Der Ursprung der Zeit – Mein Weg mit Stephen Hawking zu einer neuen Theorie des Universums - Thomas Hertog - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Ursprung der Zeit – Mein Weg mit Stephen Hawking zu einer neuen Theorie des Universums E-Book

Thomas Hertog

0,0
22,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Buch, das Stephen Hawking nicht mehr schreiben konnte: Eine neue Theorie über die Entstehung unseres Universums. Stephen Hawking und der Kosmologe Thomas Hertog arbeiteten zwanzig Jahre lang Seite an Seite an einer neuen Theorie des Kosmos. Kurz vor Hawkings Tod veröffentlichten sie einen wissenschaftlichen Artikel, der die Welt der Physik in Staunen versetzte. Darin revidierten sie Hawkings »Eine kurze Geschichte der Zeit« und formulierten eine revolutionäre Idee: Die Gesetze der Physik sind nicht in Stein gemeißelt, sondern entwickeln sich gemeinsam mit dem Universum. Nötig ist nicht weniger als eine neue Philosophie der Physik. In »Der Ursprung der Zeit« erklärt Thomas Hertog Hawkings wissenschaftliches Vermächtnis und erzählt von der Arbeit und Freundschaft mit dem berühmten Physiker. Entstanden ist eine neue und faszinierende Theorie des Urknalls, der Zeit und der Entstehung unseres Universums. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein persönliches Porträt des Ausnahmephysikers Stephen Hawking – geschrieben aus der Perspektive eines seiner engsten Mitarbeiter.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 557

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Hertog

Der Ursprung der Zeit

Mein Weg mit Stephen Hawking zu einer neuen Theorie des Universums

 

Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Martina Wiese

 

Über dieses Buch

 

 

Stephen Hawking und der Kosmologe Thomas Hertog arbeiteten zwanzig Jahre lang Seite an Seite an einer neuen Theorie des Kosmos. Kurz vor Hawkings Tod veröffentlichten sie einen wissenschaftlichen Artikel, der die Welt der Physik in Staunen versetzte. Darin revidierten sie Hawkings »Eine kurze Geschichte der Zeit« und formulierten eine revolutionäre Idee: Die Gesetze der Physik sind nicht in Stein gemeißelt, sondern entwickeln sich gemeinsam mit dem Universum. Nötig ist nicht weniger als eine neue Philosophie der Physik.

In »Der Ursprung der Zeit« erklärt Thomas Hertog Hawkings wissenschaftliches Vermächtnis und erzählt von der Arbeit und Freundschaft mit dem berühmten Physiker. Entstanden ist eine neue und faszinierende Theorie des Urknalls, der Zeit und der Entstehung unseres Universums. Gleichzeitig zeichnet das Buch ein persönliches Porträt des Ausnahmephysikers Stephen Hawking – geschrieben aus der Perspektive eines seiner engsten Mitarbeiter.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Thomas Hertog, geboren 1975, studierte Physik in Belgien. Anschließend promovierte er an der University of Cambridge bei Stephen Hawking. Nach Stationen an der University of Santa Barbara in Kalifornien, der Université Paris VII und dem Forschungszentrum CERN in Genf lehrt er nun theoretische Physik an der Universität von Löwen. 2018 veröffentlichte er mit Stephen Hawking den bahnbrechenden Aufsatz »A smooth exit from eternal inflation?«. Thomas Hertog lebt in Löwen in Belgien.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Anmerkung des Autors:

Vorwort

Kapitel 1 Ein Paradox

Kapitel 2 Tag ohne Gestern

Kapitel 3 Kosmogenese

Kapitel 4 Asche und Rauch

Kapitel 5 Verloren im Multiversum

Kapitel 6 Keine Frage? Keine Geschichte!

Kapitel 7 Zeit ohne Zeit

Kapitel 8 Zu Hause im Universum

Dank

Abbildungsverzeichnis

Bibliographie

Register

[Die Abbildungen des Buches]

[Bildinnenteil]

Für Nathalie

La question de l’origine cache l’origine de la question.

François Jacqmin

 

[Die Frage nach dem Ursprung verbirgt den Ursprung der Frage.]

Anmerkung des Autors:

Zahlreiche Gespräche, die ich mit Stephen im Laufe von 20 Jahren geführt habe, habe ich möglichst wortgetreu wiedergegeben. Zitate von Stephen, die auch veröffentlicht wurden, werden in den Anmerkungen mit Quellenangaben belegt.

Vorwort

Die Tür zu Stephen Hawkings Büro war olivgrün, und obwohl der lärmende Aufenthaltsraum gleich nebenan lag, ließ Stephen sie immer einen Spalt offen stehen. Ich klopfte, trat ein und hatte das Gefühl, in eine zeitlose Welt konzentrierten Nachdenkens einzutauchen.

Stephen saß mit dem Gesicht zum Eingang still hinter seinem Schreibtisch, den Kopf – zu schwach, ihn aufrecht zu halten – gegen eine Stütze an seinem Rollstuhl gelehnt. Langsam hob er den Blick und begrüßte mich mit einem Lächeln, als habe er mich schon lange erwartet. Seine Pflegerin bot mir einen Stuhl neben ihm an und ich spähte zum Computer auf seinem Schreibtisch hinüber. Ein Bildschirmschoner spulte unablässig die gleichen Worte ab: Lasst uns in Galaxien vordringen, in die sich die Enterprise nie hineinwagen würde.

Es war Mitte Juni 1998 und wir befanden uns tief im Labyrinth des DAMTP, dem berühmten Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics in Cambridge. Das DAMTP war in einem knarzenden viktorianischen Gebäude auf dem Gelände der Old Press am Ufer des Cam untergebracht; fast 30 Jahre lang war dies Stephens Basiscamp gewesen, der Dreh- und Angelpunkt seiner wissenschaftlichen Unternehmungen. Hier hatte er – angewiesen auf den Rollstuhl und buchstäblich außerstande, auch nur einen Finger zu rühren – leidenschaftlich darum gerungen, sich den Kosmos gefügig zu machen.

Stephens Mitarbeiter Neil Turok hatte mir mitgeteilt, der Meister wünsche mich zu sprechen. Turoks lebhaftes Seminar im Rahmen des renommierten Masterstudiengangs in Mathematik am DAMTP hatte erst kürzlich mein Interesse an Kosmologie geweckt. Stephen hatte anscheinend Wind von meinen ausgezeichneten Examensnoten bekommen und wollte sich vergewissern, ob ich mich unter seinen Fittichen als brauchbarer Doktorand erweisen würde.

Stephens verstaubtes altes Büro, vollgepackt mit Büchern und wissenschaftlichen Aufsätzen, fühlte sich gemütlich an. Es hatte eine hohe Decke und ein großes Fenster, das er, wie ich später herausfand, auch an eiskalten Wintertagen offen ließ. An der Wand zum Flur hing ein Bild von Marilyn Monroe und darunter ein gerahmtes und signiertes Foto von Hawking, wie er mit Einstein und Newton auf dem Holodeck der Enterprise Poker spielte. An der Wand rechts von uns hingen zwei Tafeln voll mathematischer Zeichen. Auf der einen standen aktuelle Berechnungen zu Neils und Stephens neuester Theorie über den Ursprung des Universums, doch die Zeichnungen und mathematischen Gleichungen auf der zweiten Tafel schienen aus den frühen 1980er Jahren zu stammen. Waren dies etwa seine letzten hingekritzelten Notizen?

Abbildung 1:

Diese Tafel aus Stephen Hawkings Büro war ein Andenken an eine Tagung über Supergravitation in Cambridge, zu der er im Juni 1980 eingeladen hatte. Mit all ihren Kritzeleien, Zeichnungen und Gleichungen ist sie ein Kunstwerk, das zugleich einen kurzen Blick in das abstrakte Universum der theoretischen Physik erhaschen lässt. Am unteren Rand in der Mitte ist Hawkings Rücken zu erkennen.[1]

Ein leises Klicken durchbrach die Stille. Stephen hatte eine Unterhaltung begonnen. Da er vor über zehn Jahren nach einer schweren Lungenentzündung seine natürliche Stimme durch einen Luftröhrenschnitt verloren hatte, verständigte er sich nun mit Hilfe einer körperlosen Computerstimme. Das war ein langsames und mühseliges Unterfangen. Mit dem letzten bisschen Kraft seiner verkümmerten Muskeln übte er einen schwachen Druck auf ein Gerät aus, das einer Computermaus ähnelte und unter der Handfläche seiner rechten Hand ruhte. Der an einer Armlehne des Rollstuhls befestigte Bildschirm leuchtete auf, um die virtuelle Rettungsleine zwischen Stephens Geist und der Außenwelt zu spannen.

Stephen verwendete ein Computerprogramm namens Equalizer, das über einen Wortspeicher und einen Sprachgenerator verfügte. Er schien instinktiv durch das elektronische Wörterbuch des Programms zu navigieren und drückte die Taste in rhythmischen Abständen, als ließe er sie zu seinen Hirnströmen tanzen. Ein Menü auf dem Bildschirm bot ihm eine Reihe häufig benutzter Wörter und die Buchstaben des Alphabets an. Das Programm, dessen Datenbank Fachtermini aus der theoretischen Physik enthielt, antizipierte das Wort, das er als Nächstes wählen würde, und präsentierte jeweils fünf Optionen in der untersten Zeile des Menüs. Dummerweise wurde die Wortauswahl durch einen simplen Suchalgorithmus gesteuert, der nicht zwischen normalen Unterhaltungen und theoretischer Physik unterscheiden konnte, was gelegentlich zu urkomischen Ergebnissen führte – vom kosmischen Mikrowellenrisotto bis hin zu sexuellen Extradimensionen.

Auf dem Bildschirm unter dem Menü erschien Andrei behauptet. Ich wartete gespannt, in fieberhafter Hoffnung, dass ich dem, was nun kam, würde folgen können. Ein oder zwei Minuten später lenkte Stephen den Cursor zum Icon »Sprechen« in der oberen linken Ecke des Bildschirms und sagte mit seiner Computerstimme: Andrei behauptet, dass es unendlich viele Universen gibt. Das ist ungeheuerlich.

