ne mit dem opern­haf­ten Kai­ser als Mit­tel­staf­fa­ge, ei­ner be­geis­ter­ten Men­ge Volks und in ih­nen, un­ter ih­nen und ganz mit ih­nen: Hess­ling, der Deut­sche, der Claqueur, der jun­ge Mann, der das Staats­er­hal­ten­de liebt, der Un­ter­tan.

Und aus all dem To­hu­wa­bo­hu, aus dem Ge­wirr der spie­ßi­gen Klein­stadt, aus den Klatsch­pro­zes­sen und aus den Schie­bun­gen – man sagt: Ver­ord­nun­gen; und meint: Grund­stückss­pe­ku­la­ti­on –, aus lä­cher­li­chen Ehren­ko­de­xen und sim­peln Gau­ne­rei­en strahlt die Fi­gur des al­ten Buck. Man muss so has­sen kön­nen wie Mann, umso lie­ben zu kön­nen. Der alte Buck ist ein al­ter Achtund­vier­zi­ger, ein Mann von da­mals, wo man die heu­te ge­schmäh­ten Idea­le hat­te, sie zwar nicht ver­wirk­lich­te, schlecht ver­wirk­lich­te, ver­wor­ren war – ge­wiss, aber es wa­ren doch Idea­le. Wie schön ist das, wenn der alte Mann dem neu­en Hess­ling sein al­tes Ge­dicht­buch in die Hand drückt: »Da, neh­men Sie! Es sind mei­ne ›Sturm­glo­cken‹! Man war auch Dich­ter – da­mals!« Die von heu­te sinds nicht mehr. Sie sind Re­al­po­li­ti­ker, ver­la­chen den Idea­lis­ten, weil er – schein­bar – nichts er­reicht, und wis­sen nicht, dass sie ihre küm­mer­li­chen klei­nen Er­fol­ge ne­ben den cha­rak­ter­lo­sen Pak­ten je­nen ver­dan­ken, die einst wahr ge­we­sen sind und un­er­schüt­ter­lich.

Und das Buch ›Der Un­ter­tan‹ (er­schie­nen bei Kurt Wolff in Leip­zig) zeigt uns wie­der, dass wir auf dem rech­ten Wege sind, und be­stä­tigt uns, dass Lie­be, die nach au­ßen in Hass um­schla­gen kann, das ein­zi­ge ist, um in die­sem Vol­ke durch­zu­drin­gen, um die­sem Vol­ke zu hel­fen, um end­lich, end­lich ein­mal die Far­ben Schwarz-Weiß-Rot, in die sie sich ver­rannt ha­ben wie die Stie­re, von dem Deutsch­land ab­zu­tren­nen, das wir lie­ben, und das die Bes­ten al­ler Al­ter ge­liebt ha­ben. Es ist ja nicht wahr, dass ver­sipp­tes Cli­quen­tum und ge­hor­sa­me Lüg­ner ewig und un­trenn­bar mit un­serm Lan­de ver­knüpft sein müs­sen. Be­schimp­fen wir die, lo­ben wir doch das an­de­re Deutsch­land; läs­tern wir die, be­seelt uns doch die Lie­be zum Deut­schen. Al­ler­dings: nicht zu die­sem Deut­schen da. Nicht zu dem Bur­schen, der un­ter­tä­nig und re­spekt­voll nach oben him­melt und nie­der­träch­tig und ge­schwol­len nach un­ten tritt, der Rad­fah­rer des lie­ben Got­tes, eine ent­ar­te­te Spe­zi­es der gens hu­mana.

Weil aber Hein­rich Mann der ers­te deut­sche Li­te­rat ist, der dem Geist eine ent­schei­den­de und mit­be­stim­men­de Stel­lung fern al­ler Li­te­ra­tur ein­ge­räumt hat, grü­ßen wir ihn. Und wis­sen wohl, dass die­se we­ni­gen Zei­len sei­ne künst­le­ri­sche Grö­ße nicht aus­ge­schöpft ha­ben, nicht die Kraft sei­ner Dar­stel­lung und nicht das selt­sa­me Rät­sel sei­nes ge­misch­ten Blu­tes.

So wol­len wir kämp­fen. Nicht ge­gen die Herr­scher, die es im­mer ge­ben wird, nicht ge­gen Men­schen, die Ver­ord­nun­gen für an­de­re ma­chen, Las­ten den an­de­ren auf­bür­den und Ar­beit den an­de­ren. Wir wol­len ih­nen die ent­zie­hen, auf de­ren Rücken sie tanz­ten, die, die stumpf­sin­nig und im­mer zu­frie­den das Un­heil die­ses Lan­des ver­schul­det ha­ben, die, die wir den Staub der Hei­mat von den be­blüm­ten Pan­tof­feln ger­ne schüt­teln sä­hen: die Un­ter­ta­nen!

I­g­naz Wro­bel Die Welt­büh­ne, 20.03.1919, Nr. 13, S. 317.

Ver­schleie­rung, Ver­dun­ke­lung  <<<

I.

Die­de­rich Hess­ling war ein wei­ches Kind, das am liebs­ten träum­te, sich vor al­lem fürch­te­te und viel an den Ohren litt. Un­gern ver­ließ er im Win­ter die war­me Stu­be, im Som­mer den en­gen Gar­ten, der nach den Lum­pen der Pa­pier­fa­brik roch und über des­sen Gold­re­gen- und Flie­der­bäu­men das höl­zer­ne Fach­werk der al­ten Häu­ser stand. Wenn Die­de­rich vom Mär­chen­buch, dem ge­lieb­ten Mär­chen­buch, auf­sah, er­schrak er manch­mal sehr. Ne­ben ihm auf der Bank hat­te ganz deut­lich eine Krö­te ge­ses­sen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mau­er dort drü­ben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schiel­te her!

Fürch­ter­li­cher als Gnom und Krö­te war der Va­ter, und oben­drein soll­te man ihn lie­ben. Die­de­rich lieb­te ihn. Wenn er ge­nascht oder ge­lo­gen hat­te, drück­te er sich so lan­ge schmat­zend und scheu we­delnd am Schreib­pult um­her, bis Herr Hess­ling et­was merk­te und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht her­aus­ge­kom­me­ne Un­tat misch­te in Die­de­richs Er­ge­ben­heit und Ver­trau­en einen Zwei­fel. Als der Va­ter ein­mal mit sei­nem in­va­li­den Bein die Trep­pe her­un­ter­fiel, klatsch­te der Sohn wie toll in die Hän­de – wor­auf er weg­lief.

Kam er nach ei­ner Abstra­fung mit ge­dun­se­nem Ge­sicht und un­ter Ge­heul an der Werk­stät­te vor­bei, dann lach­ten die Ar­bei­ter. So­fort aber streck­te Die­de­rich nach ih­nen die Zun­ge aus und stampf­te. Er war sich be­wusst: »Ich habe Prü­gel be­kom­men, aber von mei­nem Papa. Ihr wä­ret froh, wenn ihr auch Prü­gel von ihm be­kom­men könn­tet. Aber da­für seid ihr viel zu we­nig.«

Er be­weg­te sich zwi­schen ih­nen wie ein lau­nen­haf­ter Pa­scha; droh­te ih­nen bald, es dem Va­ter zu mel­den, dass sie sich Bier hol­ten, und bald ließ er ko­kett aus sich die Stun­de her­aus­schmei­cheln, zu der Herr Hess­ling zu­rück­keh­ren soll­te. Sie wa­ren auf der Hut vor dem Prin­zi­pal:1 er kann­te sie, er hat­te selbst ge­ar­bei­tet. Er war Büt­ten­schöp­fer ge­we­sen in den al­ten Müh­len, wo je­der Bo­gen mit der Hand ge­formt ward; hat­te da­zwi­schen alle Krie­ge mit­ge­macht und nach dem letz­ten, als je­der Geld fand, eine Pa­pier­ma­schi­ne kau­fen kön­nen. Ein Hol­län­der und eine Schnei­de­ma­schi­ne ver­voll­stän­dig­ten die Ein­rich­tung. Er selbst zähl­te die Bo­gen nach. Die von den Lum­pen ab­ge­trenn­ten Knöp­fe durf­ten ihm nicht ent­ge­hen. Sein klei­ner Sohn ließ sich oft von den Frau­en wel­che zu­ste­cken, da­für, dass er die nicht an­gab, die ei­ni­ge mit­nah­men. Ei­nes Ta­ges hat­te er so vie­le bei­sam­men, dass ihm der Ge­dan­ke kam, sie beim Krä­mer ge­gen Bon­bons um­zut­au­schen. Es ge­lang – aber am Abend knie­te Die­de­rich, in­des er den letz­ten Malz­zu­cker zer­lutsch­te, sich ins Bett und be­te­te, angst­ge­schüt­telt, zu dem schreck­li­chen lie­ben Gott, er möge das Ver­bre­chen un­ent­deckt las­sen. Er brach­te es den­noch an den Tag. Dem Va­ter, der im­mer nur me­tho­disch, Ehren­fes­tig­keit und Pf­licht auf dem ver­wit­ter­ten Un­ter­of­fi­ziers­ge­sicht, den Stock ge­führt hat­te, zuck­te dies­mal die Hand, und in die eine Bürs­te sei­nes sil­be­ri­gen Kai­ser­bar­tes lief, über die Run­zeln hüp­fend, eine Trä­ne. »Mein Sohn hat ge­stoh­len«, sag­te er au­ßer Atem, mit dump­fer Stim­me, und sah sich das Kind an wie einen ver­däch­ti­gen Ein­dring­ling. »Du be­trügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Men­schen tot­zu­schla­gen.«

Frau Hess­ling woll­te Die­de­rich nö­ti­gen, vor dem Va­ter hin­zu­fal­len und ihn um Ver­zei­hung zu bit­ten, weil der Va­ter sei­net­we­gen ge­weint habe! Aber Die­de­richs In­stinkt sag­te ihm, dass dies den Va­ter nur noch mehr er­bost ha­ben wür­de. Mit der ge­fühls­se­li­gen Art sei­ner Frau war Hess­ling durch­aus nicht ein­ver­stan­den. Sie verd­arb das Kind fürs Le­ben. Üb­ri­gens er­tapp­te er sie ge­ra­de­so auf Lü­gen wie den Die­del. Kein Wun­der, da sie Ro­ma­ne las! Am Sonn­abend­a­bend war nicht im­mer die Wo­chen­ar­beit ge­tan, die ihr auf­ge­ge­ben war. Sie klatsch­te, an­statt sich zu rüh­ren, mit dem Dienst­mäd­chen … Und Hess­ling wuss­te noch nicht ein­mal, dass sei­ne Frau auch nasch­te, ge­ra­de wie das Kind. Bei Tisch wag­te sie sich nicht satt zu es­sen und schlich nach­träg­lich an den Schrank. Hät­te sie sich in die Werk­statt ge­traut, wür­de sie auch Knöp­fe ge­stoh­len ha­ben.