Da war er – Stephens Eröffnungszug.

Mit Andrei war der berühmte amerikanisch-russische Kosmologe Andrei Linde gemeint. Linde war ein Begründer der Anfang der 1980er Jahre vorgeschlagenen kosmologischen Inflationstheorie. Als Weiterentwicklung der Urknalltheorie postuliert sie, dass der Ursprung des Universums der kurze Ausbruch einer extrem schnellen Expansion war – der Inflation. Später fabrizierte Linde eine extravagante Erweiterung seiner Theorie, wonach die Inflation nicht nur ein einziges Universum, sondern zahlreiche Universen hervorbrachte.

Unter dem Universum hatte ich immer »alles, was existiert« verstanden. Aber wie viel ist das? In Lindes Vorstellung war »das Universum« nur ein Splitter eines ungeheuer größeren »Multiversums«. Er stellte sich den Kosmos als eine riesige, immer weiter anwachsende Expansion zahlloser unterschiedlicher Universen vor, die, wie Inseln in einem sich stetig ausbreitenden Ozean, weit jenseits ihrer jeweiligen Horizonte lagen. Den Kosmologen stand ein wilder Ritt bevor. Und Stephen, der Wagemutigste von allen, hatte die Witterung aufgenommen.

Warum sollte man sich über andere Universen den Kopf zerbrechen?, fragte ich.

Stephens Antwort war rätselhaft. Weil dem beobachtbaren Universum ein Entwurf zugrunde zu liegen scheint, sagte er. Er fuhr fort zu klicken. Warum ist das Universum so, wie es ist? Warum sind wir hier?

Keiner meiner Physikdozenten hatte sich über Physik und Kosmologie jemals auf so metaphysische Weise geäußert.

Ist das nicht eine philosophische Frage?, gab ich vorsichtig zu bedenken.

Die Philosophie ist tot, sagte Stephen mit einem Zwinkern, bereit zum Kampf. Ich war noch nicht wirklich dafür gerüstet, aber trotzdem schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Stephen für jemanden, der sich von der Philosophie distanziert hatte, in seiner Arbeit durchaus großzügigen – und kreativen – Gebrauch von ihr machte.

 

Stephen hatte etwas Magisches. Fast ohne jede Bewegung hauchte er unserem Gespräch so viel Leben ein. Von ihm ging eine Anziehungskraft und ein Charisma aus, wie ich es nur selten erlebt hatte. Sein breites Lächeln und das ausdrucksvolle Gesicht, warmherzig und schelmisch zugleich, verliehen selbst seiner Roboterstimme eine tiefgründige Persönlichkeit und zogen mich in den Bann der kosmischen Rätsel, über die er nachdachte.

Wie das Orakel von Delphi besaß er die Gabe, einige wenige Worte mit einer Menge Inhalt zu füllen. Daraus ergab sich eine ganz besondere Art und Weise, über Physik und letztlich gar über eine völlig neue Art von Physik nachzudenken und zu sprechen. Diese prägnante Knappheit bedeutete aber auch, dass schon eine kleine Panne beim Klicken wie ein fehlendes Wort – zum Beispiel »nicht« – Frustration und Verwirrung zur Folge haben konnte, was tatsächlich recht oft der Fall war. An jenem Nachmittag jedoch ignorierte ich meine komplette Verwirrung und war dankbar dafür, dass mir Stephens Suche nach Wörtern im Equalizer-Programm die Zeit gab, mir meine Antworten zurechtzulegen.

Als Stephen sagte, dem Universum scheine ein Entwurf zugrunde zu liegen, bezog er sich auf die seltsame Beobachtung, dass das Universum nach seiner brachialen Geburt bemerkenswert gut dafür gerüstet gewesen war, Leben hervorzubringen, auch wenn dies noch Milliarden Jahre entfernt in der Zukunft lag. Diese günstige Tatsache verwirrt Denker auf die eine oder andere Art schon seit Jahrhunderten, weil sie sich wie ein Dilemma anfühlt – und zwar ein gravierendes. Es scheint fast so, als seien der Ursprung des Lebens und der des Kosmos miteinander verwoben, als habe der Kosmos schon die ganze Zeit gewusst, dass er eines Tages unsere Heimat sein würde. Was sollen wir davon halten? Dies ist eine der zentralen Fragen, die Menschen über das Universum stellen, und Stephen besaß die tiefe Gewissheit, dass die Kosmologie hierzu etwas Wichtiges beizutragen hatte. Die Aussicht – oder Hoffnung –, das Rätsel des kosmischen Designs lösen zu können, war in der Tat ein wichtiger Antrieb für seine späteren Arbeiten.

Allein das war schon außergewöhnlich. Die meisten Physiker hielten sich von solch schwierigen, scheinbar philosophischen Themen fern oder glaubten, die fein konstruierte Architektur des Universums ließe sich eines Tages aus einem eleganten mathematischen Prinzip erschließen, das im Herzen einer allumfassenden Theorie verborgen liege. Wäre dies der Fall, so sähe der scheinbare Plan hinter dem Universum wie ein glücklicher Zufall aus, eine zufällige Folge aus den objektiven und sachlichen Gesetzen der Natur.

Doch weder Stephen noch Andrei waren Physiker, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Es widerstrebte ihnen, auf die Schönheit der abstrakten Mathematik zu setzen, und sie spürten, dass die gespenstische Feinabstimmung des Universums, das Leben hervorbrachte, an ein tiefliegendes Problem in den Grundfesten der Physik rührte. Sie gaben sich nicht mit einer simplen Anwendung der Naturgesetze zufrieden, sondern suchten nach einer umfassenderen Sicht auf die Physik und Kosmologie, die den Ursprung jener Gesetze an sich in Frage stellte. Das brachte sie dazu, über den Urknall nachzudenken, denn vermutlich wurde der gesetzmäßige Entwurf des Universums bereits bei seiner Geburt festgelegt. Und was diese Geburt betraf, waren Stephen und Andrei grundlegend unterschiedlicher Meinung.

Andrei stellte sich den Kosmos als einen riesigen sich aufblähenden Raum vor, in dem viele Urknallereignisse fortwährend neue Universen gebären, von denen jedes seine ganz eigenen physikalischen Eigenschaften besitzt, als handle es sich um nur wenig mehr als lokale kosmische Wettererscheinungen. Wie er darlegte, sollten wir uns nicht darüber wundern, in einem der seltenen lebensfreundlichen Universen zu existieren, denn offensichtlich wäre das in einem der zahlreichen Universen, in denen es kein Leben geben kann, unmöglich. In Lindes Multiversum wäre jegliche Vorstellung von einem großen Entwurf hinter allem eine Illusion, die auf unserer eingeschränkten Sicht auf den Kosmos beruht.

Laut Stephen war Lindes gewaltige kosmische Expansion von Universum zu Multiversum ein metaphysisches Hirngespinst, das nichts erklärte, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass er den Beweis dafür schuldig blieb. Dennoch fand ich es faszinierend und aufregend, dass die bedeutendsten Kosmologen der Welt so völlig unterschiedliche Meinungen vertraten und zugleich von ihrer Sicht der Dinge felsenfest überzeugt waren.

Linde beruft sich doch auf das anthropische Prinzip, die Tatsache, dass wir existieren, um ein lebensfreundliches Universum im Multiversum auszuwählen, oder?, warf ich ein.

Stephen richtete seinen Blick auf mich und bewegte leicht den Mund, was mich verwirrte. Wie ich später herausfand, hieß das, dass er anderer Meinung war. Als ihm klar wurde, dass ich mit den nonverbalen Kommunikationsformen noch nicht vertraut war, die er in seinem engeren Umfeld nutzte, schaute er wieder auf den Bildschirm und machte sich daran, einen ganz anderen Satz zu formulieren. Zwei Sätze, genauer gesagt.

Das anthropische Prinzip ist ein Akt der Verzweiflung, schrieb er, während meine Ratlosigkeit mit jedem Klick zunahm. Es macht all unsere Hoffnungen zunichte, die grundlegende Ordnung des Universums auf der Basis der Wissenschaft zu verstehen.

Das überraschte mich nun doch. Ich hatte Eine kurze Geschichte der Zeit (A Brief History of Time) gelesen und wusste sehr gut, dass Hawking in früheren Jahren häufig mit dem anthropischen Prinzip geliebäugelt hatte, wenn es darum ging, Erklärungen für das Universum zu finden. Stephen, im Grunde seines Herzens Kosmologe, hatte schon früh ein Auge für die verblüffenden Resonanzen zwischen den großräumigen physikalischen Eigenschaften des Universums und der Existenz von Leben gehabt. Bereits in den frühen 1970er Jahren hatte er ein anthropisches Argument entwickelt – das sich als falsch herausstellte –, um die Tatsache zu erklären, dass sich das Universum gleich schnell in alle drei Raumdimensionen ausdehnt.[2] Konnte er anthropischen Argumenten in der Kosmologie nun nichts mehr abgewinnen?

Während einer kurzen medizinischen Behandlungspause, in der Schleim aus Stephens Luftröhre abgesaugt wurde, sah ich mich in seinem Büro um. Auf einem Regal, das sich über die gesamte Länge der Wand links von uns erstreckte, stapelten sich in alle möglichen Sprachen übersetzte Exemplare von Eine kurze Geschichte der Zeit. Ich fragte mich, welche Aussagen darin er wohl mittlerweile ebenfalls nicht mehr vertrat. Daneben stand eine Reihe von Dissertationen seiner früheren Studenten. Seit Beginn der 1970er Jahre war Stephen der Begründer einer gefeierten Denkschule in Cambridge, zu der ein kleiner Zirkel immer wieder neuer Doktoranden und Postdoktoranden gehörte.

In den Titeln ihrer Dissertationen klangen einige der tiefgreifendsten Fragen an, mit denen die Physik Ende des 20. Jahrhunderts gerungen hatte. Aus den 1980er Jahren standen dort Brian Whitts Arbeit Gravity: a quantum theory? sowie Raymond Laflammes Time and Quantum Cosmology. Von den frühen 1990ern kündete Spacetime wormholes and the constants of nature von Fay Dowker. In jener Zeit gingen Stephen und seine Mitarbeiter davon aus, dass Wurmlöcher – geometrische Brücken zwischen Raumbereichen – die Eigenschaften von Elementarteilchen beeinflussen. (Stephens Freund Kip Thorne nutzte später im Film Interstellar ein Wurmloch, um Cooper zurück in unser Sonnensystem zu transportieren.) Rechts daneben stand Problems in M-Theory von Marika Taylor, Stephens neuestem akademischen Schützling. Marika hatte während der zweiten Stringrevolution bei Stephen promoviert, als sich die Theorie zu einem viel größeren Konstrukt namens M-Theorie entwickelte und Stephen sich schließlich damit anfreundete.

Ganz links im Regal befanden sich zwei Exemplare eines älteren Buches mit einem dicken grünen Einband: Properties of Expanding Universes. Dies war Stephens eigene Dissertation aus den 1960er Jahren, zu der Zeit, als die große Holmdel-Hornantenne der Bell Telephone Laboratories die ersten Echos des heißen Urknalls in Gestalt einer schwachen Mikrowellenhintergrundstrahlung empfing. Wie Stephen in seiner Doktorarbeit bewies, bedeutete das bloße Vorhandensein dieser Echos, dass die Zeit einen Anfang gehabt haben musste, falls Einsteins Gravitationstheorie korrekt war. Aber wie passte dies zu Andreis Multiversum, über das wir uns gerade unterhielten?

Direkt rechts von Stephens Dissertation entdeckte ich diejenige von Gary Gibbons, Gravitational Radiation and Gravitational Collapse. Zu Beginn der 1970er Jahre war Gibbons Stephens erster Doktorand gewesen. Damals behauptete der amerikanische Physiker Joe Weber, er empfange häufige Ausbrüche von Gravitationswellen aus dem Zentrum der Milchstraße. Er berichtete von einer solch intensiven Gravitationsstrahlung, dass die Galaxie rasend schnell an Masse zu verlieren scheine, was sie in Äonen nicht wieder würde ausgleichen können. Würde sich dies als richtig herausstellen, so würde es bald keine Galaxie mehr geben. Fasziniert von diesem Paradox spielten Stephen und Gary mit der Idee, im Untergeschoss des DAMTP ihren eigenen Gravitationswellendetektor aufzubauen. Sie entkamen nur knapp einer Blamage – die Gerüchte über Gravitationswellen erwiesen sich als falsch und erst 40 Jahre später gelang es LIGO, dem Laser-Interferometer-Gravitationswellen-Observatorium, die schwer zu fassenden Vibrationen zu entdecken.

Gewöhnlich nahm Stephen pro Jahr einen Doktoranden oder eine Doktorandin an, mit denen er dann gemeinsam an seinen ebenso gewagten wie prestigeträchtigen Projekten arbeitete. Dabei ging es entweder um Schwarze Löcher – hinter einem Ereignishorizont verborgene kollabierte Sterne – oder den Urknall. Meistens versuchte er die Themen abzuwechseln; in den Dissertationen wurden im einen Jahr Schwarze Löcher und im darauffolgenden Jahr der Urknall behandelt, so dass sich der Kreis seiner Doktoranden jederzeit mit beiden Forschungssträngen beschäftigte. Für Stephen waren Schwarze Löcher und der Urknall wie Yin und Yang. Viele seiner wichtigsten Erkenntnisse über den Urknall lassen sich auf Ideen zurückführen, die er erstmals im Zusammenhang mit Schwarzen Löchern entwickelte.

Vor allem innerhalb von Schwarzen Löchern und beim Urknall verschmelzen die Makrowelt der Schwerkraft und die Mikrowelt der Atome und Teilchen tatsächlich miteinander. Unter diesen extremen Bedingungen sollten Einsteins Relativitätstheorie der Gravitation und die Quantentheorie Hand in Hand gehen. Nur tun sie es leider nicht, und dies gilt weithin als eines der größten ungelösten Probleme der Physik. So beruhen beide Theorien auf völlig unterschiedlichen Auffassungen über Kausalität und Determinismus. Während Einsteins Theorie dem alten von Newton und Laplace vertretenen Determinismus anhängt, enthält die Quantentheorie ein grundlegendes Element der Unschärfe und Zufälligkeit und vertritt einen gemäßigten Determinismus, der dem in Laplace’ Vorstellung nur etwa zur Hälfte entspricht. Im Lauf der Jahre hatten Stephens Gravitationsgruppe und ihre andernorts stationierten Abkömmlinge deutlicher als jedes andere Forschungsteam der Welt die tiefgreifenden konzeptuellen Fragen offengelegt, die bei dem Versuch auftauchen, die scheinbar widersprüchlichen Prinzipien dieser beiden physikalischen Theorien zu einem einzigen stimmigen Konstrukt zu vereinen.

Mittlerweile hatte Stephens Pflegerin ihn wieder »ins Reine gebracht«, wie sie es nannte, und er hatte erneut zu klicken begonnen.[3]

Ich hätte gerne, dass Sie mit mir an einer Quantentheorie des Urknalls arbeiten, …

Offensichtlich hatte ich ein Urknall-Jahr erwischt.

… um die Sache mit dem Multiversum zu klären. Er sah mit breitem Lächeln und einem Zwinkern zu mir auf.

Darauf wollte er also hinaus. Nicht durch Philosophieren oder die Berufung auf das anthropische Prinzip sollten wir das Multiversum in den Griff bekommen, sondern indem wir die Quantentheorie tiefer in die Kosmologie einbanden. So wie er es ausgedrückt hatte, klang es wie eine simple Hausaufgabe, und obwohl sein Gesichtsausdruck mir sagte, dass unsere Arbeit bereits begonnen hatte, hatte ich keinen blassen Schimmer, in welche Richtung das Raumschiff Hawking unterwegs war.

Ich sterbe …, erschien auf dem Bildschirm.

Ich erstarrte und warf einen Blick zur Pflegerin hinüber, die in einer Ecke des Büros in ihre Lektüre vertieft war. Dann sah ich wieder zu Stephen hin, der sich allem Anschein nach recht wohlfühlte und weiter eifrig klickte.

wenn … ich … nicht … sofort … eine … Tasse … Tee … bekomme.

Wir befanden uns in Großbritannien und es war vier Uhr nachmittags.

 

Universum oder Multiversum? Design(er) oder nicht? Das war die Schicksalsfrage, die uns zwanzig Jahre lang in Atem halten sollte. Die eine Hausaufgabe führte zur nächsten, und schon bald fand ich mich mit Stephen in einer der hitzigsten Debatten wieder, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der theoretischen Physik ausgefochten wurden. Fast jeder hatte eine Meinung zum Multiversum, obwohl niemand es ganz verstand. Was als Promotionsprojekt unter Stephens Betreuung begann, entwickelte sich zu einer wunderbar intensiven Zusammenarbeit, die erst mit Stephens Tod am 14. März 2018 endete.

In unserer Arbeit ging es nicht nur um die Natur des Urknalls, jenes Mysteriums im Kern aller Existenz, sondern auch um die tiefere Bedeutung der Naturgesetze an sich. Was kann uns die Kosmologie über die Welt verraten? Wie passen wir da hinein? Solche Überlegungen liegen weit außerhalb der Komfortzone der Physik. Doch genau dorthin wollte sich Stephen wagen und dort sollte sich seine unvergleichliche Intuition, die Jahrzehnte kosmologischen Denkens geschärft hatten, als prophetisch erweisen.

Wie so viele Wissenschaftler vor ihm betrachtete der junge Hawking die fundamentalen Gesetze der Physik als unverrückbare zeitlose Wahrheiten. »Wenn wir … eine vollständige Theorie entdecken, … dann würden wir Gottes Plan kennen«[4], schrieb er metaphorisch in Eine kurze Geschichte der Zeit. Doch mehr als zehn Jahre später, bei unserem ersten Treffen – und mit Lindes Multiversum im Nacken – hatte ich das Gefühl, dass er sich seiner Auffassung nicht mehr ganz so sicher war. Liefert die Physik gottgleiche Grundfesten, die am Ursprung der Zeit im Urknall wirken? Brauchen wir solche Grundfesten?

Wenn wir das Universum bis zu seinen ersten Augenblicken zurückverfolgen, begegnen wir einer tieferen Ebene der Evolution, auf der physikalische Gesetze selbst einem Veränderungs- und Entwicklungsprozess unterliegen – gewissermaßen einer Meta-Evolution. Im primordialen Universum verwandeln sich die Regeln der Physik in einem Prozess zufälliger Variation und Selektion, der der darwinistischen Evolution ähnelt, wobei Teilchenspezies, Kräfte und sogar die Zeit selbst im Urknall verschwinden. Mehr noch: Für Stephen und mich war der Urknall schließlich nicht mehr nur der Beginn der Zeit, sondern auch der Ursprung der Physik. Den Kern unserer Kosmogonie bildet eine physikalische Theorie des Urknall-Ursprungs, die, wie uns klar wurde, gleichzeitig auch den Ursprung der Theoriebildung umfasst.

Die Arbeit mit Stephen war nicht bloß eine Reise zu den Randzonen von Raum und Zeit, sondern auch tief in seine Gedankenwelt – in das, was Stephen zu Stephen machte. Unsere gemeinsame Suche schweißte uns zusammen. Er war ein wahrer Suchender. In seiner Nähe konnte man sich seiner Entschlossenheit und dem Optimismus, diese rätselhaften kosmischen Fragen entschlüsseln zu können, unmöglich entziehen. Stephen vermittelte uns das Gefühl, dass wir unsere eigene Schöpfungsgeschichte schrieben – und in gewisser Weise taten wir das auch.

Und Physik wurde zum Vergnügen! Bei Stephen wusste man nie, wann die Arbeit endete und die Party begann. Seine unersättliche Gier nach Erkenntnis wurde nur noch von seiner Lebensfreude und Abenteuerlust übertroffen. Im April 2007, ein paar Monate nach seinem 65. Geburtstag, unternahm er als Vorbereitung für einen Weltraumtrip – wie er hoffte – einen Schwerelosigkeitsflug an Bord einer speziell ausgerüsteten Boeing 727, während sich seine Ärzte in Panik die Haare rauften, weil er den Ärmelkanal im Eurostar unterqueren wollte, um mich in Belgien zu besuchen.