Sie be­te­te mit dem Kind »aus dem Her­zen«, nicht nach For­meln, und be­kam da­bei ge­röte­te Wan­gen­kno­chen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und ver­zerrt von Rach­sucht. Oft war sie da­bei im Un­recht. Dann droh­te Die­de­rich, sie beim Va­ter zu ver­kla­gen; tat so, als gin­ge er ins Kon­tor, und freu­te sich ir­gend­wo hin­ter ei­ner Mau­er, dass sie nun Angst hat­te. Ihre zärt­li­chen Stun­den nütz­te er aus; aber er fühl­te gar kei­ne Ach­tung vor sei­ner Mut­ter. Ihre Ähn­lich­keit mit ihm selbst ver­bot es ihm. Denn er ach­te­te sich selbst nicht, da­für ging er mit ei­nem zu schlech­ten Ge­wis­sen durch sein Le­ben, das vor den Au­gen des Herrn nicht hät­te be­ste­hen kön­nen.

Den­noch hat­ten die bei­den von Ge­müt über­flie­ßen­de Däm­mer­stun­den. Aus den Fes­ten press­ten sie ge­mein­sam, ver­mit­tels Ge­sang, Kla­vier­spiel und Mär­chen­er­zäh­len, den letz­ten Trop­fen Stim­mung her­aus. Als Die­de­rich am Christ­kind zu zwei­feln an­fing, ließ er sich von der Mut­ter be­we­gen, noch ein Weil­chen zu glau­ben, und er fühl­te sich da­durch er­leich­tert, treu und gut. Auch an ein Ge­s­penst, dro­ben auf der Burg, glaub­te er hart­nä­ckig, und der Va­ter, der hier­von nichts hö­ren woll­te, schi­en zu stolz, bei­na­he straf­wür­dig. Die Mut­ter nähr­te ihn mit Mär­chen. Sie teil­te ihm ihre Angst mit vor den neu­en, be­leb­ten Stra­ßen und der Pfer­de­bahn, die hin­durch­fuhr, und führ­te ihn über den Wall nach der Burg. Dort ge­nos­sen sie das woh­li­ge Grau­sen.

Ecke der Mei­se­stra­ße hin­wie­der muss­te man an ei­nem Po­li­zis­ten vor­über, der, wen er woll­te, ins Ge­fäng­nis ab­füh­ren konn­te! Die­de­richs Herz klopf­te be­weg­lich; wie gern hät­te er einen wei­ten Bo­gen ge­macht! Aber dann wür­de der Po­li­zist sein schlech­tes Ge­wis­sen er­kannt und ihn auf­ge­grif­fen ha­ben. Es war viel­mehr ge­bo­ten, zu be­wei­sen, dass man sich rein und ohne Schuld fühl­te – und mit zit­tern­der Stim­me frag­te Die­de­rich den Schutz­mann nach der Uhr.

*

Nach so vie­len furcht­ba­ren Ge­wal­ten, de­nen man un­ter­wor­fen war, nach den Mär­chen­krö­ten, dem Va­ter, dem lie­ben Gott, dem Burg­ge­spenst und der Po­li­zei, nach dem Schorn­stein­fe­ger, der einen durch den gan­zen Schlot schlei­fen konn­te, bis man auch ein schwar­zer Mann war, und dem Dok­tor, der einen im Hals pin­seln durf­te und schüt­teln, wenn man schrie – nach al­len die­sen Ge­wal­ten ge­riet nun Die­de­rich un­ter eine noch furcht­ba­re­re, den Men­schen auf ein­mal ganz ver­schlin­gen­de: die Schu­le. Die­de­rich be­trat sie heu­lend, und auch die Ant­wor­ten, die er wuss­te, konn­te er nicht ge­ben, weil er heu­len muss­te. All­mäh­lich lern­te er den Drang zum Wei­nen ge­ra­de dann aus­zu­nut­zen, wenn er nicht ge­lernt hat­te – denn alle Angst mach­te ihn nicht flei­ßi­ger oder we­ni­ger träu­me­risch – und ver­mied so, bis die Leh­rer sein Sys­tem durch­schaut hat­ten, man­che üb­len Fol­gen. Dem ers­ten, der es durch­schau­te, schenk­te er sei­ne gan­ze Ach­tung; er war plötz­lich still und sah ihn, über den ge­krümm­ten und vors Ge­sicht ge­hal­te­nen Arm hin­weg, voll scheu­er Hin­ga­be an. Im­mer blieb er den schar­fen Leh­rern er­ge­ben und will­fäh­rig. Den gut­mü­ti­gen spiel­te er klei­ne, schwer nach­weis­ba­re Strei­che, de­ren er sich nicht rühm­te. Mit viel grö­ße­rer Ge­nug­tu­ung sprach er von ei­ner Ver­hee­rung in den Zeug­nis­sen, von ei­nem rie­si­gen Straf­ge­richt. Bei Tisch be­rich­te­te er: »Heu­te hat Herr Behn­ke wie­der drei durch­ge­hau­en.« Und wenn ge­fragt ward, wen?

»Ei­ner war ich.«

Denn Die­de­rich war so be­schaf­fen, dass die Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­nem un­per­sön­li­chen Gan­zen, zu die­sem un­er­bitt­li­chen, men­schen­ver­ach­ten­den, ma­schi­nel­len Or­ga­nis­mus, der das Gym­na­si­um war, ihn be­glück­te, dass die Macht, die kal­te Macht, an der er selbst, wenn auch nur lei­dend, teil­hat­te, sein Stolz war. Am Ge­burts­tag des Or­di­na­ri­us be­kränz­te man Ka­the­der und Ta­fel. Die­de­rich um­wand so­gar den Rohr­stock.

Im Lauf der Jah­re be­rühr­ten zwei über Macht­ha­ber her­ein­ge­bro­che­ne Ka­ta­stro­phen ihn mit hei­li­gem und süßem Schau­der. Ein Hilfs­leh­rer ward vor der Klas­se vom Di­rek­tor her­un­ter­ge­macht und ent­las­sen. Ein Ober­leh­rer ward wahn­sin­nig. Noch hö­he­re Ge­wal­ten, der Di­rek­tor und das Ir­ren­haus, wa­ren hier gräss­lich mit de­nen ab­ge­fah­ren, die bis eben so hohe Ge­walt hat­ten. Von un­ten, klein aber un­ver­sehrt, durf­te man die Lei­chen be­trach­ten und aus ih­nen eine die ei­ge­ne Lage mil­dern­de Leh­re zie­hen.

Die Macht, die ihn in ih­rem Rä­der­werk hat­te, vor sei­nen jün­ge­ren Schwes­tern ver­trat Die­de­rich sie. Sie muss­ten nach sei­nem Dik­tat schrei­ben und künst­lich noch mehr Feh­ler ma­chen, als ih­nen von selbst ge­lan­gen, da­mit er mit ro­ter Tin­te wü­ten und Stra­fen aus­tei­len konn­te. Sie wa­ren grau­sam. Die Klei­nen schri­en – und dann war es an Die­de­rich, sich zu de­mü­ti­gen, um nicht ver­ra­ten zu wer­den.

Er hat­te, den Macht­ha­bern nach­zuah­men, kei­nen Men­schen nö­tig; ihm ge­nüg­ten Tie­re, so­gar Din­ge. Er stand am Ran­de des Hol­län­ders und sah die Trom­mel die Lum­pen aus­schla­gen. »Den hast du weg! Un­ter­steht euch noch mal! In­fa­me Ban­de!« mur­mel­te Die­de­rich, und in sei­nen blas­sen Au­gen glomm es. Plötz­lich duck­te er sich; fast fiel er in das Chlor­bad. Der Schritt ei­nes Ar­bei­ters hat­te ihn auf­ge­stört aus sei­nem läs­ter­li­chen Ge­nuss.

Denn recht ge­heu­er und sei­ner Sa­che ge­wiss fühl­te er sich nur, wenn er selbst die Prü­gel be­kam. Kaum je wi­der­stand er dem Übel. Höchs­tens bat er den Ka­me­ra­den: »Nicht auf den Rücken, das ist un­ge­sund.«

Nicht, dass es ihm am Sinn für sein Recht und an Lie­be zum ei­ge­nen Vor­teil fehl­te. Aber Die­de­rich hielt da­für, dass Prü­gel, die er be­kam, dem Schla­gen­den kei­nen prak­ti­schen Ge­winn, ihm selbst kei­nen rea­len Ver­lust zu­füg­ten. Erns­ter als die­se bloß idea­len Wer­te nahm er die Schaum­rol­le, die der Ober­kell­ner vom »Net­zi­ger Hof« ihm schon längst ver­spro­chen hat­te und mit der er nie her­aus­rück­te. Die­de­rich mach­te un­zäh­li­ge Male erns­ten Schrit­tes den Ge­schäfts­weg die Mei­se­stra­ße hin­auf zum Markt, um sei­nen be­frack­ten Freund zu mah­nen. Als der aber ei­nes Ta­ges von sei­ner Ver­pflich­tung über­haupt nichts mehr wis­sen woll­te, er­klär­te Die­de­rich und stampf­te ehr­lich ent­rüs­tet auf: »Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich her­aus­rücken, sag’ ich’s Ihrem Herrn!« Da­rauf lach­te Schorsch und brach­te die Schaum­rol­le.

Das war ein greif­ba­rer Er­folg. Lei­der konn­te Die­de­rich ihn nur has­tig und in Sor­ge ge­nie­ßen, denn es war zu fürch­ten, dass Wolf­gang Buck, der drau­ßen war­te­te, dar­über zu­kam und den An­teil ver­lang­te, der ihm ver­spro­chen war. In­des fand er Zeit, sich sau­ber den Mund zu wi­schen, und vor der Tür brach er in hef­ti­ge Schimpfre­den auf Schorsch aus, der ein Schwind­ler sei und gar kei­ne Schaum­rol­le habe. Die­de­richs Ge­rech­tig­keits­ge­fühl, das sich zu sei­nen Guns­ten noch eben so kräf­tig ge­äu­ßert hat­te, schwieg vor den An­sprü­chen des an­de­ren – die man frei­lich nicht ein­fach au­ßer acht las­sen durf­te, da­für war Wolf­gangs Va­ter eine viel zu ach­tung­ge­bie­ten­de Per­sön­lich­keit. Der alte Herr Buck trug kei­nen stei­fen Kra­gen, son­dern eine weiß­sei­de­ne Hals­bin­de und dar­über einen großen wei­ßen Kne­bel­bart. Wie lang­sam und ma­je­stä­tisch er sei­nen oben gol­de­nen Stock aufs Pflas­ter setz­te! Und er hat­te einen Zy­lin­der auf, und un­ter sei­nem Über­zie­her sa­hen häu­fig Frack­schö­ße her­vor, mit­ten am Tage! Denn er ging in Ver­samm­lun­gen, er be­küm­mer­te sich um die gan­ze Stadt. Von der Ba­de­an­stalt, vom Ge­fäng­nis, von al­lem, was öf­fent­lich war, dach­te Die­de­rich: »Das ge­hört dem Herrn Buck.« Er muss­te un­ge­heu­er reich und mäch­tig sein. Alle, auch Herr Hess­ling, ent­blö­ßten vor ihm lan­ge den Kopf. Sei­nem Sohn mit Ge­walt et­was ab­zu­neh­men, wäre eine Tat voll un­ab­seh­ba­rer Ge­fah­ren ge­we­sen. Um von den großen Mäch­ten, die er so sehr ver­ehr­te, nicht ganz er­drückt zu wer­den, muss­te Die­de­rich lei­se und lis­tig zu Werk ge­hen.

Ein­mal nur, in Un­ter­ter­tia, ge­sch­ah es, dass Die­de­rich jede Rück­sicht ver­gaß, sich blind­lings be­tä­tig­te und zum sie­ges­trun­ke­nen Un­ter­drücker ward. Er hat­te, wie es üb­lich und ge­bo­ten war, den ein­zi­gen Ju­den sei­ner Klas­se ge­hän­selt, nun aber schritt er zu ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Kund­ge­bung. Aus Klöt­zen, die zum Zeich­nen dienten, er­bau­te er auf dem Ka­the­der ein Kreuz und drück­te den Ju­den da­vor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz al­lem Wi­der­stand; er war stark! Was Die­de­rich stark mach­te, war der Bei­fall rings­um, die Men­ge, aus der her­aus Arme ihm hal­fen, die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit drin­nen und drau­ßen. Denn durch ihn han­del­te die Chris­ten­heit von Net­zig. Wie wohl man sich fühl­te bei ge­teil­ter Verant­wort­lich­keit und ei­nem Schuld­be­wusst­sein, das kol­lek­tiv war!

Nach dem Ver­rau­chen des Rau­sches stell­te wohl leich­tes Ban­gen sich ein, aber das ers­te Leh­rer­ge­sicht, dem Die­de­rich be­geg­ne­te, gab ihm al­len Mut zu­rück; es war voll ver­le­ge­nen Wohl­wol­lens. An­de­re be­wie­sen ihm of­fen ihre Zu­stim­mung. Die­de­rich lä­chel­te mit de­mü­ti­gem Ein­ver­ständ­nis zu ih­nen auf. Er be­kam es leich­ter seit­dem. Die Klas­se konn­te die Ehrung dem nicht ver­sa­gen, der die Gunst des neu­en Or­di­na­ri­us be­saß. Un­ter ihm brach­te Die­de­rich es zum Pri­mus und zum ge­hei­men Auf­se­her. We­nigs­tens die zwei­te die­ser Ehren­stel­len be­haup­te­te er auch spä­ter. Er war gut Freund mit al­len, lach­te, wenn sie ihre Strei­che aus­plau­der­ten, ein un­ge­trüb­tes, aber herz­li­ches La­chen, als erns­ter jun­ger Mensch, der Nach­sicht hat mit dem Leicht­sinn – und dann in der Pau­se, wenn er dem Pro­fes­sor das Klas­sen­buch vor­leg­te, be­rich­te­te er. Auch hin­ter­brach­te er die Spitz­na­men der Leh­rer und die auf­rüh­re­ri­schen Re­den, die ge­gen sie ge­führt wor­den wa­ren. In sei­ner Stim­me beb­te, nun er sie wie­der­hol­te, noch et­was von dem wol­lüs­ti­gen Er­schre­cken, wo­mit er sie, hin­ter ge­senk­ten Li­dern, an­ge­hört hat­te. Denn er spür­te, ward ir­gend­wie an den Herr­schen­den ge­rüt­telt, eine ge­wis­se las­ter­haf­te Be­frie­di­gung, et­was ganz un­ter sich Be­we­gen­des, fast wie ein Hass, der zu sei­ner Sät­ti­gung rasch und ver­stoh­len ein paar Bis­sen nahm. Durch die An­zei­ge der an­de­ren sühn­te er die ei­ge­ne sünd­haf­te Re­gung.

An­de­rer­seits emp­fand er ge­gen die Mit­schü­ler, de­ren Fort­kom­men sei­ne Tä­tig­keit in Fra­ge stell­te, zu­meist kei­ne per­sön­li­che Ab­nei­gung. Er be­nahm sich als pflicht­mä­ßi­ger Voll­stre­cker ei­ner har­ten Not­wen­dig­keit. Nach­her konn­te er zu dem Ge­trof­fe­nen hin­tre­ten und ihn, fast ganz auf­rich­tig, be­kla­gen. Einst ward mit sei­ner Hil­fe ei­ner ge­fasst, der schon längst ver­däch­tig war, al­les ab­zu­schrei­ben. Die­de­rich über­ließ ihm, mit Wis­sen des Leh­rers, eine ma­the­ma­ti­sche Auf­ga­be, die in der Mit­te ab­sicht­lich ge­fälscht und de­ren En­d­er­geb­nis den­noch rich­tig war. Am Abend nach dem Zu­sam­men­bruch des Be­trü­gers sa­ßen ei­ni­ge Pri­ma­ner vor dem Tor in ei­ner Gar­ten­wirt­schaft, was zum Schluss der Turn­spie­le er­laubt war, und san­gen. Die­de­rich hat­te den Platz ne­ben sei­nem Op­fer ge­sucht. Ein­mal, als aus­ge­trun­ken war, ließ er die Rech­te vom Krug her­ab auf die des an­de­ren glei­ten, sah ihm treu in die Au­gen und stimm­te in Bas­s­tö­nen, die von Ge­müt schlepp­ten, ganz al­lein an:

»Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den, einen bes­sern findst du nit …«

Üb­ri­gens ge­nüg­te er bei zu­neh­men­der Schul­pra­xis in al­len Fä­chern, ohne in ei­nem das Maß des Ge­for­der­ten zu über­schrei­ten, oder auf der Welt ir­gen­det­was zu wis­sen, was nicht im Pen­sum vor­kam. Der deut­sche Auf­satz war ihm das Frem­des­te, und wer sich dar­in aus­zeich­ne­te, gab ihm ein un­er­klär­tes Miss­trau­en ein.

Seit sei­ner Ver­set­zung nach Pri­ma galt sei­ne Gym­na­si­al­kar­rie­re für ge­si­chert, und bei Leh­rern und Va­ter drang der Ge­dan­ke durch, er sol­le stu­die­ren. Der alte Hess­ling, der 66 und 71 durch das Bran­den­bur­ger Tor ein­ge­zo­gen war, schick­te Die­de­rich nach Ber­lin.

*

Weil er sich aus der Nähe der Fried­rich­stra­ße nicht fort­ge­trau­te, mie­te­te er sein Zim­mer dro­ben in der Tieck­stra­ße. Jetzt hat­te er nur in ge­ra­der Li­nie hin­un­ter­zu­ge­hen und konn­te die Uni­ver­si­tät nicht ver­feh­len. Er be­such­te sie, da er nichts an­de­res vor­hat­te, täg­lich zwei­mal, und in der Zwi­schen­zeit wein­te er oft vor Heim­weh. Er schrieb einen Brief an Va­ter und Mut­ter und dank­te ih­nen für sei­ne glück­li­che Kind­heit. Ohne Not ging er nur sel­ten aus. Kaum, dass er zu es­sen wag­te; er fürch­te­te, sein Geld vor dem Ende des Mo­nats aus­zu­ge­ben. Und im­mer­fort muss­te er nach der Ta­sche fas­sen, ob es noch da sei.

So ver­las­sen ihm um das Herz war, ging er doch noch im­mer nicht mit dem Brief des Va­ters in die Blü­cher­stra­ße zu Herrn Göp­pel, dem Zel­lu­lo­se­fa­bri­kan­ten, der aus Net­zig war und auch an Hess­ling lie­fer­te. Am vier­ten Sonn­tag be­sieg­te er sei­ne Scheu – und kaum wat­schel­te der ge­drun­ge­ne, ge­röte­te Mann, den er schon so oft beim Va­ter im Kon­tor ge­se­hen hat­te, auf ihn zu, da wun­der­te Die­de­rich sich schon, dass er nicht frü­her ge­kom­men sei. Herr Göp­pel frag­te gleich nach ganz Net­zig und vor al­lem nach dem al­ten Buck. Denn ob­wohl sein Kinn­bart nun auch er­graut war, hat­te er doch, wie Die­de­rich, nur, wie es schi­en, aus an­de­ren Grün­den, schon als Kna­be den al­ten Buck ver­ehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Ei­ner von de­nen, die das deut­sche Volk hoch­hal­ten soll­te, hö­her als ge­wis­se Leu­te, die im­mer al­les mit Blut und Ei­sen ku­rie­ren woll­ten und da­für der Na­ti­on rie­si­ge Rech­nun­gen schrie­ben. Der alte Buck war schon achtund­vier­zig da­bei­ge­we­sen, er war so­gar zum Tode ver­ur­teilt wor­den. »Ja, dass wir hier als freie Män­ner sit­zen kön­nen«, sag­te Herr Göp­pel, »das ver­dan­ken wir sol­chen Leu­ten wie dem al­ten Buck.« Und er öff­ne­te noch eine Fla­sche Bier. »Heu­te sol­len wir uns mit Küras­siers­tie­feln tre­ten las­sen …«

Herr Göp­pel be­kann­te sich als frei­sin­ni­ger Geg­ner Bis­marcks. Die­de­rich be­stä­tig­te al­les, was Göp­pel woll­te; er hat­te über den Kanz­ler, die Frei­heit, den jun­gen Kai­ser kei­ner­lei Mei­nung. Da aber ward er pein­lich be­rührt, denn ein jun­ges Mäd­chen war ein­ge­tre­ten, das ihm auf den ers­ten Blick durch Schön­heit und Ele­ganz gleich furcht­bar er­schi­en.