Während seine natürliche Stimme immer schwächer wurde und er schließlich keinen Finger mehr bewegen konnte, wurde er dennoch zum größten Kommunikator der Wissenschaft unserer Zeit. Angetrieben von der tiefen Überzeugung, dass wir Teil eines großartigen genialen Gefüges sind, das entschlüsselt werden will, teilte er seine Freude an Entdeckungen mit einem weltweiten Publikum. Im Lauf unserer Zusammenarbeit schrieb er das Buch Der große Entwurf (The Grand Design), in dem unsere damalige Verwirrung aufscheint. Dort hält Stephen noch am anthropischen Prinzip fest, am Multiversum und der Idee einer »endgültigen Theorie von Allem«, bis hin zur Anfechtung eines gottgeschaffenen Universums. Dennoch enthält Der große Entwurf bereits erste Spuren des neuen kosmologischen Paradigmas, das sich wenige Jahre später aus unserer Arbeit herauskristallisierte. Kurz vor seinem Tod sagte Stephen zu mir, es sei Zeit für ein neues Buch. Hier ist es. In den folgenden Kapiteln beschreibe ich, wie unsere Reise zum Urknall und in ihn hinein ihren Fortgang nahm und uns letztlich zu einer verblüffenden neuen Sicht auf den Ursprung der Zeit führte – ihrem Geist und der Art nach stark geprägt von darwinistischem Denken und mit einem radikalen neuen Verständnis des großen kosmischen Entwurfs.

Bei unseren Überlegungen wurden wir oft von dem amerikanischen Physiker Jim Hartle begleitet, mit dem Stephen schon lange zusammenarbeitete. Gemeinsam hatten sie Anfang der 1980er Jahre Pionierarbeit in der Quantenkosmologie geleistet und mit der Zeit ein echtes Händchen dafür entwickelt, das Universum durch die Quantenbrille zu betrachten. Selbst alltägliche Unterhaltungen zwischen ihnen schienen vom Quantendenken geprägt zu sein – als würden sie anders ticken. So verstehen Kosmologen unter dem »Universum« normalerweise die Sterne und Galaxien und den riesigen Raum um uns herum. Wenn Jim oder Stephen vom »Universum« sprachen, meinten sie das abstrakte Quantenuniversum, von Unschärfe durchdrungen, in all seinen möglichen Entwicklungen – Geschichten –, die in einer Art Überlagerung koexistieren. Doch letztlich ebnete genau diese durchgängige Quantenperspektive einer echten darwinistischen Revolution in der Kosmologie den Weg. In seinen späten Jahren nahm Stephen die Quantentheorie ernst – sehr ernst – und machte sie sich zu eigen, um unser Universum in großem Maßstab neu zu denken. Die Quantenkosmologie sollte zu der Disziplin werden, in der Stephen bis zum Ende seines Lebens an vorderster Front wirkte.

Im Lauf unserer Zusammenarbeit büßte Stephen auch noch die verbliebene Kraft in seiner Hand ein. Da er sich nun nicht mehr mit Hilfe des Tasters verständigen konnte, kommunizierte er über einen an seiner Brille angebrachten Sensor, den er mit einem leichten Zucken der Wange aktivierte. Schließlich wurde aber auch dies problematisch. Die Kommunikation mit ihm verlangsamte sich; aus einigen Wörtern pro Minute wurden einige Minuten pro Wort, bis sie im Grunde ganz erstarb, während zugleich das Interesse an dem, was er zu sagen hatte, sprunghaft in die Höhe schoss.[5] Der weltweit berühmteste Verkünder der Wissenschaft hatte seine Stimme verloren. Doch Stephen gab nicht auf. Die geistige Verbundenheit zwischen uns vertiefte sich in den Jahren der engen Zusammenarbeit, so dass wir uns zunehmend jenseits verbaler Kommunikation verständigen konnten. Ich ignorierte Equalizer, Sensoren und Taster, platzierte mich direkt vor ihm in seinem Gesichtsfeld und forderte seinen Geist heraus, indem ich ihn mit Fragen bombardierte. Wenn meine Argumente mit Stephens Intuition übereinstimmten, leuchteten seine Augen auf. Das war dann der Ausgangspunkt, um unseren Weg mit Hilfe der uns eigenen Sprache und des Verständnisses zu finden, die sich mit der Zeit entwickelt hatten. Und aus diesen »Gesprächen« erwuchs langsam, aber stetig Stephens endgültige Theorie des Universums.

In der Naturwissenschaft wird es immer dann kritisch, wenn metaphysische Überlegungen zum Tragen kommen, ob es uns gefällt oder nicht. An solchen Scheidewegen lernen wir etwas Grundsätzliches – nicht nur über die Funktionsweisen der Natur, sondern auch über die Bedingungen, die die wissenschaftliche Praxis möglich und lohnenswert machen, sowie über die Weltsicht, die sich aus unseren Entdeckungen ergibt. Der Versuch, die im Universum herrschenden idealen Grundvoraussetzungen für Leben physikalisch zu ergründen, hat uns zu solch einem kritischen Scheideweg geführt, da es im Kern um eine humanistische Frage geht, die viel größer als die Naturwissenschaften ist. Hier geht es um unsere Ursprünge. Stephens endgültige Theorie des Universums zeigt uns auf einzigartige Weise, was unser Menschsein in diesem lebensfreundlichen Kosmos bedeuten kann: Wir tragen die Verantwortung für unseren Planeten. Und allein aus diesem Grund wird sie sich vielleicht als sein bedeutendstes wissenschaftliches Vermächtnis erweisen.

Kapitel 1Ein Paradox

Es könnte sich eine seltsame Analogie daraus ergeben, daß das Okular auch des riesigsten Fernrohrs nicht größer sein darf, als unser Auge.

— Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen

Die späten 1990er Jahre waren der Höhepunkt eines goldenen Jahrzehnts kosmologischer Entdeckungen. Lange als überwiegend spekulatives wissenschaftliches Stiefkind betrachtet, hatte sich die Kosmologie – jene Wissenschaft, die es wagt, Ursprung, Evolution und Schicksal des gesamten Universums zu erforschen – nun endlich angeschickt, den Kinderschuhen zu entwachsen. Unter Wissenschaftlern auf der ganzen Welt herrschte helle Aufregung über die jüngsten Beobachtungen und Messungen von Satelliten und auf der Erde stationierten hochentwickelten Instrumenten, die der Disziplin in atemberaubendem Tempo ein völlig neues Gesicht verliehen. Es war, als ob das Universum zu uns sprechen würde. Diese spektakulären Beobachtungen forderten Theoretiker heraus, die Vorhersagen ihrer Modelle des Universums zu verfeinern und deren Grundlagen kritisch in Augenschein zu nehmen.

In der Kosmologie entdecken wir die Vergangenheit. Kosmologen sind Zeitreisende und Teleskope ihre Zeitmaschinen. Wenn wir tief in den Weltraum hineinspähen, blicken wir weit in die Zeit zurück, denn bis das Licht von weit entfernten Sternen und Galaxien uns erreicht, ist es bereits Millionen oder gar Milliarden von Jahren unterwegs. Bereits 1927 behauptete der belgische Priester und Astronom Georges Lemaître, dass sich der Weltraum über solch lange Zeiträume hinweg ausdehnt. Doch erst in den 1990er Jahren ermöglichte es der Fortschritt in der Teleskoptechnik, die Expansionsgeschichte des Universums nachzuverfolgen.

Diese Geschichte hielt einige Überraschungen bereit. So entdeckten Astronomen im Jahr 1998, dass die Ausdehnung des Weltalls vor etwa 5 Milliarden Jahren an Fahrt aufgenommen hatte, obwohl alle bekannten Formen von Materie einander anziehen und demnach die Expansion verlangsamen sollten. Seitdem fragen sich Physiker, ob diese kosmische Beschleunigung von Einsteins kosmologischer Konstante angetrieben wird, jener unsichtbaren, dem Äther ähnlichen dunklen Energie, welche die Gravitation nicht anziehend, sondern abstoßend wirken lässt. Ein Astronom witzelte, dass das Universum aussehe wie Los Angeles: ein Drittel Substanz und zwei Drittel dunkle Energie.

Wenn das Universum jetzt expandiert, muss es in der Vergangenheit offenbar stärker komprimiert gewesen sein. Gehen wir in der Geschichte des Kosmos in die Vergangenheit zurück – natürlich nur als mathematische Übung –, so entdecken wir, dass sämtliche Materie einst stark komprimiert und auch sehr heiß gewesen sein muss, da sich Materie erhitzt und strahlt, wenn man sie zusammenpresst. Diesen primordialen Zustand bezeichnet man als den heißen Urknall. Mit Hilfe astronomischer Beobachtungen seit den goldenen 1990ern lässt sich das Alter des Universums, also die Zeit, die seit dem Urknall vergangen ist, auf 13,8 Milliarden Jahre, plus/minus 20 Millionen Jahre, bestimmen.

 

Weil die ESA (European Space Agency) unbedingt mehr über die Geburt des Universums herausfinden wollte, schoss sie im Mai 2009 zur bislang detailliertesten und ehrgeizigsten Durchmusterung des Nachthimmels einen Satelliten ins All. Das Ziel war ein faszinierendes Flackermuster in der Wärmestrahlung, die der Urknall hinterlassen hatte. Nach einer Reise von 13,8 Milliarden Jahren durch den expandierenden Kosmos hat sich die Hitze des Urknalls, die uns heute erreicht, merklich abgekühlt: auf 2,725 K oder rund –270 °Celsius. Weil Strahlung dieser Temperatur überwiegend im Mikrowellenbereich des elektromagnetischen Spektrums liegt, bezeichnet man die Restwärme als kosmische Mikrowellenhintergrundstrahlung oder CMB-Strahlung (von cosmic microwave background).