»Mei­ne Toch­ter Ag­nes«, sag­te Herr Göp­pel.

Die­de­rich stand da, in sei­nem fal­ten­rei­chen Geh­rock, als ma­ge­rer Ka­dett, und war ro­sig über­zo­gen. Das jun­ge Mäd­chen gab ihm die Hand. Sie woll­te wohl nett sein, aber was war mit ihr an­zu­fan­gen? Die­de­rich ant­wor­te­te ja, als sie frag­te, ob Ber­lin ihm ge­fal­le; und als sie frag­te, ob er schon im Thea­ter ge­we­sen sei, ant­wor­te­te er nein. Er fühl­te sich feucht vor Un­ge­müt­lich­keit und war fest über­zeugt, sein Auf­bruch sei das ein­zi­ge, wo­mit er das jun­ge Mäd­chen in­ter­es­sie­ren kön­ne. Aber wie war von hier fort­zu­kom­men? Zum Glück stell­te ein an­de­rer sich ein, ein brei­ter Mensch na­mens Mahl­mann, der mit un­ge­heu­rer Stim­me Meck­len­bur­gisch sprach, stud. ing. zu sein schi­en und bei Göp­pels Zim­mer­herr sein soll­te. Er er­in­ner­te Fräu­lein Ag­nes an einen Spa­zier­gang, den sie ver­ab­re­det hät­ten. Die­de­rich ward auf­ge­for­dert, mit­zu­kom­men. Ent­setzt schütz­te er einen Be­kann­ten vor, der drau­ßen auf ihn war­te, und mach­te sich so­fort da­von. »Gott sei Dank«, dach­te er, wäh­rend es ihm einen Stich gab, »sie hat schon einen.«

Herr Göp­pel öff­ne­te ihm im Dun­keln die Fl­ur­tür und frag­te, ob sein Freund auch Ber­lin ken­ne. Die­de­rich log, der Freund sei Ber­li­ner. »Denn wenn Sie es bei­de nicht ken­nen, kom­men Sie noch in den falschen Om­ni­bus. Sie ha­ben sich ge­wiss schon mal ver­irrt in Ber­lin.« Und als Die­de­rich es zu­gab, zeig­te Herr Göp­pel sich be­frie­digt. »Das ist nicht wie in Net­zig. Hier lau­fen Sie gleich hal­be Tage. Was glau­ben Sie wohl, wenn Sie von Ih­rer Tieck­stra­ße bis hier­her zum Hal­le­schen Tor ge­hen, dann sind Sie ja schon drei­mal durch ganz Net­zig ge­stie­gen … Na, nächs­ten Sonn­tag kom­men Sie nun aber zum Mit­ta­ges­sen!«

Die­de­rich ver­sprach es. Als es so weit war, hät­te er lie­ber ab­ge­sagt; nur aus Furcht vor sei­nem Va­ter ging er hin. Dies­mal galt es so­gar, ein Al­lein­sein mit dem Fräu­lein zu be­ste­hen. Die­de­rich tat ge­schäf­tig und als sei er nicht auf­ge­legt, sich mit ihr zu be­fas­sen. Sie woll­te wie­der vom Thea­ter an­fan­gen, aber er schnitt mit rau­er Stim­me ab: er habe für so et­was kei­ne Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr ge­sagt, Herr Hess­ling stu­die­re Che­mie?

»Ja. Das ist über­haupt die ein­zi­ge Wis­sen­schaft, die Be­rech­ti­gung hat«, be­haup­te­te Die­de­rich, ohne zu wis­sen, wie er dazu kam.

Fräu­lein Göp­pel ließ ih­ren Beu­tel fal­len; er bück­te sich so nach­läs­sig, dass sie ihn wie­der hat­te, be­vor er zur Stel­le war. Trotz­dem sag­te sie dan­ke, ganz weich, fast be­schämt – was Die­de­rich är­ger­te. »Ko­ket­te Wei­ber sind et­was Gräss­li­ches«, dach­te er. Sie such­te in ih­rem Beu­tel.

»Jetzt hab’ ich es doch ver­lo­ren. Mein eng­li­sches Pflas­ter näm­lich. Es blu­tet wie­der.«

Sie wi­ckel­te ih­ren Fin­ger aus dem Ta­schen­tuch. Er hat­te so sehr die Wei­ße des Schnees, dass Die­de­rich der Ge­dan­ke kam, das Blut, das dar­auf lag, müs­se hin­ein­si­ckern.

»Ich habe wel­ches«, sag­te er, mit ei­nem Ruck.

Er er­griff ih­ren Fin­ger, und be­vor sie das Blut weg­wi­schen konn­te, hat­te er es ab­ge­leckt.

»Was ma­chen Sie denn?«

Er war selbst er­schro­cken. Er sag­te mit streng ge­fal­te­ten Brau­en: »Oh, ich als Che­mi­ker pro­bie­re noch ganz an­de­re Sa­chen.«

Sie lä­chel­te. »Ach ja, Sie sind eine Art Dok­tor … Wie gut Sie das kön­nen«, be­merk­te sie und sah ihm beim Auf­kle­ben des Pflas­ters zu.

»So«, mach­te er ab­leh­nend, und trat zu­rück. Ihm war es schwül ge­wor­den, er dach­te: »Wenn man nur nicht im­mer ihre Haut an­fas­sen müss­te! Sie ist wi­der­lich weich.« Ag­nes sah an ihm vor­bei. Nach ei­ner Pau­se ver­such­te sie: »Ha­ben wir nicht ei­gent­lich in Net­zig ge­mein­schaft­li­che Ver­wand­te?« Und sie nö­tig­te ihn, mit ihr ein paar Fa­mi­li­en durch­zu­ge­hen. Es stell­te sich Vet­tern­schaft her­aus.

»Sie ha­ben auch noch Ihre Mut­ter, nicht? Dann kön­nen Sie sich freu­en. Mei­ne ist längst tot. Ich wer­de wohl auch nicht lan­ge le­ben. Man hat so Ah­nun­gen« – und sie lä­chel­te weh­mü­tig und ent­schul­di­gend.

Die­de­rich be­schloss schwei­gend, die­se Sen­ti­men­ta­li­tät al­bern zu fin­den. Noch eine Pau­se – und wie sie bei­de ei­lig zum Spre­chen an­setz­ten, kam der Meck­len­bur­ger da­zwi­schen. Die Hand Die­de­richs drück­te er so kraft­voll, dass Die­de­richs Ge­sicht sich ver­zerr­te, und zu­gleich lä­chel­te er ihm sieg­haft in die Au­gen. Ohne wei­te­res zog er einen Stuhl bis vor Ag­nes’ Knie und frag­te hei­ter und mit Au­to­ri­tät nach al­lem Mög­li­chen, was nur sie bei­de an­ging. Die­de­rich war sich selbst über­las­sen und ent­deck­te, dass Ag­nes, so in Ruhe be­trach­tet, viel von ih­ren Schre­cken ver­lor. Ei­gent­lich war sie nicht hübsch. Sie hat­te eine zu klei­ne, nach in­nen ge­bo­ge­ne Nase, auf de­ren frei­lich sehr schma­lem Rücken Som­mer­spros­sen sa­ßen. Ihre gelb­brau­nen Au­gen la­gen zu nahe bei­ein­an­der und zuck­ten, wenn sie einen an­sah. Die Lip­pen wa­ren zu schmal, das gan­ze Ge­sicht war zu schmal. »Wenn sie nicht so viel braun­ro­tes Haar über der Stirn hät­te und dazu den wei­ßen Teint …« Auch be­rei­te­te es ihm Ge­nug­tu­ung, dass der Na­gel des Fin­gers, den er be­leckt hat­te, nicht ganz sau­ber ge­we­sen war.

Herr Göp­pel kam mit sei­nen drei Schwes­tern. Eine von ih­nen hat­te Mann und Kin­der mit. Der Va­ter und die Tan­ten um­arm­ten und küss­ten Ag­nes. Sie ta­ten es mit dring­li­cher In­nig­keit und hat­ten da­bei be­hut­sa­me Mie­nen. Das jun­ge Mäd­chen war schlan­ker und grö­ßer als sie alle und blick­te ein we­nig zer­streut auf sie hin­ab, die eben an ih­ren schmäch­ti­gen Schul­tern hing. Nur ih­rem Va­ter er­wi­der­te sie lang­sam und ernst sei­nen Kuss. Die­de­rich sah dem zu und sah in der Son­ne die hell­blau­en Adern, über­zo­gen von ro­ten Haa­ren, ihre Schlä­fe kreu­zen.

Er muss­te eine der Tan­ten ins Ess­zim­mer füh­ren. Der Meck­len­bur­ger hat­te Ag­nes’ Arm in den sei­nen ge­hängt. Um den lan­gen Fa­mi­li­en­tisch ra­schel­ten die sei­de­nen Sonn­tags­klei­der. Die Gehrö­cke wur­den über den Kni­en zu­sam­men­ge­legt. Man räus­per­te sich, die Her­ren rie­ben die Hän­de. Dann kam die Sup­pe.

Die­de­rich saß von Ag­nes weit weg und konn­te sie nicht se­hen, wenn er sich nicht vor­beug­te – was er sorg­fäl­tig ver­mied. Da sei­ne Nach­ba­rin ihn in Ruhe ließ, aß er große Men­gen Kalbs­bra­ten und Blu­men­kohl. Er hör­te aus­führ­lich das Es­sen be­spre­chen und muss­te be­stä­ti­gen, dass es schön schme­cke. Ag­nes ward vor dem Salat ge­warnt, ihr ward zu Rot­wein ge­ra­ten, und sie soll­te Aus­kunft ge­ben, ob sie heu­te Mor­gen Gum­mi­schu­he an­ge­habt habe. Herr Göp­pel er­zähl­te, Die­de­rich zu­ge­wandt, dass er und sei­ne Schwes­tern vor­hin in der Fried­rich­stra­ße, weiß Gott, aus­ein­an­der ge­kom­men sei­en und sich erst im Om­ni­bus wie­der­ge­fun­den hät­ten. »So et­was kann Ih­nen in Net­zig auch nicht pas­sie­ren«, rief er voll Stolz über den Tisch. Mahl­mann und Ag­nes spra­chen von ei­nem Kon­zert. Sie woll­te be­stimmt hin, ihr Papa wer­de es schon er­lau­ben. Herr Göp­pel mach­te zärt­li­che Ein­wän­de, und der Chor der Tan­ten be­glei­te­te sie. Ag­nes müs­se früh schla­fen ge­hen und bald in gute Luft hin­aus; sie habe sich im Win­ter über­an­strengt. Sie be­stritt es. »Ihr lasst mich nie­mals aus dem Hau­se. Ihr seid schreck­lich.«

Die­de­rich nahm in­ner­lich Par­tei für sie. Er hat­te eine Wal­lung von Hel­den­tum: er hät­te ma­chen wol­len, dass sie al­les dürf­te, dass sie glück­lich war und es ihm dank­te … Da frag­te Herr Göp­pel ihn, ob er in das Kon­zert wol­le. »Ich weiß nicht«, sag­te er ver­ächt­lich und sah Ag­nes an, die sich vor­beug­te. »Was ist das für eins? Ich gehe nur in Kon­zer­te, wo ich Bier trin­ken kann.«

»Sehr ver­nünf­tig«, sag­te der Schwa­ger des Herrn Göp­pel.