Die Versuche der ESA, die bei der Geburt des Universums erzeugte primordiale Wärme einzufangen, gipfelten im März 2013 in einem merkwürdigen ovalen Bild, das einem pointillistischen Gemälde ähnelt und weltweit die Titelseiten der Presse schmückte (siehe Abbildung 2). Diese Abbildung ist eine Projektion des gesamten Himmels, höchst detailliert erstellt aus Millionen von Pixeln. Sie bildet die Temperatur der primordialen CMB-Strahlung ab, die uns aus verschiedenen Richtungen aus dem Weltall erreicht. Eine so detaillierte Beobachtung der CMB-Strahlung verschafft uns einen Eindruck vom Universum etwa 380000 Jahre nach dem Urknall, als es auf einige tausend Grad heruntergekühlt war. Diese Abkühlung genügte, um die primordiale Strahlung freizusetzen, die sich seitdem ungehindert durch den Kosmos bewegt.

Abbildung 2:

Eine Himmelskarte vom Nachglühen des heißen Urknalls, aufgezeichnet von der ESA-Raumsonde Planck, benannt nach dem Quantenpionier Max Planck. Die unterschiedlichen Farbtöne bilden leichte Temperaturschwankungen der kosmischen Mikrowellenhintergrundstrahlung ab, die uns aus unterschiedlichen Richtungen des Himmels erreicht. Auf den ersten Blick erscheinen diese Temperaturschwankungen zufällig, doch bei genauerem Hinschauen offenbaren sich Muster, die verschiedene Bereiche der Karte verknüpfen. Anhand dieser Muster können Kosmologen die Expansionsgeschichte des Universums rekonstruieren, nachvollziehen, wie Galaxien entstanden sind, und sogar vorhersagen, wie sich das Universum entwickeln wird.

Die Himmelskarte des CMB bekräftigt, dass sich die noch vorhandene Hitze des Urknalls nahezu gleichmäßig über den Himmel verteilt. Die Sprenkel im Bild stellen kleinste Temperaturschwankungen dar, ein winziges Flimmern von maximal einem Hunderttausendstel Grad. Diese leichten Abweichungen, so gering sie auch sein mögen, sind von zentraler Bedeutung, weil sie uns zu den Keimzellen führen, um die sich schließlich Galaxien gebildet haben. Wäre der Urknall überall völlig gleichmäßig gewesen, gäbe es heute keine Galaxien.

Die CMB-Karte markiert unseren kosmischen Horizont – weiter können wir nicht blicken. Dennoch erlaubt uns die kosmologische Theorie einige Rückschlüsse auf Prozesse, die in noch früheren Zeitabschnitten stattgefunden haben. So wie Paläontologen in versteinerten Fossilien lesen können, wie das Leben auf der Erde einstmals beschaffen war, können sich Kosmologen aus den Mustern in diesem fossilen Flimmern zusammenreimen, was geschehen sein könnte, bevor die Restwärmekarte in den Himmel gezeichnet wurde. Auf diese Weise wandelt sich der CMB-Schnappschuss zu einem kosmologischen Stein von Rosette, der uns in die Lage versetzt, die Geschichte des Universums bis zu einem Sekundenbruchteil nach seiner Geburt zurückzuverfolgen.

Und was wir da erfahren, ist faszinierend. Wie wir in Kapitel 4 sehen werden, weisen die in den Temperaturschwankungen der CMB-Strahlung kodierten Muster darauf hin, dass sich das Universum zunächst schnell ausdehnte, dann das Tempo drosselte und kürzlich (vor etwa 5 Milliarden Jahren) wieder Fahrt aufnahm. Langsamer zu werden scheint im kosmischen Maßstab eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Dies ist eine der scheinbar zufälligen lebensfreundlichen Eigenschaften des Universums, denn nur in einem sich gemächlicher ausdehnenden Kosmos häuft sich Materie an und bildet schließlich Galaxien. Hätte es in der Vergangenheit kein Innehalten in der Ausdehnung gegeben, würden heute keine Galaxien, keine Sterne und deshalb auch kein Leben existieren.

Tatsächlich war die Expansionsgeschichte des Universums zentral für einen der ersten Momente, in denen die Bedingungen unserer eigenen Existenz Eingang ins moderne kosmologische Denken fanden. Anfang der 1930er Jahre trug Lemaître eine bemerkenswerte Skizze in eines seiner violetten Notizbücher ein, worin er ein, wie er es nannte, »zögerndes« Universum graphisch darstellt (siehe Abbildung 3 im Bildinnenteil). Dieses Universum weist eine Expansionsgeschichte auf, die dem holprigen Ritt sehr ähnelt, den die Beobachtungen siebzig Jahre später offenbaren sollten.[1] Lemaître entwickelte die Idee einer langen Pause bei der Ausdehnung, indem er über die Habitabilität, also die Bewohnbarkeit, des Universums nachdachte. Wie er wusste, deuteten die ersten astronomischen Beobachtungen benachbarter Galaxien auf eine hohe Ausdehnungsgeschwindigkeit in der letzten Zeit hin. Betrachtete er die gesamte zurückliegende Entwicklung des Universums auf der Grundlage dieser Geschwindigkeit, hätten die Galaxien vor gerade einer Milliarde Jahren allesamt noch beieinander sein müssen. Das war natürlich unmöglich, denn die Erde und unsere Sonne sind schon viel älter. Um diesen offensichtlichen Widerspruch zwischen der Geschichte des Universums und der unseres Sonnensystems zu umgehen, nahm er an, dass es davor eine Zwischenphase mit sehr langsamer Expansion gegeben hatte, um den Sternen, den Planeten und dem Leben Zeit zur Entwicklung zu geben.

In den Jahrzehnten seit Lemaîtres Pionierarbeit sind Physiker weiterhin über zahlreiche solcher »glücklichen Zufälle« gestolpert, denen das Universum seine verblüffende Lebensfreundlichkeit verdankt. Bei fast allen seiner elementaren physikalischen Eigenschaften, vom Verhalten der Atome und Moleküle bis zur Struktur des Kosmos im größten Maßstab, bedarf es nur einer kleinen Veränderung und die Bewohnbarkeit des Universums stände auf dem Spiel.

Nehmen wir beispielsweise die Gravitation, die das Universum im großen Maßstab formt und bestimmt. Die Gravitation ist extrem schwach – sie braucht die Masse der gesamten Erde allein dafür, um uns mit den Füßen auf dem Boden zu halten. Aber wäre sie stärker, dann würden Sterne heller scheinen und viel früher sterben und es gäbe nicht genug Zeit, um auf einem der sie umkreisenden und von ihnen erhitzten Planeten komplexes Leben hervorzubringen.

Oder nehmen wir die winzigen Schwankungen von einem Hunderttausendstel in der Temperatur der noch bestehenden Hintergrundstrahlung. Wären diese Abweichungen nur ein bisschen größer – sagen wir ein Zehntausendstel –, so wären die Kondensationskeime kosmischer Strukturen statt zu gastfreundlichen Galaxien mit reichlich Sternen größtenteils zu riesigen Schwarzen Löchern angewachsen. Im umgekehrten Fall würden noch kleinere Abweichungen – von einem Millionstel oder weniger – überhaupt keine Galaxien hervorbringen. Der heiße Urknall hat es genau richtig gemacht. Auf die eine oder andere Weise hat er das Universum auf einen extrem lebensfreundlichen Weg gebracht, dessen Früchte sich erst mehrere Milliarden Jahre später offenbarten. Aber warum?

Es gibt zahlreiche dieser glücklichen kosmischen Zufälle. Wir leben in einem Universum mit drei großen Raumdimensionen. Ist an drei etwas Besonderes? Allerdings. Fügt man nur eine weitere große Dimension hinzu, werden Atome und Planetenbahnen instabil. Die Erde würde in die Sonne stürzen, statt sich auf einer stabilen Umlaufbahn um sie herum zu bewegen. Für Universen mit fünf oder mehr großen Dimensionen ergeben sich noch gravierendere Probleme. Dagegen sind Welten mit nur zwei Raumdimensionen möglicherweise nicht in der Lage, komplexen Systemen so viel Raum zu geben, dass sie gut funktionieren, wie Abbildung 3 illustriert. Drei Raumdimensionen scheinen perfekt geeignet zu sein, um Leben zu ermöglichen.

Abbildung 3:

In einem Universum mit nur zwei Raumdimensionen kann Leben offenkundig nur unter Schwierigkeiten entstehen und sich behaupten. Uns vertraute Mechanismen zum Jagen und Verzehren von Nahrung funktionieren nicht.

Die verblüffende Lebensfreundlichkeit des Universums gilt auch für seine chemische Beschaffenheit, die auf den Eigenschaften von Elementarteilchen und den zwischen ihnen wirkenden Kräften beruht. So sind Neutronen eine Spur schwerer als Protonen. Das Massenverhältnis von Neutron zu Proton beträgt 1,0014. Wäre es andersherum gewesen, hätten sich alle Protonen im Universum kurz nach dem Urknall in Neutronen verwandelt. Ohne Protonen gäbe es keine Atomkerne und somit auch keine Atome und keine Chemie.

Ein weiteres Beispiel ist die Erzeugung von Kohlenstoff in Sternen. Soweit wir wissen, ist Kohlenstoff für die Entstehung von Leben unerlässlich. Das Universum wurde jedoch ohne ihn geboren – er bildet sich erst durch Kernfusion im Inneren von Sternen. In den 1950er Jahren wies der britische Kosmologe Fred Hoyle darauf hin, dass die erfolgreiche Synthese von Kohlenstoff aus Helium in Sternen ein fein austariertes Gleichgewicht zwischen der starken Kernkraft, die die Atomkerne zusammenhält, und der elektromagnetischen Kraft verlangt. Wäre die starke Kraft nur minimal stärker oder schwächer – um lediglich wenige Prozent –, so würde sich die nukleare Bindungsenergie verändern, die Kohlenstoffsynthese wäre beeinträchtigt und das Universum würde ohne kohlenstoffbasiertes Leben dastehen. Hoyle erschien das so merkwürdig, dass er sagte, man könne das Universum geradezu für eine abgekartete Sache halten, als habe »ein Superhirn an der Physik wie auch an der Chemie und Biologie herumgepfuscht«.[1]

Aber die schwindelerregendste Feinabstimmung betrifft die dunkle Energie. Der von uns gemessene Wert ihrer Dichte ist extrem klein – er beträgt nur das 10–123-fache von dem, was laut vielen Physikern natürlicherweise zu erwarten wäre. Doch genau diese Geringfügigkeit veranlasste das Universum, etwa 8 Milliarden Jahre lang zu »zögern«, bevor die dunkle Energie genug Kraft hatte, um die Ausdehnung zu beschleunigen. Schon 1987 betonte Steven Weinberg: Wenn die Dichte der dunklen Energie nur ein winziges bisschen größer wäre und sie betrüge, sagen wir, das 10–121-fache des natürlichen Wertes, so wäre ihre abstoßende Wirkung stärker gewesen und hätte früher eingesetzt. Wieder hätte sich das kosmische Zeitfenster für die Bildung weiträumiger Strukturen wie Galaxien geschlossen.[2]

Wie Stephen in unserem ersten Gespräch sagte, sieht es so aus, als sei das Universum darauf angelegt, Leben zu ermöglichen. Der berühmte Autor und theoretische Physiker Paul Davies hat in diesem Zusammenhang vom Goldlöckchen-Prinzip des Universums gesprochen. So wie der Brei in der Geschichte von Goldlöckchen und den drei Bären scheine das Universum auf viele faszinierende Arten »gerade richtig« zu sein, um Leben hervorzubringen.[3] Und auch wenn das noch nicht gleich bedeutet, dass der Kosmos von Leben wimmelt, sind die fein austarierten Bedingungen, die ihn überhaupt erst lebensfreundlich machen, keineswegs nur oberflächliche Eigenschaften der Welt. Vielmehr sind sie tief in der mathematischen Form der Gesetze der Physik verwurzelt. Die Massen und Eigenschaften der Anordnung von Teilchen, die Kräfte, welche ihre Wechselwirkungen regeln, und selbst der gesamte Aufbau des Universums – was alles auf die Förderung von Leben in irgendeiner Form zugeschnitten scheint – spiegeln den spezifischen Charakter der mathematischen Beziehungen wider, die definieren, was Physiker als die Naturgesetze bezeichnen. Das Rätsel des Designs in der Kosmologie besteht also im Wesentlichen darin, dass die fundamentalen physikalischen Gesetze dem Anschein nach so kunstvoll konstruiert sind, dass sie die Entstehung von Leben fördern. Es sieht aus, als wirke etwas verborgen im Hintergrund, das unsere Existenz mit den elementaren Regeln verwebt, die die Funktionsweisen des Universums steuern. Das erscheint unglaublich. Und das ist es auch! Was also ist dieses Etwas?

Ich sollte darauf hinweisen, dass dies für theoretische Physiker ein höchst ungewöhnliches Rätsel ist. Normalerweise verwenden sie die Naturgesetze, um das eine oder andere Phänomen zu beschreiben oder das Ergebnis eines Experiments vorherzusagen. Darüber hinaus versuchen sie, die bestehenden Gesetze zu verallgemeinern, damit diese ein breiteres Spektrum natürlicher Phänomene abdecken. Doch die hier erörterten Designfragen führen uns in ein gänzlich anderes Terrain. Sie zwingen uns, über die tiefere Natur der Gesetze nachzudenken, und darüber, wie wir in ihr Gesamtbild passen. Die moderne Kosmologie bietet uns einen so umfassenden naturwissenschaftlichen Rahmen, dass wir hoffen können, Licht in dieses größte aller Rätsel zu bringen. Sie ist die einzige Disziplin der Physik, bei der wir selbst ein Teil des Problems darstellen, das wir lösen wollen.

 

Historisch hat man das scheinbare Design der Welt als Beweis dafür betrachtet, dass den Abläufen der Natur ein bestimmter Zweck zugrunde liegt. Diese Sichtweise geht auf Aristoteles zurück, den vielleicht einflussreichsten Philosophen aller Zeiten. Als passioniertem Biologen fiel ihm auf, dass viele Vorgänge in der belebten Welt absichtsvoll zu sein scheinen. Wenn Lebewesen ohne Vernunft Absichten verfolgen, so schloss er daraus, muss es eine Causa finalis, eine Zielursache oder Zweckursache, geben, die den gesamten Kosmos lenkt. Dieses von Aristoteles vorgebrachte teleologische Argument war überzeugend, logisch und zum Teil empirisch gestützt; die Welt um uns herum liefert zahllose Beispiele für Zielursachen – von einem Vogel, der Zweige sammelt, um ein Nest zu bauen, bis zu einem Hund, der im Garten ein Loch buddelt, um einen Knochen ans Tageslicht zu befördern. Darum überrascht es nicht, dass sich Aristoteles’ teleologische Sichtweisen fast zweitausend Jahre lang nahezu unangefochten behaupten konnten.

Aber dann, im 16. und 17. Jahrhundert, irgendwo in den Randbereichen der eurasischen Landmasse, entfachten die Arbeiten einer kleinen Schar von Gelehrten die moderne wissenschaftliche Revolution. Kopernikus, Descartes, Bacon, Galilei und ihre Zeitgenossen entdeckten, dass unsere Sinne uns in die Irre führen können. Sie vertraten das lateinische Diktum Ignoramus, was »wir wissen nicht« bedeutet. Dieser Perspektivwechsel hatte weitreichende und umfassende Auswirkungen. Einige betrachten ihn sogar als den einflussreichsten Wandel in den annähernd 200000 Jahren, in denen Menschen auf der Erde leben, und sind der Meinung, dass sich seine tiefere Bedeutung erst noch erweisen wird. Zumindest in wissenschaftlichen Kreisen hatte er unmittelbar zur Folge, dass man die tief verwurzelte teleologische Weltsicht des Aristoteles verwarf und sie durch die Idee ersetzte, dass die Natur rationalen Gesetzen unterliegt, die hier und jetzt wirken und die wir entdecken und verstehen können. Die moderne Naturwissenschaft ist ganz wesentlich von der Einsicht geprägt, dass wir durch Eingestehen unseres Nichtwissens neues Wissen erlangen können, indem wir experimentieren und beobachten und mathematische Modelle entwickeln, die diese Beobachtungen zu umfassenden Theorien, oder »Gesetzen«, formen.

Paradoxerweise ließ die wissenschaftliche Revolution das Rätsel vom lebensfreundlichen Design des Universums noch rätselhafter erscheinen. Vor dieser Revolution war im Weltbild der Menschen eine gewisse Einheitlichkeit zu erkennen. Man ging davon aus, dass sowohl die belebte als auch die unbelebte Welt von einem allumfassenden Zweck göttlichen oder auch anderen Ursprungs geleitet werden. Das Design der Welt betrachtete man als Manifestation eines großartigen kosmischen Plans, der für den Menschen naturgegeben eine privilegierte Rolle vorsieht. Das antike Weltmodell beispielsweise, das der Astronom Ptolemäus aus Alexandria in seiner Abhandlung Almagest präsentierte, war gleichermaßen geozentrisch und anthropozentrisch.

Doch mit Anbruch der wissenschaftlichen Revolution herrschte zunehmende Verwirrung darüber, wie sich das Leben zum physikalischen Universum in Beziehung setzen ließ. Fast fünf Jahrhunderte Verblüffung angesichts der Tatsache, dass die scheinbar objektiven, unpersönlichen und zeitlosen Gesetze der Physik nahezu perfekt auf Leben zugeschnitten sind, sprechen eine beredte Sprache. Obgleich die moderne Wissenschaft die alte Zweiteilung zwischen Himmel und Erde abschaffte, schuf sie nun eine tiefe Kluft zwischen Leben und toter Materie und ließ den Menschen in nagender Unsicherheit über seinen Platz im großen kosmischen Plan.

Um ein besseres Gespür dafür zu bekommen, wie sich die Perspektive des Menschen auf die Ontologie der Naturgesetze entwickelt hat, bietet es sich an, zu einer noch früheren Epoche zurückzukehren. Die ersten Vorstellungen von Gesetzen, denen die Natur unterliegt, kamen bereits mehr als zwei Jahrtausende vor der modernen wissenschaftlichen Revolution auf. Sie entwickelten sich in der ionischen Schule des Thales, im 6. Jahrhundert vor Christus in Milet im heutigen Westen der Türkei. Milet, die wohlhabendste der ionischen Städte Griechenlands, wurde um einen natürlichen Hafen nahe der Mündung des Mäander ins Ägäische Meer gegründet. Dort war der legendäre Thales, ganz wie moderne Wissenschaftler, bereit, unter die Oberfläche der Dinge in der Welt zu blicken, um auf einer tieferen Ebene der Realität Wissen zu erlangen. Thales hatte einen Schüler, Anaximander. Dieser schuf, was die Griechen später περι φυσεως ιστοϱια nannten, die »Untersuchung der Natur«, also Physik.

Abbildung 4:

Relief des Philosophen Anaximander, der vor 2600 Jahren in Milet den langen wissenschaftlichen Prozess, die Welt neu zu denken, in Gang setzte.

Anaximander wird oft als der Vater der Kosmologie bezeichnet. Er war der Erste, der sich die Erde als Planeten vorstellte, als riesigen Felsen, der frei im leeren Raum schwebte. Unterhalb der Erde sei nicht noch unendlich mehr Erde und dort seien auch keine riesigen Säulen, überlegte er, sondern der gleiche Himmel, den wir über unseren Köpfen sähen. Auf diese Weise verlieh Anaximander dem Kosmos Tiefe und verwandelte ihn von einer geschlossenen Kiste – mit dem Himmel oben und der Erde unten – in einen offenen Raum. Diese Begriffsverschiebung erlaubte es, sich Himmelskörper vorzustellen, die unter der Erde vorbeifliegen, und ebnete so der griechischen Astronomie den Weg. Anaximander verfasste zudem die Abhandlung Über die Natur, die verlorengegangen ist. Man nimmt jedoch an, dass das folgende Fragment daraus stammt:

Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist,

dahinein erfolgt auch ihr Vergehen

gemäß der Notwendigkeit;

denn diese schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit

nach der Ordnung der Zeit.[4]

In diesen wenigen Zeilen verleiht Anaximander der revolutionären Idee Ausdruck, dass die Natur weder willkürlich noch absurd ist, sondern einer Art Gesetz unterliegt. Dies ist die Grundannahme der Naturwissenschaft: Unter der Oberfläche von Naturphänomenen verbirgt sich eine abstrakte, aber schlüssige Ordnung.