Ag­nes hat­te sich zu­rück­ge­zo­gen, und Die­de­rich be­reu­te sei­nen Auss­pruch.

Aber die Cre­me, auf die alle ge­spannt wa­ren, blieb aus. Herr Göp­pel riet sei­ner Toch­ter, ein­mal nach­zu­se­hen. Be­vor sie ih­ren Kom­pot­tel­ler hin­ge­setzt hat­te, war Die­de­rich auf­ge­sprun­gen – sein Stuhl flog an die Wand – und fes­ten Schritts zur Tür ge­eilt. »Ma­rie! Der Krehm!« rief er hin­aus. Rot und ohne je­mand an­zu­se­hen, ging er wie­der an sei­nen Platz. Aber er merk­te ganz gut, sie blin­zel­ten sich zu. Mahl­mann stieß so­gar höh­nisch den Atem aus. Der Schwa­ger äu­ßer­te mit künst­li­cher Harm­lo­sig­keit: »Im­mer ga­lant! So soll es sein.« Herr Göp­pel lä­chel­te zärt­lich zu Ag­nes hin, die nicht von ih­rem Kom­pott auf­sah. Die­de­rich stemm­te das Knie ge­gen die Tisch­plat­te, dass sie an­fing sich zu he­ben. Er dach­te: »Gott, o Gott, hät­te ich nur das nicht ge­tan!«

Beim Mahl­zeit­sa­gen gab er al­len die Hand, nur um Ag­nes drück­te er sich her­um. Im Ber­li­ner Zim­mer beim Kaf­fee wähl­te er sei­nen Sitz mit Sorg­falt dort, wo Mahl­manns brei­ter Rücken sie ihm ver­deck­te. Eine der Tan­ten woll­te sich sei­ner an­neh­men.

»Was stu­die­ren Sie denn, jun­ger Mann?« frag­te sie.

»Che­mie.«

»Ach so, Phy­sik?«

»Nein, Che­mie.«

»Ach so.«

Und so im­po­sant sie an­ge­fan­gen hat­te, hier­über kam sie nicht hin­weg. Die­de­rich nann­te sie im Stil­len eine dum­me Gans. Die gan­ze Ge­sell­schaft pass­te ihm nicht. Von feind­se­li­ger Schwer­mut er­füllt, sah er dar­ein, bis die letz­ten Ver­wand­ten auf­ge­bro­chen wa­ren. Ag­nes und ihr Va­ter hat­ten sie hin­aus­be­glei­tet. Herr Göp­pel kehr­te zu­rück, er­staunt, den jun­gen Mann al­lein noch im Zim­mer zu fin­den. Er schwieg for­schend, ein­mal fass­te er in die Ta­sche. Als Die­de­rich un­ver­mit­telt, ohne um Geld ge­be­ten zu ha­ben, Ab­schied nahm, be­kun­de­te Göp­pel große Herz­lich­keit. »Mei­ne Toch­ter werd’ ich von Ih­nen grü­ßen«, sag­te er so­gar, und an der Tür, nach­dem er ein we­nig über­legt hat­te: »Kom­men Sie doch nächs­ten Sonn­tag wie­der!«

Die­de­rich war fest ent­schlos­sen, das Haus nicht mehr zu be­tre­ten. Den­noch ließ er tags dar­auf al­les ste­hen und lie­gen, um sich durch die Stadt bis zu ei­nem Ge­schäft zu fra­gen, wo er für Ag­nes das Kon­zert­bil­lett kau­fen konn­te. Vor­her muss­te er auf den Zet­teln, die dort hin­gen, den Na­men des Vir­tuo­sen her­aus­fin­den, den Ag­nes er­wähnt hat­te. War es der? Hat­te er so ge­klun­gen? Die­de­rich ent­schloss sich. Als er dann er­fuhr, es kos­te vier Mark fünf­zig, riss er vor Schre­cken die Au­gen weit auf. So viel Geld, um einen zu se­hen, der Mu­sik mach­te! Wenn man nur ein­fach wie­der fort­ge­konnt hät­te! Als er be­zahlt hat­te und drau­ßen war, ent­rüs­te­te er sich zu­nächst über den Schwin­del. Dann be­dach­te er, dass es für Ag­nes ge­sche­hen sei, und ward von sich selbst er­schüt­tert. Im­mer wei­cher und glück­li­cher ging er durch das Ge­wühl. Es war das ers­te Geld, das er für einen an­de­ren Men­schen aus­ge­ge­ben hat­te.

Er leg­te das Bil­lett in einen Um­schlag, in den er nichts wei­ter leg­te, und schrieb die Adres­se, um sich nicht zu ver­ra­ten, mit Schön­schrift. Wie er dann am Brief­kas­ten stand, kam Mahl­mann da­her und lach­te höh­nisch. Die­de­rich fühl­te sich durch­schaut; er be­sah die Hand, die er aus dem Kas­ten zu­rück­ge­zo­gen hat­te. Aber Mahl­mann be­kun­de­te nur die Ab­sicht, sich Die­de­richs Bude an­zu­se­hen. Er fand, es sähe drin­nen aus wie bei ei­ner äl­te­ren Dame. So­gar die Kaf­fee­kan­ne hat­te Die­de­rich von zu Hau­se mit­ge­bracht! Die­de­rich schäm­te sich heiß. Als Mahl­mann die Che­mie­bü­cher ver­ächt­lich auf- und zu­klapp­te, schäm­te Die­de­rich sich sei­nes Fa­ches. Der Meck­len­bur­ger wälz­te sich ins Sofa und frag­te: »Wie ge­fällt Ih­nen denn die Göp­pel? Net­ter Kä­fer, was? Nun wird er wie­der rot! Pous­sie­ren Sie doch! Ich tre­te zu­rück, wenn Sie Wert dar­auf le­gen. Ich habe Aus­sicht bei fünf­zehn ver­schie­de­nen.«

Da Die­de­rich nach­läs­sig ab­wehr­te:

»Sie, da ist näm­lich was zu ma­chen. Ich müss­te gar nichts von Wei­bern ver­ste­hen. Die ro­ten Haa­re! – und ha­ben Sie nicht ge­merkt, wie sie einen an­sieht, wenn sie meint, man weiß es nicht?«

»Mich nicht«, sag­te Die­de­rich noch ge­ring­schät­zi­ger. »Ich pfei­fe auch dar­auf.«

»Ihr Scha­de!« Mahl­mann lach­te to­bend – wor­auf er vor­schlug, einen Bum­mel zu ma­chen. Daraus wur­de eine Bier­rei­se. Die ers­ten Gas­lich­ter sa­hen sie bei­de be­trun­ken. Et­was spä­ter, in der Leip­zi­ger Stra­ße, be­kam Die­de­rich ohne An­lass von Mahl­mann eine mäch­ti­ge Ohr­fei­ge. Er sag­te: »Au! Das ist aber doch eine –« Vor dem Wort »Frech­heit« schrak er zu­rück. Der Meck­len­bur­ger klopf­te ihm auf die Schul­ter. »Recht freund­lich, Klei­ner! Al­les bloß Freund­schaft!« – und über­dies nahm er Die­de­rich die letz­ten zehn Mark ab … Vier Tage spä­ter fand er ihn schwach vor Hun­ger und teil­te ihm von dem, was er in­zwi­schen an­ders­wo ge­pumpt hat­te, groß­mü­tig drei Mark mit. Am Sonn­tag bei Göp­pels – mit we­ni­ger lee­rem Ma­gen wäre Die­de­rich viel­leicht nicht hin­ge­gan­gen – er­zähl­te Mahl­mann, dass Hess­ling all sein Geld ver­lumpt habe und sich heu­te mal satt es­sen müs­se. Herr Göp­pel und sein Schwa­ger lach­ten ver­ständ­nis­voll, aber Die­de­rich hät­te lie­ber nie ge­bo­ren sein wol­len, als von Ag­nes so trau­rig prü­fend an­ge­se­hen wer­den. Sie ver­ach­te­te ihn! Verzwei­felt trös­te­te er sich: »Es ist al­les eins, sie hat es schon im­mer ge­tan!« Da frag­te sie, ob das Kon­zert­bil­lett viel­leicht von ihm ge­we­sen sei. Alle wand­ten sich ihm zu.

»Un­sinn! Wie soll­te ich dazu wohl kom­men«, ent­geg­ne­te er so un­lie­bens­wür­dig, dass sie ihm glaub­ten. Ag­nes zö­ger­te ein we­nig, be­vor sie weg­sah. Mahl­mann bot den Da­men Pra­linés an und stell­te die üb­ri­gen vor Ag­nes hin. Die­de­rich küm­mer­te sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vo­ri­ge Mal. Da doch alle mein­ten, er sei nur des­we­gen da! Als es hieß, der Kaf­fee sol­le im Gru­ne­wald ge­trun­ken wer­den, er­fand Die­de­rich so­fort eine Verab­re­dung. Er setz­te so­gar hin­zu: »Mit je­mand, den ich un­mög­lich war­ten las­sen kann.« Herr Göp­pel leg­te ihm sei­ne ge­drun­ge­ne Hand auf die Schul­ter, blin­zel­te ihn aus ge­senk­tem Kopf an und sag­te halb­laut: »Kei­ne Angst, Sie sind na­tür­lich ein­ge­la­den!« Aber Die­de­rich be­teu­er­te ent­rüs­tet, dass es nicht dar­an lie­ge. »Na, we­nigs­tens kom­men Sie wie­der, so­bald Sie Lust ha­ben«, schloss Göp­pel, und Ag­nes nick­te dazu. Sie schi­en so­gar et­was sa­gen zu wol­len, aber Die­de­rich war­te­te es nicht ab. Er ging den Rest des Ta­ges in selbst­zu­frie­de­ner Trau­er um­her, wie nach Voll­zie­hung ei­nes großen Op­fers. Am Abend in ei­nem über­füll­ten Bier­lo­kal saß er, den Kopf auf­ge­stützt, und nick­te von Zeit zu Zeit auf sein ein­sa­mes Glas hin­ab, als ver­ste­he er jetzt das Schick­sal.

Was war zu ma­chen ge­gen die ge­walt­tä­ti­ge Art, in der Mahl­mann sei­ne An­lei­hen auf­nahm? Am Sonn­tag hat­te dann der Meck­len­bur­ger einen Blu­men­strauß für Ag­nes, und Die­de­rich, der mit lee­ren Hän­den kam, hät­te sa­gen kön­nen: »Der ist ei­gent­lich von mir, Fräu­lein.« In­des­sen schwieg er, mit noch mehr Groll ge­gen Ag­nes als ge­gen Mahl­mann. Denn Mahl­mann for­der­te zur Be­wun­de­rung her­aus, wenn er des Nachts ei­nem Un­be­kann­ten nach­lief, um ihm den Zy­lin­der ein­zu­schla­gen – ob­wohl Die­de­rich kei­nes­wegs die War­nung ver­kann­te, die solch ein Vor­gang für ihn selbst ent­hielt.

Ende des Mo­nats, zu sei­nem Ge­burts­tag, be­kam er eine un­vor­her­ge­se­he­ne Sum­me, die sei­ne Mut­ter ihm er­spart hat­te, und er­schi­en bei Göp­pels mit ei­nem Bou­quet, kei­nem zu großen, um sich nicht bloß­zu­stel­len, und auch, um Mahl­mann nicht her­aus­zu­for­dern. Das jun­ge Mäd­chen hat­te, wie sie es nahm, ein er­grif­fe­nes Ge­sicht; und Die­de­rich lä­chel­te her­ab­las­send und ver­le­gen zu­gleich. Die­ser Sonn­tag deuch­te ihm un­er­hört fest­lich; er war nicht über­rascht, als man in den Zoo­lo­gi­schen Gar­ten ge­hen woll­te.

Die Ge­sell­schaft rück­te aus, nach­dem Mahl­mann sie ab­ge­zählt hat­te: elf Per­so­nen. Alle Frau­en un­ter­wegs wa­ren, wie Göp­pels Schwes­tern, voll­stän­dig an­ders an­ge­zo­gen als in der Wo­che: als sei­en sie heu­te von ei­ner hö­he­ren Klas­se oder hät­ten ge­erbt. Die Män­ner tru­gen Gehrö­cke: nur we­ni­ge in Ver­bin­dung mit schwar­zen Ho­sen, wie Die­de­rich, aber vie­le mit Stroh­hü­ten. Kam man durch eine Sei­ten­stra­ße, war sie breit, gleich­för­mig und leer, ohne einen Men­schen, ohne einen Pfer­de­ap­fel. Ein­mal doch tanz­te ein Kreis klei­ner Mäd­chen in wei­ßen Klei­dern, schwar­zen St­rümp­fen und ganz be­han­gen mit Schlei­fen, schrill sin­gend, einen Rin­gel­rei­hen. Gleich dar­auf, in der Ver­kehrs­ader, stürm­ten schwit­zen­de Ma­tro­nen einen Om­ni­bus; und die Ge­sich­ter der Kom­mis,2 die un­nach­sicht­lich mit ih­nen um die Plät­ze ran­gen, sa­hen ne­ben ih­ren hef­tig ro­ten zum Um­fal­len blass aus. Al­les dräng­te vor­wärts, al­les stürz­te ei­nem Ziel zu, wo end­lich das Ver­gnü­gen an­fan­gen soll­te. Alle Mie­nen sag­ten hart: »Nu los, ge­ar­bei­tet ha­ben wir ge­nug!«

Die­de­rich kehr­te vor den Da­men den Ber­li­ner her­aus. In der Stadt­bahn er­ober­te er ih­nen meh­re­re Sit­ze. Ei­nen Herrn, der im Be­griff stand, einen weg­zu­neh­men, hin­der­te er dar­an, in­dem er ihn hef­tig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: »Fle­gel!« Die­de­rich ant­wor­te­te ihm im sel­ben Sinn. Da zeig­te es sich, dass Herr Göp­pel ihn kann­te – und kaum ein­an­der vor­ge­stellt, be­kun­de­ten Die­de­rich und der an­de­re die rit­ter­lichs­ten Sit­ten. Kei­ner woll­te sit­zen, um den an­de­ren nicht ste­hen zu las­sen.

Am Tisch im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten ge­riet Die­de­rich ne­ben Ag­nes – warum ging heu­te al­les glück­lich? –, und als sie gleich nach dem Kaf­fee zu den Tie­ren woll­te, un­ter­stütz­te er sie stür­misch. Er war voll Un­ter­neh­mungs­lust. Vor dem en­gen Gang zwi­schen den Raub­tier­kä­fi­gen kehr­ten die Da­men um. Die­de­rich trug Ag­nes sei­ne Beglei­tung an. »Da neh­men Sie doch lie­ber mich mit hin­ein«, sag­te Mahl­mann. »Wenn wirk­lich eine Stan­ge los­ge­hen soll­te –«

»Dann ma­chen Sie sie auch nicht wie­der fest«, ent­geg­ne­te Ag­nes und trat ein, wäh­rend Mahl­mann sein Ge­läch­ter auf­schlug. Die­de­rich blieb hin­ter ihr. Ihm war ban­ge: vor den Bes­ti­en, die von rechts und links auf ihn zu­stürz­ten, ohne an­de­ren Laut als den des Atems, den sie über ihn hin­s­tie­ßen – und vor dem jun­gen Mäd­chen, des­sen Blu­men­duft ihm vor­an­zog. Ganz hin­ten wand­te sie sich um und sag­te:

»Ich mag das Re­nom­mie­ren nicht!«

»Wirk­lich?« frag­te Die­de­rich, vor Freu­de ge­rührt.

»Heu­te sind Sie mal nett«, sag­te Ag­nes; und er:

»Ich möch­te es ei­gent­lich im­mer sein.«

»Wirk­lich?« – Und jetzt war es an ih­rer Stim­me, ein we­nig zu schwan­ken. Sie sa­hen ein­an­der an, je­der mit ei­ner Mie­ne, als ver­dien­te er das al­les nicht. Das jun­ge Mäd­chen sag­te kla­gend:

»Die Tie­re rie­chen aber furcht­bar.«

Und sie gin­gen zu­rück.

Mahl­mann emp­fing sie. »Ich woll­te nur se­hen, ob Sie nicht aus­rei­ßen wür­den.« Dann nahm er Die­de­rich bei­sei­te. »Na? Was macht die Klei­ne? Geht es bei Ih­nen auch? Ich hab’ es gleich ge­sagt, dass es kei­ne Kunst ist.«

Da Die­de­rich stumm blieb:

»Sie sind wohl scharf ins Zeug ge­gan­gen? Wis­sen Sie was? Ich bin nur noch ein Se­mes­ter in Ber­lin; dann kön­nen Sie mich be­er­ben. Aber so lan­ge war­ten Sie ge­fäl­ligst –« Auf sei­nem un­ge­heu­ren Rumpf ward sein klei­ner Kopf plötz­lich tückisch an­zu­se­hen. »– Freund­chen!«

Und Die­de­rich war ent­las­sen. Er hat­te einen hef­ti­gen Schre­cken be­kom­men und wag­te sich gar nicht mehr in Ag­nes’ Nähe. Sie hör­te nicht sehr auf­merk­sam auf Mahl­mann, sie rief rück­wärts: »Papa! Heu­te ist es schön, heu­te geht es mir aber wirk­lich gut.«

Herr Göp­pel nahm ih­ren Arm zwi­schen sei­ne bei­den Hän­de und tat, als woll­te er fest zu­drücken, aber er be­rühr­te sie kaum. Sei­ne blan­ken Au­gen lach­ten und wa­ren feucht. Als die Fa­mi­lie Ab­schied ge­nom­men hat­te, ver­sam­mel­te er sei­ne Toch­ter und die bei­den jun­gen Leu­te um sich und er­klär­te ih­nen, der Tag müs­se ge­fei­ert wer­den; sie woll­ten die Lin­den ent­lang­ge­hen und nach­her ir­gend­wo es­sen.

»Papa wird leicht­sin­nig!« rief Ag­nes und sah sich nach Die­de­rich um. Aber er hielt die Au­gen ge­senkt. In der Stadt­bahn be­nahm er sich so un­ge­schickt, dass er weit von den an­de­ren ge­trennt ward; und im Ge­drän­ge der Fried­rich­stadt blieb er mit Herrn Göp­pel al­lein zu­rück. Plötz­lich hielt Göp­pel an, tas­te­te ver­stört auf sei­nem Ma­gen um­her und frag­te:

»Wo ist mei­ne Uhr?«

Sie war fort mit­samt der Ket­te. Mahl­mann sag­te:

»Wie lan­ge sind Sie schon in Ber­lin, Herr Göp­pel?«

»Ja­wohl!« – und Göp­pel wen­de­te sich an Die­de­rich. »Drei­ßig Jah­re bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht pas­siert.« Und stolz trotz al­lem: »Se­hen Sie, das gib­t’s in Net­zig über­haupt nicht!«

Nun muss­te man, statt zu es­sen, auf das Po­li­zei­re­vier und ein Ver­hör be­ste­hen. Und Ag­nes hus­te­te. Göp­pel zuck­te zu­sam­men. »Wir wä­ren jetzt doch zu müde«, mur­mel­te er. Mit künst­li­cher Jo­via­li­tät ver­ab­schie­de­te er Die­de­rich, der Ag­nes’ Hand über­sah und lin­kisch den Hut zog. Auf ein­mal, mit über­ra­schen­der Ge­schick­lich­keit und ehe Mahl­mann be­griff, was vor­ging, schwang er sich auf einen vor­bei­fah­ren­den Om­ni­bus. Er war ent­kom­men! Und jetzt fin­gen die Fe­ri­en an! Er war al­les los! Zu Hau­se frei­lich warf er die schwers­ten sei­ner Che­miebän­de mit Kra­chen auf den Bo­den. Er hielt so­gar schon die Kaf­fee­kan­ne in der Hand. Aber bei dem Geräusch ei­ner Tür be­gann er so­fort, al­les wie­der auf­zu­le­sen. Dann setz­te er sich still in die So­fae­cke, stütz­te den Kopf und wein­te. Wäre es nicht vor­her so schön ge­we­sen! Er war ihr auf den Leim ge­gan­gen. So mach­ten es die Mäd­chen: dass sie manch­mal mit ei­nem so ta­ten, und da­bei woll­ten sie einen nur mit ei­nem Kerl aus­la­chen. Die­de­rich war sich tief be­wusst, dass er es mit so ei­nem Kerl nicht auf­neh­men kön­ne. Er sah sich ne­ben Mahl­mann und wür­de es nicht be­grif­fen ha­ben, hät­te eine sich für ihn ent­schie­den. »Was hab’ ich mir nur ein­ge­bil­det?« dach­te er. »Eine, die sich in mich ver­liebt, muss wirk­lich dumm sein.« Er litt große Angst, der Meck­len­bur­ger kön­ne kom­men und ihn noch är­ger be­dro­hen. »Ich will sie gar nicht mehr. Wäre ich nur schon fort!« Die nächs­ten Tage saß er in töd­li­cher Span­nung bei ver­schlos­se­ner Tür. Kaum war sein Geld da, reis­te er.