Anaximander führte nicht weiter aus, welche Gestalt die Naturgesetze annehmen könnten; er zog lediglich eine Analogie zu Zivilgesetzen, die menschliche Gesellschaften regulieren. Sein berühmtester Schüler Pythagoras jedoch schlug eine mathematische Grundlage der Weltordnung vor. Die Pythagoräer schrieben den Zahlen eine mystische Bedeutung zu und versuchten, den gesamten Kosmos aus Zahlen zu konstruieren. Ihre Idee, die Welt mathematisch beschreiben zu können, wurde von Platon, der sie als eine Säule seiner Theorie der Wahrheit betrachtete, aufgegriffen und vertreten. Platon verglich die Welt unserer Erfahrungen mit einem bloßen Schatten einer höheren Wirklichkeit, die durch vollkommene mathematische Formen definiert sei und völlig getrennt von der Welt, die wir wahrnehmen, existiere. Die Griechen der Antike kamen daher zu dem Schluss, dass die Ordnung der Welt zwar nicht leicht zu greifen oder zu sehen sei, sich aber trotzdem mit Hilfe von Logik und Vernunft erschließen lasse.

So eindrucksvoll sie auch sein mögen, haben die Spekulationen der alten Griechen doch nur wenig mit der modernen Physik gemein – nicht nur von ihrer Substanz her, sondern auch in Methodik und Stil. Zum einen gründeten sich die Schlussfolgerungen der frühen Griechen nahezu vollständig auf ästhetische Argumente und A-priori-Annahmen, wobei sie nur wenig oder keine Anstrengung unternahmen, sie zu überprüfen. Das kam ihnen einfach nicht in den Sinn. Daher hat ihre Konzeption der »Physik« und einer gesetzmäßigen Ordnung der Dinge nichts mit unserer modernen wissenschaftlichen Theorie gemein. In seinem letzten Buch To Explain the World vertrat der kürzlich verstorbene Steven Weinberg die Auffassung, dass die Griechen der Antike aus heutiger Sicht eher nicht als Physiker oder Naturwissenschaftler und nicht einmal als Philosophen zu betrachten seien, sondern als Dichter, da sich ihre Methodologie grundlegend von der Wissenschaft im heutigen Sinne unterscheide. Natürlich sähen auch moderne Physiker die Schönheit ihrer Theorien und die meisten ließen sich in ihrer Forschung von ästhetischen Urteilen leiten, doch solche Überlegungen ersetzten nicht die Verifizierung der Theorien durch Experimente und Beobachtung als wichtigste Innovation der wissenschaftlichen Revolution.

Dennoch erwies sich Platons Vision von einer »Mathematisierung« der Welt als ungeheuer einflussreich. Als zweitausend Jahre später die moderne wissenschaftliche Revolution einsetzte, war die unmittelbare Motivation der Hauptakteure ihr Glauben an das platonische Programm, eine verborgene Ordnung in Gestalt mathematischer Beziehungen aufzuspüren, die der physikalischen Welt zugrunde lag. »Das große Buch der Natur«, schrieb Galilei, »kann nur von jenen gelesen werden, die die Sprache kennen, in der es geschrieben wurde. Und diese Sprache ist die Mathematik.«[5]

Isaac Newton, Alchemist, Mystiker, ein schwieriger Mensch, aber einer der wirkmächtigsten Mathematiker, die je gelebt haben, bekräftigte den mathematischen Ansatz in der Naturphilosophie mit seinen Principia – dem wohl wichtigsten Buch in der Geschichte der Wissenschaft. Den Grundstock dafür legte er im Jahr 1665, als er sich während der Pest im Lockdown befand, weil die Universität von Cambridge geschlossen hatte. Newton, der gerade sein Bachelor-Examen abgelegt hatte, kehrte in das Haus seiner Mutter mit seinem Garten und den Apfelbäumen in Lincolnshire zurück. Dort dachte er über Infinitesimalrechnung, Schwerkraft und Bewegung nach und zeigte, dass weißes Licht aus den Farben des Regenbogens besteht, indem er es mit einem Prisma zerlegte. Doch erst im April 1686 legte Newton der Royal Society die Philosophiae Naturalis Principia Mathematica zur Publikation vor, komplett mit drei Bewegungsgesetzen und seinem Gesetz der universellen Gravitation. Letzteres ist vermutlich das berühmteste Gesetz der Natur und besagt, dass die Gravitationskraft zwischen zwei Körpern proportional zu ihrer Masse ist und mit Distanz zum Quadrat ihres Abstandes abnimmt.

Als Newton in den Principia zeigte, dass ein und dieselben universellen Prinzipien den Funktionsweisen des göttlichen Himmels wie auch der unvollkommenen Menschenwelt um uns herum zugrunde liegen, markierte dies einen konzeptuellen und spirituellen Bruch mit der Vergangenheit. Es wird zuweilen gesagt, dass Newton Himmel und Erde vereinigte. Seine Synthese der Planetenbewegungen in einer Handvoll mathematischer Gleichungen veränderte alle existierenden bildhaften Beschreibungen des Sonnensystems und kennzeichnete den Übergang vom Zeitalter der Magie zur künftigen modernen Physik. Newtons Entwurf lieferte das allgemeingültige Paradigma, dem die gesamte Physik von da an gefolgt ist. Im Gegensatz zur »Physik« der alten Griechen, die sich kaum identifizieren lässt, fühlen sich die Physiker von heute bei der Newton’schen Physik bestens aufgehoben.

Ein besonders umjubelter Erfolg der Newton’schen Gesetze war die Entdeckung des Planeten Neptun im Jahr 1846. Zuvor hatten Astronomen festgestellt, dass die Umlaufbahn von Uranus geringfügig von derjenigen abwich, die von Newtons Gravitationsgesetz vorhergesagt wurde. Der Franzose Urbain Le Verrier, der dieser widerspenstigen Diskrepanz auf den Grund gehen wollte, stellte die kühne Behauptung auf, sie werde durch einen unbekannten, viel weiter außerhalb gelegenen Planeten hervorgerufen, dessen Anziehungskraft die Bahn des Uranus etwas beeinflusste. Mit Hilfe von Newtons Gesetzen konnte Le Verrier vorhersagen, wo am Himmel dieser unbekannte Planet sein müsse, um das Taumeln des Uranus zu erklären – vorausgesetzt, die Gesetze waren korrekt. Tatsächlich fanden Astronomen Neptun bald darauf mit kaum einem Bogengrad Abweichung von dem Bereich, den Le Verrier genannt hatte. Es war einer der bemerkenswertesten Momente in der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Es hieß, Le Verrier habe »mit der Spitze seiner Feder« einen neuen Planeten entdeckt![6]

Verblüffende Erfolge wie dieser und weitere übereinstimmende Beobachtungen im Lauf der Jahrhunderte schienen Newtons Gesetze als universelle definitive Wahrheiten zu bestätigen. Schon im 18. Jahrhundert bemerkte der französische Mathematiker Joseph-Louis Lagrange, Newton habe Glück gehabt, in dieser einzigartigen Epoche der Menschheitsgeschichte gelebt zu haben, in der es möglich gewesen sei, die Gesetze der Natur zu entdecken. Newton selbst scheint sich in der Tat wenig Mühe gegeben zu haben, diesen aufkommenden Mythos zu unterdrücken. Zutiefst geprägt von einer Tradition des Mystizismus sah er in der von ihm geschaffenen eleganten mathematischen Form der Naturgesetze eine Manifestation göttlichen Denkens.

Diese mathematische Formulierung der Naturgesetze meinen heutige Physiker, wenn sie den Begriff »Theorie« verwenden. Physikalische Theorien leiten ihren Nutzen und ihre Vorhersagekraft von der Tatsache ab, dass sie die reale Welt mit abstrakten mathematischen Gleichungen beschreiben, derer man sich bedienen kann, um vorherzusagen, was geschehen wird, ohne ein Experiment durchzuführen oder zu beobachten. Und das funktioniert! Von der Entdeckung des Neptun bis hin zum Aufspüren von Gravitationswellen sowie zur Vorhersage neuer Elementarteilchen und Antiteilchen haben die mathematischen Grundlagen der physikalischen Gesetze immer wieder auf neue und überraschende Naturphänomene hingewiesen, die später tatsächlich beobachtet wurden. Tief beeindruckt von dieser Vorhersagekraft förderte bekanntermaßen der Nobelpreisträger Paul Dirac die Erforschung interessanter und schöner Mathematik als bevorzugte Methode, Physik zu praktizieren. Die Mathematik, so sagte er, »wird Dich … bei der Hand nehmen. … Sie hat mich einen unerwarteten Pfad entlang geführt, einen Pfad, der neue Einblicke eröffnete, einen Pfad, der in ein neues Terrain führte«.[7] Die Stringtheoretiker der heutigen Zeit haben sich Diracs Diktum bei ihrer Suche nach einer endgültigen vereinheitlichten Theorie überwiegend zu eigen gemacht – wobei sie gelegentlich der Versuchung der Antike erlagen, die mathematische Schönheit ihres Konstrukts als Garant für dessen Wahrheit anzusehen. Mehrere Pioniere der Stringtheorie formulierten poetisch, dass die Stringtheorie eine zu schöne mathematische Struktur sei, um keine Relevanz für die Natur zu haben.

Auf einer tieferen Ebene verstehen wir jedoch nach wie vor nicht ganz, warum die theoretische Physik so gut funktioniert. Warum gehorcht die Natur einem System raffinierter mathematischer Beziehungen, die unter ihrer Oberfläche wirken? Was bedeuten diese Gesetze wirklich? Und wieso nehmen sie diese spezifische Form an?

Die meisten theoretischen Physiker folgen hier immer noch Platon. Sie betrachten die physikalischen Gesetze gemeinhin als ewige mathematische Wahrheiten, die nicht nur in unseren Köpfen existieren, sondern in einer abstrakten Realität wirken, die über die physikalische Welt hinausgeht, welche sie zu bestimmen scheinen. So gelten die Gesetze der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik üblicherweise als Näherungen an eine endgültige Theorie, die eine letzte Realität irgendwo außerhalb beschreibt, in einem Reich, das es noch zu entdecken gilt. Obgleich sich also im modernen wissenschaftlichen Zeitalter physikalische Gesetze als Werkzeuge entpuppten, mit denen man in der Natur beobachtete Muster beschreiben konnte, haben sie sich, seitdem Newton ihre mathematischen Wurzeln offenlegte, verselbständigt und eine Art von Realität jenseits der durch sie beschriebenen physikalischen Welt angenommen. Für den französischen Universalgelehrten Henri Poincaré war Anfang des 20. Jahrhunderts die Vorstellung von bedingungslos geltenden platonischen Gesetzen gar eine unabdingbare Voraussetzung, um überhaupt Wissenschaft zu betreiben.

Poincarés Auffassung von den platonischen Gesetzen ist wichtig. Doch sie gibt uns auch Rätsel auf. Wie genau können sich solche dort draußen in ihrem platonischen Reich isoliert lebenden Gesetze zusammenschließen, um ein physikalisches Universum zu erschaffen und zu steuern – von der Frage, warum es so wunderbar lebensfreundlich ist, einmal ganz abgesehen? Die Entdeckung des Urknalls bedeutet, dass es hier nicht länger um eine rein philosophische Debatte geht, denn wenn der Urknall wirklich der Ursprung der Zeit gewesen ist, dann hätten die physikalischen Gesetze außerhalb der Zeit existieren müssen, um den Startschuss für die Entstehung des Universums geben zu können. Interessanterweise bringt die Theorie des Urknalls also Überlegungen, die als rein metaphysisch erscheinen könnten, in den Bereich der Physik und Kosmologie. Die Vorstellung von einem Urknall konfrontiert uns mit einigen unserer philosophischen Grundannahmen über die physikalischen Gesetze an sich.

Letztendlich birgt diese Vorstellung von den Gesetzen der Physik die Gefahr, dass der Ursprung ihrer raffinierten Feinabstimmung völlig im Dunkeln bleibt. Die Physiker, die einem platonischen Entwurf anhängen, können nur hoffen, dass eines Tages ein schlagkräftiges mathematisches Prinzip im Herzen der endgültigen Theorie erklären wird, warum die Naturgesetze das Leben auf so verblüffende Weise fördern. Die Lösung der heutigen Platoniker für das Rätsel des Designs lautet, dass hier letztendlich eine mathematische Notwendigkeit vorliegt: Die Welt ist so, wie sie ist, weil die Natur keine andere Wahl hat. Dies ist zwar eine Art Erklärung, klingt aber ein wenig nach Aristoteles’ Causa finalis unter dem Deckmantel der modernen theoretischen Physik. Abgesehen von der Tatsache, dass eine endgültige Theorie dieser Art nach wie vor ferne Zukunftsmusik ist, würde solch ein schlagkräftiges mathematisches Prinzip, falls man es je finden sollte, kaum verstehen helfen, warum es denn so außergewöhnlich lebensfreundlich ist. Keine platonische Wahrheit, welcher Art auch immer, könnte die Kluft zwischen der unbelebten und der belebten Welt überbrücken, die mit dem Beginn der modernen Wissenschaft entstanden ist. Stattdessen bliebe uns nur übrig zu folgern, dass Leben und Intelligenz schlicht glückliche Zufälle einer fundamental unpersönlichen, idealen mathematischen Realität seien. Mehr wäre nicht zu sagen.

 

Es ist bemerkenswert, dass sich diese – nicht offenkundig falschen – platonischen Tendenzen, wenn es um Fragen des Designs in der Physik und der Kosmologie geht, radikal von der Sicht unterscheiden, die Biologen seit Darwin zum Design der Welt der Lebewesen entworfen haben.

Zielgerichtete Prozesse und scheinbar zweckgebundenes Design sind allgegenwärtig in der biologischen Welt. Sie waren überhaupt erst die Basis für Artistoteles’ teleologische Sicht auf die Natur. Lebende Organismen sind wunderbar komplex. Selbst eine einzelne lebende Zelle enthält eine vielfältige Anordnung molekularer Bestandteile, die in Kooperation ihre zahlreichen Aufgaben erfüllen. In größeren Organismen arbeiten unzählige Zellen fein abgestimmt zusammen, um komplexe zweckorientierte Strukturen wie Augen und Gehirne zu konstruieren. Vor Charles Darwin war man außerstande zu begreifen, wie die natürlichen physikalischen und chemischen Prozesse die unglaubliche Komplexität hätten hervorbringen sollen, die man in lebenden Organismen erkannte. Um sie zu erklären, berief man sich auf einen Designer. Im 18. Jahrhundert verglich der englische Theologe William Paley die Wunder der belebten Welt mit dem Funktionieren einer Uhr. Wie bei einer Uhr, so Paley, sind die Kennzeichen eines planvollen Entwurfs in der biologischen Welt zu ausgeprägt, um sie ignorieren zu dürfen. »Ohne Designer kann es kein Design geben.«[8] Darwins umwälzende Evolutionstheorie jedoch machte solch teleologischem Denken in der Biologie ein für alle Mal ein Ende. Seine fundamentale Erkenntnis lautete, die biologische Evolution sei ein natürlicher Prozess, und simple Mechanismen – zufällige Variation und natürliche Selektion – könnten das scheinbare Design in lebenden Organismen erklären, ohne sich auf einen Designer berufen zu müssen.

Auf den Galapagosinseln fand Darwin eine Reihe verschiedener Finken, die sich in Größe und Form ihrer Schnäbel unterschieden. Grundfinken hatten starke Schnäbel, die sich zum Knacken von Nüssen und Samen eigneten, während Baumfinken scharfe gebogene Schnäbel besaßen, die für das Fressen von Insekten geeignet waren. Diese und andere Beobachtungen auf seiner Reise ließen Darwin vermuten, dass verschiedene Arten von Finken miteinander verwandt waren und im Lauf der Zeit eine Evolution durchliefen, die ihnen eine effektivere Verwertung der in ihren ökologischen Nischen verfügbaren Ressourcen ermöglichte. Im Jahr 1837, kurz nach der Rückkehr von seiner Reise zu den Galapagosinseln an Bord der HMS Beagle, zeichnete Darwin in eines seiner roten Notizbücher eine einfache Skizze von einem unregelmäßig verzweigten Baum. Diese Zeichnung eines Stammbaums fing Darwins aufkeimende tiefgreifende Theorie in ihrer ganzen Tragweite ein: Alle Lebewesen auf der Erde sind verwandt und – über einen allmählichen und schrittweisen Prozess der Umweltauslese, die von zufällig mutierenden Replikatoren ausgeht – aus einem einzigen gemeinsamen Vorfahren, dem Stamm des Baumes, hervorgegangen (siehe Abbildung 4 im Innenteil).

Der Kerngedanke des Darwinismus ist, dass die Natur nicht in die Zukunft schaut – sie sieht nicht voraus, was zum Überleben nötig sein könnte. Vielmehr ergeben sich alle Entwicklungen, wie das fortschreitende Längenwachstum des Giraffenhalses, aus einem umweltbedingten Selektionsdruck, der über lange Zeiträume hinweg wirkt und nützliche Merkmale verstärkt.

Mehr als zwanzig Jahre später schrieb Darwin: »Es liegt etwas Großes in dieser Sicht auf das Leben mit seinen vielfältigen Kräften, das der Schöpfer ursprünglich ganz wenigen Formen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und auch darin, dass, während dieser Planet dem unveränderlichen Gesetz der Schwerkraft folgend sich unentwegt dreht, aus einem so schlichten Anfang zahllose überaus schöne und wunderbare Formen hervorgegangen sind und weiter hervorgehen werden.«[9]

Der Darwinismus stellte Paleys Argument auf den Kopf, indem er aufzeigte, dass die »Uhr des Lebens« keine Armee von Schweizer Uhrmachern benötigt. Er liefert eine durch und durch evolutionäre Beschreibung der belebten Welt, wonach ihr scheinbares Design als emergente Eigenschaft eines natürlichen Prozesses zu verstehen ist, und nicht als Ergebnis eines übernatürlichen Schöpfungsaktes.

 

Allerdings gelten biologische Gesetze trotz ihrer Schönheit und ihrer Größe häufig als etwas weniger elementar als ihre Pendants in der Physik. Emergente gesetzmäßige Muster mögen zwar dauerhaft sein, werden aber nicht als zeitlose Wahrheiten angesehen. Überdies hat der Determinismus in der Biologie eine sehr viel weniger grundsätzliche Bedeutung. Newtons Bewegungsgesetze sind deterministisch. Sie erlauben Physikern vorherzusagen, wo sich ein Objekt, ausgehend von seiner Position und Geschwindigkeit zum jetzigen (oder einem beliebigen früheren) Zeitpunkt, zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft befinden wird. Laut Darwins Theorie bedeutet die Zufälligkeit von Mutationen in lebenden Systemen, dass sich kaum etwas im Voraus bestimmen lässt – nicht einmal die Gesetze, die sich eines Tages entwickeln könnten. Dieser nicht vorhandene Determinismus verleiht der Biologie eine retroaktive Komponente. Man kann die biologische Evolution nur verstehen, indem man sie in der Rückschau betrachtet. Darwins Theorie liefert keine detaillierte Beschreibung des tatsächlichen evolutionären Weges vom allerersten Lebenszeichen bis zur diversen und komplexen Biosphäre von heute. Sie sagt nicht voraus, wie der Baum des Lebens aussieht, das war nicht ihr Ziel – und konnte es auch gar nicht sein. Stattdessen bestand Darwins geniale Leistung in der Beschreibung allgemeiner Organisationsprinzipien. Die historischen Annalen zu schreiben, blieb der Phylogenetik und Paläontologie überlassen. Mit anderen Worten: Darwins Evolutionstheorie erfasst, dass das Leben das gemeinsame Erzeugnis von Gesetzmäßigkeiten und