Sei­ne Mut­ter frag­te, be­frem­det und ei­fer­süch­tig, was er habe. Nach so kur­z­er Zeit sei er kein Jun­ge mehr. »Ja, das Ber­li­ner Pflas­ter!«

Die­de­rich griff zu, als sie ver­lang­te, er sol­le an eine klei­ne Uni­ver­si­tät, nicht wie­der nach Ber­lin. Der Va­ter fand, dass es ein Für und ein Wi­der gäbe. Die­de­rich muss­te ihm viel von Göp­pels be­rich­ten. Ob er die Fa­brik ge­se­hen habe. Und war er bei den an­de­ren Ge­schäfts­freun­den ge­we­sen? Herr Hess­ling wünsch­te, dass Die­de­rich die Fe­ri­en be­nut­ze, um in der vä­ter­li­chen Werk­stät­te den Gang der Pa­pier­ver­fer­ti­gung ken­nen­zu­ler­nen. »Ich bin nicht mehr der Jüngs­te, und mein Gra­nat­split­ter hat mich auch schon lan­ge nicht so ge­kit­zelt.«

Die­de­rich ent­wisch­te, so­bald er konn­te, um im Wald von Gäb­bel­chen oder längs des Nug­ge­ba­ches bei Goh­se spa­zie­ren­zu­ge­hen und sich mit der Na­tur eins zu füh­len. Denn das konn­te er jetzt. Zum ers­ten Mal fiel es ihm auf, dass die Hü­gel da­hin­ten trau­rig oder wie eine große Sehn­sucht aus­sa­hen, und was als Son­ne oder Re­gen vom Him­mel fiel, wa­ren Die­de­richs hei­ße Lie­be und sei­ne Trä­nen. Denn er wein­te viel. Er ver­such­te so­gar zu dich­ten.

Als er ein­mal die Lö­wen­apo­the­ke be­trat, stand hin­ter dem La­den­tisch sein Schul­ka­me­rad Gott­lieb Hor­nung. »Ja, ich spiel’ hier den Som­mer über ’n biss­chen Apo­the­ker«, er­klär­te er. Er hat­te sich so­gar schon aus Ver­se­hen ver­gif­tet und sich da­bei nach hin­ten zu­sam­men­ge­rollt wie ein Aal. Die gan­ze Stadt hat­te da­von ge­spro­chen! Aber zum Herbst ging er nun nach Ber­lin, um die Sa­che wis­sen­schaft­lich an­zu­fas­sen. Ob denn in Ber­lin was los sei. Ho­cher­freut über den Be­sitz sei­ner Über­le­gen­heit fing Die­de­rich an, mit sei­nen Ber­li­ner Er­leb­nis­sen zu prah­len. Der Apo­the­ker ver­hieß: »Wir bei­de zu­sam­men stel­len Ber­lin auf den Kopf.«

Und Die­de­rich war schwach ge­nug, zu­zu­sa­gen. Die klei­ne Uni­ver­si­tät ward ver­wor­fen. Am Ende des Som­mers – Hor­nung hat­te noch ei­ni­ge Tage zu prak­ti­zie­ren – kehr­te Die­de­rich nach Ber­lin zu­rück. Er mied das Zim­mer in der Tieck­stra­ße. Vor Mahl­mann und den Göp­pels flüch­te­te er bis nach Ge­sund­brun­nen hin­aus. Dort war­te­te er auf Hor­nung. Aber Hor­nung, der sei­ne Abrei­se ge­mel­det hat­te, blieb aus; und als er end­lich kam, trug er eine grün-gelb-rote Müt­ze. Er war so­fort von ei­nem Kol­le­gen für eine Ver­bin­dung ge­keilt wor­den. Auch Die­de­rich soll­te ihr bei­tre­ten; es wa­ren die Neu­teu­to­nen, eine hoch­fei­ne Kor­po­ra­ti­on, sag­te Hor­nung; al­lein sechs Phar­ma­zeu­ten wa­ren da­bei. Die­de­rich ver­barg sei­nen Schre­cken un­ter der Mas­ke der Ge­ring­schät­zung, aber es half nichts. Er sol­le Hor­nung nicht bla­mie­ren, der von ihm ge­spro­chen habe; einen Be­such we­nigs­tens müs­se er ma­chen.

»Aber nur einen«, sag­te er fest.

Der eine dau­er­te, bis Die­de­rich un­ter dem Tisch lag und sie ihn fort­schaff­ten. Als er aus­ge­schla­fen hat­te, hol­ten sie ihn zum Früh­schop­pen; Die­de­rich war Kon­knei­pant ge­wor­den.

Und für die­sen Pos­ten fühl­te er sich be­stimmt. Er sah sich in einen großen Kreis von Men­schen ver­setzt, de­ren kei­ner ihm et­was tat oder et­was an­de­res von ihm ver­lang­te, als dass er trin­ke. Voll Dank­bar­keit und Wohl­wol­len er­hob er ge­gen je­den, der ihn dazu an­reg­te, sein Glas. Das Trin­ken und Nicht­trin­ken, das Sit­zen, Ste­hen, Spre­chen oder Sin­gen hing meis­tens nicht von ihm selbst ab. Al­les ward laut kom­man­diert, und wenn man es rich­tig be­folg­te, leb­te man mit sich und der Welt in Frie­den. Als Die­de­rich beim Sala­man­der zum ers­ten Male nicht nach­klapp­te, lä­chel­te er in die Run­de, bei­na­he ver­schämt durch die ei­ge­ne Voll­kom­men­heit!

Und das war noch nichts ge­gen sei­ne Si­cher­heit im Ge­sang! Die­de­rich hat­te in der Schu­le zu den bes­ten Sän­gern ge­hört und schon in sei­nem ers­ten Lie­der­heft die Sei­ten­zah­len aus­wen­dig ge­wusst, wo je­des Lied zu fin­den war. Jetzt brauch­te er in das Kom­mers­buch, das auf großen Nä­geln in der La­che von Bier lag, nur den Fin­ger zu schie­ben, und traf vor al­len an­de­ren die Num­mer, die ge­sun­gen wer­den soll­te. Oft hing er den gan­zen Abend mit Ehr­er­bie­tung am Mun­de des Prä­ses: ob viel­leicht sein Lieb­lings­stück dran­käme. Dann dröhn­te er tap­fer: »Sie wis­sen den Teu­fel, was Frei­heit heißt«, hör­te ne­ben sich den di­cken De­litzsch brum­men und fühl­te sich woh­lig ge­bor­gen in dem Halb­dun­kel des nied­ri­gen alt­deut­schen Lo­kals, mit den Müt­zen an der Wand, an­ge­sichts des Kran­zes ge­öff­ne­ter Mün­der, die alle das­sel­be tran­ken und san­gen, bei dem Ge­ruch des Bie­res und der Kör­per, die es in der Wär­me wie­der aus­schwitz­ten. Ihm war, wenn es spät ward, als schwit­ze er mit ih­nen al­len aus dem­sel­ben Kör­per. Er war un­ter­ge­gan­gen in der Kor­po­ra­ti­on, die für ihn dach­te und woll­te. Und er war ein Mann, durf­te sich selbst hoch­ach­ten und hat­te eine Ehre, weil er da­zu­ge­hör­te! Ihn her­aus­rei­ßen, ihm ein­zeln et­was an­ha­ben, das konn­te kei­ner! Mahl­mann hät­te sich ein­mal her­wa­gen und es ver­su­chen sol­len: zwan­zig Mann wä­ren statt Die­de­richs ge­gen ihn auf­ge­stan­den! Die­de­rich wünsch­te ihn ge­ra­de­zu her­bei, so furcht­los war er. Wo­mög­lich soll­te er mit Göp­pel kom­men, dann moch­ten sie se­hen, was aus Die­de­rich ge­wor­den war, dann war er ge­rächt!

Gleich­wohl gab ihm die meis­te Sym­pa­thie der Harm­lo­ses­te von al­len ein, sein Nach­bar, der di­cke De­litzsch. Et­was tief Be­ru­hi­gen­des, Ver­trau­en­ge­stat­ten­des wohn­te in die­ser glat­ten, wei­ßen und hu­mor­vol­len Speck­mas­se, die un­ten breit über die Stuhl­rän­der quoll, in meh­re­ren Wüls­ten die Tisch­hö­he er­reich­te und dort, als sei nun das Äu­ßers­te ge­tan, auf­ge­stützt blieb, ohne eine an­de­re Be­we­gung als das He­ben und Hin­stel­len des Bier­gla­ses. De­litzsch war, wie nie­mand sonst, an sei­nem Platz; wer ihn da­sit­zen sah, ver­gaß, dass er ihn je auf den Bei­nen er­blickt hat­te. Er war aus­schließ­lich zum Sit­zen am Bier­tisch ein­ge­rich­tet. Sein Ho­sen­bo­den, der in je­dem an­de­ren Zu­stand tief und me­lan­cho­lisch her­ab­hing, fand nun sei­ne wah­re Ge­stalt und bläh­te sich macht­voll. Erst mit De­litz­sch’ hin­te­rem Ge­sicht blüh­te auch sein vor­de­res auf. Le­bens­freu­de über­glänz­te es, und er ward wit­zig.

Ein Dra­ma ent­stand, wenn ein jun­ger Fuchs sich den Scherz mach­te, ihm das Bier­glas weg­zu­neh­men. De­litzsch rühr­te kein Glied, aber sei­ne Mie­ne, die dem ge­raub­ten Gla­se über­all­hin folg­te, ent­hielt plötz­lich den gan­zen, stür­misch be­weg­ten Ernst des Da­seins, und er rief in säch­si­schem Schrei­te­nor: »Jun­ge, dass de mir nischt ver­schüt­test! Was ent­ziehst de mir über­haupt mein’ Lä­bens­un­ter­halt! Das ist ’ne ganz ge­mei­ne, bös­wil­li­che Exis­tenz­schä­di­chung, und ich kann dich glatt ver­klaa­chen!«

Dau­er­te der Spaß zu lan­ge, senk­ten sich De­litz­sch’ wei­ße Fett­wan­gen, und er bat, er mach­te sich klein. So­bald er aber das Bier zu­rück hat­te: wel­che all­um­fas­sen­de Aussöh­nung in sei­nem Lä­cheln, wel­che Ver­klä­rung! Er sag­te: »De bist doch ä gu­tes Lu­der, de sollst läm, prost!« – trank aus und klopf­te mit dem De­ckel nach dem Korps­die­ner: »Herr Ober­kör­per!«

Nach ei­ni­gen Stun­den ge­sch­ah es wohl, dass sein Stuhl sich mit ihm um­dreh­te und De­litzsch den Kopf über das Be­cken der Was­ser­lei­tung hielt. Das Was­ser plät­scher­te, De­litzsch gur­gel­te er­stickt, und ein paar an­de­re stürz­ten, durch sei­ne Lau­te an­ge­regt, in die Toi­let­te. Noch ein we­nig sau­er von Ge­sicht, aber schon mit fri­scher Schel­me­rei, rück­te De­litzsch an den Tisch zu­rück.

»Na, nu geht’s ja wie­der«, sag­te er; und: »Wo­von habt ’r denn ge­redt, wäh­rend ich an­der­wei­tig be­schäf­tigt war? Wisst ihr denn egal nischt wie Wei­ber­ge­schich­ten? Was koof’ ich mir für die Wei­ber?« Im­mer lau­ter: »Nich mal ä sau­ern Schop­pen kann ’ch mir da­für koofen. Sie, Herr Ober­kör­per!«

Die­de­rich gab ihm recht. Er hat­te die Wei­ber ken­nen­ge­lernt, er war mit ih­nen fer­tig. Un­ver­gleich­lich idea­le­re Wer­te ent­hielt das Bier.

Das Bier! Der Al­ko­hol! Da saß man und konn­te im­mer noch mehr da­von ha­ben, das Bier war nicht wie ko­ket­te Wei­ber, son­dern treu und ge­müt­lich. Beim Bier brauch­te man nicht zu han­deln, nichts zu wol­len und zu er­rei­chen, wie bei den Wei­bern. Al­les kam von selbst. Man schluck­te: und da hat­te man es schon zu et­was ge­bracht, fühl­te sich auf die Hö­hen des Le­bens be­för­dert und war ein frei­er Mann, in­ner­lich frei. Das Lo­kal hät­te von Po­li­zis­ten um­stellt sein dür­fen: das Bier, das man schluck­te, ver­wan­del­te sich in in­ne­re Frei­heit. Und man hat­te sein Ex­amen so gut wie be­stan­den. Man war »fer­tig«, war Dok­tor! Man füll­te im bür­ger­li­chen Le­ben eine Stel­lung aus, war reich und von Wich­tig­keit: Chef ei­ner mäch­ti­gen Fa­brik von An­sichts­kar­ten oder Toi­let­ten­pa­pier. Was man mit sei­ner Le­bens­ar­beit schuf, war in tau­send Hän­den. Man brei­te­te sich, vom Bier­tisch her, über die Welt aus, ahn­te große Zu­sam­men­hän­ge, ward eins mit dem Welt­geist. Ja, das Bier er­hob einen so sehr über das Selbst, dass man Gott fand!

Gern hät­te er es jah­re­lang so wei­ter­ge­trie­ben. Aber die Neu­teu­to­nen lie­ßen ihn nicht. Fast vom ers­ten Tage an hat­ten sie ihm den mo­ra­li­schen und ma­te­ri­el­len Wert ei­ner völ­li­gen Zu­ge­hö­rig­keit zur Ver­bin­dung ge­schil­dert; all­mäh­lich aber gin­gen sie im­mer un­ver­blüm­ter dar­auf aus, ihn zu kei­len. Ver­ge­bens be­rief sich Die­de­rich auf sei­ne an­er­kann­te Stel­lung als Kon­knei­pant, in die er sich ein­ge­lebt habe und die ihn be­frie­di­ge. Sie ent­geg­ne­ten, dass der Zweck des stu­den­ti­schen Zu­sam­menschlus­ses, näm­lich die Er­zie­hung zur Mann­haf­tig­keit und zum Idea­lis­mus, durch das Knei­pen al­lein, so viel es auch bei­tra­ge, noch nicht ganz er­füllt wer­de. Die­de­rich zit­ter­te; nur zu gut er­kann­te er, wor­auf die­ses hin­aus­lief. Er soll­te pau­ken! Schon im­mer hat­te es ihn un­heim­lich an­ge­weht, wenn sie mit ih­ren Stö­cken in der Luft ihm die Schlä­ge vor­ge­führt hat­ten, die sie ein­an­der bei­ge­bracht ha­ben woll­ten; oder wenn ei­ner von ih­nen eine schwar­ze Müt­ze um den Kopf hat­te und nach Jo­do­form roch. Jetzt dach­te er ge­presst: »Wa­rum bin ich da­bei­ge­blie­ben und Kon­knei­pant ge­wor­den! Nun muss ich ’ran.«

Er muss­te. Aber gleich die ers­ten Er­fah­run­gen be­ru­hig­ten ihn. Er war so sorg­sam ein­ge­wi­ckelt, be­helmt und be­brillt wor­den, dass ihm un­mög­lich viel ge­sche­hen konn­te. Da er kei­nen Grund hat­te, den Kom­man­dos nicht ge­ra­de so wil­lig und ge­leh­rig nach­zu­kom­men wie in der Knei­pe, lern­te er fech­ten, schnel­ler als an­de­re. Beim ers­ten Durch­zie­her ward ihm schwach: über die Wan­ge fühl­te er es rin­nen. Als er dann ge­näht war, hät­te er am liebs­ten ge­tanzt vor Glück. Er warf es sich vor, dass er die­sen gut­mü­ti­gen Men­schen ge­fähr­li­che Ab­sich­ten zu­ge­traut hat­te. Gera­de der, den er am meis­ten ge­fürch­tet hat­te, nahm ihn un­ter sei­nen Schutz und ward ihm ein wohl­ge­sinn­ter Er­zie­her.

Wie­bel war Ju­rist, was ihm al­lein schon Die­de­richs Un­ter­ord­nung ge­si­chert hät­te. Nicht ohne Selbst­zer­knir­schung sah er die eng­li­schen Stof­fe an, in die Wie­bel sich klei­de­te, und die far­bi­gen Hem­den, von de­nen er im­mer meh­re­re ab­wech­selnd trug, bis sie alle in die Wä­sche muss­ten. Das Be­klem­mends­te aber wa­ren Wie­bels Ma­nie­ren. Wenn er mit leich­ter, ele­gan­ter Ver­beu­gung Die­de­rich zu­trank, klapp­te Die­de­rich – und sei­ne Mie­ne war lei­dend vor An­stren­gung – tief zu­sam­men, ver­schüt­te­te die eine Hälf­te und ver­schluck­te sich mit der an­de­ren. Wie­bel sprach mit lei­ser, ar­ro­gan­ter Feu­dal­stim­me.

»Man kann sa­gen, was man will«, be­merk­te er gern, »For­men sind kein lee­rer Wahn.«

Für das F in »For­men« mach­te er sei­nen Mund zu ei­nem klei­nen schwar­zen Maus­loch und stieß es lang­sam ge­schwellt her­aus. Die­de­rich un­ter­lag je­des Mal wie­der dem Schau­er von so viel Vor­nehm­heit. Al­les an Wie­bel dünk­te ihm er­le­sen: dass die röt­li­chen Bart­haa­re ganz oben auf der Lip­pe wuch­sen, und sei­ne lan­gen, ge­krümm­ten Nä­gel – nach un­ten ge­krümmt, nicht, wie bei Die­de­rich, nach oben; der star­ke männ­li­che Duft, der von Wie­bel aus­ging, auch sei­ne ab­ste­hen­den Ohren, die die Wir­kung des durch­ge­zo­ge­nen Schei­tels er­höh­ten, und die ka­ter­haft in Schlä­fen­wuls­te ge­bet­te­ten Au­gen. Die­de­rich hat­te das al­les im­mer nur im un­be­ding­ten Ge­fühl des ei­ge­nen Un­wer­tes mit an­ge­se­hen. Seit aber Wie­bel ihn an­re­de­te und sich so­gar zu sei­nem Gön­ner mach­te, war es Die­de­rich, als sei ihm erst jetzt das Recht aufs Da­sein be­stä­tigt. Er hat­te Lust, dank­bar zu we­deln. Sein Herz wei­te­te sich vor glück­li­cher Be­wun­de­rung. Wenn sei­ne Wün­sche sich so hoch hin­aus­ge­wagt hät­ten, auch er hät­te gern sol­chen ro­ten Hals ge­habt und im­mer ge­schwitzt. Welch ein Traum, säu­seln zu kön­nen wie Wie­bel!

Und nun durf­te Die­de­rich ihm die­nen, er war sein Leib­fuchs! Stets wohn­te er Wie­bels Er­wa­chen bei, such­te ihm sei­ne Sa­chen zu­sam­men – und da Wie­bel in­fol­ge un­re­gel­mä­ßi­ger Be­zah­lung mit der Wir­tin schlecht stand, be­sorg­te Die­de­rich ihm den Kaf­fee und rei­nig­te ihm die Schu­he. Da­für durf­te er mit­ge­hen auf al­len We­gen. Wenn Wie­bel ein Be­dürf­nis ver­rich­te­te, hielt Die­de­rich drau­ßen Wa­che, und er wünsch­te sich nur, sei­nen Schlä­ger da­zu­ha­ben, um ihn schul­tern zu kön­nen.